Das erste Jahr im neuen Haushalt

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Autor: Rosalie Braun-Artaria
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Titel: Das erste Jahr im neuen Haushalt
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aus: Die Gartenlaube, Heft 4 ff, S. 58–59
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1887
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Kurzbeschreibung:
Eine Geschichte in (14) Briefen
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[58]

Das erste Jahr im neuen Haushalt.

Eine Geschichte in Briefen.
Von R. Artaria.
I.

Neustadt, den 23. Oktober 188..  
 Meine liebste Marie!

Weißt Du noch, wie wir vor einem Jahr beisammen saßen, Du, Jenny und ich, und überlegten, ob wohl unsere Zeichenkünste hinreichen würden, uns an der ausgeschriebenen Konkurrenz für die „Modezeitung“-Vignette zu betheiligen? Wie Tante Gustel dazu kam und sagte: „Ich will mit Euch wetten, was Ihr Lust habt, daß Ihr eine Konkurrenz nicht mitmachen könntet, nämlich, an die Tafel zu zeichnen, wie Lauch und Sellerie aussieht!“

Jenny rief darauf: „O, Lauch, das weiß ich schon, das riecht schlecht!“

Und Du fielst ganz glücklich ein: „Ja, Sellerie, das weiß ich auch! In der Oper ‚Aschenbrödel‘ kommen solche kleine Kerls vor, als Gemüse und derartiges Zeug verkleidet; dann fällt der Vorhang und Einer ist hinausgesperrt, der heißt Sellerie!“

Dann rief Jenny wieder: „O, ‚Aschenbrödel‘ habe ich auch gesehen, aber ich wußte nicht, was Sellerie ist!“

Die Tante lachte, daß ihre runden Schultern wackelten; dann nahm sie ihren Strickkorb und sagte: „Moderne Mädchenerziehung! So seid Ihr Alle – mich dauern nur einmal Eure Männer!“

Damals lachten wir mit, aber solltest Du’s glauben, daß mir seit ein paar Tagen diese Kassandra-Worte in den Ohren klingen und ich mehr als einmal schon fühlte, daß ich eigentlich im Grunde recht wenig verstehe, und mich voll Angst fragte, ob Hugo am Ende wirklich bedauernswerth sein wird?

Aber das kann ja doch nicht möglich sein! Ich liebe ihn so sehr, so viel mehr als in unserem Brautstand; kein Opfer wird mir zu groß sein, um ihm sein Haus so glücklich wie möglich zu machen. Oft auf unserer Hochzeitsreise, in der Schweiz und in Italien während der himmlischen Wochen, die wir frei, nur uns gehörend, in der größten Glückseligkeit verlebten, haben wir es uns doch ausgemalt, wie reizend es erst im eigenen Neste sein werde, und ich freute mich auf die Heimkehr in das kleine Amtsstädtchen, das im Frühjahr, als ich mit Mama Hugo hier besuchte, so reizend im Grünen lag. Aber jetzt – ich weiß es nicht, ist es der Herbst mit den kahlen Zweigen oder die Trennung von den Eltern und Geschwistern, von Dir und allen meinen Freundinnen, oder sind es die noch nicht eingerichteten Zimmer, in denen Vielerlei herumsteht, was noch ausgepackt werden soll – mich ergreift, wenn Hugo fort ist und ich mit dem fremden Mädchen allein bin, hier manchmal eine Art Heimweh und mir wird ganz verlassen zu Muthe. Wie anders war es doch, über Alles Mama fragen zu können, oder vielmehr, sicher zu sein, daß sie Alles machte! Ich habe mich deßhalb um Vieles zu wenig gekümmert; das sehe ich jetzt wohl ein.

Aber nur nicht melancholisch! In ein paar Tagen muß Alles in schönster Ordnung sein; ich wäre auch schon weiter, hätte mich nicht der Schlosser, der Vorhänge und Rouleaux aufmachen soll, im Stiche gelassen. Um acht Uhr sollte er da sein; nun ist es elf, und er ist noch nicht erschienen. So will ich denn in der nothgedrungenen Ruhepause Deinen lieben Brief beantworten, Herzens-Marie, und Dich ein wenig ausschelten, daß Du glaubst, ich werde über dem Manne die Freundin vergessen. Nein, das wird niemals geschehen. Ich habe nicht einmal mein Versprechen vergessen, Dir, Du neuverlobte Jungfrau, von meinen Erfahrungen [59] zu berichten, damit Du es schön bequem hast, Dich auf anderer Leute Kosten zur praktischen Hausfrau heranzubilden. Und wenn ich Dir getreulich und haarklein berichte, so ist auch ein Bischen Egoismus dabei; denn Hugo, das habe ich mir geschworen, soll von häuslichen Kalamitäten so wenig als möglich erfahren. Mama mag ich auch nicht beunruhigen, aber eine vertraute Seele muß ich haben, der ich beichten kann!

Seit ich hier bin und Wirthschaftsgeld habe und sehe, wie schnell ich mit zehn Mark immer fertig bin, kommen mir auch finanzielle Gedanken. Nicht eigentlich Sorgen, wir haben zu leben, aber brillant sind unsere Verhältnisse gerade nicht, die Mama hat darin den Bekannten gegenüber ein Bischen übertrieben, weil sie immer sagt: besser Neider, als Mitleider! Und daß sie meine Ausstattung elegant machen ließ, das war gewiß sehr recht; man richtet sich doch nur einmal ein, und alle meine Freundinnen hatten es eben so. Du solltest nur einmal meinen kleinen Salon sehen. Reizend, sage ich Dir, mit den türkischen Vorhängen und Kameltaschen-Fauteuils! Ich kniee jeden Morgen eine Viertelstunde vor der kleinen japanischen Ausstellung, die auf dem lackirten Schränkchen aufgebaut ist. Hugo sagt zwar, er könne den Nutzen von Porcellanaffen und kupfernen Kröten im Wohnzimmer nicht einsehen, aber das macht mich nicht irre. Nebenan im Eßzimmer steht dann das wundervolle große Büffett und die hohen geschnitzten Sessel – Alles so pikfein! Die Menschen waren ja vermuthlich früher auch nicht unglücklich in ihren altmodischen, häßlichen Möbeln, aber so glücklich wie wir können sie sich nicht gefühlt haben!

Eines ist ärgerlich: wir werden leider nicht oft Gäste von unserem Prachtbüffett bewirthen können. Gestern haben wir unseren Jahresüberschlag gemacht. Hugo’s Assessorgehalt und meine Zinsen (Papa konnte eben auch nicht so viel für mich abgeben, wir sind ja Vier!), also das zusammen macht im Jahre beinahe viertausendfünfhundert Mark aus; davon soll man als gute Hausfrau hier in Neustadt ausgezeichnet wirthschaften können. Wenn man nur erst diese gute Hausfrau wäre!

Mama gab mir ein, wie sie sagt, ausgezeichnetes Kochbuch mit als Rath für alle zweifelhaften Fälle. Ich habe es wiederholt schon heimlich konsultirt, um vor meiner als sehr brav und ehrlich berühmten, aber herzlich unkultivirten Rike mit der gehörigen Festigkeit auftreten zu können. Aber das, was ich suchte, stand leider nicht darin.

Solltest Du’s zum Beispiel glauben, daß ich mir seit gestern den Kopf zerbreche, um heraus zu bringen, wie man eigentlich das Zimmerreinemachen angeben muß? Lächerlich, nicht wahr? Aber wenn man es eben nicht weiß!

Daß die meinigen nicht ordentlich gemacht sind, soviel sehe ich, aber ich suche umsonst in meiner Erinnerung, wie das bei uns zu Hause angestellt wurde. Ich weiß nur so viel: wenn wir drei Mädels Morgens zum Frühstück kamen, saß die Mama hinter der Kaffeemaschine und das Zimmer war rein und warm. Dann gab es zwei Stunden lang draußen und in den Stuben ein Herumfahren mit Besen und Wischlappen, es wurde geklopft und gebürstet, und man stolperte im Dunkeln im Hausflur über die Putzkübel. Das ist meine ganze Erinnerung, denn Morgens spielte ich immer Klavier und ging dann in meine Stunden. Aber jetzt gäbe ich viel darum, wenn mich Mama einmal so gründlich den „Stubendienst“ gelehrt hätte, wie sie das immer mit den neuen Mädchen that, die wir bekamen! Dann wüßte ich jetzt, wann gekehrt und wann naß abgewaschen wird, und hätte nicht ein unbestimmtes Angstgefühl bei dem Worte „Putzerei“. Die tritt ja wohl von Zeit zu Zeit mit einer gewissen Regelmäßigkeit ein, aber woran merkt man, daß es Zeit ist? Ich habe keine Ahnung davon und vor meiner Rike will ich mich nicht durch falsche Angaben blamiren, lieber warte ich, bis sie von selbst zu putzen anfängt!

Aber das könnte vielleicht lange dauern. Heute Morgen, als ich ins Eßzimmer trat, war es sehr warm, aber schlechte Luft darin, der Boden zeigte lange Streifen und auf den Möbeln lag der Staub bereits in der Höhe meiner Nase (Du weißt, daß dies keine sehr beträchtliche Erhebung ist). Hugo merkte glücklicher Weise nichts; er war während des Frühstücks so fröhlich und übermüthig, daß er mir vorschlug, die prachtvolle Krystallbowle als Opfer für den „Neid der Unterirdischen“ aus dem Fenster zu werfen. Als er nun auf sein Bureau gegangen war, holte ich mir Rike herein, um ihr zu sagen, das Zimmer sei nicht gut gemacht. Ich hütete mich wohl, vom „Kehren“ oder „Aufwaschen“ zu sprechen, weil ich nicht wußte, welches von Beiden zu geschehen habe. Darauf schrie sie mir in wirklich ganz grobem Tone zu: „Jetzt mach’ ich schon sechzehn Jahre die Zimmer bei den feinsten Herrschaften, und jetzt soll’s auf einmal nicht recht sein!“ Fuhr hinaus und schlug die Thür hinter sich zu, und ich hörte absichtlich nicht auf die abgebrochenen Worte, die noch einige Minuten lang hereindrangen.

In unserer großen Stadt sind doch die Dienstboten viel artiger. Aber hier in dem kleinen Nest – und diese ist von der Hauswirthin noch extra als „Juwel“ engagirt worden! Nun, sie kann wenigstens kochen, das ist ein Trost, und ich gedenke, es ihr so schnell als möglich abzusehen. Hugo hat mir freilich oft gesagt: Du brauchst nicht zu kochen, dafür giebt es Dienstboten! Aber gestern, als ich Rike wegen nothwendiger Besorgungen Vormittags ausschicken mußte, und in ihrer Abwesenheit nur Feuer anmachen und das Fleisch zusetzen wollte, und es gar nicht hinbrachte und dreimal die rauchenden Steinkohlen wieder aus dem Herd herausholen mußte – da hatte ich Mühe, die Thränen zurückzuhalten. Als sie kam, brannte es in fünf Minuten, aber die Zeit zum Zusetzen des Fleisches war längst vorüber, es kam hart auf den Tisch, und Hugo machte ein kurioses Gesicht. Das war mir schrecklich, ich fühlte mich so beschämt, aber er tröstete mich, er ist so unendlich gut und lieb!

Einen Weg wüßte ich, um mir Rath zu holen, aber ich scheue mich zu sehr davor. Du hast wohl gehört, daß meines Mannes Mutter hier lebt, nicht bei uns im Hause, aber ganz in der Nähe; zu ihr könnte ich wohl gehen, doch gerade sie soll mich nicht in meiner jetzigen Unbehilflichkeit sehen und ihren Sohn wegen seiner unpraktischen Frau bedauern. Meine Mama sagte mir beim Abschied: „Emmy, sei klug der Schwiegermutter gegenüber! Immer Distanz und keine Einmischung, sonst wirst Du die Sklavin in Deinem Hause! Und wenn sie auch hierin vielleicht ein wenig zu weit geht, denn böse sieht die Frau Regierungsrath (ich kann sie nicht Mutter nennen!) nicht gerade aus – so hat sie doch Etwas in ihrem strengen Blick, das mir das Herz zusammenzieht. Ich bin ganz sicher, daß sie mich nicht leiden mag – das sage ich auch nur Dir, liebste Marie, aber es ist gewiß so. Vorigen Winter, als mich Hugo nach unserer Verlobung zu ihr brachte, glaubst Du, sie wäre auch nur ein Bischen aufgethaut? Nein, sie verlor ihr feierliches Wesen keinen Moment, und ich hatte das Gefühl, daß sie mit einer völlig strafenden Miene den Vogel auf meinem Hut und das reizende Theerosenbouquett betrachtete, welches meinen Muff verzierte. Du weißt, auf mein Gefühl kann ich mich unbedingt verlassen, es sagte mir in jenem Augenblick, daß niemals zwischen uns ein herzliches Verhältniß sein wird, daß sie mich mit Abneigung betrachtet, vielleicht eben, weil sie ihren Sohn so zärtlich liebt. Vor ihm darf ich auch alles Dies nicht laut werden lassen, er verehrt sie grenzenlos und sagte mir schon zwei Tage nach der Hochzeit: „Wenn Du es erreichst, meiner Mutter ähnlich zu werden, Herzensschatz, so bist Du der Vollkommenheit nahe.“

Wenn Einen nur nicht so frieren würde neben dieser Vollkommenheit!

Nein, mein Herz schlägt in wärmeren Pulsen:

„Die Welten dreh’n sich all um Liebe,
Lieb’ ist ihr Leben, Lieb’ ihr Tod,
Und um mich wogt ein Weltgetriebe
Von Liebeslust und Liebesnoth!“ …

Das Letztere ist nun freilich nicht gerade wörtlich zu nehmen, aber es klingt doch reizend. Weißt Du was? Ich möchte einmal eine rechte Liebesnoth haben, so eine Situation, wo man mit Gefahr seines Lebens den Geliebten rettet, oder sein Vermögen für ihn hingiebt, oder sich einer glücklicheren Nebenbuhlerin opf– nein, das lieber doch nicht!

Der Schlosser, die Rike, der Laufbursche aus dem Materialwaarenladen, Hugo’s alter Pintscher, Alles durch einander rufend, schreiend, bellend – und schon halb ein Uhr – ich noch im Schlafrock – und Hugo kann in fünf Minuten da sein! Leb’ wohl, schnellstens lebe wohl!
 Deine Emmy.




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aus: Die Gartenlaube 1887, Heft 8, S. 130–131
Novelle – Brief II
[130]
II.
Neustadt, den 20. November. 

Es wird, liebste Marie, es wird! Aber Du hast doch keine Idee, was so ein Haushalt für Arbeit und Ueberlegen kostet. Ich komme mir wahrhaftig oft genug vor wie David Copperfield, als er im „Walde der Schwierigkeiten“ Bäume fällte. und es geht mir wie ihm, ich haue entschlossen drauf los, indem ich mir bei jedem harten Streich sage: für Hugo! wie er: für Dora! Ich habe mein Programm fix und fertig im Kopfe, wie es zuletzt werden soll und muß: ein gemüthlicher, schöner Haushalt, wo Alles klappt, ohne daß der Mann davon geplagt ist, und wo doch zu rechter Zeit gelesen, gemalt und Klavier gespielt wird. Zu Etwas muß uns die Erziehung doch gut sein, und das haben wir, die junge Generation, vor den braven alten Koch- und Flickfrauchen voraus, deren geistige Erholung im Kaffeekränzchen mit obligatem Mägdegespräch besteht!

Es giebt hier in dem kleinen Städtchen genug von dieser Sorte, wahre Prachtexemplare sogar, und an ihnen hat sich Hugo im vorigen Jahre einen solchen Schrecken geholt, daß er schnell ausriß, um sich in S… eine „nette“ Frau zu suchen. Wenn ich denke, er wäre auf jenem ersten Museumsball einer Anderen als mir begegnet und hätte sie geheirathet, es wäre doch zu schrecklich!

Aber ich komme von meinem eigentlichen Gegenstand ab; ich wollte Dir erzählen, wie der erste Baum in meinem Walde fiel, das heißt wie es mir bei meiner ersten großen Wäsche gegangen ist.

Onkel Franz pflegt zu sagen, die vollkommene Hausfrau sei nur diejenige, welche am Tag der großen Wäsche noch einen thé dansant geben könne. Und da er diese Frau in Deutschland nicht habe finden können, sein Patriotismus ihm aber verboten habe, eine Ausländerin zu heirathen, so sei er zu seinem großen Bedauern ledig geblieben. „Wenn Du zum ersten Mal große Wäsche hast, Emmy, kannst Du mir schreiben; dann komme ich als Logirbesuch dazu, um den armen Hugo zu trösten und aufzurichten.“

Ich habe mich wohl gehütet!

Es fiel mir auch gar nicht ein, mich um diese bevorstehenden Wäschetage zu grämen. Wie sie aussehen, wußte ich freilich nicht, da wir in S… ja niemals Wäsche zu Hause machten. Mama jammerte zwar oft genug über die miserablen „unpoetischen“ Zinshäuser der Großstadt, wo in dem engen Hof kein Platz sei für eine Wäscheküche und oben auf dem Boden kein Trockenspeicher ist, so wie über den Ruin ihrer schönen Leinwand durch die Wäscheanstalt. Sie war es in ihrer Jugend anders gewohnt und erzählte stets mit schmerzlichem Entzücken von dem großen Trockenplatz im elterlichen Garten, von der Rasenbleiche und der blüthenweißen, duftenden Leinwand im Schrank. Eins aber hat sie Papa in dem großstädtischen Zinshaus doch abgerungen: eine Wäschekammer unterm Dach, wo sie allwöchentlich beinahe den ganzen Montag Vormittag zubrachte, räumend, ordnend und von wo sie, wie wir Mädels fanden, immer in aufgeregter und kriegerischer Stimmung wieder herabkam, mit geschärften Blicken für jede kleine Schlamperei in Schrank und Kommode.

Wir konnten die Wäschekammer nicht ausstehen und fanden es höchst überflüssig, wie dort die schmutzigen Strümpfe, Betttücher, Nachtjacken und der sonstige menschliche Ueberzug schön methodisch auf Latten und Stricken geordnet hingen. Wenn Mama Alles auf einen Haufen geworfen hätte und alle sechs Wochen einen Montag zum Aussuchen und Aufschreiben verwandt, so hätte sie viel Zeit erspart, raisonnirten wir im Stillen. Aber es war nun einmal ihre Freude, es anders zu machen.

Meine Freude würde es nicht sein, das stand fest, und so warf ich alle diese Wochen her jeden Montag mit einer gewissen Satisfaktion den ganzen Inhalt des Wäschekorbes in die kleine Kammer auf dem Gange, die ich fest verschloß. Auf die Art konnte auch nichts weg kommen und das Hantiren in der schmutzigen Wäsche ersparte ich mir. Ich hoffte eigentlich, sie ausgeben zu können; allein das ist hier nicht möglich, davon mußte ich mich bald überzeugen. Es giebt keine ordentliche Anstalt dafür, außerdem wäre es höchst „unsolid“, sie zu benutzen. Die tugendhafte Hausfrau wäscht selbst.

Nun, neulich, als ich gerade Morgens die As-dur-Etüde von Chopin übte und eben daran war, die schwierige Oberstimme so recht in den kleinen Finger zu kriegen, streckt meine Rike ihren viereckigen Kopf zur Thür herein und schreit: „Ja, Frau Assessor, wenn Sie jetzt nicht die Großwäsch’ zählen, hernach kann ich heut’ nach dem Essen nicht einweichen. Seif’ brauchen wir auch noch!“

Ich stand resignirt auf, holte das reizende Wäschebuch mit den Amoretten auf dem Deckel, das Du, Liebe, mir gemalt hast, und ging in die Kammer hinüber, ans Geschäft. Aber, o weh! Schon nach den ersten sechs Stücken fand ich etwas, woran mein Herz nicht gedacht – Löcher, kleine und große gebissene Löcher in den Tischtüchern und Servietten, immer dort, wo Fettflecken gewesen waren! Ich griff mit zitternden Händen weiter, es kamen immer noch mehr: die Mäuse hatten sich offenbar an meinem schönen Damast eine rechte Güte gethan. Ich war so alterirt, daß ich mich setzen mußte – nun war mir mit einem Male klar, warum Mama ihre Sachen hängte! Ich fühlte mich ganz zerknirscht, besonders auch im Gedanken an Rike und die Waschfrau, die das sicher im Haus herumtratschen würden. – Endlich schloß ich die ärgsten Stücke in den Schrank ein – fein Stopfen habe ich ja in der Arbeitsstunde gelernt, aber es wird eine lange Mühe werden! Und das Uebrige übergab ich dann ohne Erklärung der Rike. Bei der Gelegenheit erfuhr ich aus einer mürrischen Bemerkung von ihr, daß „richtige Hausfrauen“ ihre Seife vier Wochen voraus kaufen, damit sie austrocknen kann. Merk’ Dir’s!

Am andern Morgen tobte Rike mit einer solchen Vehemenz in den Zimmern umher, daß ich Angst für meine Möbel bekam; um neun Uhr aber war sie fertig, und ich erkannte aus ihren Maßnahmen den festen Entschluß, diesen Tag in der Wäscheküche neben der Waschfrau zuzubringen. „Es ist Alles schon hergerichtet zum Kochen,“ schrie sie mich eilig an, packte einen Laib Brot, eine Flasche Wein, Messer und Gläser in die Schürze und schlug die Gangthür hinter sich zu. Nicht einmal [131] Feuer hatte sie gemacht. Es scheint, daß die Neustädter Hausfrauen dies am Wäschetag selbst besorgen.

An jenem Tag hatte ich übrigens den Küchenzettel mit vieler Schlauheit komponirt, auch ehe ich wußte, daß es mir obliegen würde, ihn „zur Erscheinung zu bringen“. Hugo sollte nichts vom Wäschetag merken, es gab also: eine Reissuppe, die von selber kocht, Ochsenfleisch, dessen Zubereitung ich mir allenfalls zutraute, mit einer Senfsauce, die ich auch für Papa öfters gemacht hatte, und dann – es leben die Konserven! – grüne Erbsen und Zunge. Ein bischen Dessert stand noch im Büffett.

Ich hatte also meine große Küchenschürze angezogen, mit einigen Aesten aus dem Walde der Schwierigkeiten Feuer gemacht, Wasser für das Fleisch und Reis zugesetzt nach Anweisung meines Kochbuches, die Küche aufgeräumt und bei dieser Gelegenbeit allerhand Hamsterplätzchen entdeckt, wo Rike verschimmeltes Fleisch, schwarz gewordenes Rothkraut, den Rückstand von Kartoffelpüree und einige versteinerte Dampfnudeln in schönem Durcheinander verwahrte, weil es offenbar „schade zum Wegwerfen“ war. Nebenbei fand ich auch eines meiner schönen Kristallgläser, das mit abgeschlagenem Fuß im Kehrichtkasten lag.

Sobald ich mich einmal fest genug fühle, werde ich diesem „Juwel“ gegenüber eine andere Haltung annehmen. Rike’s berühmte Ordnung und Reinlichkeit ist gar nicht weit her, man könnte Alles anders und besser thun. Aber vor der Hand darf ich Nichts sagen: sie kann kochen und ich nicht!

Es ging mir übrigens an jenem Morgen auffallend gut von der Hand; das Ochsenfleisch machte seine vorschriftsmäßigen Stadien durch; ich klopfte, verschäumte, that das Grüne hinein, vergaß nicht einmal zu salzen und zog mich nach einer Stunde wieder ein Bischen ins Zimmer zurück, weil es ja genügte, das Feuer zu unterhalten. Drinnen räumte ich auf, deckte vorsorglich den Tisch, damit Hugo gewiß keinen Moment warten müsse, und freute mich schon sehr auf seine Lobsprüche, wenn Alles recht gut und schmackhaft wäre. „Der Weg zum Mannesherzen geht immer durch den Magen,“ pflegt Tante Gustel bei solchen Gelegenheiten zu citiren. Der Briefträger kam auch, brachte allerhand von zu Hause, auch eine neue Modezeitung, in der ich mir rasch die reizenden Winterkostüme ansehen mußte, mit alledem versäumte ich mich etwas, bis auf einmal ein brenzlicher Geruch von der Küche her in meine Nase drang und ich, aufsehend, den Uhrzeiger schon auf Zwölf fand. Heiliger Gott! Nun heißt es, sich eilen!

Ich rannte hinaus – richtig; doch was dort in den Töpfen geschehen war – das, meine Liebe, bleibt – Küchengeheimniß.

Und während ich die verheerende Wirkung der unbezähmten, unbewachten Feuersmacht erst überschaue, höre ich Hugo die Gangthür öffnen. Daß mir sein Erscheinen jemals einen solchen Schreck einflößen könne, hätte ich noch Tags zuvor für eine niederträchtige Lüge erklärt. Aber nun! Mein ganzes, verzweifeltes Bestreben war, ihn ferne zu halten und zuerst die kurzen Minuten zu benutzen, bis er seinen Ueberrock abgelegt und einen Blick auf die angekommenen Briefe gethan hatte. Aber eitel war dieses Hoffen, da steckte er schon den Kopf berein:

„Nun, kleiner Schatz, bist Du bald fertig? Ich habe einen tüchtigen Hunger mitgebracht.“

Wir sind doch schauderhafte Heuchlerinnen, Marie. Natürlich machte ich ein sehr lustiges Gesicht, lief hin, versperrte ihm die Aussicht auf den Herd und sagte, indem ich meinen Kuß in Empfang nahm: „Gewiß, noch eine kurze Geduld, und wir können essen.“ Und nun versuchte ich mit wahrer Todesverachtung zu retten, was noch zu retten war. Eifrig setzte ich meine Bemühungen fort, da schellte es an der Gangthür und ich mußte öffnen. „Ach, um Alles in der Welt, nur jetzt keinen Besuch!“ schrie es in mir, als ich hinlief. Und richtig! ein Sammetpaletot, ein schwarzseidenes Kleid und eine imposante, etwas gelbliche Miene, die von einer Kopflänge höher, als meine kleine Person, herunter fragte, ob die Frau Assessor wohl noch für einen Augenblick zu sprechen sei.

Es war Fräulein Frida Berghaus, die Nichte des Oberamtmanns, die früher in der Residenz lebte, dann hierher kam, um des Onkels Haushalt zu führen und, wie ich im Stillen glaube, nicht abgeneigt gewesen wäre, dieses Geschäft in einem andern Hause fortzusetzen. Hugo sagt zwar, das sei eine grundlose Einbildung; allein ich sah ihre Blicke, als sie uns zum ersten Besuch empfing. So ’was hat man ja doch gleich weg.

