Der erste Fall im neuen Amte

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Autor: Jodocus Donatus Hubertus Temme
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Titel: Der erste Fall im neuen Amte
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 27–31, S. 385–388, 401–404, 413–416, 425–428, 438–442
Herausgeber: Ferdinand Stolle
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1858
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[385]

Der erste Fall im neuen Amte.

Vom Verfasser der „neuen deutschen Zeitbilder.“


Ich wurde – vor nahe an dreißig Jahren – nach N. in der preußischen Provinz N. als Director des dasigen Inquisitoriats versetzt.

Ich kannte weder die Stadt, noch die Provinz. Ich wußte nur aus der Geographie, daß die Stadt ein Landstädtchen mit 5000 Einwohnern war. In der Stadt und deren Umgegend war mir auch kein einziger Mensch bekannt; eben so waren mir die Verhältnisse von Stadt und Land, also auch das Besondere meiner neuen amtlichen Stellung völlig fremd. Was ein Inquisitoriat war und was der Director einer solchen Criminalbehörde zu thun habe, wußte ich freilich.

Indeß hatte ich auf der Reise von meinem bisherigen zu meinem neuen Aufenthaltsorte Berlin berühren und dort dem Justizminister mich vorstellen müssen, und dieser hatte wenigstens mit Einzelnem für meine künftige amtliche Stellung mich bekannt gemacht.

„Sie wird in der ersten Zeit eine schwierige und auch außerdem keine angenehme für Sie sein. Aber –“

Der Minister ging auf meine bisherige Amtsführung ein und fuhr dann fort:

„Aber Sie werden Schwierigkeiten und Unannehmlichkeiten zu überwinden wissen. Beide sind durch das bisherige und zum Theil noch vorhandene Richterpersonal des Inquisitoriats hervorgerufen. Der jetzt endlich pensionirte Dirigent war schon lange unfähig; die noch fungirenden Criminalräthe sind es auch, doch es ist zur Zeit unmöglich, sie gleichfalls zu pensioniren. In Folge von dem Allen sind die Geschäfte des Gerichts in große Unordnung gerathen, und eine Folge davon ist wieder gewesen, daß die Verbrechen in dem Bezirke des Gerichts auf eine schreckenerregende Weise zugenommen haben.

„Zu Ihnen vertraue ich nun,“ schloß der Minister, „daß Sie einerseits mit Strenge und Energie die Ordnung der Geschäfte wieder herstellen, andererseits aber auch jene beiden alten Criminalräthe, die zu ihrer Zeit tüchtige Beamte waren und nur durch den langen und angreifenden Dienst stumpf geworden sind, mit aller Milde und Rücksicht behandeln werden, welche langjährige treue Dienste fordern und verdienen.“

Ich war jung, rüstig, an Arbeiten gewöhnt. Ich hatte in dem Amte, aus dem ich unmittelbar herausgerufen war, vollständig ähnliche Schwierigkeiten und Unannehmlichkeiten zu überwinden gehabt und ohne Mühe überwunden. Ich ging getrost dem neuen Amte entgegen.

Mein neuer Gerichtsbezirk lag an der hannoverschen Grenze; ich hatte im Hannoverschen einen Universitätsfreund. Ich bat den Minister nur, diesen vor Antritt meines Amtes besuchen zu dürfen. Er gestattete es mir.

Ich reiste von Berlin nach Hannover mit der Schnellpost – Eisenbahnen gab es damals in Deutschland noch nicht – besuchte meinen Freund, der von der großen Straße entfernt wohnte, und kehrte dann nach Preußen zurück, und zwar aus dem Hannoverschen unmittelbar in meinen neuen Gerichtsbezirk. Ich hatte bis zu diesem anderthalb Tagereisen. Mein Weg führte mich, nach der Versicherung meines Freundes, fast ununterbrochen durch schöne Gegenden. Ich machte die kleine Reise zu Fuße.

Ich hatte dabei zugleich etwas Anderes im Auge. Von der Grenze bis zu der Stadt N. hatte ich eine ziemliche Strecke meines neuen Gerichtsbezirks zu passiren; eine Fußwanderung gab mir Gelegenheit, Manches kennen zu lernen und zu erfahren, was mir für meine künftige Wirksamkeit von Nutzen sein konnte.

Ich war, nach den Nachrichten, die ich eingezogen, nicht mehr weit von der Grenze entfernt. Ich befand mich in einem weiten Walde, wie man sie merkwürdiger Weise gerade an den Grenzen verschiedener Staaten hüben und drüben so häufig findet, als wenn die Regierungen den vielen und schweren Verbrechen, welche eben das Grenzverhältniß zu erzeugen pflegt, auch noch recht einen passenden Schauplatz und den Urhebern derselben einen sicheren, unzugänglichen Schlupfwinkel einräumen wollten.

Es war ein heller, warmer Frühlingsabend. Die Sonne stand schon tief am Horizont, gerade so tief, um von den belaubten Kronen der Bäume nicht mehr gehindert zu werden, ihre goldgelben Strahlen bis recht mitten, recht tief in den Wald hineinzuwerfen. Es bildeten sich wundervolle Licht- und Schattenpartieen unter den alten hohen Bäumen, zwischen dem jungen niedrigen Gebüsch. Das alte und das junge Volk freute sich auch hier in dem stillen, entlegenen hannoverisch-preußischen Grenzwalde der hellen, lustigen Sonnenstrahlen, und wenn ein dicker, alter, knorriger und knurriger Eichenstamm sie lange festgehalten, aber doch zuletzt ihnen nicht hatte wehren können, auf die Seite zu huschen und mit einer kleinen hübschen grünen Haselstaude oder mit den schneeweißen Blüthen eines jungen Kirschbäumchens zu spielen, dann meinte man ordentlich, die jungen Blätter und die frischen Blüthen vor Wonne in dem lauen, leisen Abendwinde sich schauern zu hören. Den armen kleinen jungen Dingern wurde es ja selten so wohl unter den hochmüthigen, dickbäuchigen Großen des Waldes.

[386] Ich hatte mich, seitab vom Wege, auf einen alten Baumstumpf gesetzt, um den schönen Frühlingswaldabend recht voll zu genießen. Ihr meint vielleicht, er sei wohl etwas zu poetisch gewesen für ein criminalistisches Gemüth? Ein Anderer erwidert Euch vielleicht darauf, ich sei ja damals noch jung gewesen.

