ADB:Sigeher

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Artikel „Sigeher“ von Gustav Roethe in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 34 (1892), S. 248–250, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Sigeher&oldid=- (Version vom 27. April 2024, 16:51 Uhr UTC)
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Sigeher: Meister S., Spruchdichter und geistlicher Lyriker des 13. Jahrhunderts, gehört zu den wenigen Epigonen, die mit politischen Strophen in die Fußtapfen, weniger Walther’s von der Vogelweide selbst, als seiner Schüler, Bruder Wernher’s und Reinmar’s v. Zweter, traten. Seine Heimath steht nicht fest: gewisse mitteldeutsche Züge seiner Sprache erklären sich aus seinem langen Aufenthalt in Böhmen zur Genüge; litterarische Tradition, Technik und manche Spuren in Reim und Wortschatz deuten eher auf Oberdeutschland, ins Oesterreichische oder Bairische hin. Noch bei Lebzeiten König Wenzel’s I., den er in einem an Reinmar v. Zweter anklingenden Spruche preist, kam S. nach Böhmen, also vor September 1253; persönlich wird er seinen Vorgänger Reinmar dort doch nicht mehr kennen gelernt haben. Die Mehrzahl seiner politischen Sprüche gilt dem talentvollen, unruhigen Sohne des bequemen Fürsten, gilt Ottokar. S. mag den mährischen Markgrafen schon 1251 und 1252 begleitet haben, als dieser sich in Oesterreich die Herzogskrone holte; damals sang er etwa den Lobspruch auf die aus Oesterreichs Geschichte sattsam bekannten Edlen, die Brüder Preußel. Nahezu sicher nahm S. an König Ottokar’s Kreuzzug nach Preußen 1254/55 Theil und rief dort unter den Heiden inbrünstig Gottes Hilfe für ihn an. Es sieht fast so aus, als ob S. seinem Fürsten damals auch die deutsche Königskrone zudachte; in zwei Sprüchen, in denen er ihm Alexander als Vorbild hinstellt, scheint er seinen Ehrgeiz auf dies Ziel zu lenken, dadurch Tendenzen [249] Ottokar’s begegnend und sie bezeugend, die für die fünfziger Jahre sonst angezweifelt worden sind: leider ist die entscheidende Stelle der einen Strophe lediglich Nachahmung von Versen, mit denen einst Bruder Wernher Friedrich II. bei der Thronbesteigung begrüßte, und die andere ist recht zweideutig. Sigeher’s letzter sicher datirbarer Spruch gilt Ereignissen des Jahres 1261; an andern Höfen als dem böhmischen ist er nicht nachzuweisen. Wenngleich ihm durch Fürstengunst nicht alle Existenzsorgen erspart blieben, gehörte der bürgerliche Meister doch zu einer vornehmeren Sängerclasse; er ist beritten, übt sogar die Herrensitte des Spazierritts, und seine Gedichte deuten nirgends darauf hin, daß er Fahrender war; er mag so etwas wie den böhmischen Hofpoeten gespielt haben.

Wie sehr S. in seiner politischen Dichtung abhängig war von seinen größeren Vorbildern, zumal von Reinmar v. Zweter, das zeigt überraschend seine grimmige nationale Richtung gegen den wälschen Papst und seine Sehnsucht nach einem großen Reiche, einem einzigen mächtigen Reichsoberhaupt; mit beidem arbeitete S. Ottokar’s Politik ebenso schnurstracks zuwider, wie einst Reinmar v. Zweter den Bestrebungen Wenzel’s. Freilich, von den Staufern will auch er nichts wissen, auch das wie Reinmar, und er verdächtigt Konrad IV., den Erben von Jerusalem, gar höchst unmotivirt des geheimen Pactirens mit dem Papste gegen Wilhelm von Holland; ein anderer Spruch läßt doch ahnen, daß auch ihm der Staufername noch leise Hoffnungen rege macht, die er sich selbst kaum gesteht. Sein politischer Held ist eben Ottokar; der soll das Reich mehren, soll Recht und Friede schaffen. Eine unklare und unpraktische Politik, wie sie aus dem Widerstreit der fernen Ideale, die die Spruchdichtung sich aus der staufischen Glanzzeit bewahrte, mit der umgebenden, hart nüchternen Wirklichkeit nicht nur bei S. erwuchs. Wenn er in einem Spruch über die Salvatio Romae die Unzuverlässigkeit der eigennützigen Reichsfürsten schilt, so müssen doch wohl selbst ihm Zweifel gekommen sein, ob Ottokar sich seiner Pflichten gegen das Reich wirklich treu bewußt war. So sieht er beklommen in die Zukunft, er glaubt an die Nähe des Antichrists; geschehenes und gefürchtetes Schlimme kleidet er in die Form von Prophezeihungen, die er aus einem Schwerte liest oder für die er Sibylle citiert.