Nun, die stand also jetzt vor mir und, solltest Du’s glauben, mitten in meiner Pein und Qual ging mir plötzlich eine Erleuchtung auf, daß Fräulein Berghaus mein rettender Engel werden könne. Mit großer Freundlichkeit sagte ich ihr, die Küchenpflichten hielten mich zwar noch gefesselt, allein mein Mann sei im Wohnzimmer, sie möge nur eintreten, ich würde gleich nachkommen. Sie ließ sich nicht lange bitten – und nun war Zeit gewonnen!

Die kostbaren Minuten wußte ich wohl zu benutzen und fand, daß uns Frauen das Küchengenie doch angeboren ist. Ich konnte noch Vieles retten, und Du kannst Dir meinen Stolz denken, als ich das Fenster aufmachte und in gemessenem Herrschertone hinunterrief in die Wäscheküche: „Rike, kommen Sie jetzt herauf, das Essen ist fertig!“ In der Küche sah es freilich aus wie auf einem Schlachtfeld, das gebrauchte Geschirr, die Küchengeräthe lagen vom Herd bis zu der Thür überall umher, aber das kümmerte mich nicht mehr. Schnell, die Hände gewaschen, die Schürze ausgezogen – einen Augenblick später stand ich im Wohnzimmer mit einer leichten Entschuldigung gegen Fräulein Frida: der „Wäschetag ist ja hier eine geheiligte Institution“. Sie erwiederte mit übertriebener Freundlichkeit. „Ach ja, beste Frau Assessor, entschuldigen Sie selbst nur, daß ich so ungelegen komme, ich wußte, daß Sie große Wäsche haben,“ (So? spricht davon die ganze Stadt?) „und bin nur gekommen (um zu sehen, wie sich die dumme junge Frau dazu anstellt?), um zu fragen, ob Sie Beide uns für Donnerstag Abend das Vergnügen machen wollen“ etc.

Wir wollten ihr das Vergnügen machen, sie schoß noch einige kontrollirende Blicke in den Zimmerecken herum und besonders über den Speisetisch hin, den ich so nett und appetitlich, als möglich, gedeckt hatte. Hugo sagte ahnungslos und sehr vergnügt: „Heute hat meine Frau gekocht, das wird viel besser schmecken als gewöhnlich!“ Und dabei sah er so hübsch und glücklich aus, seine braunen Augen glänzten vor Befriedigung; er ist doch das Bild eines schönen, prächtigen Mannes. Wenn Fräulein Berghaus sich bei diesem Besuch etwas über unser Verhältniß orientiren wollte, so war ihr dies vollkommen gelungen. Und doch, das wirst Du mir nachfühlen, faßte mich eine Empfindung von Bedauern als ich ihr krampfhaftes Abschiedslächeln sah. Womit habe ich es verdient, so viel glücklicher zu sein, als sie?

Dann setzten wir uns zu Tisch und meine, mit so viel Herzklopfen dem Verderben entrissenen Gerichte erschienen. Hugo fand eines ums Andere gut, herrlich, vortrefflich und war in einem Erstaunen über seine geschickte, kleine Frau, der er Alles dies nicht zugetraut hatte. Ich ließ mir seine Lobsprüche von ganzem Herzen schmecken; im Uebrigen war mir der Appetit so ziemlich vergangen.

Für heute genug und übergenug.
Mit tausend Grüßen 
Deine Emmy. 



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aus: Die Gartenlaube 1887, Heft 10, S. 156
Novelle – Brief III
[156]
III.
Neustadt, den 5. December 188 . 

Der erste Schnee, liebste Marie! Draußen stöbert er in dichten Flocken vor dem Fenster nieder, legt weiße Kissen auf die Bäume und Kohlstrünke in dem Gärtchen mir gegenüber und deckt auch mitleidig den fürchterlichen Straßenschmutz, in dem wir bisher waten mußten. Von der hochgelegenen Kirche ziehen sich vier große Schlammströme nach den verschiedenen Seiten nieder, und als ich mich neulich mit Rike durch einen davon mühselig herauf gearbeitet hatte und im Kaufladen am Markt meine Entrüstung aussprach, meinte die Frau freundlich lächelnd: „Ja, das wird jetzt nimmer anders bis zum Frühjahr!“

Eine nette Aussicht! Hier sollte Papa leben; dann könnte er sich seinen steten Jammer über die hohen Gemeindeanlagen für Straßenreinigung ersparen!

Aber was liegt an dem Schmutz draußen, wenn es innen so hell und behaglich ist, wie hier in unsern lieben vier Wänden! Wir sind so glücklich, liebstes Herz, daß mir manchmal eine plötzliche Angst aufsteigt, so könne es nicht fortgehen, weil das zu gut für sterbliche Menschen ist. Wir freuen uns Beide auf jede Stunde des Beisammenseins; Hugo sieht auf sein Junggesellenleben als auf einen erbärmlichen Zustand zurück, und mir kommen meine schönen Mädchentage jetzt wie ein leeres Treiben vor im Vergleich zu der Wärme, die nun mein Herz ausfüllt. Lieb hatten sie mich zu Hause ja Alle auch; aber auszusetzen fanden sie doch den ganzen Tag alles Mögliche an mir, während jetzt Alles recht und gut ist, was ich thue, und Hugo mir alle ganz natürlichen Eigenschaften zum Verdienst anrechnet. Er ist selbst ernsthaft, wie Du weißt; deßhalb entzückt es ihn, mich lachen zu hören, und ich glaube, er wird mir manche Dummheit nachsehen, weil sie mit gutem Humor begangen wird.

Indessen seit jenen schrecklichen Wäschetagen neulich, wo ich Abends, als Hugo im Museum und Rike im Bett war, Scherben mit verbrannten Ueberresten bei Nacht und Nebel hinunter trug und schnell in die große Hofgrube warf; seitdem habe ich mich gewaltig zusammengenommen und suche unbemerkt von Rike zu lernen. Es ist auch nur die Küche für mich das gefährliche Terrain – die Zimmer sind jetzt reizend; ich habe alle möglichen Verschönerungen ersonnen und heute eine glänzende Erfindung gemacht, auf die ich mir nicht wenig einbilde!

Ein Uebelstand war bisher fühlbar – wir hatten so wenig Bilder! Die Möbel und Teppiche waren so theuer, daß Mama vom Bilderkaufen absolut nichts hören wollte, und ich bekam zu Aussteuergeschenken wohl verschiedene Handtuchgestelle, drei Fischbestecke und zwei Eisservice, aber nicht ein Bild. Daß die Menschen daran nicht denken, wenn sie sich über ein Hochzeitsgeschenk den Kopf zerbrechen! Hugo, als ich ihm dies klagte, kaufte noch vor der Hochzeit ein paar große Photographien nach Defregger und ließ sie einrahmen; seine Mama steuerte hier einige von ihren alten Kupferstichen bei: „Les Délices“, „Amour maternel“ und ähnliche Dinge, die man gern ein Bischen hoch hängt. Nun, für den Salon, mein kleines Zimmer und das Eßzimmer reicht es eben; im Schlafzimmer aber war es mit der Kunst völlig zu Ende.

Das ärgerte mich seither, bis mir heute eine plötzliche Erleuchtung aufging! Ich lief und holte die große Mappe mit meinen sämmtlichen Aquarellstudien, Kopien und Bildern, die ja gewiß schlecht genug sind, aber immer noch besser als die gräßlichen Chinesenhäuschen der Schlafzimmertapete, suchte das beste Dutzend aus, nahm Reißnägel, klopfte und hämmerte, und jetzt solltest Du einmal sehen, wie nett es drüben geworden ist. Ueber meinem Bette hängt die berühmte Waldlandschaft, wegen ihrer dunklen Schatten von Bruder Adolf „das schwarze Kanapee“ genannt, geradeaus hübsche kleine Schweizeransichten, und Hugo wird künftig unter dem in Abendgluth erstrahlenden antiken Theater von Messina schnarchen. Ich kann es kaum erwarten, bis er heimkommt und die Ueberraschung sieht.

Du fragst in Deinem lieben, herzigen Briefe nach meinen neuen Bekanntschaften hier. Nun, unsere Besuche haben wir gemacht und dabei in die verschiedensten Häuslichkeiten gesehen, von dem reichen Lederfabrikanten an, dessen knallblauer Salon mit den goldenen Sesselrücken mir in den Augen wehethat, bis zu den verschiedenen Vorgesetzten und Kollegen Hugo’s herum; in einem Hause saßen Mutter und Töchter ehrbarlich, aber gar zu wenig lieblich um den Nähtisch; in dem andern sperrte nach längerem, leisem Parlamentiren aus der Küche hervor, während wir im dunkeln Hausgang standen, eine rußige Magd die „gute Stube“ auf, und wir mußten dort in der Kälte lange warten, bis endlich die verlegene Hausfrau erschien, und nach ihr der Gemahl in einem nichts weniger als sauberen Schlafrock.

Nur in drei oder vier Familien hatte ich einen angenehmen Eindruck, den behaglichsten und reizendsten von allen aber merkwürdiger Weise in dem wenigst eleganten Zimmer, bei einer alten Freundin Hugo’s und seiner Mutter, der verwittweten Oberstin von Baer, deren Söhne seine liebsten Jugendgenossen waren. Das alte Frauchen saß nett angezogen an ihrem sonnigen Fenster gegenüber dem Vogelbauer, unter einer Menge von Grün, das sich aus dem Blumentisch emporrankte. Sie begrüßte mich so herzlich, gab mir einen mütterlichen Kuß auf die Stirn und nannte mich „liebes Kind“: das that mir gar zu wohl. Und als wir nun bei ihr saßen, da sah ich mich im Zimmer um, woher doch der angenehme, wohnliche Eindruck komme. Aber ich wurde nicht klug daraus: die Möbel waren uralt, gar nicht hübsch, das Holz hellgelb geworden, die Ueberzüge verschossen, und trotzdem alles Einzelne unschön aussah, war es entschieden eine reizend gemüthliche Stube, und ich sprach das der alten Dame auch gleich aus.

„Was?“ erwiederte sie mir lachend, „die Besitzerin solcher Renaissanceherrlichkeiten findet meinen altmodischen Kram erträglich?“

Ich lachte auch; wir sprachen weiter, und sie sagte dann, ernsthaft werdend: „Sehen Sie, erstens hängen für mich Erinnerungen, liebe und schwere, an den alten Möbeln; man giebt immer ein Stück von sich auf, wenn man sie wegschaffen läßt; zweitens aber, meine ich, hat man gerade heut zu Tage die Pflicht, durch sein Beispiel der allgemeinen Sucht entgegen zu treten, mehr vorstellen zu wollen, als man ist. Es hat immer zweierlei Menschen gegeben: erinnern Sie sich in den ‚Lehrjahren‘ der hübschen Stelle vom alten Meister und seinem Freunde (ich erinnerte mich nicht, die ‚Lehrjahre‘ waren mir zu langweilig!), wo der Erste soviel auf exquisite Einrichtung, Bewirthung und Bedienung hält, daß er sich nur selten den Luxus einer Gesellschaft gestatten kann, während der Andere oft und gern Freunde einlädt, sich auf seine uralten Stühle niederzusetzen und von gemeinem Geschirr vergnügt zu speisen? Die erstere Sorte von Menschen nimmt jetzt überhand und ihr muß man entgegen arbeiten. Glauben Sie nicht, daß es wie eine Predigt wirkt, wenn eine unzufriedene Frau, die ihren Mann um neue Möbel quält, hier mein altes Kanapeechen sieht, auf dem ich nun schon seit fünfzig Jahren in aller Fröhlichkeit unbequem sitze? Warum ich mir nicht schon lange ein neues kaufte? Ja, sehen Sie, obwohl mir mein guter Alter jederzeit das Geld dazu gegeben hätte – früher achtete man nicht auf so etwas, und später, da war immer etwas Nöthigeres, für die Kinder, fürs Haus oder auch für eine arme Mutter, die mit ihren Fünfen in der kalten Stube saß. So blieb das Kanapeechen stehen, und jetzt ist es mir um den schönsten Sammetdivan nicht mehr feil!“

Das machte mir einen ganz merkwürdigen Eindruck; ich hätte nie geglaubt, daß man sich über alte, häßliche Möbel solche Gedanken machen könnte. Ich nahm mir im Stillen vor, diese Frau oft zu besuchen und auch gelegentlich um Rath zu fragen; denn ich bin gewiß, sie wird sich nicht über meine Unerfahrenheit lustig machen.

Es ist schrecklich, wie man bei den unschuldigsten Gelegenheiten immer wieder anrennen kann. So kam neulich Hugo, mich zu fragen, ob er wohl einige Herren, die früher seine Mutter manchmal für ihn bewirthete, einen Abend in seinem Zimmer haben könne. Natürlich sagte ich Ja; es würde ja sonst so ausgesehen haben, als ob ich ihn von Männergesellschaft zurückhielte. Ich ließ mir Alles von ihm angeben, was sie früher immer hatten: kaltes Fleisch, Salat etc., zum Schluß etwas Glühwein. Glühwein! Davon habe ich noch nie etwas gehört; er meinte, ich könne mir ja bei seiner Mama das Recept holen; das aber wollte ich nicht; ich sah rasch in meinem Kochbuch nach und fand es richtig: „Nimm drei Flaschen guten Rothwein etc. etc.“, stellte mich Nachmittags in die Küche, bereitete eine Probe des geheimnißvollen Trankes mit aller Sorgfalt, gab ihn Hugo zu kosten, der sehr entzückt davon war, und richtete dann Abends, ehe er heimkam, seine Stube wunderhübsch her. Du weißt, das Dekorative ist meine Stärke; ich deckte also auch die spitzenbesetzten Decken so zierlich auf als möglich; ich wollte mein reizendes Glasgeschirr, die hübschen Majolikateller und Bestecke zeigen. Freilich verstehen die Herren nichts davon; das ist immer ein schmerzlicher Gedanke; aber der Herr Oberamtmann konnte doch bei aller Begriffslosigkeit ein dunkles Gefühl bekommen von dem Unterschied dieses Tisches und dessen, welchen neulich Fräulein Frieda für uns gedeckt hatte. Er bog sich, sage ich Dir, unter einer Last von Essen, die für ein halbes Regiment genügt hätte; aber für’s Auge war nichts darauf, nur Teller, Bestecke und Gläser! Nun, also um sechs Uhr kamen die Herren; ich begrüßte sie, entfernte mich dann und schickte ihnen Eins ums Andere hinein; es wurde sehr lebhaft im Zimmer; ich hörte viel lachen; endlich gab ich Rike den Glühwein, in Bowlengläser eingeschenkt, mit dem Kuchenteller auf ein großes Servirbrett und freute mich, als sie mir, herauskommend, erzählte, er schmecke drinnen vortrefflich. Fünf Minuten darauf mußte nachgefüllt werden – die zweite Flasche leerte sich unheimlich schnell, die dritte zerstiebte nur so; auf einmal öffnet Hugo die Thür und ruft sehr heiter heraus: „Emma, noch mehr Glühwein, bitte!“

Rike und ich sahen uns sprachlos an. Wer konnte denn solch eine Völlerei für möglich halten! Und nun nicht einen Tropfen mehr zu haben!

Indem kam Hugo selbst heraus: „Nun?“

„Ach, liebster Mann,“ rief ich voll Verzweiflung, „wir haben ja gar nichts mehr!“

„Wie viel hattet Ihr denn?“

„Drei Flaschen!“

„Für acht Herren!“ lachte er. Mir waren die Thränen nahe. „Na laß nur gut sein,“ tröstete er, „Rike soll rasch einige Flaschen Weißen aus dem Keller holen, der thut es auch!“

Meine Empfindungen dabei wirst Du Dir vorstellen können. Hier war ich doch ganz unschuldig. Warum schreibt solch ein Kochbuch nur nicht: Männer trinken den Glühwein literweise! Da wüßte man doch, woran man ist, und brauchte –

Nein, dieser Hugo! Vorhin werde ich abgerufen; er kommt herein, liest Alles, auch die Wäschegeschichte, die ich ihm so schön verschwiegen hatte, und quält mich jetzt um Mehr davon. Aber nein! Nicht ums Leben erfährt er das. Ich soll Dir übrigens bestellen, das obengenannte Theater von Messina stehe in Taormina, und schnarchen thue er überhaupt nicht. Das ist auch richtig, es war nur eine poetische Wendung von mir! Und hiermit, liebstes Herz, sagt Dir heute Lebewohl Deine Emmy. 




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aus: Die Gartenlaube 1887, Heft 15, S. 253–254
Novelle – Brief IV
[253]
IV.
Neustadt den 16. December 188. 

 Liebste Marie!

Gestern war ich bei dem ersten großen Damenkaffee! Du erinnerst Dich gewiß noch, daß ich es verschworen habe, in einen solchen zu gehen, und auch vor ein paar Tagen, als die Einladung kam, sagte ich zu Hugo: „Nein, ich mag nicht hin, es ist zu gräßlich!“

„Warum nicht gar!“ erwiederte er, „Du kannst Dich davon nicht ausschließen, ohne für hochmüthig verschrieen zu werden. Ueberwinde Dich, Schatz! Es giebt schlimmere Dinge im Leben!“

Mit solchen Redensarten setzen sie ja immer ihren Willen durch; ich ging also, nach höherem Befehl, zur Frau Amtsräthin, aber wenigstens eine halbe Stunde später als die Anderen, die schon vollzählig um den [254] langen, weißgedeckten Tisch saßen, als ich die Thür öffnete. Ein lebhaftes Stimmengewirr ertönte mit dem Löffel- und Tassenklappern zusammen; auch Körbe mit Kuchen in jeder Gestalt machten die Runde; ich bekam eine etwas gehaltene Begrüßung von der Hausfrau und eilte im Gefühle meiner Schuld so schnell wie möglich, am unteren Tischende neben ein freundlich aussehendes junges Mädchen zu versinken, das mit unendlicher Beflissenheit sofort anfing, mir Kuchen, Kranz, Vanillenschnitte, Hefenbretzeln beizuschaffen und immer dringender nöthigte: „Ach, nehmen Sie doch!“

Ich merkte, daß das Mägdegespräch bereits in gutem Zuge war. Die Geister der jüngstverflossenen Köchinnen schwebten über der Versammlung, und aus dem allgemeinen Chor erhob sich die Stimme von Fräulein Berghaus, welche eine längere Erzählung also beschloß:

„Und darum sage ich: es ist eine vorzügliche Probe für die Tüchtigkeit einer Hausfrau, ob sie über ihre Milchreste Kontrole führen darf oder nicht!“

Hier erhob sich ein vielstimmiges Klage- und Entrüstungsgemurmel; ich dachte auch im Stillen an den Topf Milch, den Rike jeden Abend füllen und im Laufe des andern Tages verschwinden läßt. Würde ich es wagen, sie darüber zur Rede zu stellen? Nein, sicher nicht. Also auch noch weit von der guten Hausfrau!

„Ach, die Milch!“ rief eine junge Officiersgattin, „die gehört nun einmal zu den nothwendigen Uebeln; das ist ja doch auch nur eine Kleinigkeit –“

„Fünf Pfennig täglich macht in der Woche fünfunddreißig,“ bemerkte Fräulein Frida.

„Aber denken Sie sich!“ fuhr die Andere unbekümmert fort. „Neulich komme ich um zwölf Uhr in die Küche, finde den Herd weißglühend, alle Töpfe an den Rand gerückt und doch noch zischend im Ueberkochen.

‚Um Gottes willen, Babette, was fällt Ihnen ein, solch ein Feuer zu machen?‘ ‚Ei,‘ erwiedert sie mir, ‚weil noch so viel Holz im Holzstall ist, hab’ ich mir gedacht: ich will’s wegbrennen, bis das neue kommt!‘“

„Nun, da haben Sie’s noch gut gehabt mit Ihrem Eintritt in die Küche,“ sagte kaltblütig ihre Vorgesetzte, die Majorin. „Als ich neulich ins Zimmer meines Mannes trat, stieß ich im Dunkeln an einen Fuß, der von der Chaiselongue herunterhing. Es war die Köchin, die sich hier nach dem Abspülen ‚etwas ausruhte‘, wie sie sagte.“

Alles lachte.

„Ja, es ist arg,“ rief jetzt die Gutsbesitzerin von Walden, die eine lustige und resolute Frau zu sein scheint. „Ich sage Ihnen, wer, wie ich, dreißig Jahre lang Haushaltung führt, der kommt zuletzt dahin, sich die ewige Seligkeit als den dienstbotenlosen Zustand vorzustellen. Ich freue mich heute schon darauf; denn den Himmel habe ich mir an meinen verschiedenen Köchinnen und Hausmamsells redlich verdient.“

„Meine Erfahrung hat mir gezeigt,“ sagte eine andere ältliche Mama, „daß es nur zwei Sorten von weiblichen Dienstboten giebt: die Freundliche, Sanfte, Lahme, Bigotte, Schmutzige, dann die Grobe, Heftige, Unverschämte, die gut kocht und gern putzt. Ich habe fünfundzwanzig Jahre lang zwischen Beiden alternirt und bin im Augenblick wieder bei der Sanften. Aber der Schmutz wächst im Hause, und zu Ostern muß ich eben doch wieder zur zweiten Sorte greifen.“

„Ich,“ erwiederte eine geprüfte Kreuzträgerin, indem sie die Augen zum Himmel hob, „ich habe noch eine dritte Sorte kennen gelernt, die Grobe, Heftige, Unverschämte, Lahme, Bigotte und Schmutzige in Einer Person!“

„Es giebt auch noch die Flinke, Freundliche, die gut kocht –“ wehrte lachend Mama Baer vom Sofa her ab, aber es war umsonst; die Wellen gingen zu hoch.

Ich wandte mich unter ihrem Brausen zu dem jungen Mädchen an meiner Seite und sah in ein paar große, braune Rehaugen und ein rosiges Gesichtchen, von krausem braunem Haar umgeben. Wenn man dem guten Kinde das abscheuliche, grell karrirte Kleid und die Kravattenschleife von hartem Mull und gelber Kartoffelspitze hätte durch etwas Besseres ersetzen können, wäre sie sogar sehr hübsch gewesen. Sie sah mich andachtsvoll an: „Ach, Frau Assessor, ich bin so glücklich, daß ich einmal neben Ihnen sitzen darf! Ich kenne Sie schon lange; Sie werden nicht auf mich geachtet haben, aber allemal, wenn Sie mit Ihrem Herrn Gemahl draußen an unserer Sägemühle vorüber gehen (der Vater ist Holzhändler), dann sehe ich Ihnen noch lange nach, weil Sie mir gar so gut gefallen haben. Nicht wahr, Sie nehmen es nicht übel?“

„Daß ich Ihnen gefalle – gewiß nicht!“

„Nein, daß ich mich so ungeschickt ausdrücke. Aber das ist jetzt einerlei, ich bin ja so froh, daß ich überhaupt mit Ihnen reden darf.“

Na, so etwas sagt man Einem doch nicht umsonst; ich bekümmerte mich also ein wenig um sie und erfuhr, daß Klara ihre Mutter kürzlich verloren hat und nun dem Vater die Haushaltung führt. Aber bei diesem Geschäft geht es dem armen Ding noch viel schlimmer als mir! Sie hielt denn auch nicht zurück mit ihren Nöthen, sondern schüttete gleich ihr ganzes Herz aus, froh, eine theilnehmende Seele zu finden:

„Sehen Sie, beste Frau Assessor, meine Mutter war eine sehr sparsame Frau, und so lange sie lebte, hätte man denken sollen: wir dürften uns gar nichts gönnen – alle Tage Ochsenfleisch und Gemüse; dabei ist in der Küche nichts zu lernen, und so kommt es, daß ich jetzt eben ganz unerfahren bin. Der Vater aber, der mir Alles überläßt, möchte gern manchmal etwas Gutes essen, und morgen ist sein Geburtstag; da habe ich mir in den Kopf gesetzt, ihn mit einem Hasenbraten zu überraschen. Sie müssen nämlich wissen: ich habe keine selbständige Köchin genommen, sondern ein junges, recht braves Mädchen; ich habe gedacht, wir lernen zusammen. Gustel heißt sie. Nun, also heute Morgen schickt der Förster den Hasen; ich gehe erst hinauf, in meiner ‚Davidis‘ nachzulesen; dann nehme ich das Buch mit in die Küche: ‚Also, Gustel, hänge den Hasen dort an den großen Nagel und stelle eine Schüssel unter und jetzt paß auf!‘ Ich lese also langsam vor: ‚Man packt mit der linken Hand die rechte Hinterpfote des Hasen – hast Du’s, Gustel? – dann nimmt man ein scharfes Messer, schneidet rings an den Läufen das Fell ab und zieht es gegen den Leib herunter.‘ Das liest sich ganz leicht, ist aber sehr schwer auszuführen; wir zogen, die Gustel und ich, aus Leibeskräften, bis das Fell endlich herunter war. Und nun las ich wieder vor vom Aufschneiden, und wir suchten es auch so zu machen; aber das wurde schrecklich, Frau Assessor, wir verloren gleich den Kopf! Wenn Sie gesehen hätten, wie das zuging, wo wir in der Verzweiflung überall hinschnitten und wie das Blut in der Küche herumspritzte! Ich weiß nicht, wie wir mit dem Hasen fertig geworden sind – die ‚Davidis‘ hatte ich schon lange bei Seite gelegt – ich war zuletzt nur froh, als er nach einer guten Stunde endlich abgezogen und ausgenommen war! Nicht wahr, so Etwas sollte man eben gezeigt bekommen? Ach, es ist so schwer, nur nach dem Kochbuch zu kochen!“

Ja, das wußte ich am besten; das arme Ding dauerte mich deßhalb von Herzen, und ich nahm mir vor, ihr behilflich zu sein. Sie sah mich strahlend vor Dankbarkeit an, als ich ihr sagte: sie möge zu mir kommen; wir wollten ihre Sachen gemeinsam überlegen.

