Das Ich

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Autor: Johann Gottfried Herder
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Titel: Das Ich
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aus: Zerstreute Blätter (Sechste Sammlung) S. 69–77
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Erscheinungsdatum: 1797
Verlag: Carl Wilhelm Ettinger
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Erscheinungsort: Gotha
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[69]

 1.

 Das Ich.
 ________

 Ein Fragment.
 ________

     Willst du zur Ruhe kommen, flieh, Freund,
Die ärgste Feindinn, die Persönlichkeit.
Sie täuschet dich mit Nebelträumen, engt
Dir Geist und Herz, und quält mit Sorgen dich,

5
Vergiftet dir das Blut, und raubet dir

Den freien Athem, daß du, in dir selbst
Verdorrend, dumpf erstickst von eigner Luft.

     Sag’ an: was ist in dir Persönlichkeit?
Als in der Mutter Schoos von Zweyen du

10
Das Leben nahmst, und, unbewußt dir selbst

An fremdem Herzen, eine Pflanze, hingst.
Zum Thier gediehest, und ein Menschenkind

[70]

(So saget man) die Welt erblicktest; Du
Erblicktest sie noch nicht; sie sahe Dich,

15
Von deiner Mutter lange noch ein Theil,

Der ihren Athem, ihre Küsse trank,
Und an dem Lebensquell, an ihrer Brust
Empfindung lernete. Sie trennte dich
Allmählich von der Mutter, eignete

20
In tausend der Gestalten Dir Sich zu,

In tausend der Gefühle Dich Ihr zu,
Den immer Neuen, immer Wechselnden.

     Wie wuchs das Kind? Es strebte Fuß und Hand,
Und Ohr und Auge spähend immer neu

25
Zu formen sich. Und so gediehest du

Zum Knaben, Jünglinge, zum Mann und Greis.
Im Jünglinge, was war vom Kinde noch?
Was war im Knaben schon vom Greis und Mann?

[71]

Mit jedem Alter tauschtest du dich um;

30
Kein Theil des Körpers war Derselbe mehr.

Du täuschtest dich mit dir; dein Spiegel selbst
Enthüllte dir ein andres, neues Bild.

     Verlangtest du, ein Jüngling, nach der Brust
Der Mutter? Als die Liebe dich ergriff,

35
Sahst du die Braut wie deine Schwester an?

Und als der Traum der Ehre fort dich riß,
Verlangtest in die Windeln du zurück?
Schmeckt dir die Zuckerbirne, wie sie dir,
Dem Kinde, schmeckte? Und die innre Welt

40
Der Regungen, der lichten Phantasei,

Des Anblicks aller Dinge, ist sie noch
Dieselbe Dir, wie sie dem Knaben war?

     Ermanne Dich. Das Leben ist ein Strom
Von wechselnden Gestalten. Welle treibt

45
Die Welle, die sie hebet und begräbt.

Derselbe Strom, und keinen Augenblick

[72]

An keinem Ort, in keinem Tropfen mehr
Derselbe, von der Quelle bis zum Meer.

     Und solch ein Trugbild soll dir Grundgebäu

50
Von deiner Pflicht und Hoffnung, deinem Glück

Und Unglück seyn? Auf einen Schatten willst
Du stützen dich? und einer Wahngestalt
Gedanken, Wirkung, Zweck des Lebens weihn?

     Ermanne Dich. Nein, du gehörst nicht Dir;

55
Dem großen, guten All gehörest Du.

Du hast von ihm empfangen und empfängst;
Du mußt ihm geben, nicht das Deine nur,
Dich selbst, Dich selbst: denn sieh du liegst, ein Kind,
Ein ewig Kind, an dieser Mutter Brust,

60
Und hangst an ihrem Herzen. Abgetrennt

Von allem Lebenden, was dich umgab,

[73]

Und noch umgiebt, Dich nähret und erquickt,
Was wärest Du? Kein Ich. Ein jeder Tropf
In deinem Lebenssaft; in deinem Blut

65
Ein jedes Kügelchen; in deinem Geist

Und Herzen jeder regende Gedank’,
Und Fertigkeit, Gewöhnung, Schluß und That;
(Ein Triebwerk, das du übend selbst nicht kennst,)
Jedwedes Wort der Lippe, jeder Zug

70
Des Angesichtes ist ein fremdes Gut,

Die angeeignet, doch nur zum Gebrauch.
So, immer wechselnd, stets verändert schleicht
Der Eigner fremden Gutes durch die Welt.
Er leget Kleider und Gewohnheit ab,

75
Verändert Sprache, Sitten, Meinungen,

Wie sie der Zeiten rastlosgehnder Schritt
Ihm aufdringt, wie die große Mutter ihm
In ihrem Schooße bildet Herz und Haupt.