Trübe Erfahrungen im Herrendienst verstärken einen religiösen Zug in ihm, dem seine antikirchliche Richtung natürlich nicht widerspricht. Gerne eröffnete er neue Töne mit Weihesprüchen, und wir haben von ihm eins der wenigen deutschen Marienlieder, die uns aus dem 13. Jahrhundert erhalten sind. Es ist in bekannter Manier lediglich aus gehäuften Epithetis zusammengesetzt, unter denen zwei regelmäßig an entsprechenden Strophenstellen wiederkehren; von Inhalt und Gedankengang keine Rede. Trotzdem muß das Lied seinerzeit gefallen haben, in Reimpaare umgesetzt wurde es einem Salve regina des 14. Jahrhunderts einverleibt (Altd. Blätter I, 88). Stilistisch und formell ahmt S. in ihm lateinische geistliche Dichtung nach; die Verse sind demgemäß alle vierhebig stumpf oder dreihebig klingend, und auch die Dreitheiligkeit, wie sie deutsche Lyrik erforderte, fand in den Responsorien mit Versus der lateinischen Liturgieen Gegenstücke, an die sich S. anlehnen konnte: so ist die Reimordnung seines Liedes z. B. wesentlich identisch mit dem Responsorium (Gloriosa de te dicta bei Dreves, Analecta hymn. V, 106. Des Lateinischen war S. einigermaßen mächtig, und er macht von seinem Bischen Gelehrsamkeit manchmal mehr Gebrauch, als uns geschmackvoll scheint; doch war er gewiß nie Cleriker.

Zu seiner oberdeutschen Schule stimmt es ganz gut, daß er auch ein weltliches Lied versucht hat, in dem er das Nahen des Sommers schildert: der seelische Kummer, der traditionell mit der heitern Natur contrastiert wird, ist aber nicht Minneleid, sondern die Enttäuschung des am Hofe nicht belohnten Sängers. [250] Neben Alexander und Salomon sind doch auch Frute und mehr noch Artus ihm Fürstenideale, auch das ein höfisch oberdeutscher Zug. In Versbau und Stil verräth er gute, sichere Schulung: den Auftact gebraucht er wechselnd, aber ziemlich regelmäßig; die Strophenformen, deren eine nach Wernher’s Muster verschiedene Reimstellung der Stollen aufweist, sind complicirt, aber sauber gebaut; in den Reimen fällt Neigung zur Apokope auf. Die Darstellung hat etwas Unruhiges, das durch die vielen Bilder und Gleichnisse nur erhöht wird; die Anapher weiß S. nach oberdeutscher Art gut zu verwenden; dagegen wünschte man sonst seinen poetischen Stil geschliffner und abgerundeter. Daß S. der naive Sinn für volksthümliche Wirkung fehlt, verräth doch den Meister, so wenig sonst der Charakter seiner Dichtungen eigentlich meisterliche Art zeigt. Die Meistersinger kennen keinen Ton unter seinem Namen, wenn auch dieser selbst, wer weiß wie, in zwei der großen Meisterregister hineingerathen ist (als Sigher oder Sither). Durch Goldast wird er Opitz bekannt; er ist unter den sehr wenigen älteren deutschen Dichtern, von denen Opitzens Buch von der deutschen Poeterei Notiz nimmt.

Minnesänger, hsg. von v. d. Hagen, I, 360 fgg. III, 728. IV, 661 fgg.; das Marienlied besser in Bartsch’s Deutschen Liederdichtern, 2. Aufl. (Stuttg. 1879), S. 216 ff.