Die Andern waren mittlerweile von den Mägden auf den lieben Nebenmenschen im Allgemeinen übergegangen, und zwischen Massen von Punsch, Torten, Eingemachtem und kleinem Konfekt flogen verschiedene: „Da muß ich doch bitten, Frau Räthin“ und: „Nein, meine Liebe, da sind Sie ganz irrig berichtet“ hinüber und herüber. Ich setzte mich noch ein wenig zu meiner guten alten Obristin, brach dann so schnell auf, wie es überhaupt anging, und ich kann Dir sagen: ich hatte auf dem Heimweg ein ganz miserables Gefühl. Welch verlorene Zeit, nein, schlimmer als das, welcher Schaden am eigenen Innern sind solche Kaffeegesellschaften! Ich war noch ganz wild beim Nachhausekommen und wollte gerade Hugo erklären, daß ich eben doch künftig nicht mehr hingehe, als ich einen Herrn bei ihm im Zimmer traf – aber wen? Du räthst es nicht: den „großen Unbefriedigten“, jenen sogenannten interessanten Doktor Brandt, der sich vor zwei Jahren auf allen Bällen herumtrieb und Einem mit seinen Redensarten über die „Unzulänglichkeit der Existenz“ das lustigste Souper verderben konnte. Trotz seiner Weltverachtung suchte er im Stillen eine reiche Frau; aber sie sollte zugleich eben so schön als geistvoll sein, um das Opfer seiner Person einigermaßen aufzuwiegen. Nun, er fand diesen Ausbund nicht unter uns, so lebhaft er auch einstweilen bald da, bald dort Kour machte, und sich schleunigst wieder zurückzog, sobald er eine verlockendere Aussicht zu finden glaubte. Darüber mag denn sein kleines Vermögen immer „unzulänglicher“ geworden sein: eines schönen Tags war er fort, und es gab Leute, die ihm zutrauten, er möge am Ende den „Sprung ins Dunkle“ wirklich gemacht haben, den er manchmal als das Ende eines verfehlten Lebens anzudeuten liebte.

Nun, jetzt ist er hier, der „Sprung“ hat ihn in der großen Leimfabrik draußen niederfallen lassen, die bei Westwind so schrecklich riecht, daß man alle Fenster schließen muß, und dort kann er sein ästhetisches Feingefühl an der Frau seines Direktors und ihren drei dicken Töchtern erproben. Das nennt man, glaube ich, dramatische Gerechtigkeit!

Mir ist sein Erscheinen hier keine große Freude und Hugo, glaube ich, auch nicht; aber annehmen muß man sich seiner doch.

Werden wir uns zu Weihnacht sehen, liebste Marie? Ich hoffe es, ich wünsche es sehnlichst; aber ob wir wirklich heimreisen werden, das weiß ich noch nicht. O, wie himmlisch wäre es! Einstweilen hofft darauf Deine Emmy. 


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aus: Die Gartenlaube 1887, Heft 18, S. 302–303, 316, 318
Novelle – Brief V
[302]
V. 0 1.

Den 6. Januar. 
Das neue Jahr ist gekommen und hat uns kein Wiedersehen gebracht, meine Marie! Das war mir sehr schmerzlich – ist es doch das erste Mal seit unseren Kinderjahren, daß wir nicht mit einander Blei gossen und Schiffchen schwimmen ließen. Erinnerst Du Dich noch an mein räthselhaftes Gußprodukt vom vorigen Jahre? Du meintest: ein Herrscherstab mit einer Blumenkrone; ich meine jetzt mehr und mehr: es sei nur ein – Kochlöffel gewesen!

Denn mit meinen Herrscheraussichten steht es sehr schwach; das habe ich neulich erfahren, als ich versuchte, mit einem energischen Sturm die Heimreise für die Weihnachtsfeiertage bei Hugo durchzusetzen. Er war von Anfang an dagegen, das heißt, seine Mutter war es, weil sie fand, die Reise koste doch viel und wir seien ja „eben erst heimgekommen“. Ich merkte gleich, daß sie ihn beeinflußt hatte, hielt es aber für besser, zu schweigen, bis Mamas letzter dringender Brief kam, und dann, als wir nach Tisch beim gemüthlichen Kaffee saßen, begann ich meinen Angriff. Hilfstruppen standen auch bereit: vor Tisch war ein Karton aus S. angekommen, worin mir die Blüthner ein paar Sachen zur Ansicht schickte, ein Hütchen aus Crème-Plüsch mit grüngoldenen Federchen und einen kleinen Federmuff – reizend, sage ich Dir, und nicht einmal theuer, wie gemacht zu meinem dunkelgrünen Kleid. Aber ich wollte Hugo zeigen, daß ich sogar am Nothwendigen sparen kann, damit er dann meinem Urtheil traut, wenn ich etwas für unumgänglich erkläre. Er aber schien gar nicht einmal zu ahnen, was mich dieser Verzicht kostete, sondern sagte nur obenhin: „Natürlich, natürlich, wozu brauchst Du hier einen so eleganten Hut!“

Ich überwand mich, darauf nichts zu antworten; als ich ihm aber nun auf Grund dieser Ersparniß die Heimreise vorschlug, da fing er an, den Kopf zu schütteln, immer stärker, trotzdem ich ihn mit Bitten, Schmeicheln und Küssen bestürmte. Zuletzt sagte er ganz bestimmt: „Es geht nicht. Für die paar Feiertage – denn von Urlaub ist ja keine Rede – können wir nicht so viel Geld ausgeben. Schlage Dir’s aus dem Sinn!“

Darauf hin brauchte ich mir denn gar keine Mühe zu geben, um so zu weinen, wie es Mama allemal thut, wenn sie bei Papa etwas durchsetzen will. Schließlich giebt er ja immer nach, auch wenn er anfangs noch so bestimmt erklärte: es geht nicht. Aber merkwürdig, darin ist Hugo anders. Er stand ganz kaltblütig auf und holte – nicht etwa kölnisches Wasser, sondern das Ausgabebuch, schlug es auf und sagte:

„Wie viel haben wir im November bereits voraus gebraucht?“

Und das war ja richtig, eine ganze Menge Geld war mir durch die Hand gegangen, und für was? Für einen Keller voll dummer, langweiliger Steinkohlen, einen Klafter Holz, Kartoffeln, Küchenregale, wasserdichte Stiefeln für Hugo und lauter solche Dinge, an denen kein Mensch Freude haben kann. So hatte ich schon fünfzig Mark vom December vorausgenommen, ohne mir etwas dabei zu denken, und nun sollte das diese Folge haben!

Mein Gott, man nimmt eben Geld irgend woher, wenn man keines hat! So dachte ich bisher; Hugo aber bewies mir mit einer unangenehmen Deutlichkeit, daß dies nicht möglich sei und die Reise sich ganz von selbst verbiete.

„Aber, Hugo, wenn ich es doch so gern möchte!“ schluchzte ich ganz außer mir.

„Aber, Emmy, wenn es doch durchaus nicht angeht!“ erwiederte er mit einer empörenden Kaltblütigkeit. „Sei nicht so unvernünftig, kleines Weib! Ich muß jetzt fort. Mache, daß Du helle Augen hast, bis ich wiederkomme!“

Damit ging er; bat mich nicht einmal um Verzeihung, sondern ging!

O, ich fühlte mich doch so unglücklich! Der schöne Weihnachtsabend zu Hause versunken und dafür die Aussicht, ihn bei der Schwiegermutter zuzubringen, mit ihrem alten Hausfreund, dem langweiligen Notar Reutter, der maschinenmäßig lange Abende durch Whist spielt und jedes Mal, wenn er einen König auswirft, dazu sagt: „Jetzt kommt der Käfig und sticht den Bupf!“ Das ist sein einziger Witz, und sie hört ihn seit dreißig Jahren!

Noch lag ich in meinen Thränen mit dem Kopf in der Sofa-Ecke, als es klopfte. Ich fuhr auf, wischte schnell die Augen ab und sah Doktor Brandt vor mir stehen; ich hatte über all der Aufregung ganz unsere Verabredung vergessen, an jenem Tage mit einander zu musiciren. Du weißt, daß er sehr gut Violine spielt, aber er hat auch eine schöne Tenorstimme und singt zum Beispiel die „Winterreise“ ganz ergreifend, „aus der Tiefe seiner eingebildeten Schmerzen heraus“, wie Hugo sagt, der ihn nicht besonders liebt. Ich mache mir ja auch nicht viel aus ihm; aber seine Bitte, ihn als „Verbannungsgenossen“ zu dulden, konnte ich ihm doch nicht abschlagen. Andere Leute langweilen Einen auch und machen nicht einmal Musik! Nun, ich steckte also die Lichter an (Klavierlampen waren auch bisher ein großer, aber vergeblicher Wunsch!) und beugte mich dann so tief als möglich über die Noten, die ich aussuchte. Er sah mich dabei beobachtend an und sagte mit seinem gelassenen Ton:

„Sie haben geweint, gnädige Frau?“

Ich wischte hastig die Tropfen ab. „O, es ist nichts, nicht der Mühe werth –“

„Nicht der Mühe werth, sich zu verstellen, allerdings,“ erwiederte er. „Naturen wie die Ihre bringen das nicht fertig. Wozu auch? Glauben Sie nur, ich sehe sehr wohl, wie auch Sie sich hier nicht an Ihrem Platze fühlen – unglücklich sind –“

Herrgott, nein, aber so Etwas! Augenblicklich versiegten meine Thränen, und mich erfaßte ein fürchterlicher Zorn über eine solche Dreistigkeit.

[303] „Da sind Sie vollständig im Irrthum,“ sagte ich so scharf wie möglich, „und ich verbitte mir jede solche Unterstellung Ihrerseits. Ich habe geweint, ja, weil – weil ich meine Eltern nicht an Weihnachten sehen werde, und …“ ich fühlte selbst, daß dies unglaubwürdig heraus kam und sah es auch an seinem Gesicht. Dabei fing mir die Stimme schon wieder an zu beben, ich machte also eine entschlossene Wendung: „Und nun spielen wir endlich, statt die Zeit mit solchen Reden zu verderben.“ Dabei gab ich ihm sein a an.

Er verneigte sich schweigend und griff nach der Geige; dann begannen wir unsere Sonate, es war die F-dur von Beethoven. Und nun siehst Du, Marie, es ist doch etwas Herrliches um die Musik! Wie der erste Satz frisch und freudig daherströmte, dann das süße Andante kam mit dem sehnsuchtsvollen Klang und hinterher das graziöse Scherzo – ich spielte mir das Herz immer leichter und hatte während des prachtvollen Finale’s das Gefühl, als bekäme ich die größten Herrlichkeiten geschenkt. Es ging brillant und als wir geendet hatten, sprach ich mein Entzücken aus. Er sah starr vor sich hin:

„Ja, Musik ist ein gutes Surrogat für Glück –“

„– sagt Heyse in einer seiner Novellen,“ fiel ich ihm sofort unerbittlich ein.

„Es sagen’s außer ihm noch Viele,“ erwiederte er großartig. „Sie freilich, die Sie glücklich zu sein behaupten, können darüber keine Erfahrung haben.“

Ich wollte ihm eben tüchtig erwiedern, da hörte ich ein Geräusch in dem dunklen Hintergrund des Zimmers und sah, mich umwendend, Hugo’s Mutter, schwarz und ernsthaft wie immer dastehen, als trete ein Gespenst ins Zimmer. Wir hatten über dem Spielen ihr Klopfen überhört, ich eilte auf sie zu, bat sie, abzulegen und zündete rasch die große Lampe an. Sonst bleibt sie nicht, wenn Hugo ausgegangen ist, diesmal aber legte sie ab, nahm den Thee an, den ich ihr anbot, und musterte, während wir tranken, mit ihren scharfen Augen den jungen Herrn, welcher, offenbar sehr geärgert über die Störung, in unartigem Schweigen dasaß und meine Versuche, ihn meiner Schwiegermutter einigermaßen näher zu bringen, hartnäckig ignorirte. Endlich stand er auf und ging mit einer kurzen Entschuldigung.

Kaum hatte sich die Thür hinter ihm geschlossen, so kam die strenge Frage. „Musicirt dieser Herr öfter mit Dir, Emmy?“

Nun sieh, Marie, es ist doch mit der Empfindlichkeit eine kuriose Sache. Warum ärgert Einen nun so ein Ton gleich bis ins innerste Herz hinein, daß man nicht anders kann, als auch gereizt erwiedern? Hugo hat mir wohl darüber schon gepredigt, aber das versteht er nicht, die Männer sind ja vollkommen harthörig für solche Stimmennuancen. Ja, ich gestehe es, ich bin empfindlich, aber das ist nun einmal meine Eigenthümlichkeit, also sollte man sie schonen, ändern kann ich mich darin nicht. Deßhalb erwiederte ich auch ziemlieh kühl:

„Jawohl, wir wollen jede Woche einmal spielen.“

„Dann solltest Du Dir Hugo’s Gegenwart ausbitten!“

„Warum? Es ist nichts Unrechtes dabei!“

„Es ist unschicklich,“ erwiederte sie jetzt auch scharf, „und eine junge Frau muß auch den leisesten Schein meiden.“

„Es fällt mir nicht ein, mich nach der Meinung dieses kleinen Nestes zu richten,“ fuhr ich heraus und bereute es eigentlich auf der Stelle. Denn statt nun auch loszulegen, sah sie mich nur einige Sekunden schweigend an, mit einem Ausdruck von Trauer, der mir schon öfter in ihrem Gesichte auffiel. Dann sagte sie in dem eisigen Ton, der mich immer und immer wieder von ihr abstößt:

„Für eine erwachsene Person sprichst Du manchmal noch sehr unvernünftig. Uebrigens muß ich jetzt nach Hause. Hugo, scheint’s, kommt doch nicht mehr.“

Ich holte ihre Kleider, dabei trat sie an den Flügel und sah den noch dastehenden Karton. Sie warf einen ganz entsetzten Blick hinein, nahm dann das schillernde Müffchen heraus, vorsichtig, als könne es beißen, und sagte, es hoch haltend, mit einem langsamen, vernichtenden Kopfschütteln: „Unglaublich! Das willst Du doch hoffentlich nicht anschaffen?“

„Ich thäte es sehr gerne, wenn ich konnte,“ erwiederte ich, trotz aller guten Vorsätze doch wieder spitz, „aber es ist mir zu theuer.“

„Du würdest auch allgemein damit auffallen.“

„Daran läge mir nichts,“ wollte ich schon wieder losfahren, besann mich aber und sagte nur: „Ich werde auch meinen Hut weitertragen, obgleich er zu dem neuen Kleid nicht paßt!“

„Du könntest Dir ja einen neuen dazu machen,“ erwiederte sie nun auch mit einer Anstrengung zur Freundlichkeit. „In meiner Jugend machten wir uns Alles selbst (lieber Gott, das sieht man ihrem Hut heute noch an), und es schiene mir eine sehr große Wohlthat für die Gesellschaft, wenn alle Frauen des Mittelstandes, statt Schneiderrechnungen zu bezahlen, die weit über ihre Verhältnisse gehen, sich ihre Kleider mit einer einfachen Hilfe im Haus arbeiteten. So macht man’s hier, liebe Emmy, und es sollte mich sehr wundern, ob Dir nicht bald diese gute Sitte des ‚kleinen Nestes‘ nachahmungswerth vorkommen wird.“

Ich dachte an die Vogelscheuchen, die hier in guter Sitte auf allen Straßen wandeln, und that nur innerlich einen hohen Schwur! Aber ich schwieg und begleitete die alte Frau mit dem Licht hinaus. Nie, nie werden wir uns innerlich nahe kommen!

Ich wollte Dir den Weihnachtsabend erzählen, liebste Marie, und bin so ins Plaudern gerathen. Aber das thut nichts. Der Brief bleibt bis morgen liegen, und ich opfere der Freundschaft eine Zwanzigpfennigmarke, um Dich für den verlorenen mündlichen Herzenserguß zu entschädigen! Für heute adieu!



[316]
V. 0 2.

Nun, jetzt hieß es also, sich für die Bescherung rüsten. Ich hatte, im festen Glauben, nach S. zu kommen, noch gar nicht ordentlich vorgesorgt. Für meine Schwiegermutter allerdings ließ ich mir von Mama eine sehr hübsche Cuivrepoli-Platte schicken zur Wanddekoration, weißt Du, von denen, die genau aussehen wie getriebene Arbeit und für das, was sie vorstellen, fabelhaft billig sind. Das war also besorgt, aber Hugo? Was schenkt man einem Manne, der nicht raucht, keinen eleganten Schreibtisch will, nicht einmal Pantoffeln trägt?

Einen Wunsch von ihm wußte ich allerdings, aber der war mir unsympathisch. Er hatte schon oft im Scherz gesagt: „Es ist ein großer Mangel an Deiner Aussteuer, daß Du nicht einen guten Atlas mitgebracht hast!“ Denn er selbst hat nur einen „sehr schönen und kostbaren großen Stieler“ aus den vierziger Jahren, den seine Mutter wie ein Heiligthum hielt, wo man durch drei Viertel von Afrika auf einem großen weißen Fleck spazieren gehen kann und wo an dem Nil unten ein Fragezeichen ist. Bei den Donaufürstenthümern steht: Kleine und große Walachei. Aber war schadet das? Sofia und Bukarest stehen doch darauf; das Uebrige kann man sich dazu denken, und über kurz oder lang wird dort Alles doch wieder anders!

Du begreifst also, warum ich mich mit dem Gedanken des Atlas nicht befreunden kann; es steckte mir auch bereits ein anderer im Kopfe. Wie nothwendig wären ein Paar hübsche Klavierlampen! Nicht für Hugo direkt, das gebe ich zu, aber es gehört doch zur Einrichtung; er hat Freude an der Einrichtung, auch an meinem Klavierspiel, also wäre es [318] doch auch für ihn! Mit diesen Gedanken und Zweifeln trug ich mich am Tage nach dem schwiegermütterlichen Besuche, mußte mich aber bald entscheiden; denn es war hohe Zeit, nur noch ein paar Tage bis zum Bescherabend.

Einstweilen begab ich mich ans Backen. „Willst Du nicht Stollen backen, Emmy?“ hatte Hugo gefragt. „Die Mutter bäckt sie immer zu Weihnacht.“

„Ach, Hugo,“ erwiederte ich ihm, „dazu muß man einen norddeutschen Magen von Kindesbeinen an haben; uns im Süden schmecken diese wochenlang aufgehobenen trockenen Stollen nicht. Du bekommst etwas Besseres!“

Ich wollte ihm einen guten englischen Kuchen machen, von Mandeln, Zucker, Rosinen, Citronat und Gewürz, der anders schmeckt als so ein bleichsüchtiger Stollen mit seinen sparsamen Rosinen; ich stellte mich also mit Rike in die Küche, wog ab, klopfte, stieß, zerrieb, theilte die vielen Ingredienzien ab, schlug einen gewaltigen Schnee und füllte die Geschichte endlich in die große Form. Rike wollte immer dazwischen fahren:

„Aber, Frau Assessor –“

Ich erwiederte ihr aber: „schweigen Sie, Rike, das verstehe ich einmal besser, thun sie nur, wie ich Sie heiße!“

Nun sollte der Kuchen eine Stunde backen. Das that er auch und wurde schön braun, ich schürte langsam und wissenschaftlich, um den gleichen Hitzegrad zu behalten, es ging Alles vortrefflich. Endlich kam er aus dem Ofen und sollte nun gestürzt werden. Ich überließ das Umschwingen Rike, als der Geübteren; sie machte es auch ganz schön, aber – als sie die Form emporhob, da rieselte und bröckelte es, und der ganze Inhalt thürmte sich vor meinen Augen in einen lockeren Berg auf die Platte. Von einem Kuchen keine Spur! Ich stand starr vor Entsetzen.

„Das hab’ ich mir gleich gedacht!“ sagte endlich Rike mit kaum verhehlter Schadenfreude, „gnädige Frau haben ja kein Mehl hinein gethan. Aber ich hab’ ja nichts sagen dürfen.“

Das Mehl! Richtig, da stand es noch, und ich in meiner Hast mit den vielen andern Sachen hatte es ganz übersehen. Ach, es war abscheulich, ich hätte beinahe weinen mögen, aber ich bezwang mich wegen Rike. „Nun, einen ganz guten Auflauf für heute stellt es doch noch vor,“ tröstete diese, „und die andere Hälfte giebt morgen die Mehlspeise. Der Herr Assessor merkt nichts!“ Wie solche Leute gleich den schwachen Punkt loshaben!

Nun, daß ich jetzt lief und die Bestellung wegen des Atlasses an den Buchhändler schrieb, kannst Du Dir denken. Es kam mir auf einmal vor, als ob Hugo sich doch nicht so sehr über die Lampen freuen würde; der Unglückskuchen hatte mich ganz deprimirt. Dann vergingen drei, vier Tage, und es blieb ganz still. Der Buchhändler schickte wohl den Atlas, aber keine Kiste von zu Hause kam, ich konnte mir mohl denken, daß Mama, die stets mit der Post in Fehde lebt, ihre Sendung wegen Rippenbruchs einer alten Pappschachtel retournirt bekam und sie dann nicht mehr rechtzeitig fortbrachte. Aber auch an Hugo kam kein geheimnißvolles Packet – am Ende wollte er mir Geld schenken! Von seiner Mutter erwartete ich mir überhaupt nichts Anderes, als den „Justus Möser“, für den sie so schwärmt, oder Jean Paul’s „Levana“.

Ach, wie dunkel und frostig war der Abend, als wir zur Bescherung hingingen, wie kämpfte ich mit meinen Heimwehthränen! Aber Hugo sollte nichts merken: er freute sich wie ein Kind auf die Bescherung. Oben war es hell und warm, der Theetisch stand im kleinen Entréezimmer, der unvermeidliche Notar saß bereits daran: Hugo’s Mutter ging ab und zu, viel lebhafter als gewöhnlich, auch merkwürdig freundlich, mit glänzenden Augen, und dabei fiel mir zum ersten Male ein, daß sie vermuthlich in ihrer Jugend sehr schön gewesen sein muß. Man denkt doch bei alten Leuten nie, daß sie auch einmal jung waren!

Im großen Zimmer erklang das Glöckchen, und als wir eintraten, glänzte uns der Christbaum entgegen. Die alte Köchin Lene, die natürlich auch dabei sein muß, zog das Tuch von unserer Bescherung und nun: ein Rufen, ein Umarmen! „Mein alter Junge, welche Herzensfreude!“ es war Hugo’s Kabinettsphotographie. „Emmy, Kind, wie schön!“ Damit meinte sie die Schüssel. Hugo fuhr auf seinen Atlas los, aber ich selbst stand starr! Zwei prächtige Klavierlampen mit Reflektoren und daneben – das Hütchen, das Müffchen, dem ich um so viel Schmerz entsagt hatte! „Hugo –“ da kam er schon, mich mit Küssen zu überfallen, und lachte mit strahlenden Augen. „Nun, Schatz, hab ich’s recht gemacht?“

„Hugo, Du – und wie ist es denn moglich – es kostet ja so viel Geld,“ stammelte ich durch einander, „ach und die Lampen!“

„Die sind von mir,“ sagte die alte Frau. „Ich sah neulich, daß sie Dir fehlen, als Ihr so hübsch spieltet.“

Das war Alles. Ich hatte schon vorher gemerkt, daß sie Hugo gar nichts von jenem Abend gesagt. Marie, mir ging ein Stich durchs Herz!

Und gleich darauf noch einer. Der alte Reutter ließ die Messingschüssel auf seinem Finger tanzen und sagte: „Was zum Kuckuck haben wir denn da? Wozu ist so ein Ding gut?“

Ich sah mich um – ja, wozu sollte das gut sein in dem altmodischen Zimmer, dessen Wände bedeckt sind mit verblaßten Daguerreotypen, Pastellportraits und bescheidenen kleinen Landschaften in Wasserfarben? Keine Möglichkeit, das glänzende, aufdringliche Ding dazwischen zu hängen; es wäre rein lächerlich gewesen. Daß mir das früher nicht einfiel! Ich hatte freilich auch gar nicht darüber nachgedacht.

Als nun Alles betrachtet und bewundert war, auch eine sehr schöne Fensterdecke, die Hugo von der Mutter erhielt, weil es in seinem Zimmer zieht, als auch der Notar mit seinen weitläufigen Dankesbezeugungen zu Ende war, setzten wir uns zu Tisch und es wurde merkwürdig gemüthlich. Zuletzt kam Punsch in einer alten bauchigen Suppenterrine (mit Stollen natürlich), und ich war bereits so lustig gestimmt, daß ich die Geschichte mit dem englischen Kuchen zum Besten gab. Es wurde tüchtig gelacht; Hugo meldete feierlich seine Ansprüche auf eine zweite, verbesserte Auflage an, seine Mutter aber sagte: Tröste Dich, Emmy! Dergleichen kann vorkommen, selbst alten, erfahrenen Hausfrauen. Ich erinnere mich einer schöngebratenen Weihnachtsgans, bei welcher meinen Gästen beim ersten Bissen Gabeln und Hände sanken: die Füllung war, statt mit Majoran, mit Wermuth gewürzt, aus der verwechselten Tüte! Das war noch ärger, als Dein Kuchen!“

Wir saßen noch ziemlich lange beisammen. Die Mutter sah ihren Sohn mit glückseligen Blicken an, wobei auch einige Strahlen auf mich fielen, dann holte Hugo eine alte Ledermappe herbei, worin sich alle möglichen Andenken früherer Jahre, Kinderbildchen von ihm mit einem blonden Lockenkopf, erste Briefe und ähnliche Dinge befanden; dazu erzählte der alte Reutter eine vermuthlich alle Jahre wiederkehrende Geschichte, wie er dem kleinen Hugo einmal beinahe eine Tracht Prügel aufgemessen hätte, wegen frevelhaftem aus dem Fenster Hängen. Dann brachte der große Hugo wieder den Atlas und die Männer vertieften sich in den Kongolauf und disputirten eifrig über die Kolonialfrage. Seine Mutter saß unbequem; ich holte ihr den Schemel, und dabei sah ich, daß er alt und abgeschabt war, und später betrachtete ich ihr Schlüsselkörbchen mit dem verblichenen Perlenrand, in dem die meisten Perlen fehlten. Warum war mir das Alles nicht früher aufgefallen!

Soll ich Dir sagen, was ich an jenem Abend fühlte? Daß ich anders bin als Diese, daß mir vielleicht etwas fehlt, was sie haben; aber ich kann nicht herausbringen, was es ist. Wenn ich an unser Haus zurückdenke, an Mama’s lebhafte Beweglichkeit, wie es stets um sie strudelte, und wie wir Alle sie plagten und mit ihr disputirten, daß sie nervös wurde und weinte, und dann doch wieder die Vergnügungslustigste von Allen war, wenn ich das vergleiche mit der stillen, gleichmäßigen Ruhe der alten Frau und Hugo’s tiefer Ehrfurcht für sie, dann weiß ich nicht, was ich denken soll. Ist es nur der Unterschied der großen und der kleinen Stadt, oder sind das andere Menschen?