Ach, was das Letztere betrifft, so gibt es kaum ein vertrockneteres Gemüth, als das eines jungen Criminalisten. Wo andere Menschen ein Herz haben, der junge Kaufmann selbst noch neben allen seinen Zahlen, Haupt- und Wechselbüchern, einfacher und doppelter Buchführung, da hat der junge Criminalist nur – eine Carrière, und erst im späteren Alter bekommt er, vielleicht, wieder ein etwas aufgethautes Herz.

Ich sah dem Spiele der immer goldener werdenden Sonnenstrahlen mit den alten und den jungen Bäumen zu. Rund umher war Alles tief still. Die Waldvögel schienen sich wohl schon zur Ruhe vorzubereiten. Andere Vögel, Raben und Krähen, die am Tage ihr Futter draußen in Feld und Wiese und bei den Menschen gesucht hatten, kehrten zurück, ihr Nachtlager in den dichten Zweigen der Bäume, fern von den Menschen, denen doch nicht zu trauen sei, zu suchen. Aber ihre sonst so geschwätzigen Stimmen waren verstummt und selbst ihr Flug war so leise, daß man ihn kaum über sich hören konnte; sie mußten sehr müde sein.

Ich wurde in meinen Betrachtungen der Natur unterbrochen. Etwas noch Poetischeres, etwas so recht tief und zugleich freundlich Poetisches unterbrach mich. Ein klarer, heller Gesang einer weiblichen[WS 1] Stimme schallte durch den Wald. Er nahete sich der Gegend, in der ich mich befand, und kam von der Seite der preußischen Grenze her. Die Sängerin mußte auf der Landstraße näher kommen, die durch den Wald führte, auf der auch ich gegangen war, und von der, etwa zwanzig bis dreißig Schritte seitab, ich mich auf den Baumstumpf gesetzt hatte.

Es war eine hübsche, frische, jugendliche Stimme. Sie sang so fröhlich und lustig, als wenn sie jedem Baume, jedem Stäudchen, jedem Blatte und jeder Blüthe im Walde ihre Freude und ihre Lust mittheilen wollte. Freilich mochte sie wohl nicht daran, sondern an etwas ganz Anderes denken.

Aber die Bäume, die vorhin neidisch die Sonnenstrahlen einander weggefangen hatten, schienen über den frischen Gesang aus der fröhlichen Mädchenbrust Neid und Eifersucht zu vergessen; es war, als wenn sie sich die Töne zuhauchten, immer weiter und weiter, damit Jedes sie vernehmen, sich daran erquicken solle. Der Gesang drang bis in die fernsten Tiefen des Waldes hinein.

„Zufriedenheit ist mein Vergnügen,
Das Andre laß ich Alles liegen
Und liebe die Zufriedenheit.
Und lieb’ und lieb' und lieb’ und lieb’
Und liebe die Zufriedenheit!“

Kennt Ihr die einfache, herzliche, lustige Melodie zu diesen Worten?

Ich lauschte mit den Bäumen und Zweigen und Blättern und Blüthen. Ich war neugierig wie sie, die Sängerin zu sehen. Endlich kam sie. Sie ging langsam und sah vor sich hin. Aber ihre Augen schweiften, wie suchend, überall im Walde umher. Mich hatte sie dennoch nicht gesehen. Auf meinem Baumstumpfe verbarg mich ein vor mir stehender breiter Baumstamm. Ich sah sie desto deutlicher.

Es war eine kleine, dralle, hübsche, außerordentlich behende Figur; eine von jenen Figuren, die ein junger Bursch, wenn er sie sieht, meint, in den Arm nehmen zu müssen, und die einem blasirten deutschen Jüngling das Blut in die Wangen und die Blasirtheit aus dem Herzen treiben könnte. Ihr Gesicht war wie Milch und Blut, ihre Augen wie ein neckisches Feuer. Aber besonders sprach eine kindliche, unschuldsvolle Gutmüthigkeit in dem hübschen, frischen Gesichte sich aus. Sie trug halb städtische, halb ländliche Kleidung, etwa wie ein Dienstmädchen von einem benachbarten Gute. Sie hatte trotz dem scharfen Umhersuchen ihrer feurigen Augen nicht blos mich, sondern auch etwas Anderes nicht gesehen. Ich hatte es bemerkt.

In gerade entgegengesetzter Richtung von ihr schritt ein Mensch nach der Gegend der Grenze zu. Er ging nicht auf der Landstraße, er hielt sich vielmehr jenseits derselben im Walde. Dort schlich er unter den Bäumen, leise und leicht. Er wollte offenbar gerade von dem Mädchen nicht gesehen sein, das seine Augen, wie ich, ungeachtet der Entfernung, deutlich glaubte wahrnehmen zu können, sorgsam wahrten. Er schien ein noch junger Mensch zu sein. Seine Kleidung war ebenfalls eine halb städtische, halb ländliche, als wenn er ein Knecht aus der Gegend wäre.

Als er in derselben Linie mit dem Mädchen war, ließ er dieses noch ein paar Schritte weiter gehen. Dann drehete er sich plötzlich um und schnell, wie ein Blitz, und eben so unhörbar schoß er aus dem Walde, unter den Bäumen hervor, auf die Landstraße, auf das Mädchen zu.

Sie sah und hörte ihn auch jetzt nicht und ging singend und suchend weiter.

„Und lieb’ und lieb’ und lieb’ und –“

Auf einmal verstummte ihr Gesang.

„Was ist denn das?“ rief sie.

Sie war von hinten umfaßt. Zwei Hände hatten sich auf ihre Augen gelegt; sie konnte nicht sehen, sie konnte nicht den Kopf, nicht die Arme, nicht den Körper rühren.

„Spitzbube, Du bist es!“ rief sie.

„Wer?“ fragte eine verstellte Stimme hinter ihr.

„Wirst Du mich auf der Stelle loslassen?“

„Eine solche Landläuferin!“

„Ich kratze Dir die Augen aus.“

Die verstellte Stimme lachte.

„Womit?“

„Nachher. Du wirst sehen.“

„Nun, das möchte ich sehen.“

Das sprach keine verstellte Stimme. Die umschlingenden Arme hatten sie losgelassen. Ein schmucker, hübscher Bursch stand lachend vor dem Mädchen.