[74]

     Was ist von Deinen zehen tausenden

80
Gedanken Dein? Das Reich der Genien,

Ein großer untheilbarer Ocean,
Als Strom und Tropfe floß er auch in dich
Und bildete Dein Eigenstes. Was ist
Von deinen zehen-zehen tausenden

85
Empfindungen das Deine? Lieb und Noth,

Nachahmung und Gewohnheit, Zeit und Raum
Verdruß und Langeweile haben Dir
Es angeformt und angegoßen, daß
In Deinem Leim Du neu es formen sollst

90
Fürs große, gute, ja fürs beßre All. –

Dahin strebt jegliche Begier; dahin
Jedweder Trieb der lebenden Natur,
Verlangen, Wunsch und Sehnen, Thätigkeit,
Und Neugier, und Bewunderung, und Braut-

95
Und Mutterliebe. Daß vom innern Keim

Die Knospe sich zur Blum’ entfalt’ und einst

[75]

Die Blum’ in tausend Früchten wiederblüh.
Den großen Wandelgang des ewgen Alls
Befördert Luft und Sonne, Nacht und Tag.

100
Das Ich erstirbt, damit das Ganze sei. – –


     Was ist’s, das Du mit Deinem armen Ich
Der Nachwelt hinterläßest? Deinen Namen?
Und hieß er Raphaël; an Raphaëls
Gemählden selbst vergeß’ ich gern den Mann,

105
Und ruf’ entzückt: ein Engel hats gemahlt.


     Dein Ich? Wie lange kann und wird es dann
Die Nachwelt nennen? Und am Namen liegts?
So nennet sie mit dir auch Mävius,
Und Bavus, Stax, und Nero-Herostrat.

110
     Nur wenn uneingedenk des engen Ichs

Dein Geist in allen Seelen lebt, Dein Herz
In tausend Herzen schläget; dann bist du

[76]

Ein Ewiger, Allwirkender, ein Gott,
Und auch, wie Gott, unsichtbar-Namenlos.

115
     Persönlichkeit, die man den Werken eindrückt,

Die kleinliche, vertilgt im besten Werk
Den allgemeinen ewgen Genius,
Das große Leben der Unsterblichkeit.

     So laßet dann im Wirken und Gemüth

120
Das Ich uns mildern, daß das beßre Du,

Und Er und Wir und Ihr und Sie es sanft
Auslöschen, und uns von der bösen Unart
Des harten Ich unmerklich-sanft befrein.
In allen Pflichten sei uns erste Pflicht

125
Vergeßenheit sein selber! So geräth

Uns unser Werk, und süß ist jede That,
Die uns dem trägen Stolz entnimmt, uns frei
Und groß und ewig und allwirkend macht.
Verschlungen in ein weites Labyrinth

[77]
130
Der Strebenden, sei unser Geist ein Ton

Im Chorgesang der Schöpfung, unser Herz
Ein lebend Rad im Werke der Natur.

     Wenn einst mein Genius die Fackel senkt,
So bitt’ ich ihn vielleicht um Manches, nur

135
Nicht um mein Ich. Was schenkt er mir damit?

Das Kind? den Jüngling? oder gar den Greis?
Verblühet sind sie, und ich trinke froh
Die Schale Lethens. Mein Elysium
Soll kein vergangner Traum von Misgeschick

140
Und kleinem, krüpplichten Verdienst entweihn.

Den Göttern weih’ ich mich, wie Decius,
Mit tiefem Dank und unermeßlichem
Vertrauen auf die reich belohnende,
Vielkeimige, verjüngende Natur.

145
Ich hab’ ihr wahrlich etwas Kleineres

Zu geben nicht, als was sie selbst mir gab,
Und ich von ihr erwarb, mein armes Ich.