Vom Whist war an jenem Abend keine Rede, und die Zeit ging merkwürdig schnell herum. Sonst hatte ich die Minuten gezählt, um von der alten Frau fortzukommen, heute wäre ich ganz gerne noch geblieben, als Hugo zum Aufbruch trieb. So gingen wir den ziemlich weiten Weg unter dem klargewordenen Sternenhimmel langsam, wie ein richtiges Liebespaar. Aber plötzlich, an der Ecke, wo unser Haus sichtbar wurde, erschrak ich fürchterlich: alle Fenster waren hell erleuchtet! „Hugo, es brennt!“ schrie ich und eilte voraus, die Treppe hinauf und riß die Salonthür auf.

Ach! da stand noch ein Christbaum, größer, schöner, als der eben verlassene mit vielen Lichtern, und darunter lag – die ganze Bescherung von zu Hause, ein Berg von herrlichen Dingen, und Briefe und Photographien, und alle die fernen Lieben waren wie leibhaft gegenwärtig, auch Du, meine liebe, liebe Marie! Mich überwältigte es im Moment so, daß ich mich hinsetzte und in Thränen ausbrach, aber ich war selig dabei, und Hugo war es auch, der Gute, der dies Alles bedacht und heimlich ins Werk gesetzt hatte.

O, welche schöne, glückliche Weihnacht war das! Wie hätten wir in unserm kleinen Nest nicht mit den Größten und Herrlichsten der Erde getauscht! „Sieh,“ sagte Hugo später, als wir am Fenster standen und noch einen Blick in die schneeglänzende Nacht hinaus warfen, „der Mond steht hoch über den Dächern, aber ein volleres Glück, als das unserige, deckt doch keines von allen.“
Emmy. 



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aus: Die Gartenlaube 1887, Heft 23, S. 375
Novelle – Brief VI
[375]
VI.
24. Januar. 

Hugo!“ sagte ich neulich zu meinem Gebieter, „sind wir eigentlich in Deutschland zu arm für unsere Bildung oder zu gebildet für unsere Armuth?“

„Wie meinst Du das?“ fragte er, „das klingt ja ganz philosophisch.“

„O, ich meine nur, daß wir doch eigentlich immer Dinge anfassen müssen, die für eine gebildete Frau unschicklich sind, und dann hinterher wieder dergleichen thun, als wüßten wir gar nichts davon.“

„Die Nothwendigkeit des Letzteren sehe ich nicht ein,“ meinte er. „Was glaubst Du denn, was ein Anatom oder Chirurg Alles ‚anfassen‘ muß, oder auch Dein Freund im melancholischen Künstlersammtrock draußen in seiner Fabrik? Mir kommt es vor, als ob die wahre Bildung eben darin bestehe, jeder Lage gerecht zu werden, ohne sich dadurch in seinem Innern bedrückt zu fühlen.“

Er hat gut reden, denn seine „Lage“ ist unter allen Umständen eine recht erträgliche; wie aber die meine vorgestern war, das sollst Du jetzt hören, liebste Marie, Du einzige Vertraute meiner Kalamitäten! Wir haben hier seit acht Tagen eine Bärenkälte, über Nacht gefror in der Speisekammer Alles: Milch, Eier, Aepfel, Orangen: das war aber noch nicht das Schlimmste. Rike ging schon ein paar Tage lang mit eingebundenem Kopf und fürchterlichem Humor herum; das ganze Haus roch nach dem Brustthee, den sie für „ihren Kartarr“ kochte; dabei putzte sie aber mit Fanatismus, jeder Einrede zum Trotz. Und nun, als ich vorgestern früh ins Speisezimmer kam – kalt, dunkel, unaufgeräumt, draußen Alles still, und endlich in ihrer Kammer Rike mit dick geschwollenem Hals im Bette. Das war ein Schrecken! Denn hier giebt es nicht, wie in S., augenblicklich zu holende Aushilfen; da heißt es, selbst anfassen. Ich machte nur schnell das Frühstück für Hugo, damit er fort kam, und dann – ja dann! Kannst Du Dir Emmy vorstellen, Kohlen schleppend, Asche ausleerend, kehrend, Geschirr aufspülend und zwischendurch den Grobheiten lauschend, welche Rike für jeden wohlgemeinten Zuspruch aus dem letzten Viertel ihrer Luftröhre hervorpfiff?

Glücklicherweise kam gegen zehn Uhr Klara, das gute Kind, mit dem ich mich schon recht befreundet habe; sie zerschmolz in Entsetzen und Mitleid; „ihr Ideal“, wie sie mich schwärmerisch nennt, in einer so höchst schauderhaften Situation zu erblicken, blieb gleich da, half, wo sie konnte, lief zum Arzt; dann kochten wir zusammen, und es ging gut! Aber im Speisezimmer, wo es zu Mittag warm sein sollte, blieb es kalt; der bisher überheizte Ofen zog nicht, hatte schon gestern stark geraucht, und nun brannte es gar nicht mehr! Dazu die fürchterliche Kälte, die durch die Scheiben hereinschnitt!

„Klara,“ sagte ich, „weißt Du was? Statt wieder zum Ofenkehrer zu laufen, putzen wir das Rohr selbst aus; das ist kein Hexenwerk.“

„O nein, freilich,“ sagte sie, „das hab’ ich schon oft mit angesehen.“

Ein Borstwisch mit langem Stiel stand in der Holzkammer; wir holen ihn, steigen hinauf, öffnen das Thürchen und: rutsch, rutsch! das Rohr durch!

„Da steckt Etwas,“ meint Klara; „wenn ich mir wüßte, was das ist?“

„Gieb her!“ sage ich, stoße mit aller Kraft zu – puff! fährt am andern Ende die Kapsel hinaus und ein Berg von Ruß fällt ins Zimmer, auf den Teppich und steigt als schwarze Wolke in die Höhe!

„Klara,“ sage ich nach einer langen Schreckenspause, „nun wissen wir, was drinnen war.“

„Ja, Frau Assessor, aber wie kriegen wir den Ruß wieder heraus?“

Rathlos sah ich sie an und dann zum Fenster hinaus in den schönen, beneidenswerth reinen Schnee, der sich so glänzend weiß über die Gärten dehnte. Und darüber kam mir die Erleuchtung!

„Schnell, Klara, so geht’s! Wir fassen den ganzen Gräuel in eine Schüssel zusammen; dann holen wir einen Kübel voll Schnee im Hofe, werfen ihn auf den Teppich und kehren so lange herum, bis der Ruß daran hängen bleibt.“

Das thaten wir, es ging auch; aber den Schmerz in den Fingern beim Schneeholen, die Wäsche hinterher, bis wir glücklich wieder rein waren! Hugo hatte doch keine Ahnung, als er sich im warmen Zimmer zu Tische setzte, was da Alles vorausgegangen war!

Nein, das soll mir Niemand bestreiten: die Aufgaben einer „gebildeten Hausfrau“ sind doch etwas gar zu mannigfaltig! Erst soll man Musik treiben und wissen, wo Bulgarien liegt, dann seine Kleider und Hüte selbst machen, hierauf nicht nur sich freuen, wenn kluge Männer reden, sondern auch verstehen, was sie meinen, wenn sie Einen mit aufgewärmten Schopenhauer’schen Redensarten anschwindeln; man soll kochen können wie ein Hotelchef und dann wieder bei Gelegenheit gelernter Kaminkehrer sein! Findest Du nicht, daß ich einige Berechtigung zu der oben gemeldeten Frage an meinen Gatten besaß?

Sie war mir durch den Kontrast eingegeben; denn Tags zuvor hatten wir vornehm gethan auf dem Kasinoball zur Einweihung der neuen Gasbeleuchtung. Wie mir das komisch vorkam, die altbekannten Lüster, zu denen man bei uns höchstens einmal hinaufguckt, wenn Einen ein Herr zu bodenlos langweilt, als Gegenstände der allgemeinen Bewunderung zu sehen! Was sie beschienen – na, ich will nicht raisonniren, aber mäßig war’s! Aufgebügelte Sommerkleider, dazwischen wieder Einiges, was den Namen Toiletten verdiente. Ich hatte mein hellblau Seidenes mit dem Spitzenüberkleid und den Akazien: ich glaube, es hat Effekt gemacht; wenigstens schien mir ein gewisser Ausdruck in Fräulein Frida’s Gesicht dafür zu sprechen. Klara war mit uns; ich hatte sie mit Gewalt noch etwas menschlich hergerichtet, einen ordentlichen Ausschnitt an ihrem philisterhaften Rosakleid durchgesetzt, daß ihre hübschen Schultern zur Geltung kamen, und mit einer Handvoll von meinen Rosen und Schleifen nachgeholfen. So sah sie doch mit ihren prächtigen dunkeln Augen und den krausen braunen Haaren allerliebst aus. Nur ist sie noch schrecklich schüchtern.

Brandt war auch da und mit ihm, denke Dir, jene Frau von Kolotschine, die letzten Winter in S. die Geschichte mit dem Grafen L. hatte, über die so viel geredet wurde. Natürlich mußte damals Brandt auch für die „interessante Frau“ schwärmen, die eine so souveräne Verachtung für deutsche Philisterhaftigkeit hat. Damals beachtete sie ihn nicht sonderlich; aber jetzt, wo sie ein paar Wochen zum Besuch ihrer Schwester, einer ihr ganz unähnlichen, sehr zurückgezogen lebenden strengen Majorsfrau, hier ist, scheint er ihr einziger Trost zu sein.

Sie hatte eine schwarze, schmelzglitzernde Toilette an, sah übrigens noch außerordentlich hübsch und pikant aus („was für wunderschöne rosa Wangen diese Dame hat!“ meinte das gute Unschuldsschaf Klara) und sagte, uns lorgnettirend, ehe noch Brandt zur Vorstellung kommen konnte: „Das ist ja ein wahrer Antinouskopf, Ihr Assessor!“ Natürlich laut genug, daß er es hören konnte, und – darin sind alle Männer gleich schwach – es schmeichelte ihm doch! Er verbeugte sich viel verbindlicher, als gerade nöthig gewesen wäre. Wir setzten uns in eine Ecke, weil der beginnende Ansturm für die Füße gefährlich wurde; er vergaß auch über der lebhaften Konversation, daß wir diesen ersten Walzer hatten mit einander tanzen wollen, und so tanzt’ ich ihn mit Brandt, welcher gekommen war, mich darum zu bitten.

Es tanzte sich schlecht in dem langen, schmalen Saal der „Krone“; zum Ueberfluß rannten Einen noch jeden Augenblick die alten, wackelbeinigen Honoratioren an, die hier mit ihren Ehelichsten einen vorsichtigen Walzer riskirten; dazwischen fuhr dann wieder einmal ein vereinzelter Lieutenant als schneidiger Komet mitten durch das Gedränge. Ich hatte bald genug an diesem Vergnügen, steuerte also meinen Tänzer zu Klara hinüber, die eben frei war, und stellte ihr den im Städtchen bereits vielbesprochenen „interessanten Doktor“ vor. Sie erwiederte seine kühle Verbeugung mit ihrem lebhaftesten Erröthen; das Weitere überließ ich ihnen und begab mich zu meinem Gatten zurück. Eben hörte ich noch Frau von Kolotschine zu ihm mit ihrem schmachtenden Accent sagen: „Ich liebe alles Einfache, Große, Kraftvolle. Die Lügen der Civilisation sind mir verhaßt. Kennen Sie Tolstoi?“

„Nur sehr oberflächlich,“ sagte der abscheuliche Mensch. Nicht eine Zeile von ihm hat er je gelesen!

„O, den müssen Sie näher kennen lernen. Er ist so groß. Ich kann Ihnen seine Hauptwerke geben; ich glaube sicher, daß sie Ihnen gefallen werden!“ Dazu ein langer Blick und ein langsames Fächerzuklappen. Und was für animirte Augen dieser Hugo machte!

Aber, was war das?! Die neuen Gasflammen fingen an zu flackern, daß Einem ganz schwindelig wurde; plötzlich setzten sie aus. Alles starrte nach den Lüstern, wo längliche Flammen schwebten. Auf einmal totale Finsterniß und allgemeines Gelächter. Der älteste Kronensohn, der bisher als eleganter Tänzer sich geschwungen, bat voll Verzweiflung die verehrten Herrschaften, doch nur einige Minuten Geduld zu haben, und tastete sich hinaus. Ein neues schallendes Gelächter begrüßte gleich darauf den Hausknecht, der mit einem trübseligen Talglicht im Messingleuchter hereintrat, das er vor die Musikanten hinstellte. Bald nach ihm erschien ein Kellnerzug mit den alten ehrlichen Petroleumlampen, die nur jetzt etwas schwer anzubringen waren! Indessen, die Stimmung litt nicht darunter; in einem gemüthlichen Halbdunkel wurde weitergetanzt; auch Hugo erinnerte sich jetzt doch, daß er mir den ersten Walzer im Ehestand noch schuldig war. Frau von Kolotschine entfernte sich bald; die Geschichte war ihr doch wohl zu „einfach“ und nicht „groß“ genug!

„Doch eine merkwürdige Frau,“ sagte Hugo zu Brandt, der sie begleitet hatte und zurückkam.

„Jawohl,“ erwiederte dieser und sah bekümmert auf den Boden. „Sie hat Vieles erlebt.“

Ja, das glaube ich auch! –

„Ach, Frau Assessor, wie himmlisch schön war es heute!“ flüsterte mir Klara ein paar Stunden später beim Fortgehen zu. „Sehen Sie nur das reizende Bouquett, das mir Herr Doktor Brandt im Kotillon brachte!“

„Klara,“ erwiederte ich ihr strenge, „in einer gewissen Beziehung taugen die Männer alle nicht viel. Nimm Dich nur in Acht!“

Und habe ich nicht Recht, meine Marie?

Das war mir doch eine ganz merkwürdige Erfahrung. Wenn sogar Hugo – aber nein, ich will alle weiteren Nutzanwendungen sparen.

Wenn Dir einmal der Tag kommt, wo Du Dich auch über Deinen Richard verwunderst, dann mache es nur wie ich: klug und nicht dergleichen gethan! Und mit dieser Weisheitsregel schließt für heute
Deine Emmy. 




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aus: Die Gartenlaube 1887, Heft 27, S. 444, 466–467
Novelle – Brief VII
[444]
VII. 1.
Neustadt den 1. Februar. 

Nein, liebste Marie, da bist Du doch im Irrthum! Ich fühle mich gar nicht „unbehaglich in diesem Krähwinkel“; im Gegentheil, es ist mir manchmal ganz verdächtig, wie leicht ich mich im Ganzen einlebe und was für Stiefelsohlen und Kommissionenkörbe ich bereits natürlich finde. Daß ich manchmal sehr gern bei Euch wäre, ist gewiß, aber jedes Ding hat seine zwei Seiten, und hier lerne ich Etwas kennen, wovon man in der großen Stadt keinen Begriff hat: eine gewisse schöne Stille und Gemüthlichkeit, die mir wohlthut. In S. hetzt man doch sein Leben eigentlich auf eine unglaubliche Weise herunter! Was preßten wir zu Hause Alles in einen Tag hinein: Schlittschuhlaufen, Besuche, Theaterproben, schließlich noch eine Gesellschaft; wie rannten wir nach Hause, um dazwischen noch Toilette zu ändern, wie müde und abgespannt waren wir am Ende des Karnevals! Und wenn man gar die arme Mama ansah mit ihrer stehenden Sorgenfalte über unsere endlos aufzugarnirenden Röcke und ihrer Aengstlichkeit, ob wir hier „freundlich“ und dort „zurückhaltend“ genug waren, dann hätte man denken sollen, das Vergnügen sei doch die schwerste Arbeit von allen.

Hier aber, wo höchstens alle acht Tage etwas vorfällt, was auf diesen Titel von fern Anspruch erheben kann, hier geht man in sich und bekommt „Stimmung“ und fängt sogar an, den „Wilhelm Meister“ zu lesen, und fühlt dabei, daß man trotz aller Bildung herzlich unwissend ist. Aber das soll Alles noch kommen, Zeit habe ich jetzt und viele stille Stunden in meinem lieben, hübschen Zimmerchen, wo Sonnenlicht und Hyacinthenduft vom Fenster her strömen und nur das leise Uhrticken die Stille unterbricht. Dann und wann auch hallt ein gedämpfter Schall von der Küche her, wo Rike abspült.

Um sechs Uhr kommt Hugo nach Hause; dann lesen wir oder es wird Musik gemacht, wenn Brandt mit der Violine erscheint. Ich sage Dir, diesen Unheimlichen mache ich zahm! Früher imponirte er mir ungeheuer mit seinem spöttischen Lächeln und den kalten grauen Augen; aber jetzt hier in den einfachen Verhältnissen und gerade im Gegensatze zu Hugo’s energischer Tüchtigkeit kommt er mir so albern vor mit seinen Affektationen, daß ich manchmal die Geduld verliere und ihm tüchtig den Kopf wasche. Merkwürdigerweise verträgt er das sehr gut. „Sie sind eine Natur!“ seufzt er dann mit apathischer Resignation, und Klara, das gute Kind, die auch oft Abends dabei sitzt, sieht ihn dann mitleidsvoll aus ihren schönen Augen an wegen der vielen hohen und unverstandenen Schmerzen, die er unter seinem braunen Sammtkittel herum trägt. Denn von diesem läßt er nicht; er ist für ihn ein Ueberbleibsel aus den schönen müßigen Residenzzeiten, wo er ein Bischen Wissenschaft und sehr viel Atelierklatsch betrieb und sich stets zu den Künstlern hielt. Nun freilich hat ihn die „gemeine Noth des Lebens“ zwischen ihren Zangen; aber im Sammtrock erträgt sie sich doch offenbar etwas leichter. Und außerdem stechen seine blonden Kraushaare auch so hübsch dagegen ab!

„Klara,“ sagte ich neulich, „mache mir nur keine solche Dummheit und verliebe Dich in diesen Menschen.“

„O, Frau Assessor, wo denken Sie hin? Wie könnte ich auf einen so bedeutenden und geistreichen Herrn Anspruch machen!“

Der „hohe Stern der Herrlichkeit“, natürlich. Anders thun wir’s einmal nicht. Aber ich will die Augen offen halten. – Das Verhältniß zu diesem guten, unschuldigen Kind ist mir übrigens eine Herzensfreude. Nicht daß sie Dir den geringsten Eintrag thäte, meine herzliebste Marie, Du bist und bleibst die Erste, aber ich habe das Gefühl, hier einer Seele etwas nützen zu können. Und wenn man noch so glücklich zu Zweien ist, man spürt gleich eine Erhöhung des Behagens, wenn noch ein Paar dazu kommt und es mitgenießt! Das angebotene „Du“ hat Klara fast mit Entsetzen abgelehnt, „sie würde nie so keck sein“: aber zu ihr müsse ich es sagen, und so duzt denn jetzt meine zwanzigjährige Frauenwürde ihre achtzehnjährige Unerfahrenheit.

Ich war wiederholt bei ihr draußen in der großen Sägemühle, die stattlich und malerisch im Erlengrund liegt, und sah mir dabei ihre und Gustelchen’s Anstalten an. Das Letztere fand ich bemüht, einen Rehrücken in die unabgezogene Haut zu spicken, während vom Morgen her noch die schmutzigen Stiefel überall in der Küche herumstanden.

„Sie theilt sich die Arbeit am liebsten selbst ein!“ meinte Klara. Ich machte ihnen darauf hin Beiden den Standpunkt klar und freute mich, wie sachverständig das klang; dann wirkten wir zusammen, um den Rehrücken zu Schick zu bringen; darüber versäumte ich mich etwas und – ja, dann war der Gebieter ungnädig, als ich bei vollkommener Dunkelheit erst heim kam.

Das ist auch so ein Punkt! Erinnerst Du Dich noch, wie Fräulein Sendtner im Institut immer einen weisen Mann citirte, der gesagt haben soll: Alle Erfolge meines Lebens verdanke ich dem Umstand, daß ich immer eine Viertelstunde früher fertig war als nöthig. Das war zwar entschieden aufgeschnitten von dem Weisen; denn das kann Niemand; aber manchmal fällt mir doch jetzt das Wort ein, weil, unter uns gesagt, das der einzige Punkt ist, über den wir manchmal, Hugo und ich, schon fast Verdruß bekommen haben. Lieber Gott! Man hat eben dann und wann noch Etwas zu thun im Moment, wo ausgegangen werden soll. So ein Mann, der nur den Rock zu wechseln und den Hut aufzusetzen braucht, hat ja keinen Begriff, was Einem Alles vorkommen kann. Ein Stich an der Rockdraperie losgegangen, ein paar Schuhknöpfe, die eben dann abbrechen, wenn man’s am eiligsten hat – oder die Handschuhe sind fort, die eben noch da lagen, und man kann sie nicht finden, während der Mann vor der Thür herum wüthet, „er stehe nun bereits eine halbe Stunde da und noch sei kein Fortkommen.“ (Es ist nämlich erstaunlich, wie sie in solchen Fällen übertreiben, Hugo auch, obgleich er sonst so wahrhaft ist.)

Das Aergste aber, der Gegenstand, vor dem ich einen wahren abergläubischen Schrecken habe, als sei es ein heimtückischer Kobold, der sich mit Absicht versteckt, das ist mein Schlüsselbund; er hat mir schon schreckliche Viertelstunden bereitet. Ganz ohne solche geht es bei Andern auch nicht ab, das weiß ich; der alte Professor Michaelis z. B. pflegt auf eine Erkundigung nach seiner Frau ironisch lächelnd zu antworten: „Meine Frau ist wohl und sucht Schlüssel!“ Aber damit kann man sich nicht trösten. Frau Michaelis ist ja beinahe unzurechnungsfähig vor Zerstreutheit, mit der will ich mich nicht vergleichen lassen!

Neulich, am Sonntag, war es schrecklich! Die Schwiegermama erwartete uns zu Tisch, und sie ist ja von einer Pünktlichkeit, die etwas Unnatürliches hat. Alles geht bei ihr am Schnürchen: sie selbst, die alte Lene, der asthmatische Mops, der genau die Plätze kennt, wohin er darf und wohin nicht, die alte Kuckucksuhr, auf deren genauen Zeigerstand die Gäste einzutreten haben. Nun, an jenem Morgen hatte ich mich etwas versäumt – ich bin nun einmal keine Pedantennatur – und kam erst gegen Zwölf zum Anziehen. Da fand sich, wie immer, wenn es pressirt, noch allerhand: eine frische Krause war einzunähen, ein Nestel riß im Zuschnüren, und mit alle diesem Hin- und Herrennen war es plötzlich dreiviertel Eins. Hugo kam im Paletot mit den Handschuhen herein und sagte ungeduldig: „Bist Du denn noch nicht fertig, Emmy? Es ist die höchste Zeit.“ Nun, so Etwas muß man Einem ja nur sagen, der bereits in Aufregung ist; ich rief also heftig. „Verschone mich nur mit Drängen; das ist mir unausstehlich; ich bin ja so gleich fertig!“ und lief ins Schlafzimmer zurück, Hut und Mantel zu holen. „Bringe den Pultschlüssel mit!“ rief er mir nach, „ich muß noch Geld haben.“

Im Schlafzimmer waren alle Schubladen herausgezogen, aber kein Schlüssel daran. Zehn Minuten vorher hatte ich damit aufgeschlossen, das wußte ich, und nun war er weg. Ich rannte ins Eßzimmer – nichts! an den Weißzeugschrank in der Garderobe – nichts! in die Küche: „Rike, helfen Sie suchen, mein Schlüsselbund fehlt,“ zurück in den Salon: „Hugo, nur einen Augenblick, mein Schlüsselbund –“ Nun aber brach es los, der Mann wurde ordentlich wild, darüber kam ich natürlich ganz außer mir und fing an, mit fliegenden Händen Alles umzuwühlen, und inzwischen rückte der Uhrzeiger immer vorwärts und jetzt schlug es Eins. „Hugo,“ sagte ich flehend, „laß uns gehen! Deine Mutter ist sonst zu schrecklich böse, und ich suche heute Abend in Ruhe, wenn ich heimkomme.“

„Nicht einen Schritt,“ erwiederte er mit unheimlicher Ruhe und setzte sich rittlings auf den Stuhl. „Unser ganzes Geld liegt in dem Pult; wir gehen nicht eher, bis der Schlüssel da ist. Zu spät ist es nun bereits ohnedies.“

Mir brach der Angstschweiß aus; ich fing wieder die Wanderung durch die Zimmer an, suchte im Blumentisch, hinter den Fensterkissen, im Staubtuchkörbchen, im Kohlenkasten, im Bücherschrank; Hugo legte mit verbissenem Grimme den Paletot ab und zog die Handschuhe aus. Rike blieb schadenfroh in ihrer Küche; ich irrte zuletzt nur noch rathlos herum, kam dabei auch wieder in die dunkle Garderobe, da, plötzlich – ein Klirren auf dem Boden – ich bückte mich und fühlte den Schlüsselbund unter der schmutzigen Küchenwäsche, die ich vorhin noch aufheben wollte!

„Hugo, Hugo, da ist er!“ rief ich ganz glücklich, aber er war und blieb verstimmt, sagte nur noch: „Es ist jetzt gerade eine halbe Stunde zu spät!“ und redete unterwegs kein Wort. An der Gangthür schrie Lene: „Aber nein, so zu spät zu kommen, mein ganzer Pudding ist verdorben!“ Nun, das Uebrige kannst Du Dir jetzt selbst ausmalen – den Blick, der mich drinnen empfing, und die eiskalte Antwort auf meine gestammelte Entschuldigung: „ich bin das schon gewohnt, liebe Emmy, Rücksichten erwartet man von der heutigen Jugend nicht!“ Alles, was ich in den letzten Wochen allenfalls gewonnen, war jetzt mit einem Male wieder hin, ich fühlte mich moralisch abgethan und beugte mein schuldbeladenes Haupt auf die durch langes Stehen hartgewordenen Suppenklöße. Die Stimmung blieb tragisch, trotzdem das Essen nicht einmal so sehr verdorben war, umsonst suchte der gutmüthige alte Reutter mit seinen schrecklichsten Anekdoten Heiterkeit zu verbreiten; umsonst büßte ich dann den langen Nachmittag am Whisttisch, nachdem ein Versuch, mit Hugo zum Spaziergang zu entrinnen, schmählich mißglückt war. Ich war eigentlich am allerwüthendsten auf ihn, daß er mich so vollkommen im Stiche ließ. Weißt Du was? In gewisser Beziehung sind die Männer auch feige – wir fürchten die Spinnen und sie die Scenen! Das schreibe ich hier ganz im Allgemeinen, ich kann auch meine psychologischen Momente haben. so gut wie Frau v. Kolotschine, die mit Vorliebe das Verhältniß von Mann und Weib diskutirt.

O Gott, dabei fällt mir ein: ich muß sie ja in drei Tagen hier zum Abendessen haben, sie und noch vierzehn Andere! Ich fürchte mich entsetzlich, bis das vorbei ist. Wärst Du doch hier, daß wir mit einander berathen könnten!