„Angeführt, mein Mädchen!“

„Aber Deine Strafe bekommst Du, gottloser Bursche.“

„Nachher,“ sagte er jetzt.

Und er legte seinen Arm um sie und sie den ihrigen um ihn, und sie küßten sich herzhaft und herzlich. Als sie sich satt geküßt hatten, sagte der Bursch lachend:

„Nun meine Strafe; haben muß ich sie doch einmal, ich kenne Dich ja. Nachher können wir um so besser miteinander plaudern.“

Aber das Mädchen sah ihn ernst an und erwiderte:

„Diesmal soll sie Dir geschenkt sein. Ich habe Dir etwas Wichtiges und etwas recht Glückliches zu sagen.“

„Laß hören, mein Mädchen.“

„Mein Oheim war bei mir.“

„So? Und was wollte er?“

„Ich soll wieder zu ihm kommen.“

Das Gesicht des jungen Menschen nahm einen Ausdruck der Verstimmung an.

„Und das ist Dir ein Glück?“

„An dem Oheim ist mir auch nicht viel gelegen.“

„Ich kann ihn nicht ausstehen.“

„Aber meine Tante ist doch brav.“

„Gerade sie hat Dich damals fortgejagt.“

„Es reuet sie. Sie ist zuweilen heftig, aber sie hat ein gutes Herz. Ich soll wieder zu ihr kommen; sie hat den Oheim deshalb expreß zu mir geschickt.“

„So sagt er?“

„Wie könnte er es lügen?“

„Und Du gehst gern hin?“

„Es ist doch besser, als bei den fremden Leuten dienen. Sie sind so grob, so schlecht hier an der Grenze.“

„Du verläßt mich also auch gern?“

Der junge Mann fragte in bitterem Tone.

Das Mädchen wurde traurig. Aber doch zeigte sie durch ihre Trauer einen ruhigen, zuversichtlichen Muth.

„Fritz, so, wie jetzt, können wir auf die Dauer hier nicht beisammen bleiben. Du darfst nicht auf die andere Seite der Grenze kommen; die preußischen Beamten lauern auf Dich, wie auf ein wildes Thier, um Dich Jahre lang in das Zuchthaus zu schicken. Und ich kann mich nur verstohlen des Abends hier in den Wald schleichen, wenn ich Dich einmal sehen will.“

„Ja, es ist ein trauriges Leben,“ sagte der Bursch.

Und doch waren sie noch wenige Augenblicke vorher so lustig und fröhlich gewesen. Sie hatten gesungen; er hatte den Scherz mit ihr gemacht; sie hatten Beide gelacht, und umfaßt und geküßt hatten sie sich so herzlich und so glücklich, als wenn es für sie nimmer ein Leid in der Welt geben könne.

[387] War das das ruhige, edle Vertrauen der Unschuld? Oder war es ein, und dann schon tief eingewurzelter, Leichtsinn verbrecherischer Schuld?

Sie hatten vom Zuchthaus gesprochen! – Sie waren stehen geblieben und setzten ihr Gespräch fort. Das Mädchen hob wieder an.

„Und einmal muß es doch anders werden; und das kann es nur durch meine Tante. Nach Preußen darfst Du nicht zurück; Dein Leben hier in dem fremden Lande kannst Du so auch nicht fortsetzen. Meine Tante aber hat Vermögen und keine Kinder. Ihr Geld kann uns helfen; wir könnten damit überall Etwas anfangen.“

Ich sah auf einmal die Augen des jungen Mannes leuchten.

„Gretchen, ich habe da einen Gedanken.“

„Was ist es, Fritz?“

„Wann willst Du fort?“

„Mein Oheim wartet auf mich.“

„Also heute noch?“

„Heute Abend noch; wir werden die Nacht durch fahren. Aber was hattest Du?“

„Ich bringe Dich zur Grenze zurück. Unterwegs sage ich es Dir.“

Sie gingen Arm in Arm der Grenze zu. Von ihrem Gespräche hörte ich nichts mehr. Was ich gehört und gesehen, hatte mich interessirt: die hübschen, frischen Gestalten, das traurige und doch so glückliche Verhältniß Beider, ihr wahres Gefühl, besonders der klare, zuversichtliche Muth des Mädchens; dann aber auch wieder das Zuchthaus und daß der Bursch nicht nach Preußen zurückkommen dürfe, und daher der Zweifel, ob Schuld oder Unschuld. Und wenn Schuld, wenn verbrecherische Schuld da war, sollte sie, da der Bursch nicht nach Preußen zurückdurfte und die preußische Grenze hier zugleich die Grenze meines neuen Gerichtsbezirks bildete, sollte sie in dieser Beziehung nicht auch mich von nun an angehen?

Der Mensch ist ein Egoist und ein schlimmer Egoismus ist der bureaukratische.

Endlich, wenn Schuld da war, konnten dann nicht gar die letzten Worte, die ich gehört hatte, einen verbrecherischen Sinn haben, einen verbrecherischen Plan andeuten, den die Beiden jetzt im Weitergehen, während ich über die Worte nachdachte, weiter ausbildeten und verabredeten? Sie waren mir längst aus den Augen verschwunden, als ich noch diesen Gedanken nachhing.

Der Abend war hereingebrochen.

Wie der fröhliche Gesang des hübschen Mädchens verstummt war, so waren die Strahlen der Sonne verschwunden; im Walde herrschte nur das Dunkel und die Stille des Abends. Die alten und die jungen Bäume mit ihren Blättern und Blüthen hüllten sich in sie zum Schlafen. Ich verließ meinen Baumstumpf, schlug wieder die Landstraße ein und setzte meinen Weg fort. Ich mußte noch eine Zeitlang im Walde gehen. Es blieb still und einsam um mich her.