[466]
VII. 2.

Die Gesellschaft ist überstanden, liebste Marie, und mir ist zu Muthe, wie Einem, den wir einnal in der alten Geschichte hatten – erinnerst Du Dich noch – der auch nicht wußte, als die Schlacht vorbei war, ob er gewonnen oder verloren hatte. Pyrrhus hieß er, glaube ich, oder war es Hannibal? Ich weiß nicht mehr; jedenfalls kann es ihm vorher nicht schlechter zu Muthe gewesen sein, als mir, je näher der fatale Donnerstag kam. Erst hoffte ich, sie würden Alle absagen; aber Gott bewahre, sie wollten Alle das Vergnügen haben! Dann wachte ich manchmal Nachts auf mit dem Gefühl, es sei etwas ganz Schreckliches los, und legte mich mit dem Seufzer: Ja so, Donnerstag! auf die andere Seite. Zuletzt überlegte ich mir noch ein plötzliches Unwohlsein, aber das hätte Hugo nicht gelitten, und so kam endlich der Tag, und ich gewann denn auch gleich den richtigen Schlachtenmuth, als „bei Tagesanbruch das Streitroß wieherte“ und mit gesträubten Mähnen und der Kaffeekanne eine halbe Stunde früher als gewöhnlich ins Zimmer hereinschoß.

„Mache Deine Sache schön,“ sagte Hugo im Fortgehen, „und nicht wahr, richte Alles so ein, daß Du Abends vom Tisch nicht aufstehen mußt; ich mag das nicht leiden.“

O, ich kannte den Grund dieser Abneigung. Vorige Woche sagte Frau von Kolotschine, als sie, wie gewöhnlich, über den Tisch hin perorirte: „Ich finde die deutschen Frauen nicht so praktisch, wie ihre Männer glauben. Sie thun immer selbst die Arbeit der Dienstboten, statt diese zu dressiren. Die Französinnen sind praktischer, die Engländerinnen gebildeter, die Russinnen patriotischer, was ist eigentlich die deutsche Frau? Ich weiß es nicht, ich glaube, sie ist – Frau Buchholtz.“

Nun bitte ich Dich! So Etwas darf man sagen unter dem Vorwand „nationaler Studien“!! Ich kann sie nicht ausstehen, weißt Du; aber einladen mußte ich sie doch, und deßhalb kam es mir selbst darauf an, daß Alles so glatt wie möglich ging. Für den späteren Abend war mir nicht bang; wir wollten, statt stundenlang am Tisch zu sitzen, die Bowle im Salon trinken, dazu Musik machen; ich legte meine Mappe mit italienischen Photographien auf – Frau von Kolotschine sollte sehen, daß der arme Hugo doch nicht ganz so beklagenswerth ist wie sie glaubt. Tagsüber schafften wir eifrig in der Küche, machten italienischen Salat, Rehbraten, Kompote, die Füllung für die Pastetchen zurecht, und gegen Viere ging ich dann daran, den Auszugtisch zu vergrößern. Aber, o Schrecken! das ging nicht; wir zogen, schoben, stießen – umsonst, das frische Holz war aufgequollen und rührte sich nicht. Mich faßte die Todesangst; wir verdreifachten unsere Anstrengungen, knieten und lagen viertelstundenlang darunter; ich rief noch in meiner Verzweiflung Hugo, der gerade fortgehen wollte; er rüttelte fürchterlich und ließ ein paar Donnerwetter los, die auch nicht halfen; endlich holte er einen Hammer – „stoßt den Zapfen aus, Gott bewahr das Haus!“ – ein Krach, und langsam dehnte sich kreischend das Ungeheuer und wir athmeten auf. Aber viel Zeit hatte es gekostet; Hugo versprach mir, die bestellten Südfrüchte selbst mitzubringen; ich konnte unmöglich noch einmal ausgehen! Meinen Tisch deckte ich wunderschön; ich hatte Tischkärtchen gemalt, stellte Silber und Krystall so zierlich wie möglich auf mein schönstes Damastgedecke und sprach mir dabei fortwährend Muth zu. Meine Hauptangst betraf nur Rike. Sie ist schrecklich, wenn sie in „Verbiesterung“ fällt, und das passirt ihr, sowie die Ereignisse sich drängen. Ich suchte ihr beim Kochen und Richten so sanft wie möglich die Servirordnung immer wieder einzuschärfen, aber ihr patziges: „Werd’s schon machen!“ tröstete mich wenig, und der Vergleich ihrer plumpen Gestalt mit unserem geschickten Stubenmädchen daheim war auch nicht gerade zur Erbauung gemacht.

Als ich endlich gegen Sieben mit Allem fertig war und hinaufeilte, mich rasch ins Kleid zu werfen, da fühlte ich wahrhaftig etwas wie Neid gegen diese Rike, die nur ruhig weiterzukochen brauchte und nicht nach aller Hetze und Arbeit noch die liebenswürdige Hausfrau vorzustellen hatte!

Knapp war ich angezogen, da erschienen die ersten Gäste und fast zugleich mit ihnen Hugo; ich sah ihn nur eiligst entschwinden, aber zur Begrüßung kam er doch noch zurecht. Bald war die Gesellschaft beisammen; Oberamtmanns, die Schwiegermama und Reutter, Amtsrichters, die Oberstin Baer, Frau von Kolotschine mit ihrem Schwager, Klara und Brandt. Dieser fand für angemessen, einen großen Veilchenstrauß mitzubringen und mir mit seiner zusammenklappenden Verbeugung zu überreichen. Ich ärgerte mich über den einfältigen Menschen, der wohl weiß, daß dergleichen hier nicht Sitte ist, und stellte den Strauß bei Seite. Fräulein Berghaus lächelte spöttisch, und die Mama sah skandalisirt aus.

Die Unterhaltung beim Thee ließ sich ganz gut an. Die alten Damen saßen; Frau von Kolotschine stand, die Tasse in der Hand, bei den Herren, entfaltete eine pompöse Schleppe und war sehr graziös und animirt, besonders mit Hugo, den sie bei jeder Gelegenheit auszeichnet. Leider waren die Tischplätze an seinen Seiten für das Alterthum bestimmt, und er konnte sie nicht führen. Aber wenigstens kam sie ihm gegenüber: das ist für schöne Augen auch Etwas!

Endlich saßen wir und das Essen sollte erscheinen. Es dauerte lange, zu lange; ich wollte vom Stuhl auffahren; Hugo’s Blicke bannten mich fest. Die Unterhaltung begann spärlich zu werden.

„Wir sind dreizehn!“ sagte Frau von Kolotschine zu Brandt, flüsternd, aber doch hörbar genug. Wir waren es allerdings, aber nur, weil ihre Schwester nicht mitgekommen war; sie hätte davon schweigen können; denn unangenehm bleibt das immer, auch wenn man sonst wirklich aufgeklärt ist! Hugo schlug sich ins Mittel. „Daran wird sich doch ein so großer Geist nicht stoßen?“ sagte er scherzhaft.

„Ich weiß nicht,“ erwiederte sie, „wir in Rußland sind abergläubisch. Denken Sie sich, einmal bei dem Fürsten X…“

Ich war ihr jetzt aufrichtig dankbar, dennn während sie ihre Schauergeschichte erzählte, achtete Niemand darauf, wie lange es dauerte, bis Rike erschien. Endlich, endlich kam sie mit dem schwanken Brett und gab die Bouillontassen herum, von rechts natürlich und bei Hugo anfangend, statt bei seiner Nachbarin. Sie hatten zu lange gestanden, waren kühl geworden und jede zeigte einen leichten Fettrand. Das war unangenehm; aber ich ließ mir nichts merken, und das Bedienen ging leidlich; nur dröhnte das Zimmer unter Rike’s Schritt. Würde sie nun die Pastetchen glücklich füllen und hereinbringen? Es dauerte wieder eine fürchterliche Zeit, und ich hatte ihr doch Alles zugerichtet! Eben setzte der alte Notar aus einander und belegte es mit vielen Beispielen, daß die Zahl dreizehn nichts Lebensgefährliches an sich habe; da trat Rike aufs Neue an, mit finsterer Entschlossenheit die Schüssel vor sich hertragend, hochgehäuft – sie hatte gleich die ganze Reserve dazu genommen – nun trat sie neben den Stuhl der Amtsrichterin und statt anzubieten schwupp! leerte sie zwei von den Pastetchen auf deren Teller ab, dann wieder schwupp! zwei auf den des Majors und würde, wenn ich ihr nicht sofort in die Zügel gefallen wäre, in dieser Weise weiter „servirt“ haben. Du kannst Dir meine Alteration vorstellen! Hugo machte finstere Augen, Frau von Kolotschine lächelte; ich zog Rike hinter die Portiere zu einer energischen Flüsterung, kam dann hinter ihr heiter und unbefangen wieder heraus und beobachtete mit starrem Lächeln, während der Herr Oberamtmann in dem unterbrochenen Bericht über Ursachen und Wirkungen seiner Karlsbader Kur fortfuhr, Rike’s ferneren Schmerzensgang um den Tisch. Die vergessene Erbsenschüssel hatte Klara schnell aus der Küche geholt.

Nun ging es mit dem Dekorum zu Ende. Rike’s Gemüthszustand hatte sich durch den erhaltenen Rüffel dergestalt verdüstert, daß Alles zu befürchten stand. Ich sah ihrer Miene an, daß die Explosion beim ersten Wort erfolgen würde. So griff ich denn mit Klara an und gab die Schüsseln herum – bei Oberamtmanns neulich war ja auch nicht servirt worden; das tröstete mich einigermaßen. Aber ach! die Bratenplatte ließ einen häßlichen Rußrand auf dem Damasttuch zurück; die Saucière war im ungeschickten Eingießen vollgetropft; ich litt innerliche Qualen, wie der Indianer am Marterpfahl. Hätte ich doch hinausgehen dürfen, wie die hiesigen Frauen, die ganz unbefangen verschwinden, ehe der Braten kommt, und mit ihm triumphirend zurückkehren! Aber freilich macht sich Frau von Kolotschine eben über diese lustig!

Die Unterhaltung aber ging inzwischen laut genug, Alles sprach und schrie kreuz und quer über den Tisch.

„Und ich sage Ihnen, die Schwurgerichte müssen reformirt werden.“

„Ich sage Ihnen, Bismarck könnte, wenn er nur wollte, aber er will eben nicht –“

„Das leugne ich, Fräulein Berghaus. Man kann Aerztin, Malerin, Bildhauerin sein und daneben eine vorzügliche Hausfrau und Mutter. Ich habe eine Freundin, welche sieben Kinder –“

„Die armen Würmer!“ …

„Nicht einmal theuer! Wenn ich denke, daß mein Dunkelgrünes eine Mark fünfundsiebzig –“

„Emmy!“ rief Hugo dazwischen, „,wo ließest Du das Brot?’“

Mein Gott, ich hatte vergessen, noch ein Körbchen zu füllen, aber war es wohl zart von ihm, mir das über den ganzen Tisch hinüber zu rufen? Ich hatte genug, übergenug. Und jetzt stand ich auf, trotz des Verbotes, winkte Klara, schellte Rike herein; wir räumten ab, kehrten das Tischtuch, setzten Butter und Käse auf, nun die Südfrüchte, ja – wo waren die?!

Ich trat an meines Gatten Stuhl. „Hugo,“ fragte ich leise, „wo sind die Datteln und Malagatrauben?“

„Herrgott, die habe ich vergessen!“

„Wie einfältig!“ stieß ich im Zorn heraus; denn ich war wüthend, weil nun mein ganzes Dessert verdorben war. Die paar Tellerchen mit Weihnachtskonfekt nahmen sich gar zu mager aus.

Ich sage Dir, ich war fertig, bis dieses Souper zu Ende war. Die gute Mama Baer sah, was in mir vorging, und drückte mir die Hand, als ich ihr den Teller reichte. Neben dem Oberamtmann wieder sitzend, machte ich eine Bemerkung, über die kleinen Mißgeschicke, welche scherzhaft sein sollte.

[467] „O das macht nichts, bei einem jungen Frauchen nimmt man das nicht so genau," sagte von der andern Seite die Amtsräthin.

„Besonders wenn sie so hübsch und liebenswürdig ist," fügte der alte Herr galant bei. Aber mir war es wie ein Dolchstoß. Also haben es Alle gemerkt, und ich war blamirt!

Die Empfindung verließ mich nicht mehr den ganzen übrigen Abend. Mit Hugo sprach ich nicht; er setzte sich auch so fest zu Frau von Kolotschine, oder vielmehr, sie nahm ihn so ausschließlich in Beschlag, wie sie das schon ein paar Mal in Gesellschaft gethan. Brandt, der momentan in Ungnade zu sein scheint, hielt sich, nachdem wir unser Stück gespielt hatten, stets an meiner Seite, Fräulein Frida lächelte wieder. Und nun führte Hugo Frau von Kolotschine zum Flügel; sie spielte, spielte Chopin, und, Marie, besser, viel besser als ich! Ich fühlte ein inneres Brennen, aber wenn auch – ich überwand mich, trat zu ihr und sagte: „Was gäbe ich darum, dies auch so zu können!“

„Wünschen Sie sich das nicht, liebes Kind,“ erwiederte sie herablassend, „es kostet viel Herzblut, Chopin so zu spielen!“ Und mit ihrem bedeutungsvollen Augenaufschlag fixirte sie Hugo.

„Dafür ist aber dann der Zauber auch vollkommen,“ sagte dieser und küßte ihr die Hand zum Dank.

Ich sagte nichts mehr, wandte mich zur Seite, wo die Bowle stand, und schöpfte aus. Sie war gut, aber das machte mir keine Freude mehr; es war mir jetzt Alles einerlei. Die alten Herrschaften unterhielten sich, meine Photographienmappe blieb geschlossen. Ich glaube, sie fühlten sich aber jetzt bei den qualmenden Cigarren Alle recht gemüthlich, denn es wurde halb Eins, bis sie gingen.

Und als nun die Letzten fort waren, wer saß da am Ofen und schluchzte herzbrechend und wollte gar keine Vernunft annehmen? Das war Emmy, die ihren Mann mit Vorwürfen überhäufte, von den Südfrüchten an bis zu der koketten Russin, behauptete, er habe sie vor der ganzen Gesellschaft bloßgestellt und sich selbst kompromittirt, keine seiner Einreden beachtete, bis er es endlich müde wurde und mit einem scharfen: „Kommst Du jetzt?" das Licht ergriff.

„Nein!“

„Dann bleibe nur, ich gehe …“

Und fort war er. Ich lehnte meinen Kopf an die kalten Ofenkacheln und weinte herzbrechend, ungefähr eine halbe Stunde, dann mußte ich mir Mühe dazu geben, und endlich ging es gar nicht mehr. Es wurde auch kalt im Zimmer, ich begann, meinen Trotz zu bereuen, und nahm mir vor, nur noch ein Weilchen zu warten, bis er eingeschlafen wäre, um mich dann leise ins Bett zu stehlen. Mein Kopf sank tief und tiefer, plötzlich schreckte ich von einem Geräusch auf. In der Thür stand Hugo und betrachtete mich mit einem sonderbaren Ausdruck.

Ich flog auf, ihm entgegen, er sagte nur: „Emmy, sollen wir uns heute zum ersten Mal nicht gute Nacht sagen?“

O Marie, er ist doch gut – seelengut! Ich fiel ihm um den Hals. Er tröstete mich auch noch und sagte: es sei ja sehr hübsch gewesen, und Alle hätten sich gut unterhalten. Und ich, wie gern glaubte ich ihm! Nein, er ist wirklich der beste Mann der Welt, und ich bin Deine glückliche Emmy. 

P. S. Weißt Du, was er von Frau von Kolotschine sagte? „Ach geh’, so eine geistreiche Frau wäre mir ja schrecklich unbequem!“ Das hätte sie hören sollen!



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aus: Die Gartenlaube 1887, Heft 34, S. 562
Novelle – Brief VIII
[562]
VIII.
24. Februar. 

Meine Marie!

Neulich, als ich Dir von der halb verunglückten Gesellschaft schrieb, war mir noch recht zerknirscht zu Muthe, und es tröstete mich gar nicht, als Hugo mir sagte, auch das stehe bereits im Faust: „Das Unzulängliche, hier wird’s Ereigniß!“ Er hat kein Verständniß für solche innere Schmerzen, deßhalb sagte ich auch nichts mehr, sondern ging, ehe noch Dein lieber Trostbrief kam, zu der guten Mama Baer und schüttete ihr mein Herz aus. Sie war so lieb und freundlich, sagte, das sei vielen Andern auch schon passirt und habe ja gar nichts zu sagen, ich erklärte aber: „Nein, dabei beruhige ich mich nicht. Sie müssen mir sagen, wo der Fehler sitzt, warum es bei mir nicht klappen will, wenn ich mir auch noch so große Mühe gebe!“

„Weil Sie nicht praktisch genug erzogen sind, liebes Kind! Uebung macht den Meister in allen Dingen. Sie würden wohl leichter als jetzt, wo es theures Lehrgeld kostet, dies Alles zu Hause gelernt haben, wenn Ihre Mama z. B. Sie dann und wann einen Gesellschaftsabend hätte allein besorgen lassen. Solche Veranstaltungen wären für junge Töchter, was die Manövertage für die Soldaten; man könnte sie auch von Zeit zu Zeit mit unvorhergesehenem Besuch überraschen, damit sie schnell überlegen und im beschleunigten Tempo ausführen lernten. Aber, obgleich dies in jeder Haushaltung ganz leicht gemacht werden könnte, ist es nicht gebräuchlich, das weiß ich wohl.“

„Nein, und bei meiner Mama wäre es sogar ganz undenkbar, sie muß Alles immer selbst thun.“

„Und erzieht deßhalb unpraktische Töchter. Aber fassen Sie nur Muth, einem ernstlichen Willen ist nichts unmöglich. Wenn Sie jeden Morgen zwei Stunden mit Aufräumen, Nachsehen und Anordnen zubringen, wenn Sie Ihrer vortrefflichen Rike keine Unordnung mehr durchgehen lassen und sie gewöhnen, für Sie Beide genau so zu serviren etc., als wenn Gäste anwesend wären …“

„Dann kündigt sie mir auf.“

„Das müssen Sie abwarten.“

„O, ich sage Ihnen, ich setze jetzt meinen höchsten Ehrgeiz darein, eine so pedantische, kleinliche, pünktliche Hausfrau zu werden, wie es die andern hier sind –“

„Nun schütten wir gleich wieder das Kind mit dem Bade aus. Kleinlich?! Warum denn? Sie sollen nur lernen, die Kleinigkeiten besser bedenken; denn sie sind es, die das Leben eigentlich ausmachen, sie thürmen sich, wenn man sie außer Acht läßt, als wachsende Hindernisse auf den Weg, während sie andernfalls, klug bedacht und geordnet, als erfreulicher Schmuck zu beiden Seiten dieses Weges stehen. Lassen Sie sich von einer alten und vielerfahrenen Frau sagen: unsere Hauptaufgabe ist, das Kleine und Kleinste täglich gewissenhaft zu besorgen und dabei den Sinn für das Große, den richtigen Maßstab für Groß und Klein niemals zu verlieren. Nur die Mischung dieser beiden Fähigkeiten macht die vollkommene Frau. Hätte man nur die Wahl zwischen der philisterhaft Pünktlichen und der geistig begabten Unordentlichen, so müßte man unbedingt die Erstere nehmen, die Mann und Kindern eine befriedigende Existenz zu sichern versteht. Aber wie viel schöne, reiche Lebensgüter gingen verloren, wenn es nur solche Frauen gäbe! Aus wie tiefen Quellen fließt das Glück eines Hauses, wo die Frau als Seele und Leiterin des Ganzen klug und besonnen jedes Ding zur rechten Zeit thut und thun läßt, den Arbeitsmorgen gewissenhaft anwendet, auf daß es dann am Nachmittag und Abend dem Manne, den Kindern und Freunden wohl und behaglich sein könne! Wenn dieselbe Frau in innerer geistiger Arbeit so weit gekommen ist, nicht nur blind die Ansichten ihres Mannes nachzusprechen, sondern die Gegenstände selbst beurtheilen zu können, wenn sie, statt pfiffig seine Schwächen zu benutzen, bemüht ist, mit liebevoller Hand ihn sittlich höher zu heben, wenn sie ihm den edlen Ehrgeiz nach bestmöglichem Wirken und Schaffen erregt, statt, wie so oft, den unedlen nach Titel und Orden, dann, glaube ich, giebt es auf der Welt kein Amt, das befriedigender und beglückender wäre als solch ein Frauenberuf. Lassen Sie Frau von Kolotschine nur über die deutschen Frauen spotten – ich sah neulich, daß Sie empfindlich wurden, das muß man nie in solchem Fall, liebes Kind! – und thun Sie das Ihre, damit Eine mehr in Deutschland ist, von der man sagen kann: sie ist praktisch wie eine Französin, gebildet wie eine Engländerin, patriotisch wie eine Russin und hat dazu ein warmes deutsches Gemüth! Es giebt deren bereits viel mehr, als die geistreiche Dame meint, aber allerdings, eine gehörige Anzahl ist noch weit von diesem Ziel entfernt.“

„O liebste Mama Baer,“ sagte ich, indem ich ihre gute alte Hand küßte, „wenn ich Sie so reden höre, da wird mir gleich so furchtbar ideal zu Muthe, daß ich kopfüber rennen möchte, um das Ziel so geschwind wie möglich zu erreichen.“

„Nur vergessen Sie nicht, mein Töchterchen, daß der Weg dazu über den Küchengarten, die Wäscheküche, Vorrathskammer und den Feuerherd geht!“ lachte die liebe alte Frau und gab mir einen Kuß auf die Wange. Dann tranken wir mit einander Thee, und ich kehrte ganz glücklich nach Hause zurück.

„Hugo!" rief ich, „jetzt paß einmal auf, was für eine ideale Hausfrau ich werde. Ueber Jahr und Tag bist Du der beneidenswertheste Mann im deutschen Reich!“

„Nun, nun,“ meinte er, „vor der Hand kann ich es auch so noch aushalten. Aber was ist denn los, Emmy?“

Das sagte ich ihm natürlich nicht. Aber ich fing ordentlich ein neues Leben an, räumte meine sämmtlichen Schiebladen und Kästen auf, machte Streifzüge in Rike’s Schmutzwinkel, fand zu meinem Entsetzen, wie viel bereits vernachlässigt worden war, und begann darauf eine gründliche Neu-Ordnung der Dinge. Allerdings nicht ohne Palastrevolution. Rike schrie gerade hinaus über solche Chikanen und drohte mit Fortgehen. Ich blieb eiskalt und erwiederte nur: „Wenn Sie dieses Wort wiederholen, sind Sie entlassen!“

Nun, sie wiederholte es nicht.

Aber wir leben seitdem in stillem Kriegszustand, sie sucht mich anrennen zu lassen, und ich verwende alle meine Geisteskräfte darauf, mich vor diesem Schicksal zu hüten. Vier Wochen ging denn auch Alles fabelhaft glatt und gut, ich habe schweigend eine Menge von Dingen gelernt und geübt, an die ich früher nicht dachte, und bin wirklich jetzt schon eine ganz gewiegte Hausfrau. Aber einmal trifft doch wieder Unglück ein, und so ging es mir am Fastnachtssonntag. Allerdings hat dort ein Jeder seine Dummheit frei und wir haben die meine denn auch in einem großen Karnevalsgelächter begraben.

„Backe nur tüchtig Fastnachtsküchelchen,“ hatte Hugo vorher gesagt, „ich esse sie leidenschaftlich gern, und es schadet gar nicht, wenn auch für den andern Tag einige übrig bleiben.“

Na, das sollte denn natürlich auch sein, ich wollte ihm aber außer den gewöhnlichen noch eine Anzahl gefüllter Berliner Pfannkuchen als besondere Ueberraschung bereiten. In meinem Kochbuch stand: „Nimm drei Pfund feines Mehl –“ ich dachte mir: du nimmst lieber vier, es kann nicht schaden, und ließ also Rike den Teig machen. Als ich gegen elf in die Küche kam, quoll eine weiche Masse über den Rand der größten Blechschüssel, daneben stand noch eine andere, bis oben hin voll. Nun, dachte ich mir, das reicht gewiß! Als ich aber eine halbe Stunde später wieder nachsah, wurde mir die Sache bedenklich. Rike stand am Nudelbrett und stach mit Feuereifer aus; Reihen von Küchelchen lagen vor ihr auf dem Tisch und immer neue gingen unter ihren Händen hervor. Das Schneidebrett, das Hackbrett, das Spätzlebrett, Alles saß voll Berliner Pfannkuchen und unermüdlich rollte sie ihren Teig, stach aus und füllte. Das erste, zweite, dritte Glas mit Marmelade ging zu Ende, ich sah eine Zeit lang zu, dann sagte ich zaghaft: „Es scheinen mir doch gar zu viele zu sein!“

„Ach was,“ erwiederte Rike, „beim Wirth, wo ich war, haben wir immer gerad so viel gemacht.“

Als sie den hundertsten Pfannkuchen füllte, erfaßte mich eine völlige Niedergeschlagenheit; sie stach unbekümmert weiter aus. Zuletzt saßen auf allen Küchenmöbeln bis zur Decke hinauf Fastnachtsküchelchen und „gingen“. Es würde mich nicht gewundert haben, zu oberst auf dem Pfarrthurm das letzte zu erblicken.

Nun, wie das Machen kein Ende genommen, so nahm denn auch das Backen keines. Die Pfanne strudelte über dem Feuer, der erste Schmalztopf wurde leer, Rike nahm den zweiten in Angriff, mein theuer bezahltes, gutes Schmalz, das noch zwei Monate reichen sollte! Als nun auch dieser den Boden zeigte, da wandelte mich eine Schwäche an und, Marie, ich setzte mich hin und weinte! Aber das half Nichts, die Pfannkuchen wuchsen unaufhaltsam weiter; ich hatte das Gefühl, sie würden mir nachlaufen, wenn ich aus der Küche ginge!

Plötzlich aber besann ich mich in meiner Pein auf Mama Baer’s Worte von dem Großen und dem Kleinen, und ich fühlte, dies sei eine Gelegenheit, mich stark zu zeigen. Hinter Rike’s breitem Rücken trocknete ich meine Thränen, dann setzte ich eine Platte von Pfannkuchen bei Seite: „Die tragen Sie später zu meiner Schwiegermutter, ich habe etwas mehr machen lassen, um ihr davon schicken zu können.“ Eine zweite kam auf den Tisch, sie wurden von Hugo ausgezeichnet gefunden, aber mehr als acht konnte er leider nicht essen und so blieb immer noch eine entsetzliche Menge in der Speisekammer, Stoff genug für vier Tage, selbst wenn wir uns ausschließlich von Pfannkuchen nähren wollten. Ich hatte gute Lust, es zu machen wie der Mann im Evangelium und auf die Straße zu senden, um Gäste zu laden! Ich that es auch, und über unsern Pfannkuchen-Abend werde ich Dir ein andermal berichten.

Aschermittwoch aber, nach zweitägigem Essen, erklärte Hugo, er könne nun keine Pfannkuchen mehr sehen noch riechen! Ich schickte den immer noch vorhandenen Rest in die nächste Schule, wo sie einen freudigen Absatz fanden. Nimm Dir ein Exempel an dieser Tragödie und mache es künftig besser als
Deine Emmy. 



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aus: Die Gartenlaube 1887, Heft 38, S. 619–620
Novelle – Brief IX
[619]
IX.
Neustadt, den 12. März. 

Meine liebste Marie, ich habe oft große Sehnsucht nach Dir und möchte Dich so gern hier haben. Du würdest dann unter Anderem auch mit Erstaunen sehen, was für eine umsichtige Hausfrau Deine leichtsinnige Emmy geworden ist und wie glücklich sie sich dabei fühlt; denn Hugo ist jetzt immer sehr entzückt von seiner kleinen Frau, und das feuert Einen natürlich zu neuen Thaten an. Es ist merkwürdig, wie leicht Alles geht, wenn man sich die Mühe nimmt, es vorher zu überlegen!

So habe ich in den letzten Tagen ein Meisterstück gemacht und die gefürchtete Frühjahrsputzerei ohne Hugo’s Wissen hinter seinem Rücken durchgeführt, als er für einen Termin zwei Tage abwesend war, so daß er beim Zurückkommen Alles rein und blinkend fand. Kaum war er weg, so ergriff ich die ahnungslose Rike und zwang sie, ihres heftigsten Sträubens ungeachtet, zur großen Putzerei. So ohne Weiteres, ohne vorhergehende Gemüthsverdüsterung, gleichsam aus heiterem Himmel, ging es ihr geradezu gegen die Natur; ich blieb aber unerbittlich, räumte ab, klopfte, bürstete mit ihr um die Wette, und so hatten wir bald ein Chaos zu Stande gebracht, daß mir heimlich bang wurde, wie das Alles wieder in Ordnung kommen solle. Mitten drinnen erschien Klara; ich schickte sie schnell heim, um Urlaub für zwei Tage zu bitten; dann half sie getreulich, und es war mir ein rechter Trost, daß sie auch die Nacht dablieb; denn wenn ich auch nicht gerade furchtsam bin, ist es mir doch unheimlich, wenn Hugo nicht da ist. Morgens gestand sie mir freilich, sie fürchte sich Nachts entsetzlich beim leisesten Geräusch – da wäre ich gut beschützt gewesen!

Nun, am zweiten Tage ließen wir denn alles Feinere durch unsere Hände gehen und stellten allmählich in allen Zimmern die zierlichste Ordnung her. Freilich war Klara nicht immer recht bei der Sache; sie träumte manchmal, mit dem Staubwedel in der Hand, vor sich hin. Aber allerdings saß ich selbst auch ein gutes Weilchen vor Hugo’s Schreibtischschublade, darin meine Briefe aus der Brautzeit lagen, nebst ein paar Blumen, die ich wohl kannte, und außerdem – noch ein paar alte wacklige Albums mit Universitätsfreunden und den verschiedenen Flammen aus den schönen Studententagen. Die wollte ich mir einmal gründlich betrachten; Hugo hatte sie mir immer so schnell aus der Hand genommen. Viel Besonderes war übrigens nicht daran: die Männer haben doch, wenn sie jung sind, meist einen recht schlechten Geschmack!

Als ich emporsah, saß Klara mit aufgestützten Armen auch in ein Photographie-Album vertieft; sie klappte es schnell zu, als sie mich aufstehen hörte, wurde roth und stäubte hastig weiter ab. Das gab mir zu denken.

Abends um fünf Uhr waren wir fertig. Schön war es geworden, blitzblank und duftend nach irischen Vorhängen, aber – naß. Die Fußböden aus nicht gestrichenen Dielen trocknen schwer am kalten Frühjahrsabend. So sagte ich zu Klara:

„Hier können wir nicht bleiben; wir wollen noch eine Stunde ausgehen und trocknen lassen; dann heizen wir Abends gehörig ein und essen lustig zu Nacht.“

So gingen wir. Unterwegs hatte sie noch eine Besorgung, und während ich vor dem Laden wartete, kam Brandt des Wegs, gelangweilt einherschlendernd wie gewöhnlich.

„Nun,“ fragte ich ihn, „gehen Sie heute nicht zum ‚Familienabend‘ ins Museum?“

„Was soll ich dort thun?“

„Sich amüsiren wie die Andern.“

„Das kann ich leider nicht.“

„Es sind doch ganz hübsche Mädchen da.“

„In der That? Ich habe bis jetzt nur ihre Hände und Handschuhe gesehen; das hat mich verhindert, weiter empor zu blicken.“

„Sie sind ein unausstehlicher Mensch. Was treiben Sie denn jetzt eigentlich?“

„Ich trage Folgen.“

„Schon,“ sagte ich, „da sind wir eben auch dabei; das läßt sich ja gemeinsam besorgen. Wissen Sie was“ – der Gedanke fuhr mir durch den Kopf, als eben Klara aus der Ladenthür trat und bei seinem Anblick lebhaft erröthete – „kommen Sie heute zum Abendessen; es giebt freilich nur Frikandellen,“ fuhr ich lachend fort. „Frikandellen und Kartoffelsalat. Können Sie das essen?“

Heroische Bejahung, neues Erröthen Klara’s beim Gedanken, den „hohen Stern der Herrlichkeit“ zu Frikandellen einzuladen, große Heiterkeit meinerseits, freilich mit einem kleinen Stich im Gewissen, daß ich es in Hugo’s Abwesenheit that. Aber nun war’s bereits geschehen.

Zwei Stunden später saßen wir äußerst lustig bei dem besagten schrecklichen Mahl, denn ich hatte Klara’s flehentlichen Bitten, wenigstens noch etwas Schinken holen zu dürfen, erbarmungslos widerstanden.

„Er ißt, was wir haben, und damit Punktum.“

Ich wollte ihn auf die Probe stellen, und ich muß sagen, er hat sie ganz gut bestanden. Es ist, wie ich vermuthete: die Affektation sitzt ihm nur äußerlich; er ließ, meiner konsequenten Nichtachtung gegenüber, allmählich die blasirte Hülle sinken, und es kam ein ganz ordentlicher junger Mensch von gutem Humor zum Vorschein, der sich bald an unseren harmlosen Späßen nach Kräften betheiligte. Besonders unsinnig lachten wir, als ich ihnen den Zusammenhang unserer heutigen Abendmahlzeit mit Hugo’s morgender Rückkehr erläuterte, und auch Du sollst diese Geschichte noch zum Schluß hören, liebste Marie, denn sie ist sehr schön.

Ich habe Dir schon früher erzählt von Hugo’s altem Pintsch, von dem garstigen ruppigen Thier, welches er mit einer unbegreiflichen Zärtlichkeit liebt, und das ich hasse, weil es lauter widerwärtige und abscheuliche Angewohnheiten hat. Aber Hugo hat es sein ganzes Junggesellenleben durch als Tischgenossen im Wirthshaus gehabt und dort hat sich Muckel eine entschiedene Verachtung aller vegetarischen Nahrungsmittel angebildet; er frißt nur Fleischbrühe, ja, er soll sogar mit Sicherheit einen Kapaun vom gewöhnlichen Brathuhn unterscheiden. Unter meinem Regiment allerdings ist er noch nicht in die Verlegenheit dieser Wahl gerathen!

Aber von den gewöhnlichen Braten muß er sein Theil haben, und ich kann Dir sagen, es ist eine Geduldsprobe für mich, das garstige Thier immer beim Essen da sitzen zu sehen, schnappend, wenn ihm Hugo nicht augenblicklich sein Stück reicht. Aber ich darf nicht an dieses Pietätsverhältniß rühren. Hugo hat mir neulich einmal gesagt: den Thieren gegenüber seien die Frauen entschieden gemüthloser als die Männer! Es ist also eine Schwachheit, die man dulden muß; er hat ja so viele gute und angenehme Eigenschaften.

Eine der allerhervorragendsten ist, daß er gerne Frikandellen ißt (das thun ja die Andern beinahe alle nicht!); deßhalb darf ich sie jede Woche einmal bringen. Allerdings verbessere ich sie auch noch mit Bratwurstfüllsel, damit sie recht gut schmecken. Neulich einmal nun goß es in Strömen; Rike konnte nicht fort, ich hätte selbst zum Fleischer gehen müssen und, ehrlich gestanden, ich hatte keine Lust dazu. So betrachtete ich mir die Fleischreste, die freilich nur sehr gering waren, und beschloß, noch ein Brötchen mehr in die Masse zu thun und sie dafür recht hüsch zu backen. Sie rochen auch sehr gut, als sie auf den Tisch kamen; Hugo freute sich, gab nach seiner Gewohnheit die erste dem geliebten Muckel und dieser – wandte den Kopf weg, zog den Schwanz ein und ging davon!!

„Das ist gleich einer chemischen Analyse auf Fleisch,“ sagte Hugo empört, und in Folge dessen hat er sich bis auf Weiteres die Frikandellen verbeten, und das danke ich nur diesem verwünschten Thier; denn Er hätte es nicht gemerkt!

„Ach, nun verstehe ich,“ sagte Brandt lachend, als ich so weit erzählt hatte. „Auf das Vergnügen, von Zeit zu Zeit einen Mann Frikandellen essen zu sehen, kann, wie es scheint, eine Frau nicht verzichten, und darum haben Sie mich heute an Stelle Ihres Gatten zum Schlachtopfer erkoren.“

„Durchaus nicht.“ erwiederte ich rasch; „das geschah zur Vorbereitung auf Ihren eigenen zukünftigen Haushalt!“

„Niemals!“ erwiederte er mit einem plötzlichen Rückfall in die düstere Weltfeindlichkeit. Aber wir zogen ihn bald wieder heraus. Der Unsinn [620] blühte weiter, und mitten in der Lustigkeit rief Klara aus vollem Herzen: „Ach, was ist es doch für ein Glück auf der Welt zu sein!“

Brandt sah sie an wie ein Wunderthier. „Fühlen Sie sich wirklich ganz glücklich, Fräulein Klara?“

„Ja, und aber wie! Ich möchte immer jubeln und singen, daß es mir so gut geht. Wohin ich im Sommer sehe, stehen vierblätterige Kleeblätter –“

„Die bedeuten Dir ein großes Glück, Klara.“

„Ich habe es ja jetzt schon,“ rief sie fröhlich; „die Welt ist so schön, der Papa ist so gut gegen mich, und Sie sind es, obgleich ich so dumm bin, und dann ist mein Eichhörnchen und meine Blumen, und – und der heutige Abend – die guten Frikandellen –“ fuhr sie hastig fort, hielt aber vor unserem schallenden Gelächter erschrecken inne, ob sie wieder einmal etwas recht Dummes geschwatzt habe.

Ich faßte sie rundum: „Ja, Du hast Recht, lieber Schatz, der Himmel erhalte Dir Dein Glück und vergrößere es jeden Tag!“

Brandt sah sie den Abend mehrmals ganz gedankenvoll an. Bisher hatte er sie als „gründlich unbedeutendes Geschöpf“ verachtet; nun schien ihm eine Ahnung aufzugehen, daß das vielgesuchte Glück vielleicht dem Einfachen näher sei als dem Komplicirten. Aber um das zu begreifen, ist er doch, glaube ich, mit all seiner Gescheitheit nicht gescheit genug.

Es ging gegen Neune; das ist für Neustädter Begriffe schon eine vorgerückte Stunde, und ich sann eben darüber nach, wie wir zwei Unbeschützten unsern Gast am besten verabschieden könnten. Plötzlich – ein wohlbekanntes heiseres Gekläff auf der Treppe, ein rascher Schritt hinterher und eine liebe Stimme – Hugo! Emmy! – da stand er in der Thür und sah uns verwundert an. Ich flog ihm an den Hals und freute mich furchtbar: das ist doch das sicherste Zeichen, wie lieb man Einen hat, wenn sein unerwarteter Anblick eine solche Seligkeit erweckt!

„Ich konnte es nicht mehr aushalten, Schatz,“ flüsterte er mir ins Ohr; ich glaube, er wäre froh gewesen, mich allein zu haben. Aber er benahm sich trotzdem sehr liebenswürdig gegen Brandt und Klara und litt nicht, daß sie gleich fortgingen. Wir erzählten ihm unsere Thaten; er war ganz gerührt über soviel Aufopferung. Plötzlich hob er die Nase:

„Was tausend, Ihr habt wohl Frikandellen gegessen?“

„Jawohl,“ sagte Brandt, „und sie waren ganz vorzüglich.“

„Die könntest Du bald wieder einmal machen lassen, Emmy; ich esse sie doch eigentlich sehr gern!“

Muckel warf ihm einen seiner heimtückischen Schielblicke zu, aber es half nichts mehr: der Sieg war mein! Ich werde ihn aber mit Mäßigung benützen. Und hiermit grüßt Dich heute mit einem ganz enormen Selbstbewußtsein
Deine Emmy.



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aus: Die Gartenlaube 1887, Heft 42, S. 703
Novelle – Brief X
[703]
X.
Neustadt, den 4. April. 

Ach Marie, Marie, ich habe etwas Entsetzliches angerichtet und bin ganz verzweifellt darüber! Was ist doch ein böses Gewissen für eine schreckliche Sache! Das meine foltert mich unaufhörlich, daß ich manchmal glaube, ich kann es nicht länger aushalten. Und dabei heiter scheinen müssen mit der Todesangst: jetzt kommt es heraus! Ich will Dir Alles sagen; es wird mir leichter, wenn ich denke, Deine lieben Augen sähen mich trostvoll an. Helfen freilich könntest Du mir auch nicht; mir hilft Niemand mehr; ich denke manchmal, es wäre am besten, wenn ich sterben könnte!

Die Schuld an dem ganzen Unglück ist die abscheuliche Russin. O, wie ich sie hasse, diese Frau mit den geschminkten Wangen und dem falschen Lächeln! Nicht genug, daß sie mit Hugo kokettirt, wo sie ihn findet, nein, sie macht slch offenbar einen Spaß daraus, ihn bei Gelegenheit gegen mich einzunehmen; es ärgert sie vermuthlich, daß Zwei mit einander glücklich sind! So warf sie ihm neulich eine ganz perfide Bemerkung hin uber meine „Freundschaft" mit Dr. Brandt, der freilich in letzter Zeit ihre Fahne verlassen hat. Hugo entgegnete ihr wohl scherzend, sie müsse am besten wissen, welch’ ein ungefährlicher Verehrer der schöne Doktor sei; aber es ärgerte ihn doch und ich bekam hinterher ein paar gereizte Reden über mangelnde Vorsicht und Taktgefühl zu hören; daß ich darauf hin die arglistige Schlange nur noch als Luft behandeln würde, stand fest. Aber es kam anders, viel, viel schlimmer!

Ehe ich sie noch wiedersah, saßen wir vor zehn Tagen im kleinen Damenkreis bei Fräulein Berghaus zum Kaffee. Gerne bin ich nicht dabei, das weißt Du; aber ganz fortbleiben kann man eben doch nicht. Nun, da schwärmte denn Fräulein Frieda, die in neuerer Zeit sehr viel mit Frau von Kolotschine Klavier spielt, ganz enthusiasmirt von ihr und sagte, Jene sei das in Wirklichkeit, was zu sein Andere sich nur einbildeten, nämlich eine Dame aus der großen Welt. Na, darauf sagte ich denn auch Einiges; das Gespräch wurde animirt, und Fräulein Frieda brachte plötzlich eine Redensart vor, von einem interessanten tête-à-tête mit dem schönen Doktor, worin mich ja wohl neulich Frau von Kolotschine gestört habe. (Das war, als ich ihn auf der Straße zu jenem lustigen Abend einlud und mich abwandte, als ich sie kommen sah!) O, nun bekam ich eine solche Wuth über die miserable Person, daß ich gar kein Blatt mehr vor den Mund nahm, sondern in sehr kräftigen Ausdrücken meine Ansicht über sie und ihre Vergangenheit sagte. Die Andern saßen ganz still; Fräulein Frieda bemerkte nur bedeutungsvoll: „Das ist viel gesagt, Frau Assessor, das werden Sie hoffentlich Alles gewiß wissen!“

„Das weiß außer mir die ganze Stadt S…“ fuhr ich heraus. „Fragen Sie nur die Frau Amtsrichter, die auch von dort ist; wir haben noch kürzlich darüber gesprochen; sie erzählte mir eine ganze Menge Details von jener Geschichte.“

Auf dem Heimweg war mir gleich nicht recht wohl zu Muthe, und den Abend, wenn Hugo mit mir sprach, hatte ich immer das Gefühl, ich müsse ihm eine Schuld bekennen; dann aber dachte ich: pah! was für eine Dummheit! Du hast ja Nichts gethan, als was die Andern jahraus jahrein in ihren Cafés betreiben; es wurmt Dich nur, weil Du eine höher angelegte Natur bist.

Acht Tage gingen vorüber; ich dachte schon gar nicht mehr an die Geschichte; da trat eines Nachmittags um drei, als Hugo auf dem Bureau war, seine Mutter ins Zimmer, machte ihr finsterstes Gesicht und sagte kurz: „Setze Dich her, Emmy, ich habe mit Dir zu reden."

Das ist nun das Unangenehmste, Einem so zu kommen; man kriegt sogar Herzklopfen, wenn man sich ganz unschuldig weiß.

„Ist es wahr,“ eröffnete sie das Verhör, „daß Du neulich bei Fräulein Berghaus Frau von Kolotschine eine Abenteurerin nanntest?"

„Sie ist eine,“ fiel ich lebhaft ein.

„Nicht darum frage ich Dich, sondern ich will wissen, ob Du sie so genannt hast? Ich habe Dich bis jetzt auf keiner Unwahrheit gefunden. Also die Rede giebst Du zu?“

Ich nickte.

„Ist es ferner wahr, daß Du sehr kompromittirende Geschichten von der Dame erzähltest?“

„Als ob die nicht alle schon ohne mich bekannt gewesen wären!“

„Um so thörichter, daß Du Deinen Namen zur Deckung hergiebst. Und hast Du wirklich die Frau Amtsrichter als Quelle dieser Klatschereien genannt?“

Ich fühlte, daß mir das Weinen kam. „Das nimmt sich jetzt Alles ganz anders aus, wenn man es so zusammenhält. Ich habe Nichts über die abscheuliche Person gesagt, was nicht allgemein bekannt ist, und die Frau Amtsrichter sagte auch, daß sie gar nichts tauge und ihrer Schwester schon viel Kummer bereitet habe.“

„Das stellt die Frau Amtsrichter vollkommen in Abrede.“

Mir war, als finge das Zimmer an, sich zu drehen. War denn das möglich? Eine ältere, ganz brave und würdige Dame! Sie log ja geradezu, wenn sie so sprach. Auf der Stelle wollte ich zu ihr hin. Nur besann ich mich noch und fragte so muthig, als ich konnte: „Wie kommst Du denn zu Alledem? Warum stellst Du mich zur Rede?"

„Weil die Geschichte bereits in der ganzen Stadt herumgetratscht ist,“ erwiederte sie strenge, „und weil es mir nicht einerlei sein kann, wenn die Gattin meines Sohnes in eine Klage wegen Ehrenbeleidigung verwickelt wird. Emmy, Emmy," fuhr sie fort, während das Entsetzen mir die Zunge lähmte, „Du bist ein leichtsinniges, thörichtes Geschöpf, an dem ich wenig Freude habe. Bis jetzt schwieg ich, wenn mir manchmal Aeußerungen zu Ohren kamen, die Dein unbedachter Mund über mich gethan hat, eben weil es nur mich betraf; aber jetzt, wo es gar nicht fehlen kann, daß Hugo durch Dich in die unangenehmsten Verdrießlichkeiten geräth, wo morgen vielleicht schon der Schwager jener Frau – Du verstehst doch, was ein Officier in solchem Fall bedeutet? – hier vor Euch steht und Rechenschaft verlangt, da trieb es mich, zu kommen, um Dich in Kenntniß zu setzen. Ich weiß nicht, was Fräulein Berghaus gegen Dich haben kann; nur so viel sehe ich, daß sie die Seele dieser ganzen widerwärtigen Klatscherei ist. Freilich hoffte ich bisher noch, sie möge stark übertrieben haben. Wenn dem aber nicht so ist, wenn Du wirklich alles Das gesagt hast –“ sie konnte offenbar keine Worte mehr finden, um die Größe meines Verbrechens zu bezeichnen. Es war auch überflüssig; ich saß schon vernichtet genug, mit dem einzigen dunklen Gedanken: „Was thun, um Gotteswillen, was thun?!“

Endlich sprang ich in die Höhe. „Ich gehe zur Frau Amtsrichter hin; sie muß mir bezeugen, was wahr ist; ich habe nicht allein in dieser Sache gefehlt.“

„Wenn das Deine ganze Hoffnung ist,“ sagte aufstehend meine Schwiegermutter, „dann wäre es besser, Du gingest zu Frau von Kolotschine und suchtest Dich zu entschuldigen.“

„Nimmermehr!“ rief ich außer mir.

Wir nahmen kalten Abschied; ich zog mich an und lief nach Amtsrichters Wohnung. Schon beim Hinaufgehen durch das steingewölbte Treppenhaus mit den dunkel gebahnten Stufen fiel mir der Muth. Als ich aber oben eintrat und die stattliche, klug aussehende Frau unter einer Anzahl Waisenmädchen sitzend fand, denen sie Strick- und Nähunterricht ertheilt, da imponirte mir so viel Tugend und Verdienst dermaßen, daß ich nur stammelnd meine Bitte vorbrachte, sie allein sprechen zu dürfen.

Sie führte mich schweigend in ein Kabinet, und dort, verwirrt, unzusammenhängend, so ungeschickt wie möglich brachte ich meine Sache vor. Ihr Gesicht nahm einen immer abweisenderen Ausdruck an.

„Ja, ich habe davon gehört,“ sagte sie endlich, „und ich habe mich sehr gewundert, Frau Assessor, daß Sie es sind, die eine solche Klatscherei stiftet. Ich muß Ihnen sagen, daß ich das am wenigsten von einer Dame erwartet hätte, die so gern von der Höhe ihrer Residenzbildung auf uns Kleinstädterinnen herabsieht.“

„Es ist nun geschehen,“ sagte ich zerknirscht, „ich gäbe viel darum, könnte ich es ungeschehen machen. Aber für mich kommt jetzt Alles darauf an, nachzuweisen, daß ich nur Dinge sagte, die bereits bekannt sind. Und deßhalb, liebe Frau Amtsrichter, müssen Sie mir bezeugen, daß Sie ebenfalls davon sprachen."

„Ich muß?!“ erwiederte sie hoch erstaunt. „Aber es fällt mir ja gar nicht ein, meine beste Frau Assessor. Glauben Sie, daß ich Lust habe, mich von Ihnen in eine Klatscherei hineinbringen zu lassen? Ich lebe ruhig und friedlich unter meinen Mitmenschen, habe niemals mit Jemand Verdruß, und so Gott will, wird das so bleiben.“

„Aber Sie können doch nicht leugnen, daß Sie mir sagten –“

Hier unter vier Augen werde ich Ihnen nicht leugnen, was ich Ihnen, wohlverstanden auch unter vier Augen, sagte. Aber sowie Sie mich vor Zeugen zur Rede stellen, kann ich es leugnen und thue es, denn Sie haben gar kein Recht, meine liebe junge Frau, hier zwischen uns Unfrieden zu säen und Feindschaften zu stiften. Weil Sie, wie ich höre, auf Frau von Kolotschine eifersüchtig sind (lächerlich! ich und eifersüchtig!), deßhalb werde ich Ihnen noch lange nicht gegen diese Dame, die mir nicht das Mindeste zu Leide gethan hat, Gefolgschaft leisten. Jeder für sich selbst, meine liebe Frau Assessor. Vor Zeugen, merken Sie sich das, wenn Sie es noch nicht wissen sollten, vor Zeugen sagt man Nichts, was nicht wieder gesagt werden darf, und mas man ohne Zeugen gesagt hat, das kann man getrost in Abrede stellen, denn warum? Niemand kann es Einem beweisen.“

Damit strich sie mit vielem Selbstgefühl ihre schöne schwarzseidene Schürze glatt, und ich schwieg, vernichtet von der Höhe dieser Moral. Meine Schuld ist es ja ganz allein, ich, ich habe geklatscht, davon spricht mich Niemand mehr frei; ich möchte vor Scham vergehen …

Ueber allen diesen Aufregungen war es spät geworden. Ich ging außen herum an den Gärten heim; es war ein lauer Abend; droben am Himmel glänzte die Mondsichel, ein weicher Vorfrühlingshauch zog durch die Luft und über die Zäune her streckten sich die schwellenden Baumzweige. Der frische Erdgeruch weckte ein Gefühl von Hoffnung, als müsse nun Alles gut werden, wenn der Frühling kommt. Ich setzte mich auf ein Bänkchen am Weg und sah dem Flußlaufe nach in das stille Abendroth. Und es wurde mir so weh und traurig ums Herz!

Hugo – wie wurde er es aufnehmen, was er nun jeden Augenblick erfahren konnte? Sehr böse würde er zuerst wohl sein, aber dann – würde er mich dann schützen oder aus Gerechtigkeitsliebe preisgeben? Ich wußte es nicht; ich dachte nur, wie glücklich ich mich noch vor drei Tagen fühlte, wie froh im innersten Herzen. Damals wollte ich ihm etwas ganz, ganz Anderes sagen und zögerte, weil er in den letzten Tagen schlecht gelaunt war, und nun –. Ich kann mich noch nicht zum Bekenntniß entschließen; er wird mich zu streng verurtheilen!

Früher, wenn ich von Verbrechern hörte, dachte ich mir nichts weiter dabei; jetzt aber weiß ich, wie ihnen zu Muthe ist.

„Bist Du nicht wohl, Emmy?“ fragt Hugo, wenn ich so vor mich hinstarre, dann sage ich schnell: „O nein, ich dachte nur gerade an Etwas …“

O Marie, liebste Marie, was werden die nächsten drei Tage bringen? Wären sie vorüber! Ich schreibe Dir wieder, einstweilen habe Mitleid mit
Deiner armen Emmy. 