Auch von dem jungen Liebespaar sah und hörte ich nichts wieder. Der Bursch hätte zurückkommen müssen oder können. Er begegnete mir nicht. Dagegen hörte ich nach einiger Zeit im Galopp ein Pferd hinter mir herkommen. Ich war noch im Walde, gerade in einer Biegung der Landstraße. Ungefähr ein paar hundert Schritte vor mir war das Ende des Waldes. Ich hemmte meinen Schritt, um zu sehen, wer an mir vorübergaloppiren werde. Die Umrisse eines Reiters auf einem Pferde konnte ich hinter mir erkennen; mehr aber in der Dunkelheit der Bäume nicht. Allein auf einmal, als Pferd und Reiter neben mir waren, sah ich in dem Lichte, das aus der freien Ebene in die Landstraße hereindrang, auf einem großen, mageren, dunklen Pferde ein so häßliches, widerwärtiges Gesicht, daß ich, wäre es mir mitten im Walde begegnet, mich davor hätte erschrecken können. Es war breit; es schien mehr gelb, als blaß zu sein; es war von Blatternarben zerrissen; ein dichter, aufstehender, dunkler Schnurrbart theilte es; ein paar grünlich aussehende Augen fielen mit einem fast blendenden falschen Blitzen auf mich. So flog der Reiter an mir vorüber. Ich sah ihm noch überrascht nach.

Da kam um die Biegung des Weges mir ein Mensch entgegen. Als der den Reiter plötzlich vor sich sah, kam es mir vor, als wenn er erschrocken auf die Seite in den Wald hineinspringen wolle. Der Reiter, als er ihn gewahrte, wollte plötzlich sein Pferd anhalten; aber er besann sich anders und sprengte vorüber. Der Fußgänger sprang nicht in den Wald. Nach zehn Schritten begegnete er mir. Es war der Bursch Fritz, der mit dem hübschen Mädchen gesprochen hatte. Ich blieb bei ihm stehen.

„Wer war der Reiter?“ fragte ich ihn.

Ich glaubte, in seinem Gesichte noch Spuren von Erschrecken zu bemerken. Mich sah er mißtrauisch an.

„Ich kenne ihn nicht,“ antwortete er mir flüchtig und setzte, ohne sich bei mir aufzuhalten, seinen Weg fort.

Aus dem eigenthümlichen hastigen Tone seiner Stimme glaubte ich zu entnehmen, daß er den Menschen wohl kannte, aber irgend einen Grund hatte, dies nicht zu sagen.

Welcher war dieser Grund?

Wer war der Reiter mit dem häßlichen, Schrecken erregenden Gesichte?

An einer Landesgrenze haust allerlei Gesindel. – So nahete ich mich meinem neuen Gerichtsbezirke.

Als ich mit einer neuen Biegung der Landstraße aus dem Walde trat, sah ich etwa hundert Schritte weit vor mir links am Wege ein großes, einzeln stehendes Haus liegen. Ich ging darauf zu. In einer großen Stube sah ich durch die Fenster Licht. Vor der Thür stand ein Mensch, es schien ein Knecht zu sein.

„Ist dies ein Wirthshaus?“

„Ja“

„Noch auf hannoverschem oder schon auf preußischem Gebiete?“

„Noch im Hannoverschen. Die Grenze ist dort, dreißig Schritte weiter.“

„Kann man hier Nachtquartier finden?“

„Ich sollte denken. Gehen Sie in die Wirthsstube, Sie werden da die Frau Wirthin finden.“

Ich ging in das Haus. Die erleuchtete Stube war die Wirthsstube. Ich trat hinein. In der Stube fand ich die Wirthin und einen einzigen Fremden. Jene saß bei einer Lampe mit Nähen beschäftigt. Der Fremde saß an einem anderen langen Tische und hatte ein Glas Bier vor sich stehen.

Ich ließ mir von der Wirthin ebenfalls ein Glas Bier geben. Meine Absicht war, noch am Abend die preußische Grenze zu überschreiten, falls ich drüben in der Nähe ein convenables Wirthshaus finden werde. Hiernach wollte ich mich nun zunächst erkundigen.

„Die Grenze ist hier ganz in der Nähe?“ fragte ich die Wirthin.

„Ja, gleich hinter dem Garten des Hauses.“

„Wie weit ist das nächste preußische Dorf entfernt?“

„Eine starke halbe Stunde.“

„Trifft man vorher kein Wirthshaus?“

„Bis zu dem Dorfe ist nur Wald; er fängt gleich hinter der Grenze wieder an und in dem Walde ist kein Wirthshaus.“

„Dennoch führt die Landstraße hindurch?“

„Sie führt hindurch. Die preußische Regierung leidet keine Wirthshäuser in dem Walde und so dicht an der Grenze. Sie würden den Schleichhändlern zu sehr zum Schlupfwinkel dienen.“

„Ist hier viel Schleichhandel an der Grenze?“

„Wir bekümmern uns nicht darum.“

Die Frau sprach das mit Zurückhaltung. Sie schien weder mir noch dem andern Fremden zu trauen.

Ich setzte dennoch meinen Versuch fort, über die Verhältnisse der Gegend Auskunft zu erhalten.

„Es ist hier wohl oft unruhig an der Grenze?“ fragte ich die Frau weiter.

„Es fallen manchmal Streitigkeiten zwischen den preußischen Zollbeamten und den Schmugglern vor.“

„Sind die Schmuggler Preußen oder Hannoveraner?“

„Preußen. Es wird nur nach Preußen hereingeschmuggelt, wo Alles theurer ist. Sie haben da so viele Zölle und Steuern. Darum lebt das Volk da schlechter. Es ist auch schlechter drüben, als bei uns.“

„Und kein Hannoveraner nähme an dem Schleichhandel Theil?“

„Einige nichtswürdige Bursche abgerechnet, keiner. Gesindel findet sich überall.“

„Besonders an den Grenzen,“ bemerkte ich.

„Aber am meisten auf jener Seite,“ bemerkte dagegen fast eifrig die gute hannoversche Patriotin.

[388] Mir fiel der unheimliche Reiter ein, der an mir vorbeigeritten war. Der Fremde, den ich in der Wirthsstube traf, war es nicht. Dieser war ein Mann von mittler Statur, vielleicht einige dreißig Jahre alt, mit einem hübschen, feinen, blassen Gesichte. Das Gesicht hätte etwas Angenehmes gehabt, wenn nicht ein eigenthümlicher Zug um die ein wenig aufgeworfenen Lippen ihm einen zurückstoßenden Ausdruck verliehen hätte. Ich kann den Zug und den Ausdruck nicht näher beschreiben. Ich habe sie auch nicht oft in den menschlichen Gesichtern gesehen. Aber wo ich sie gesehen habe, sah ich ein schweres Verbrechen. Und nicht etwa blos der gefallene Mensch sprach sich darin aus, eine Natur vielmehr schien sich mir zu verrathen, die sich bewußt war, daß sie innerlich schon ausgestoßen sei aus der Gemeinschaft der Besseren, und nun Rache nehmen wollte, nehmen mußte für diese Ausstoßung, die fortan das Gute nicht mehr lieben konnte, die es dafür hassen, mit aller Kraft der Seele hassen wollte.

Das Nämliche schien im Hintergrunde der großen, dunkeln, melancholisch blickenden Augen des Mannes zu lauern.

Seinem Aeußern nach gehörte er übrigens dem mittlern Bürgerstande an. Er trug einen einfachen grauen Oberrock; eine blaue Tuchmütze und einen Stock, wie Bürgersleute ihn auf einer Reise über Land zu tragen pflegen, lagen neben ihm auf der Bank.

Ich hatte ihn anfangs nicht beachtet. Erst als die Frau von dem Gesindel an der Grenze sprach, hatte ich ihn plötzlich aufzucken sehen. Jetzt fiel er mir auf. Wie ich ihn genauer ansah, traf mich gleichzeitig ein scharfer Blick aus seinen melancholischen und doch so lauernden Augen. Sie stachen mißtrauisch nach mir hin, aber in dem Moment, in dem sie mir begegneten, senkten sie sich wie verwirrt, erschrocken zu Boden.

Ich hatte den Menschen nur prüfend angesehen, jenen plötzlich mir auffallenden Ausdruck studirend, wie sich der Criminalrichter den Inquisiten, den er zum ersten Male sieht, unwillkürlich prüfend und studirend betrachtet.

War er mit jenem erschreckenden Ausdrucke vor mir erschrocken? Und warum? Ich kannte ihn nicht; er konnte schwerlich mich kennen. Ich hatte ihn noch nie gesehen; er gewiß auch mich nicht. In irgend einer Beziehung zu mir konnte er gar nicht stehen. Hatte er eine Ahnung, daß er zu mir, dem ihm völlig Unbekannten, in so nahe und sein Schicksal so nahe berührende Beziehung treten werde?

Ich hatte ihn seitdem wiederholt in’s Auge fassen müssen. Jedesmal, wenn ich nach ihm hinschaute, bemerkte ich, wie sein Blick sich rasch vor dem meinigen niederschlug. Er hatte mich also angesehen, er hatte mich ansehen müssen, wenn ich nicht nach ihm sah. Er konnte mich nicht ansehen, wenn ich nach ihm sah.

Mir war in dem Gespräche mit der Wirthin der häßliche Reiter wieder eingefallen. Es lag nahe, daß ich mich nach ihm erkundigte.

„Ist hier nicht kurz vor mir Jemand zu Pferde eingetroffen?“ fragte ich die Frau.

Die Frau antwortete: „Nein.“

Aber der blasse Fremde hatte plötzlich, beinahe heftig, das Gesicht nach mir gewandt. Er sah mich so sonderbar an, als wenn der Reiter ihn angehe, und er von mir etwas zu erfahren hoffe.

„Es ist hier auch Niemand vorbeigeritten?“ fragte ich die Frau weiter.

„Ich habe keinen Menschen gesehen, auch kein Pferd gehört.“

Der Fremde horchte gespannt meinen Worten, wie denen der Wirthin; ich konnte es ihm ansehen, obwohl er sein Gesicht wieder halb von mir abgewandt hatte.

Ich setzte um so mehr meine Erkundigungen nach dem Reiter fort. Zwischen dem Fremden und dem Reiter mußte eine Beziehung bestehen. Der Fremde fürchtete eine Beziehung zwischen ihm und mir.

„Sonderbar,“ fuhr ich zu der Frau fort, „er ritt im Walde an mir vorüber, nicht gar weit von hier. Wenn er nicht hier vorbei kam, so muß er dicht vor dem Hause die Landstraße verlassen haben.“

Auch die Frau war aufmerksam geworden.

„Wie sah er aus?“ fragte sie.

„Er hatte ein breites Gesicht, Blatternarben, einen Schnurrbart.“

„Ich wüßte nicht, wer das sein könnte.“

„Er ritt ein großes, dunkles, mageres Pferd.“

Die Frau sann nach, aber sie schüttelte den Kopf, als wenn sie auf Pferd und Reiter sich nicht besinnen könne.

Der Knecht, den ich vor dem Hause getroffen, war während ihrer Fragen in die Stube getreten. Er hatte unser Gespräch angehört. Sie wandte sich an ihn.

„Hast Du den Menschen gesehen?“

„Es ist Keiner vorbeigekommen,“ antwortete der Knecht.

„Kannst Du Dich auch nicht besinnen, wer es sein könnte?“

„Nein. Aus der Gegend ist er nicht, sonst müßte ich ihn kennen.“

Der Knecht, der nur einen Schlüssel geholt hatte, ging wieder.

[401] Ich hatte unterdeß den Fremden nicht aus den Augen gelassen. Ich hatte eine auffallende Unruhe an ihm bemerkt, die er vergebens zu verbergen suchte. Um sie zu verbergen, hatte er von seinem Bier getrunken. Aber er hatte unwillkürlich rasch das Glas hinuntergestürzt, das noch beinahe ganz voll gewesen. Nach einigen Augenblicken stand er anscheinend ruhig und unbefangen auf.

„Was bin ich schuldig, Frau Wirthin?“

„Sie wollen noch weiter?“

„Ja, ich muß.“

„Nach Preußen zurück?“

„Ja.“

„Aber fürchten Sie sich nicht, am dunklen Abend so allein den Wald zu passiren?“

„Mir wird schon Keiner etwas thun,“ lächelte der Mann mit seinem melancholischen Blick. Das Gesicht war in dem Augenblicke nur hübsch, interessant.

Die Wirthin nannte ihm den Betrag seiner Zeche. Er bezahlte ihn. Dann nahm er seine Mütze und seinen Stock und ging.

„Gute Nacht,“ sagte er.

„Gute Nacht und gute Reise!“ erwiderte ihm die Frau.

Indem er aus der Thüre trat, sah ich ihn noch einen jener raschen, erschrockenen Blicke auf mich werfen.

Ist der Mensch wirklich ein Verbrecher? fragte ich mich. Und trägt denn auch der Criminalrichter jenes Wahrzeichen an sich, durch das der Scharfrichter dem Verbrecher so unheimlich wird? –

„Wer war der Fremde?“ fragte ich die Wirthin.