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aus: Die Gartenlaube 1887, Heft 46, S. 766–767
Novelle – Brief XI
[766]
XI.
Neustadt, den 9. April 188 . 

Das war die schwerste Woche meines Lebens, liebste Marie, eine Woche im Fegefeuer und in stäter Todesangst! Wenn es draußen klingelte, fuhr ich zusammen; so lange Hugo mich sah, suchte ich heiter zu scheinen; wenn er fort war, rang ich die Hände und dachte nach, was nun kommen werde. Jedes Wort, das ich gesagt hatte, brannte mir immer stärker ins Gewissen, wenn ich aber gar daran dachte, daß man für so Etwas verklagt werden kann, vor Gericht kommen – vielleicht säße auch noch Hugo unter den Richtern – es wurde mir fast ohnmächtig vom bloßen Gedanken und die Angst folterte mich unablässig. Ich hatte wohl Rike Ordre gegeben, keinen Besuch anzunehmen, wenn ich allein sei, ich fürchtete mich zu gräßlich! Allein auf die Länge konnte das ja nicht fortgehen – Fräulein Berghaus war schon zweimal umsonst dagewesen – sie würde am Ende Hugo auf der Straße abpassen und ihm Alles erzählen; also faßte ich den schweren Entschluß, es ihm lieber selbst zu sagen, Samstag Nachmittag, wenn er vom Spaziergang zurückkäme. Das Essen wollte ich ihm nicht verderben. Ich selbst brachte kaum einen Bissen hinunter.

Als es vier Uhr wurde und er nun jeden Augenblick kommen konnte, stellte ich mich ans Fenster und sah die lange Gasse hinauf, indem ich mir fortwährend die Anfangsworte vorsagte: Hugo, ich habe etwas Schreckliches gethan, verzeihe mir, aber ich bin so unglücklich. Das mußte ihn doch rühren und das Weitere würde dann nicht mehr so schwer sein.

Plötzlich sah ich ihn von fern um den Brunnen biegen, aber er war nicht allein; ein Herr ging mit ihm; ich sah blankes Metall, einen Säbel – es war der Major! Mein Herz stand einen Augenblick vor Schrecken still, dann aber faßte mich eine solche Todesangst, daß ich fühlte, ich könne nicht bleiben. Ich sah jetzt ganz deutlich des Majors schwarzen Schnurrbart und seine kurzen Beine, sie kamen immer näher – da rannte ich hinaus, riß Hut und Jacke vom Nagel und stürzte durch die Hinterthür und den Garten fort, wie gejagt, nur immer weiter, um dem schrecklichen Major zu entrinnen. Wenn er mich nicht fand, konnte er sich doch nicht gleich mit Hugo duelliren!

Als ich endlich in meinem Rennen still hielt, weil mir der Athem ausging, befand ich mich in der Brückenstraße unter den Fenstern der Oberstin Baer und sah ihr weißes Häubchen dahinter schimmern. Das war mir ein Hoffnungsstrahl – sie ist so gut und so klug! Ehe ich es noch recht überlegt hatte, stand ich schon oben, klopfte und eilte hinein:

„Ach, liebe Mama Baer, helfen Sie mir; ich bin in einer schrecklichen Lage!“

„Nun, nun,“ sagte sie und legte die Brille in ihr Buch zusammen, „das wird ja wohl so schlimm nicht sein. Setzen Sie sich einmal und erzählen Sie.“

Ja, da kam’s denn heraus, Eins nach dem Andern, ich sagte Alles und schonte mich nicht. Aber ich kann Dir sagen, Marie, es war mir nicht leicht, das zu thun, unter dem Blick ihrer klaren braunen Augen und in der stillen friedlichen, ja man kann sagen, edlen Umgebung der alten Frau. Ich kam mir plotzlich so gemein vor! Und ihr immer ernsthafter werdendes Gesicht deprimirte mich so, daß ich kaum zu Ende reden konnte.

Sie schüttelte den Kopf.

„Wieder eine von den häßlichen Geschichten, ohne welche die Frauen, wie es scheint, nicht mit einander leben können. Ich kann Ihnen nicht sagen, wie es mich immer betrübt und beschämt, wenn so Etwas neu entbrannt ist. Und daß nun gar Sie es sind, die es gestiftet hat –“

„Schelten Sie mich nur tüchtig aus, liebe Mama Baer, ich habe es verdient.“

„Ja, liebes Kind, Sie haben Schelte verdient, nicht so sehr dafür, daß Sie die gewöhnliche Klugheit außer Augen ließen und Namen nannten, als dafür, daß Sie auf das Niveau der gewöhnlichen Klatschschwestern herabgestiegen sind. Sie, mit Ihrer guten Bildung, Ihren hübschen Talenten, wissen auch Sie denn nichts Besseres zu thun, als hinter der Kaffeekanne den Nebenmenschen die Ehre abzuschneiden?"

„Ich gehe ja so ungern zu solch einem Kaffee, gerade nur, wenn ich muß –“

Muß man jemals Etwas, was gegen die Ueberzeugung geht? Mir ist das in meinem langen Leben nicht vorgekommen. Ihr fechtet doch Alle gelegentlich für Eure Gleichberechtigung mit den Männern, Ihr jungen Frauen. Warum fühlt Ihr Euch denn nicht mit ihnen gleich verpflichtet? Wer giebt Euch das Recht, während sie arbeiten, Feierabend zu machen und die Zeit im eigentlichsten Sinn todt zu schlagen, statt sie gut und nützlich zu verwenden? Sehen Sie, mein liebes Kind, das ist es, worauf eine Frau wie diese im Uebrigen wenig preiswürdige Russin mit Recht herabsieht: die freiwillige Enthaltung so vieler deutschen Frauen von geistigen Interessen. Mögen sie pflichtgetreu und tüchtig, wie bisher, weiter arbeiten, Vormittags und meinetwegen auch Nachmittags, wenn die Geschäfte drängen. Giebt es aber eine freie Stunde, dann sollten sie sich erinnern, daß auch der Geist seine Nahrung will, und sollten sich die Kenntnisse zu erhalten suchen, die bei den Meisten so rettungslos verfliegen, während sie mit eiserner Ausdauer zwei- und dreimal die Woche an den Gesellschaften theilnehmen, aus welchen man höchstens um ein Kochrecept bereichert nach Hause geht, im Uebrigen aber weder klüger noch besser als vorher und in den meisten Fällen mit der Erinnerung, Etwas gesagt zu haben, was man besser bei sich behalten hätte.“

„Sie haben tausendmal Recht,“ sagte ich. „O wie bereue ich jenen Nachmittag jetzt!“

„Lassen Sie die Reue fruchtbar werden, meine liebe junge Frau,“ sagte sie freundlich, „dann werden Sie später den schlimmen Tag noch segnen. Sehen Sie, ich könnte es Ihnen jetzt leicht machen, könnte Sie zu trösten suchen, allein das will ich nicht. Ich möchte, daß Sie einen tiefen, unauslöschlichen Eindruck bewahrten, wie schmählich es ist, als erwachsener Mensch dastehen zu müssen wie ein kleines Kind und zu bekennen: ich hätte das nicht sagen sollen! Werden Sie strenge gegen sich und gewissenhaft in Ihren Aussagen über Andere! Man weiß ja alles Das nicht gewiß, was man so leichtsinnig nacherzählt, und wüßte man es gewiß, wäre es nicht besser, darüber zu schweigen? Erniedrigt man sich nicht selbst durch solche Schadenfreude? Und außerdem – wie uninteressant sind alle diese Klatschereien, wie klein gegen die großen Weltverhältnisse, gegen geschichtliche Thatsachen, Kunst und Poesie, die alle, alle einer Frau zu Gebote stehen, eben so wie den Männern, wenn sie sich nur darum kümmern will. Die Dinge sind ja so viel interessanter als die Personen! und warum sollen Frauen unter einander nicht von diesen Dingen reden –“

„Wenn aber die Andern sich nicht darum bekümmern?“

„So fragen Sie sie über ihren Haushalt, dabei ist immer noch Etwas zu lernen. Und wenn denn doch von Zeit zu Zeit Kaffeegesellschaft sein muß – würde dann nicht eine gemeinsame Thätigkeit für Arme, Kinder und Kranke ausgiebigen Unterhaltungsstoff genug bieten, daß man die Vergangenheit seiner Nebenmenschen ruhen lassen kann? So habe ich es mit meinen Bekannten gehalten, und wir sind uns von Herzen gut dabei geblieben.“

Ich fiel ihr um den Hals, der lieben alten Frau. „Verlieren Sie die Geduld nicht mit mir, ich will suchen, gut zu werden, wenn nur diese entsetzliche Geschichte vorüber ist. Was soll ich denn jetzt thun, rathen Sie mir, ich bitte Sie!“

„Sie können nichts Anderes thun, als direkt heimgehen und Alles auf sich nehmen, was Sie dort finden. Muth, Frauchen! Ein junger Ehemann ist doch kein so furchtbarer Richter. Und er muß sich ja dessen auch erinnern, was ich vorhin in meiner Strafpredigt absichtlich bei Seite ließ: daß das Gemeinste und Häßlichste an der ganzen Geschichte, das eigentliche Wiedersagen – einer Andern zur Last fällt.“

„Ach, liebste Mama Baer, gehen Sie mit mir heim, Sie wissen Alles so viel besser zu sagen, als ich!“

„Nein, mein Kind, in solchem Fall ist jeder Dritte zwischen Eheleuten zu viel. Höchstens Hugo’s Mutter könnte bei Eurer Aussprache sein."

„Wo denken Sie hin? Die würde mich ja in den tiefsten Abgrund verdammen!“

„Sie kennen Ihre Schwiegermutter noch nicht recht, liebe Emmy. Sie ist gut, wahr und gerecht; aber sie hat viel Unglück erlebt, und deßwegen würde ihr ein wenig warme Liebe, statt des kalten Respekts, wohlthun.“

Wir standen am Fenster, ich band gerade meinen Hut zurecht und wollte gehen. Auf einmal sah ich eine Gestalt die Straße herabkommen, die niemand Anderes sein konnte als Hugo. Er ging auf der andern Seite; nun streiften seine Augen das Fenster und augenblicklich kam er herüber und herauf. „O Gott,“ betete ich, „laß es gnädig abgehen!“ Da machte er schon die Thür auf.

„Hier findet man Dich, Emmy?“

„O Hugo, Hugo,“ schluchzte ich und fiel ihm um den Hals, „sei nicht böse, ich bitte Dich!“

Gleichzeitig sagte Mama Baer. „Herr Assessor, bedenken Sie, daß Ihre Frau jung und unerfahren ist. Und was Frau von Kolotschine betrifft –“

„Schon wieder Frau von Kolotschine,“ fuhr er ungeduldig auf. „Willst Du mir jetzt gleich genau sagen, Emmy, was es mit Dir und ihr gegeben hat?“

Ja, das wollte ich, der Muth war mir plötzlich erwacht, und ich erzählte Alles, aber natürlich von meinem Standpunkte aus.

„Eine schöne Geschichte,“ sagte er mit unheimlicher Ruhe, als ich fertig war. „Die Hälfte von dem, was Du gesagt hast, reicht vollständig zu einer Ehrenkränkungsklage. Und den Wahrheitsbeweis würdest Du, glaube ich, nicht antreten wollen?!“

„O Hugo,“ schluchzte ich, „rette mich, laß mich nicht vor Gericht kommen!“

„Tröste Dich!" sagte er. „Diesmal ist es noch gut ausgegangen, Frau von Kolotschine hat Neustadt schon vor drei Tagen verlassen, ‚plötzlicher Familienangelegenheiten wegen‘, wie es heißt.“

„Wer hat Dir das gesagt?“ rief ich athemlos.

„Ihr Schwager, der Major.“

„Und er hat Dich nicht gefordert? Er kam nicht von ihr gesendet?“

„Nicht im Mindesten, er schien überhaupt ganz ahnungslos und erzählte mir nur beiläufig von ihrer Abreise, deren wahren Grund ich nun zu verstehen glaube.“

O Gott! Mir fiel eine Bergeslast vom Herzen, ich konnte gar nicht anders, als Hugo umfassen und lachend mit ihm im Zimmer herumtanzen. Plötzlich hielt ich inne:

„Aber was wollte der Major denn überhaupt bei uns?“

„Um Dein Bowlenrecept bitten, die Bowle habe ihnen neulich so gut geschmeckt.“

[767] Mir fielen die Hände glatt herunter. Also darum so viel Aufregung und Todesangst! …. Ich konnte es gar nicht fassen und sah Hugo so verblüfft an, daß er laut auflachen mußte. Er zog mich an sich:

„Nun, kleiner Schatz, die Predigt will ich Dir ersparen; es scheint mir, Du hast heute schon genug ausgestanden …“

Wir verabschiedeten uns von der guten alten Frau, die sich herzlich über uns freute, und gingen heim. O Marie, und als wir nun zusammen saßen am Abend in unserem lieben heimlichen Stübchen und alles Schreckliche verschwunden, Alles wieder gerade so schön und glücklich war wie vor dieser fürchterlichen Woche, als mich Hugo in den Arm faßte und sagte, es sei unrecht gewesen, mich so einsam abzuquälen, ob ich denn kein Vertrauen zu ihm habe? – da kam es über mich wie eine Fluth von stürmischer Wonne; ich lehnte meinen Kopf an ihn und da – endlich, vertraute ich ihm das, was uns Beide zu glückseligen Menschen macht. O Marie, freue Dich mit mir, wie will ich jetzt gut sein und es verdienen, daß ich so namenlos glücklich bin! Emmy. 


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aus: Die Gartenlaube 1887, Heft 49, S. 810–811
Novelle – Brief XII
[810]
XII.
Neustadt, 10. Juni 1880. 

Ja, liebste Marie, nun heißt es wieder, die Feder eintauchen, nachdem wir vier schöne Wochen täglich nach Herzenslust plaudern konnten. Wie glücklich hat mich Dein Besuch gemacht, wie leid thut uns Allen Dein Gehen! Hugo schwärmt noch in Erinnerung unserer Brahms-Abende von dem Mondscheinzauber Deiner seelenvollen Stimme; seine Mutter (o Wunder!) nennt Dich ein „angenehmes Mädchen“, und Klara, das arme Kind, macht es wie Prinz Carlos und sieht in „grenzenloser Liebe“ das Rettungsmittel gegen eine Eifersucht, die auch dem gutartigsten Menschenkind aufsteigt, wenn andere Leut so viel schöner und klüger sind. [811] Aber sie hält sich tapfer. Heute Morgen saßen wir mit einander unten in der Laube, wo vor drei Tagen noch Dein liebes Gesicht zwischen den Weinranken durchsah, arbeiteten und sprachen von Dir.

„Ach,“ sagte Klara, „Fräuleln Marie ist wohl sehr glücklich. Alle haben sie lieb –“ das Weitere will ich Deiner Bescheidenheit ersparen. Du kannst denken, wie ich über Dich loszog!

„Glauben Sie,“ fing Klara nach einer Pause wieder an, „daß der – der Herr Doktor Brandt Fräulein Marie auch sehr verehrt?“

„Warum sollte er nicht? Es schien mir so. Uebrigens weißt Du ja, Klara, daß Marie Braut ist.“

„Ja – aber vielleicht macht ihm das nichts aus. Ich – ich glaube, das ist immer so in der Welt, daß das Unerreichbare – und überhaupt – warum wäre er denn so unglücklich –?“

„Weil er ein Narr ist,“ sagte ich. „Du könntest auch etwas Besseres thun, Klara, als Dich für diesen Menschen interessiren.“

Sie hörte mich nicht mehr – Pferdegetrappel von der Straße her schien sie unwiderstehlich anzuziehen; sie sprang auf den Ausguck an der Mauer und kam mit einem strahlenden Gesicht zurück.

„Zwei Schimmel auf einmal! Nun sind es bereits fünfzig!“

Ich sah sie erstaunt an: „Was kümmern Dich denn die Schimmel anderer Leute? Und wo sind denn die übrigen achtundvierzig? Und warum müssen es gerade fünfzig sein?“

„Nicht fünfzig, sondern neunundneunzig,“ berichtigte sie. „Und dann ein Kaminfeger, dann trifft’s ein.“

Ich griff nach ihrem Arm: „Klara, bist Du denn ganz übergeschnappt? Was ist das nun wieder für ein gräßlicher Unsinn?“

„Ja, wissen Sie das nicht?“ lachte sie. „Das ist ja ganz unglaublich. Ich dachte, alle jungen Mädchen zählten Schimmel! – Nun, aber das wissen Sie doch, daß es ein großes Glück ist, wenn man rostige Nägel findet oder gar ein Hufeisen? Neulich sah ich eines mitten auf der Straße liegen, aber es war im dicksten Schmutz, und da mochte ich doch nicht hineinfassen, und außerdem genirte ich mich; es ging gerade Jemand vorbei –“

„Aha! Nun, und die Schimmel?“

„Ja sehen Sie,“ fuhr sie erröthend fort, „wenn auch Nägel und Hufeisen eine sehr gute Vorbedeutung sind, ganz sicher weiß man es doch nicht. Aber wenn man im Lauf eines Jahres neunundneunzig Schimmel sieht und dann einen Kaminfeger, und gleich hinterher ein Herr Einem die Hand giebt – dann ist es sicher, daß man den heirathet. Ja – ganz gewiß,“ betheuerte sie eifrig und etwas beleidigt Über mein schallendes Gelächter, „bei Anna Dietrich ist es vollständig eingetroffen, und seitdem habe ich auch angefangen, Schimmel zu zählen.“

„So? Seit wie lange denn?“

„O, ungefähr seit einem halben Jahr. Aber jetzt muß ich heim,“ setzte sie, um weiteren Fragen zu entgehen, rasch hinzu; „es ist schon sechs Uhr.“

Immer noch lachend verabschiedete ich sie und saß dann wieder still und freute mich des schönen Abends in dem lieben friedlichen Gärtchen mit seinen duftenden Rosenkronen, dachte an Dies und Jenes und fühlte mich so recht von Herzen glücklich.

Da kam vom Hause der heimliche Grund von Klara’s Schimmelmanie hergeschlendert. Er sah etwas blaß und übernächtig aus und streifte im Vorübergehen mit dem gewohnten verächtlichen Blick meine unschuldigen Zwergbohnen. Mit kurzem Gruß ließ er sich auf den Stuhl mir gegenÜber fallen und starrte düster vor sich hin.

Er kam mir gerade recht. Du hast es selbst gesehen, wie kurze Umstände ich mit diesem „kompromittirenden Verehrer“ mache. Hugo ist jetzt auch beruhigt über ihn. Er gestand mir in jener großen Aussprache, daß er mehr als einmal auf den „verdammten Bengel“ recht eifersüchtig gewesen sei, aber dies ist nun so vorüber, als ob es vor hundert Jahren gewesen wäre – zwischen uns kommt Nichts mehr! Ich kann jetzt ganz ruhig „mütterliche Freundin“ sein.

„Nun,“ fing ich die Unterhaltung an, als Brandt gar keine Anstalten zum Sprechen machte, „was ist denn heute los? Sie sehen ja aus, als ob Ihnen ein Unglück passirt wäre?“

„Ein Unglück?! O – was könnte mir für ein besonderes Unglück zustoßen? Meine ganze Existenz ist ja nur eine Kette von Mißgeschick und Mißerfolg – ich …“

„Nun, das wollen wir für jetzt ruhen lassen. Sagen Sie mir lieber, was Ihnen heute passirt ist, denn daß Sie etwas haben, sehe ich Ihnen an.“

„O, es ist nicht der Rede werth,“ sagte er mit affektirter Gleichgültigkeit. „Herr Schumann hat mir für den Herbst gekündigt. Finden Sie das nicht ganz in der Ordnung? Nicht logisch und konsequent?“

„Wenn Sie nachlässig oder unartig gegen ihn waren, ja!“

„Unartig gegen ihn?“ fuhr er auf. „Gegen diesen stiernackigen Proletarier, diesen rohen Kerl, dessen einziges Interesse dahin geht, Geld und wieder Geld zu machen, der Gehirn und Muskeln seiner Leute aufs Aeußerste ausnützt und dann noch die Minuten zählt, die man in seiner verpesteten Höhle zuzubringen hat? Einem Nilpferd würde darüber die Geduld reißen –“

„Ich glaube nicht, daß die Nilpferde besonders geduldig sind,“ wandte ich ein.

„Und es ist gut so!“ fuhr er mit erhobener Stimme fort. „Ich bin dieser niederträchtigen Existenz bis zum Ekel überdrüssig. Was weiter wird? Ich frage es nicht, ich fange an einzusehen, daß der Kampf gegen das sogenannte Schicksal vergeblich ist. Der sinnlose Zufall trifft irgendwo einmal Einen unaufhörlich, statt nur dann und wann; ich bin dieser Eine – ich, bei dem es nicht Noth thäte, ihm den Unwerth des Lebens zu demonstriren. Ich war von Anfang an davon überzeugt.“

„Hören Sie,“ sagte ich, „diese Redensarten habe ich im Schopenhauer selbst gelesen und besitze ein gutes Gedächtniß (das war zwar gelogen, aber es paßte mir gerade so schon und daß solche Sachen darin stehen, weiß ich doch!). „Fahren Sie nur in Ihren personlichen Erlebnissen fort.“

„Meine Erlebnisse sind nur ein Theil der allgemeinen Misère, ekel, schaal, flach und unersprießlich, wie sie. Er hat Recht, der alte Franzose: le jeu ne vaut pas la chandelle! Man nährt die Kerze mit seinem besten Lebensmuth, mit Hoffnung und theuren Illusionen und was bleibt übrig? – Asche!“

Ich sah ihm recht freundlich und theilnehmend ins Gesicht: „Ja, das ist wohl wahr. – Warum schießen Sie sich eigentlich nicht todt?“

„Wie so?“ fuhr er auf. „wie meinen Sie das?“

„Nun, ganz einfach. Eine Pistole werden Sie ja haben und Pulver auch. Wenn Ihnen die Welt so verleidet ist, warum kehren Sie ihr nicht einfach den Rücken? Religiöse Bedenken halten Sie nicht ab, so viel ich weiß.“

„Nun – man hat doch noch Pflichten gegen das Allgemeine –“ stotterte er.

„Bilden Sie sich das nicht ein. Kein Mensch wird Sie vermissen, denn Sie haben sich nicht die Mühe gegeben, an Menschen Theil zu nehmen. Und zehn Andere sind bereit, in die Lücke zu treten, die Sie lassen. – Aber,“ fuhr ich fort, als er etwas betreten schwieg, „nun will ich ernsthaft reden und als ungelehrte Frau Ihnen sagen, daß ich mich für Sie, einen gesunden jungen Mann, schäme über solche Reden. Was! diese einzige Existenz, die uns gegeben ist, mit mattherzigem Gewimmer zubringen, statt die Augen aufzumachen, um Interessanteres zu sehen als das hochgelobte Ich, statt die Hände zu rühren, um etwas Tüchtiges zu schaffen! Was haben Sie denn bis jetzt in der Welt geleistet, mein lieber Herr Doktor, um so gewaltige Glücksansprüche zu erheben? Wenn Sie fünfundzwanzig Jahre lang umsonst für das Wohl Ihrer Mitmenschen gearbeitet hätten, dann könnten Sie sich beklagen, aber so viel ich weiß, sind Ihre Anstrengungen bis jetzt recht mäßig gewesen, und dort sitzt der Haken. – Wissen Sie, woran es Ihnen fehlt? Nicht an Talent und Intelligenz. Sie haben von Beidem eine ganz ordentliche Portion, aber am Charakter fehlt es Ihnen. Das unterstehe ich mich Ihnen ins Gesicht zu sagen als Eine, die es gut mit Ihnen meint! Und Ihre jetzige Kalamität ist gerade recht: bisher hat Sie das Gute nicht gefreut, nun ärgern Sie sich einmal über das Schlimme und dann packen Sie an, schaffen aus Leibeskräften und haben schließlich Ihre Freude am Erfolg, wie andere unphilosophische Leute!“

So predigte ich ihm noch eine Zeit lang fort und war selbst erstaunt über die Keckheit, mit der ich es that. Er wurde immer nachdenklicher, und nach einiger Zeit sagte er: „Ich wollte, ich hätte Sie früher gekannt. Sie sind eine so merkwürdig resolute Natur, Sie hätten von großem Einfluß auf mich sein können, statt –“

„Ja wohl, statt –!“ fiel ich ihm ein. „Was haben Sie denn nun von Ihren vielen kleinen und großen Koketterien mit lauter problematischen und unverstandenen Damen? Nichts als die Blasirtheit für diejenigen guten und natürlichen Mädchen, die doch allein die richtigen Frauen geben.“

„Sprechen Sie von meinen Fabriktöchtern?“ fragte er und schlug die Augen resignirt gen Hinnnel.

„Nein,“ lachte ich, „so schlimm ist’s nicht gemeint. Und beim Heirathen sind wir noch nicht, lieber Freund. Erst müssen Sie eine Stelle haben und dann noch ein ganz Anderer werden, Einer, der froh ist, wenn ihn ein liebes Mädchen nimmt, statt daß er sich einbildet, ihr ein ungeheures Geschenk mit seiner kostbaren Person zu machen.“

Ich hielt inne, es blitzte mir ein Gedanke auf, der mich in der nächsten Minute ganz erfüllte. Wenn man Brandt bei Klara’s Vater unterbringen könnte?! Parkettböden schneiden oder Leim sieden – das kommt doch schließlich auf Eins heraus – und dann weiter – wenn sich Klara ihn am Ende ernstlich in den Kopf gesetzt hat – wenn ihn der Alte zu einem tüchtigen Geschäftsmanne machte – eine Hilfe braucht er doch einmal, denn er hat keinen Sohn – – ich sage Dir, die Wenn strömten mir nur so dutzendweise zu und wirbelten in meinem Gehirne umher. Ich sah ihn prüfend fort und fort an. Bisher war er mir eigentlich ganz gleichgültig gewesen, nun kam es mir auf einmal vor, als müsse ich den verkehrten Menschen auf einen ordentlichen Weg bringen. Und wenn Klara auch dadurch glücklich würde! Wenn er sie in der Nähe sieht, muß er das liebe, bescheidene Ding ja lieb gewinnen, und bildungsfähig ist sie – ja, ich mußte mich nur halten, um nicht gerade mit meinen Gedanken herauszuplatzen.

„Darf man fragen, was Sie so beschäftigt?“ hörte ich ihn endlich sagen.

„Nein, das darf man nicht,“ rief ich vergnügt: „erst muß ich mit Hugo reden, gehen Sie jetzt, lassen Sie mich allein, Sie hören bald mehr davon.“

Er ging, ich überlegte mir die Sache in allen Details und fand keine Unmöglichkeit. Das Geschäft ist ein großer Betrieb; er müßte sich einarbeiten, aber das könnte er auch, und ein anderes Ding wäre es doch, als die abscheuliche Leimfabrik. Wenn ich dem alten Reichert ein Bischen um den Bart gehe, nimmt er ihn doch vielleicht; er sagte mir neulich, wie viel Dank er mir Klara’s wegen schulde. –

„Hugo, Hugo,“ rief ich diesem entgegen, als er in den Garten trat, „komm’ schnell, ich muß Dir etwas Wichtiges vortragen.“

„Nun,“ meinte er, als ich fertig war, „das ist gar nicht so dumm; da könnte aus dem interessanten Jüngling ja noch so zu sagen ein Mensch werden!“

Und jetzt begebe ich mich an die Intrige, und wie sie geglückt ist, das wirst Du hoffentlich recht bald erfahren! Emmy.
 




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aus: Die Gartenlaube 1887, Heft 50, S. 835
Novelle – Brief XIII
[835]
XIII.
Neustadt, d. 10. Juli. 

Unsere projektirte Ferienreise nach Hause muß einen Aufschub erleiden, liebste Marie, Ihr braucht morgen noch keine Kränze zu winden! Hugo, der sich schon seit ein paar Tagen unwohl fühlt, hat heute eine tüchtige Halsentzündung. Schonen will er sich natürlich nicht, aber daß er so nicht reisen kann, das sieht er doch ein. Ich habe eben Mama abgeschrieben; indessen hoffen wir doch, in einigen Tagen fortzukommen; wir müssen es eigentlich, denn Rike ging am Ersten und statt ihrer ist nur eine Aushilfe da. Bis zu unserer Rückkehr im August kommt dann ein neues Mädchen von weniger stürmischem Temperament, die sich hoffentlich vor dem großen Ereigniß im Herbst noch gut eingewöhnen wird.

Ach, wenn wir doch Samstag fort könnten! Sehr in Eile
Deine Emmy. 
D. 14. Nachts. 

O Marie, Marie! In Verzweiflung schreibe ich Dir heute. Hugo ist schwer krank, es ist die Diphtheritis und, wie mir der Arzt heute sagte, „kein leichter Fall!“ Ich bin innerlich fassungslos, wenn ich mich auch vor Hugo so viel als möglich zusammennehme. Er wird es vielleicht bald nicht mehr beachten; das Fieber ist so stark, die Noth in dem armen gequälten Hals so schrecklich! Sag’s der Mama schonend, ich schreibe morgen mit dem Frühesten wieder.

D. 15. 

Das Fieber steigt noch immer, der Doktor schüttelt den Kopf, wenn er das Thermometer betrachtet. Wir wenden jedes mögliche Mittel an, aber keins bringt ihm Linderung. Sorgt nicht um mich, Hugo’s Mutter ist bei mir.

D. 16. 

Er lebt noch, aber unter welchen Leiden! Was bevorsteht – ich weiß es nicht. Der Arzt will mich offenbar schonen und spricht sich deßhalb nicht aus. O, nur mitsterben können, wenn er stirbt – alles Andere wäre Verzweiflung! Aber nein, nein, nicht einmal denken kann ich das! O Marie, ich leide fürchterlich …

Es soll Niemand kommen, Niemand! Es ist mir eine Erleichterung, daß Papa die Mama nicht fortläßt, ich kenne ihre Scheu vor Ansteckung. Und – es muß bald entschieden sein, das ist unser trauriger Trost! …

Telegramm.
D. 20. 

Heute Morgen nur 38,5 Grad. Hals etwas freier, Arzt giebt Hoffnung. Brief unterwegs.

Reichenhall, den 14. August. 

  Meine theure Marie!
Endlich, endlich finde ich die Möglichkeit, den Brief zu schreiben, den Du Gute, Treue so lange schon haben solltest. Aber erst die schwere Sorge um Hugo, dann nach seiner Genesung die Uebersiedelung hierher: Alles das ließ mich zu keiner Ruhe kommen, heute aber, im Schatten eines allerliebsten Landhauses unter hohen Bäumen sitzend und dem Geläut der Sonntagsglocken ringsum horchend, fühle ich mich wie in einem neugeschenkten Leben, so tief glücklich und so innig dankbar. Dort unter den Kastanien in einer Hängematte ruht Hugo; er sieht noch ein Bischen blaß aus; aber er betrachtet sich bereits die Bergspitzen, die über den Garten hereinschauen, und spricht von baldigem Besteigen. Neben ihm sitzt seine Mutter, seine gute, großdenkende Mutter, und ich, Marie – ich sehe die Beiden an und freue mich innig ihres frohen Aussehens. Auf meine Bitte hat uns die Mutter hierher begleitet – aber ich muß etwas weiter ausholen, um Dir das zu erklären; sonst kannst Du es ja nicht verstehen!

Wie wir früher standen, weißt Du. Vollends nach jener Kolotschine-Geschichte zog ich mich sehr zurück; ich konnte es ihr nicht vergessen, daß sie mich wie ein Schulmädchen behandelt hatte, ging immer seltener hin. Natürlich kam sie auch wenig genug zu mir, und Hugo gab am Ende seine Bemühungen auf und besuchte die Mutter allein. Auch an jenem schrecklichen 14., als plötzlich das Fieber und die Halsschmerzen so stark wurden, daß ich mitten in der Nacht den Arzt holen ließ und mir dann mährend des Einpinselns und Eisumschlägemachens voll Angst überlegte, was nun werden solle in der öden Wohnung mit einer einfältigen Bauernmagd als einziger Hilfe – auch da kam mir kein Gedanke, nach der Schwiegermutter zu schicken.

Aber am andern Morgen, als ich müde und überwacht ein paar Augenblicke ausruhte, da stand auf einmal die alte Frau neben dem im Fieber glühenden Hugo. Er sah sie mit einem mühsamen Lächeln an und versuchte zu sprechen. Aber es gab nur ein heiseres Geflüster und sie winkte ihm dringend, zu schweigen. Während ich den Inhalationsapparat richtete, verschwand sie geräuschlos; als ich aber nach zehn Minuten rasch in die Küche lief, fand ich sie, eine große Schürze umgebunden, am Herd und im Begriff, der ungeschickten Lisbeth bei Bereitung der Kraftbrühe für Hugo zu helfen.

„Ich bleibe nun hier,“ sagte sie, als das Mädchen nach der Apotheke fortlief, „aber Du brauchst nicht zu erschrecken, Emmy, ich will weiter nichts, als Dir die Arbeit abnehmen, welche Dich verhindern würde, stets um Hugo zu sein. Du bist seine Frau und hast das ausschließliche Recht auf seine Pflege. Aber Dein Zustand erfordert Hilfe und die, welche Du hast, ist gar zu schlecht. Heute Nachmittag hole ich Lene her, und wir Beide Übernehmen dann das Hauswesen. Es kann nicht anders sein,“ fuhr sie wie entschuldigend fort, „ich meiß, daß Dir meine Gegenwart nicht angenehm ist, aber“ – hier brach ihr Schmerz erschütternd heraus, „es handelt sich ja um Hugo, um meinen Letzten, Einzigen! Wir wollen allein an ihn denken, nicht an uns Beide; willst Du das, Emmy?“

Sie streckte mir ihre Hände hin, ich legte die meine hinein. „Und die Ansteckung?“ hielt ich mich doch verpflichtet zu fragen, „fürchtest Du sie nicht?“

„Ich fürchte nur noch Eines,“ erwiederte sie. „Alles Andere ist daneben gleichgültig.“

Und von der Stunde an, liebe Marie, war es mir, als sei das eine ganz andere Frau, die ich jetzt kennen und lieben lernte. Es kamen die schlimmsten Tage und Nächte, wo ich furchtbar verlassen gewesen wäre, weil Alle das Haus mieden, aus Scheu vor der Ansteckung. Aber an meiner Seite stand fest und ruhig, Alles bedenkend und besorgend, stets mit Rath und That bei der Hand die seltene, edle Frau, die ich heute aus tiefstem, dankbarem Herzen über Alles liebe und verehre. Sie band sich an ihren Vorsatz, nicht die erste Stelle einnehmen zu wollen; ich sah sie mehr als einmal Magddienste thun, wenn Lene ausgegangen war, damit ich ruhig bei Hugo bleiben konnte. Und dabei – ich möchte ihr heute noch auf den Knieen dafür danken – verschmähte sie die Gelegenheit, mich zu demüthigen, die eine kleine Natur sicher benutzt hätte, gönnte sich nicht den Triumph, von mir auch bei Hugo zu Hilfe gebeten zu werden, sondern ging freundlich ab und zu und stand Abends, wenn ich die Nacht vorher bei ihm gewacht hatte, ungerufen an seinem Bett, mir zu sagen: „Lege Dich etwas, Emmy; ich wecke Dich auf, sobald Hugo Etwas bedarf.“

Dann saß sie, während ich von Erschöpfung schlief, die ganze Nacht wachsam und besorgt bei ihm und weckte mich nicht, und wenn ich mich Morgens beklagte, sagte sie freundlich: „Du bist es uns Beiden schuldig, mein Kind, Dich jetzt zu schonen. Alte Augen wachen leichter als junge!“

So schmolz, ehe ich recht wußte, wie, mein altes häßliches Gefühl gegen sie völlig dahin; erst war ich ihr nur dankbar; dann fing ich an, sie aufrichtig und von Herzen zu lieben, nur konnte ich es nicht recht fertig bringen, ihr das zu sagen und fühlte doch, daß ich es sollte und müßte.

Als es nun mit Hugo ganz entschieden besser ging und wir aus seiner unglaublichen Krittelhaftigkeit die besten Hoffnungen schöpften (obgleich dieses Stadium ganz anders ist als in den Romanen, wo man sich um den Hals fällt und schluchzt: Gerettet!), da saß ich eines Nachmittags, vom vielen Hin- und Herlaufen erschöpft, im großen Fauteuil im Eßzimmer und war offenbar in der kühlen Stille sanft und süß eingeschlafen. Denn ich hörte nichts von den Eintretenden, bis mich ihre gedämpften Stimmen wieder zum Bewußtsein brachten. Es waren meine Schwiegermutter und der Doktor, welche aus dem Schlafzimmer kamen und an der Thür auf dem Gang plaudernd stehen blieben. Ich war zu faul zum Aufstehen, behielt also die Augen geschlossen, als ob ich weiter schliefe.

„Sehen Sie nur," hörte ich sie sagen, „wie rührend hübsch das junge Geschöpfchen da im Lehnstuhl sitzt, die Hände über dem Hausschürzchen zusammengelegt. Wenn sie so schläft, tritt doch die reine Kinderseele auf ihr Gesicht, ich habe mich schon oft daran erfreut, sie zu betrachten.“

„Man kann Ihnen zu der Schwiegertochter gratuliren,“ sagte der Doktor höflich.

„Das kann man in der That,“ erwiederte sie mit Lebhaftigkeit, „Emmy ist eine prächtige Natur, wahrhaftig, gut und warm, mein Sohn ist glücklich, sie zu besitzen, und ich bin es für ihn. Ich gestehe ehrlich, daß ich früher anders dachte; es fehlte mir die richtige Art, sie zu behandeln, und deßhalb trug ich wohl die Hauptschuld an der zwischen uns herrschenden Kühle. Aber nun ist es anders geworden; ich kenne sie jetzt und habe sie von Herzen lieb gewonnen, die kleine Frau!“

Sie waren unter diesen Worten zur Thür hinausgegangen; ich aber sprang auf meine Füße, und als sie allein wieder hereinkam, fiel ich ihr um den Hals und rief: „Ich habe Dich auch von ganzem Herzen lieb, Du gute, gute Mutter, aber Du hast keine Schuld, ich allein – und ich bitte Dich um Ver…“ Da schloß sie mir mit einem Kusse den Mund und sagte: „Still, still, davon darf gar nicht mehr die Rede sein!“

Tags darauf saßen wir zum ersten Mal mit Hugo nachmittags im Hausgärtchen. Er sah uns mit sehr vergnügten Blicken an, aber sonst war Alles unerträglich. die Mücken, der unbequeme Lehnsessel, das Halstuch, welches ich niemals lernen würde, richtig zu knüpfen, und vor Allem der niederträchtige Krautgarten um uns her. Wir ließen ihm sein RekonvalescentenvergnÜgen, nur als er ganz elegisch seufzte: „Ja, wenn man wenigstens nach Reichenhall könnte!“ da sagte die Mutter ruhig: „Das könnt Ihr ja,“ und ich fügte hinzu: „Das können wir, willst Du sagen, liebe Mutter!“

Ach Marie, wenn ich denke, wie viele Menschen sich mit Antipathien das Leben verbittern, die keinen besseren Grund haben, als diese meine so vollständig überwundene, da dauert mich Jeder, der den häßlichen Ballast nicht aus seinem Herzen wirft!

Und nun sitzen wir in Reichenhall, sehen alle Morgen die Bergherrlichkeit um uns her und genießen die Tage und Wochen. Nicht mehr allzuviel der letzteren und ein ernstes Ziel naht heran, an das ich in der Aufregung der letzten Zeiten kaum je dachte. Aber nun – wie wird es werden? Ist die schwermüthige Weichheit, die oft über mich kommt, der Vorbote, daß vielleicht diesen Herbst schon die Astern auf meinem Hügel stehen?? … Manchmal kommen mir die Thränen bei diesem Gedanken, aber dann sucht mich Hugo zu ermuntern durch die Frage, ob wir unseren Sohn Hans, Kunz, Klaus oder Peter nennen wollen!

Jetzt wird er ungeduldig in seiner Hängematte. Leb wohl, mein liebes Herz! Deine Emmy. 

Meinst Du nicht, Sigfried wäre auch sehr hübsch? Oder Tristan? Lohengrin kommt mir doch ein Bischen romantisch vor! …



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aus: Die Gartenlaube 1887, Heft 53, S. 878
Novelle – Brief XIV
[878]
XIV. (Schluß.)

 Meine theuerste Marie!

Wenige Tage noch, und Du stehst im Myrthenkranz an Deines Richard Seite in der alten Nikolaikirche und sitzest dann glückselig mit ihm an der Ehrentafel, während man sich von allen Seiten mit Glückwünschen um Euch drängt und die Champagnergläser dazu klingen. Hier aber in dem fernen stillen Stübchen sitzt Eine, die vor einem Jahr kaum geglaubt hätte, es verwinden zu können, daß sie nicht dabei sein solle, und denkt nicht ans Reisen, sondern geht alle Augenblicke einmal zu einem blauverhangenen Wiegenkorb, um den Schleier zu lüften und das süße Gesichtchen zu betrachten, an dem sie sich, trotz vierwöchigen Anschauens, noch nicht satt gesehen hat. Aber im innersten Herzen fühlt sie ihre eigene Seligkeit zugleich als innigsten Wunsch für Dich, meine geliebteste Marie. Möchtest Du so glücklich werden, wie ich es bin! Mehr kann ich Dir nicht wünschen; denn ein größeres Glück giebt es nicht, das weiß ich gewiß.

Vorhin habe ich die letzten Stiche an der Decke gemacht, die hier beiliegt und Dich stets an mich erinnern soll. Könnte sie erzählen, wie viel würde sie Dir berichten von thörichten schweren Gedanken, die ich hineingestickt, von mancher Thräne, die darauf gefallen, wenn ich immer wieder das Bild sah, von dem ich einmal geträumt: wie Hugo mit dem Kind zu Allerseelen an meinem Grabe steht! Darüber wollte mir beinahe das Herz brechen. Saß er aber dann bei mir, während ich arbeitete, dann führten wir die süßen, lächerlichen Elterngespräche, wo wir uns die ganze Zukunft ausmalten, wie Alles mit dem Jungen werden solle. Nur über seinen Beruf konnten wir uns nicht einigen, weil ich durchaus einen Künstler haben wollte und Hugo ihm für diesen Fall mit Enterbung drohte. Jurist sollte er aber auch nicht werden, a!so was dann? Da war manchmal guter Rath theuer, zum Schlusse sagte Hugo regelmäßig: „Nun, vorläufig können wir’s ja noch abwarten.“

Als dann aber aus dem Spaß plötzlich Ernst wurde und angstvolle Stunden hereinbrachen, da sah ich ihn todtenbleich neben mir stehen und suchte nur fortwährend muthig zu sein, um ihn nicht so arg leiden zu sehen. Und als dann auf einmal ein niegehörtes kleines Stimmchen sich ganz sonderbar und meckernd vernehmen ließ und unser Junge – ein kleines, kleines Mädchen geworden war, da machte Hugo ein so völlig konsternirtes Gesicht, daß ich trotz der schwierigen Situation nicht anders konnte, als hell auflachen.

Das war eine Ueberraschung; denn an diesen Fall hatten wir ja vorher gar nicht gedacht! Und so war für das kleine Mädel nicht einmal ein Name vorhanden. Aber ich kann heute wirklich gar nicht mehr begreifen, wie wir so albern sein konnten – ein Mädelchen ist ja hundertmal reizender als so ein plumper Junge; es ist ein reines Vorurtheil, sich immer den zuerst zu wünschen. Aber die Menschen sind nun einmal so. Als des andern Morgens der Doktor kam, dem Hugo mittelst einer Karte das glückliche Ereigniß angezeigt hatte, da sagte er schon an der Thür mit seinem malitiösen Lächeln: „Gratulire zur Tochter!“

„Woher wissen Sie das?“ rief ich.

„Ei,“ erwiederte er, „wenn es ein Sohn gewesen wäre, hätte er auch auf der Karte gestanden. Das kennt man schon.“

Ich ärgerte mich doch unsagbar über den spöttischen Menschen, der sich da mit seinen drei Jungens groß that. Aber wenn auch damals eine kleine Enttäuschung dabei war – heute gäbe ich mein Mädelchen nicht um drei Dutzend Jungens, ja nicht um alle Schätze der Welt hin. Ich hatte mich ja immer auf das Kind gefreut, aber doch nicht recht gewußt, wie man es mache, um so ein kleines Hilfloses so furchtbar lieb zu gewinnen. Und dann waren die Neugeborenen, die ich bis dahin gesehen, alle so häßlich wie kleine Aeffchen.

Aber als nun der Morgen kam, als ich nach einem süßen Schlummer die Augen öffnete und man mir das kleine, gar nicht häßliche, sondern wundernette Geschöpfchen frisch gebadet und in einem gestickten Tragdeckchen aufs Bett legte und ich voll Staunen und Neugier seine zarten Gliederchen betrachtete und die großen schlehblauen Augen – da fühlte ich auf einmal aus dem innersten Herzen heraus einen ganz neuen, heißen Strom von Zärtlichkeit brechen und mit einem nie gekannten Glücksgefühl hieß ich das Kind, mein Kind, im Leben willkommen. Hugo knieete neben meinem Bett und hatte den Arm um uns Beide geschlungen und wir waren unbeschreiblich selig. Was unser einfaches Zimmer umschloß, das, fühlten wir Beide gleich tief, war das Höchste, was Menschenherzen erleben können!

Ach, und dann die glücklichen Rekonvalescententage, wenn gegen Abend Alle kamen, sich um meinen Divan zu versammeln und das Kindchen zu bewundern, das mir im Arme lag! Die beiden Großmütter, deren Namen Johanna Elisabeth es tragen soll; Hugo, der mit unglaublicher Schnelligkeit vom Bureau heim eilte, um seine Tochter wiederzusehen und alle Tage neue Ähnlichkeiten zu entdecken; Klara kam dann auch dazu, mit ein paar späten Rosen oder Reseden in der Hand; Brandt, welcher es augenscheinlich vermied, mit ihr zu kommen, erschien aber dann so häufig „zufällig“ eine Viertelstunde später, daß ich anfing, mir meine stillen Gedanken darüber zu machen, und mich sehr freute.

Du glaubst es nicht, wie dieser querköpfige Weltverächter sich zu seinem Vortheil verändert hat. Das Leben draußen in dem großen Betrieb, wo er gehörig arbeiten muß und gar keine Zeit hat, über sein werthes Ich nachzudenken, der Umgang mit dem klugen, tüchtigen alten Reichert und – die gute pekuniäre Lage, welche offenbar auf den Pessimismus sehr besänftigend wirkt: alles Das zusammen hat diesem jungen Herrn neue Züge ins Gesicht gemalt, die ihm sehr gut stehen. Er trägt jetzt Wasserstiefeln und eine Lodenjoppe; der Sammetrock ist verschwunden; aber offenbar hat er dadurch in Klara’s Augen Nichts verloren. Sie lesen Abends Shakespeare zusammen, erzählte sie mir neulich; der Papa schlafe freilich öfters dabei ein, aber Herr Brandt lese so wundervoll und –
den 26., früh. 

O, das ist köstlich, das muß ich Dir gleich schreiben! Gestern unterbrach mich ein Besuch, fast zu gleicher Zeit trat auch Klara ein; ich sah es ihr auf den ersten Blick an, daß sie lebhaft erregt war. Sie mußte sich doch ein halbes Stündchen beherrschen; aber kaum war die Dame fort, so flog sie mir an den Hals und rief: „Denken Sie nur, Frau Assessor, heute Morgen habe ich den neunundneunzigsten Schimmel gesehen und vorhin – als ich hier ins Haus trat – begegnete mir – ein Kaminfeger!!“

„Ein Gott, sollte man denken nach Deinem verzückten Aussehen,“ neckte ich. „Klara, Klara!“

Aber sie ließ sich nicht irremachen. In einem Strom von hastigen, glückseligen Worten kam es heraus, „wie jetzt Alles anders sei bei ihnen draußen, der Papa so zufrieden, und wie er den Herrn Doktor lobe und immer sage, so ein Mann habe ihm gerade gefehlt, und wie Brandt selbst so gut sei und so ganz anders als früher, und wie sie manchmal glaube, er habe sie wirklich gerne, obgleich sie ja gar nicht ‚bedeutend‘ sei, und …“ da schellte es draußen und wir Beide kannten den Riß. Einen Augenblick später trat Brandt selbst ins Zimmer, begrüßte mich, und nun kam der große Moment, wo vor meinen Augen der geheimnißvolle Schicksalsknoten eines Händedrucks nach neunundneunzig Schimmeln und einem Kaminfeger geschlungen wurde! Klara war blaß geworden bis in die Lippen, als sie ihre Hand in die seine legte; dann sah sie mich tief aufathmend an, während eine langsam aufsteigende Röthe ihr hübsches Gesichtchen übergoß. Sie befand sich in einer solchen Verwirrung, daß Brandt sie erstaunt ansah, und darauf ergriff sie den nächsten Vorwand, um zu entschlüpfen.

Er sah ihr schweigend einige Augenblicke nach, ging dann ein paarmal im Zimmer auf und ab und sagte endlich, vor mir stehen bleibend: „Würden Sie es sehr lächerlich finden, wenn ich Ihnen bekennte, daß ich dieses Mädchen in seiner frischen Natürlichkeit und Güte von Herzen lieb habe?“

„Nicht im mindesten,“ sagte ich ruhig; „ich fände es im Gegentheil unbegreiflich, wenn es nicht so wäre.“

„Ja aber –“ er fuhr sich wieder mit seinem alten Verzweiflungsstrich durch die Haare – „was soll, was kann daraus werden?“

„Ein glückliches Paar, hoffentlich. Sprechen Sie offen und ehrlich mit dem Vater! So viel ich weiß, ist er Ihnen gewogen. Wenn er Vertrauen auf Ihren Charakter hat – die Geldfrage wird wohl kein Hinderniß sein.“

Wir sprachen noch ein Weilchen weiter.

„Sie haben Recht,“ rief er endlich erleichtert, „von der Seite habe ich es noch nicht angesehen.“

Er griff hastig nach seinem Filz, stammelte noch einige Entschuldigungen, und draußen war er.

Heute früh nun, vor elf Uhr schon, ließ er mich um eine kurze Unterredung bitten und erzählte mir freudestrahlend, daß ihn der alte Herr nicht abgewiesen habe. Eine Probefrist von einem Jahr freilich wurde ihm gesetzt und von Verlobung darf jetzt noch keine Rede sein; aber das ist ihnen Beiden gesund, und daß sie sich schließlich bekommen, darüber ist Klara beruhigt – dafür lassen wir die Schimmel und den Kaminfeger sorgen!

Nun ich diesen Brief schließen will, kommt es mir so recht lebhaft zu Sinn, wie ich Dir voriges Jahr um diese Zeit, wo eben so die Flocken vor dem Fenster tanzten, meine ersten Haushaltskalamitäten erzählte. Damals war ich ein kindisches, verzogenes Ding voll Egoismus und Empfindlichkeit; aber Eines war echt und stark in mir, die Liebe zu meinem Mann, und sie hat mich Alles gelehrt, schaffen und überwinden und allmählich eine Andere werden. Ich weiß es jetzt, daß man unermüdlich jeden Tag an seinem Glück bauen muß und daß es heißt, Liebe säen, um Liebe zu ernten. Voriges Jahr im ersten Uebermuth stellte ich Dir mein „Programm“ auf und dachte mir es kinderleicht, das zu erreichen. Nun, wenn heute auch noch Manches zu verbessern ist, so kann ich doch voll froher Empfindung sagen, daß ich den sicheren Weg vor mir sehe und nicht mehr im Zweifel bin, daß es der rechte ist. Hugo’s Mutter sieht jetzt voll freundlicher Billigung auf meine häuslichen Bestrebungen und lobt mich als gute Hausfrau; er selbst sagte neulich: „Weißt Du noch, Emmy, wie Du mir vorigen Winter versprachst, ich solle über Jahr und Tag der beneidenswertheste Mann im deutschen Reich sein? Es ist doch hübsch, wenn man sein Wort recht pünktlich hält!“

Mama sitzt heute und garnirt ein pompöses Taufkissen; sie ist glücklich über ihr Enkel-Pathchen und versichert, es werde einmal eine Schönheit werden. Das steht nun freilich dahin; aber ein braves Menschenkind soll es werden. Ich wende jetzt meinen ganzen Ehrgeiz vom genialen Sohn auf eine ganz prachtvoll erzogene Tochter und denke mir, auch diese kann die Welt einmal gut gebrauchen!

Nun zum Schluß, meine theuerste Marie, fasse ich Dich nochmals ans Herz und wiederhole meine ersten Wünsche. Bleibe fest in Deiner Liebe, dann überwindest Du alles Andere und siehst nach einem Jahr und nach vielen Jahren so froh ins Leben, wie heute
Deine glückliche Emmy.