„Ich kenne ihn nicht. Er sagte, er sei von der anderen Seite.“

„Aus Preußen?“

„Ja.“

„War er schon früher hier?“

„Ich habe ihn heute zum ersten Male gesehen.“

„Kam er aus Preußen?“

„Er kam vor ungefähr einer Stunde an. Er sagte, er komme aus dem Hannoverschen, wo er Geschäfte gehabt habe.“

„Sie wissen auch nicht, woher er ist?“

„Er sagte nichts davon.“

Der Abend war sehr dunkel geworden. Der Himmel hatte nach Sonnenuntergang sich mit Wolken bezogen; die Wolken droheten mit Regen.

Die Wirthin war eine reinliche Frau. Alles im Hause sah sauber aus. Ich beschloß, die Nacht da zu bleiben. Vielleicht trug zu meinem Entschlusse bei, daß das nächste Wirthshaus eine starke halbe Stunde entfernt war, und daß ich in der Dunkelheit durch den einsamen Wald mußte, in dem es, nach den Aeußerungen der Wirthin, nicht ganz sicher zu sein schien. Ich bat die Frau um Nachtquartier und erhielt es.

Aber noch regnete es nicht. Es war eine milde, warme Luft draußen. In der großen Wirthsstube war ich, während die Frau mir das Nachtquartier besorgte, ganz allein. Ich verließ die Stube und trat vor das Haus; ich ging auf die Landstraße. Auf hannoverscher Seite kannte ich sie.

Wie mag denn die preußische Grenze hier aussehen? Ich war unmittelbar von der russischen Grenze her versetzt.

Mir stand diese russische Grenze mit ihrem ganzen abenteuerlichen, ängstigenden und drolligen Apparate vor Augen. Der schwere, gelb und grün angestrichene Schlagbaum, mit der furchtbaren eisernen Kette, die Landstraße versperrend, der tiefe Grenzgraben und der ungeheure Grenzwall dahinter, das ganze Land absperrend; jede Werst ein großes Blockhaus (Cordonhaus), voll von Grenzhusaren und Kosaken zur Bewachung der Grenze; auf dem Grenzwall die schmutzigen Kosaken mit den kleinen scharfen Augen auf den kleinen grauen Pferden unaufhörlich auf- und niedertrabend; über den Rand des Grabens und Walles fortwährend lauernde Augen und Mündungen gespannter Gewehre. Und nun, wenn man den gefährlichen fremden Gesellen mit einem blinkenden Achtgroschenstücke sich nahete, plötzlich vor Freude leuchtende Gesichter, grobe Fäuste, die sich nach den acht Groschen ausstreckten, noch gröbere Lippen, die dem Geber den Saum des Rockes küssen, und wenn sie den nicht fassen können, den Stiefel. Wie oft hatte ich mir selbst so den Uebergang über die Grenze verschafft, wenn die saumseligen russischen Behörden, mit denen ich drüben Geschäfte hatte, mich warten ließen.

So war freilich Rußland gegen Deutschland abgesperrt. Deutsche Länder gegen einander sind es freilich so noch nicht.

Auch Hannover und Preußen waren es damals nicht, obwohl das verschiedene Zollsystem der beiden Länder nicht viel – zu wünschen übrig ließ.

Zwei Grenzpfähle standen an der Landstraße, recht dicht und recht friedlich beisammen; auf dem einen ein weißes Pferd, auf dem andern ein schwarzer Adler. Die beiden Thiere hatten in der That nichts zu thun, als einander anzusehen. Das thaten sie; sie hatten es schon so viele Jahre gethan; man sah es ihnen an, wie langweilig es ihnen war. Sie theilten und theilen noch diese Langeweile mit einigen deutschen Kammern, denen auch die Zeit [402] bis zur deutschen Einigkeit zu lang wird. Sie wollen freilich nur die Einigkeit.

Ich überschritt spazierend die Grenze. Ich ging auf der Landstraße weiter. Der Abend war still, er schien auf den Regen zu warten.

Vierzig bis fünfzig Schritte jenseits der Grenze kam ich an ein kleines Gebüsch. Es war ein Vorläufer des Waldes, der bald hinter ihm begann, um sich eine volle halbe Stunde lang an der Landstraße hinzuziehen. Ich wollte an den Bäumen vorbeigehen. Auf einmal hörte ich unter ihnen das Schnauben eines Pferdes.

Zollbeamte, dachte ich, die sich nicht nach der deutschen Einigkeit sehnen, denn sie leben von der deutschen Uneinigkeit.

Ich trat hinter einen Baum an der Landstraße. Er verbarg mich nach dem Gebüsche hin, wo ich das Pferd gehört hatte. Ich bekam auch einmal ein – wenigstens gleichsam – gesetzwidriges Gelüste.

Sie sollen Dich für einen Schmuggler halten; was werden sie wohl thun?

Sie hatten mich wahrscheinlich noch nicht bemerkt. Ich wollte ein verdächtiges Geräusch machen, sie sollten mich überfallen. Aber wie ich ruhig hinter dem Baume stand, und über meinen Plan nachdachte, hörte ich in dem Gebüsche flüstern. Es war in der Gegend, wo das Pferd geschnaubt hatte.

Als ich hinhorchen wollte, war es still. Gleich darauf jedoch hörte ich Fußtritte, die sich mir naheten. Dicht an dem Baume, hinter dem ich stand, trat ein Mensch aus dem Gebüsch auf die Landstraße. Er sah mich nicht, desto genauer mußte ich ihn ansehen. Es schien mir der Fremde zu sein, den ich drüben in dem Wirthshause getroffen, der, als ich des häßlichen Reiters auf dem mageren Pferde erwähnt, unruhig geworden und bald nachher aufgebrochen war. Ich glaubte die schlanke Gestalt, den grauen Ueberrock, die blaue Mütze zu erkennen. In der Dunkelheit konnte ich es nicht mit Sicherheit, aber ich hätte darauf schwören mögen, daß ich mich nicht irrte. Er ging weiter nach Preußen hinein

Ich sah ihm noch nach, als meine Aufmerksamkeit in der entgegengesetzten Richtung in Anspruch genommen wurde.

Aus dem Gebüsch, aus dem der Fremde gekommen, sprengte ein Pferd rasch an mir vorüber, quer über die Landstraße, in ein offenes Bruch, das sich bis an die Grenze zog.

Den Reiter auf dem Pferde konnte ich im Dunkel und in der Geschwindigkeit gar nicht erkennen, aber über das große, magere Pferd blieb mir, als es an mir vorbeiflog, kein Zweifel. Es war das Pferd des häßlichen Menschen, der mich im Walde eingeholt hatte. Sein Reiter mußte also auch jetzt dieser Mensch sein. Er jagte, immer querfeldein, aber in der Richtung der Grenze.

Was hatten die beiden Menschen mit einander gehabt? An dem dunkeln Abende, in dem einsamen Gebüsch, so heimlich, beide von so unheimlichem Aeußern?

Schleichhändler konnten sie nicht wohl sein. Sie hätten dann offen auf dem hannoverschen Gebiete mit einander sprechen können. Aber der Eine, der aus dem Hannoverschen kam, hatte gar nicht einmal gewagt, sich vor den Leuten sehen zu lassen. Er hatte vorhin das Wirthshaus und die Landstraße vermieden, er vermied sie auch jetzt wieder.

Ich kehrte zu dem Wirthshause zurück, und blieb die Nacht dort. Ich hoffte, von der Wirthin noch Manches über meinen neuen Gerichtsbezirk zu erfahren; aber sie wußte nichts. Sie meinte nur, in Hannover sei es am besten. In Preußen machten sie zwar viel Wesens von sich selber, und auf dem Papiere möchten sie auch Alles besser haben; aber das sei auch eben Alles.

Am andern Morgen setzte ich meine Reise fort. Es hatte die Nacht nicht geregnet. Die Wolken hatten sich verzogen, das Wetter war wieder schön, wie am Tage vorher. Ich kam durch meist flache, aber fruchtbare, wohlhabende, angebaute Gegenden. Es war doch auch in Preußen wohl nicht ganz so, wie die hannoversche Wirthin gemeint hatte. Und wenn ich gar an die lüneburger Heide mit den Heideschnucken dachte –!

Aber Eins erfuhr ich doch.

In allen Dörfern, durch die ich kam, klagten die Leute über Zunehmen der Spitzbüberei im Lande. Die Herren am Inquisitoriate in N. möchten recht brave Leute sein, aber mit den Spitzbuben könnten sie nun einmal nicht fertig werden; die seien ihnen zu klug. Wenn die Polizei sie auch nach N. schaffe, nach einigen Wochen oder Monaten kämen sie zurück, ohne daß man ihnen habe etwas beweisen oder anhaben können. Daß dies wahr sein müsse, und woran es lag, sollte ich bald erfahren.

Ich kam des Abends in N. an.

Gleich am andern Morgen übernahm ich mein Amt.

Todte Ruinen sind interessant, oft schön, erhaben. Lebende Ruinen sind traurig, immer nur traurig. So waren meine alten Criminalräthe.

Gewiß brave Leute, auch wahrscheinlich früher tüchtige Criminalisten. Alter, Gewohnheit, Schlendrian hatten sie abgestumpft, verknöchert. Das sah ich gleich. Nur die gewöhnlichsten Sachen konnte ich ihnen überlassen. Alles Andere, Ungewöhnliche, Wichtigere mußte ich für mich, auf mich nehmen. Das sollte alsbald, noch an dem nämlichen Morgen meines Amtsantrittes, beginnen müssen.

Ich hatte kaum meine alten neuen Mitarbeiter kennen gelernt, als der Physikus des Kreises, als solcher zugleich der Gerichtsarzt, sich bei mir melden ließ; er habe mich in einer sehr dringenden Angelegenheit zu sprechen.

Ich empfing ihn sofort.

„Ich komme,“ sagte er, „in einer sehr wichtigen Angelegenheit mir Ihre Ansicht zu erbitten. Der Fleischermeister Mahler hier –“

Ich unterbrach ihn.

„Ich bitte Sie, beachten zu wollen, daß ich seit gestern Abend erst hier bin, daß Personen und Verhältnisse hier mir völlig fremd sind.“

„Ich muß also weiter ausholen. Hier wohnt der Fleischermeister Mahler; er gehört einer der achtbarsten Bürgerfamilien der Stadt an; er selbst ist ein bisher unbescholtener, allgemein geachteter Bürger; so war es bis heute, bis vielleicht vor einer Viertelstunde. Gestern nun ist seine Frau plötzlich erkrankt; heute Nacht ist sie gestorben; auf einmal hat sich heute Morgen in der Stadt das Gerücht verbreitet, Mahler habe seine Frau vergiftet. Das Gerücht ist dem Mahler selbst zu Ohren gekommen. Vor wenigen Augenblicken war er bei mir, mit dem Ersuchen, den Leichnam seiner Frau zu seciren, damit aller Welt klar werde, daß das schlechte Gerede ein falsches sei.“

Ich weiß nicht, wie es kam, mir kam unwillkürlich der Mann aus Preußen in das Gedächtniß, den ich am vorgestrigen Abende in dem Wirthshause an der hannoverschen Grenze und wahrscheinlich in dem heimlichen Gespräche mit dem unheimlichen Reiter getroffen hatte.

„Ich bin zweifelhaft,“ fuhr der Arzt fort, „wie ich diesem Ersuchen gegenüber mich zu benehmen habe.“

„Sie denken an die Feststellung des objectiven Thatbestandes?“ fragte ich.

„So ist es.“

Der Arzt war ein eben so verständiger als vorsichtiger Mann. Seine Zweifel und Bedenken waren die begründetsten.

Er sollte die Section der Leiche für seine Person allein, als keine amtliche, sondern als eine ärztliche Privathandlung vornehmen. Dennoch handelte es sich hier um ein Verbrechen, gar um ein Capitalverbrechen, dessen Existenz oder Nichtexistenz zunächst gerade durch die Section festgestellt werden sollte.

Damals galt die preußische Criminalordnung noch in ihrem vollen Umfange. Diese schrieb aber klar und bestimmt vor, daß eine Leichenöffnung zum Zweck der Feststellung des Thatbestandes einer Tödtung nur amtlich und zwar gerichtlich geschehen solle. Sie sollte unter Direction eines Richters mit Zuziehung eines Gerichtsactuarius von zwei Gerichtsärzten, dem Kreisphysikus und dem Kreischirurgus, vorgenommen und der ganze Hergang dabei sollte Schritt für Schritt, Punkt für Punkt zum gerichtlichen Protokolle verzeichnet werden. Außerdem mußte vor der Section die Leiche den Angehörigen, dem etwaigen Angeschuldigten oder Verdächtigen, oder anderen Personen, die sie kannten, vom Richter zur Anerkennung der Identität vorgezeigt werden. Fehlte an diesen durch das Gesetz vorgeschriebenen Erfordernissen etwas, so konnte, nach einer durch constante Praxis der Gerichte feststehenden Auslegung des Gesetzes, niemals auf die volle gesetzliche Strafe des Verbrechens erkannt werden, es fand vielmehr immer nur eine geringere, außerordentliche Strafe statt, wenn auch im Uebrigen der Beweis des Verbrechens auf das Klarste und Vollständigste hergestellt war. Es wurde stets angenommen, der objective Thatbestand, der Beweis, daß die Handlung des Thäters den Tod zur Folge gehabt habe, [403] könne nach der Absicht des Gesetzes vollständig, zur Anwendung der vollen Strafe, nur durch jene gerichtliche, mit allen genannten Erfordernissen versehene Leichenöffnung erbracht werden.

Die Folge für den vorliegenden Fall war klar. Nahm der Kreisphysikus die von ihm verlangte Privat-Handlung vor, und er fand wirklich Spuren oder selbst den klarsten Beweis einer stattgehabten Vergiftung, so war dennoch schon von vornherein dem ganzen weiteren Verfahren die Spitze abgebrochen; den Verbrecher konnte nie mehr die volle Strafe des Gesetzes treffen. Eine Leichenöffnung unter jenen Formalitäten ließ sich nicht reproduciren.

Aber woher denn Bedenken? fragt vielleicht mancher Leser von entschiedenem Charakter. Warum nicht sofort die gerichtliche Leichenöffnung mit allen jenen Formalitäten vorgenommen?

Allein, meine lieben, entschiedenen Leser, das ging nicht so ohne Weiteres.

Die preußische Criminalordnung war eins der besten Gesetze in Deutschland; ich scheue mich nicht, es auszusprechen, für ihre Zeit das beste deutsche Criminalgesetz, und mir auch jetzt noch lieber, als alle Criminalproceßordnungen, deren in neuester Zeit so viele in Deutschland mit und ohne Kammern berathen und erlassen sind. Sie hatte namentlich auch strenge Vorschriften zum Schutze des unbescholtenen Bürgers gegen unbegründete Anklagen und Verfolgungen. Und insbesondere verordnete sie, daß kein Act einer gerichtlichen Untersuchung vorgenommen werden solle, wenn nicht ein begründeter Verdacht vorhanden sei, daß wirklich ein Verbrechen begangen worden.

War hier ein solcher Verdacht nur irgendwie begründet?

Es lag nichts vor, als daß sich in der Stadt das Gerücht verbreitet hatte, Mahler habe seine Frau vergiftet.

„Worauf stützt sich das Gerücht?“ fragte ich den Arzt.

Er wußte es nicht, er hatte es nur von Mahler selbst gehört; dieser von seinem Schwager, dem Bruder der Verstorbenen.

„Was halten Sie von dem Gerede?“

„Ich habe kein Urtheil darüber. Ein Arzt war bei der Kranken nicht gewesen.“

„Erscheint das nicht auffallend?“

„Kaum. Die geringeren und die mittleren Classen helfen sich hier noch vielfach mit Hausmitteln.“

„Aber wenn der Tod kommt?“

„Sie wissen auch ohne den Arzt zu sterben. Zudem behauptet Mahler, er habe nach einem Arzte schicken wollen, seine Frau habe es verboten.“

„Sie halten das für glaubwürdig?“

„Die Frau war als geizig in der Stadt bekannt.“

„Hat Mahler Ihnen über Krankheit und Tod seiner Frau Mittheilungen gemacht?“

„Sie hat an Erbrechen gelitten. Er war vorgestern verreist gewesen –“

„Vorgestern?“ mußte ich ihn unwillkürlich lebhaft unterbrechen.

Der Arzt sah mich über meine lebhafte Unterbrechung verwundert an.

„Darf ich bitten, fortzufahren?“

Er fuhr fort:

„Bei seiner Rückkehr fand er sie schon krank, schon sehr schwach; er wollte sofort zum Arzte schicken, aber sie verbot es. Später ließ sie sich Rhabarber aus der Apotheke holen. Als sie den eingenommen, war es jedoch schlimmer mit ihr geworden.“

„Das Alles erzählt Mahler selbst?“

„Daß sie Rhabarber hatte holen lassen, hatte ich schon in der Apotheke gehört; und daß durch dessen Genuß ihr Zustand sich verschlimmern mußte, ist wahrscheinlich; denn ich habe die Frau gekannt, sie war schwächlich, schon lange leidend.“

„Wann ist sie gestorben?“

„Heute Nacht. Mahler hatte gestern seinem Geschäfte nachgehen müssen: er war nur wenig zu Hause gewesen. Um acht Uhr gestern Abend hatte er nochmals ausgehen müssen. Als er sie verlassen, war sie ruhig gewesen, auch dem Anscheine nach wohler. Um elf Uhr des Nachts war er zurückgekehrt Unterdeß hatte sich aber ihr Zustand wieder bedeutend verschlimmert; sie lag in den letzten Zügen und eine halbe Stunde darauf war sie schon todt.“

„Sie haben die Todte gesehen?“

„Ja.“

„Und?“

„Nach dem Mitgetheilten könnte sie, wenn vergiftet, nur in Folge einer Arsenikvergiftung gestorben sein; deren Spuren sind an dem Aeußeren der Leiche nicht zu entdecken.“

„Aber die Ausleerungen?“

„Man konnte sie mir nicht mehr vorzeigen; sie waren fortgeschafft.“

„Welche Hausgenossen hat Mahler?“

„Die Frau war geizig. Sie hatten nur ein Mädchen von dreizehn Jahren als Dienstmädchen; außerdem hatte Mahler bei seiner Rückkehr gestern eine Nichte der Verstorbenen mitgebracht.“

„Eine Nichte? Ein hübsches, junges Mädchen?“

„Sie kennen sie?“

„Ich weiß es nicht. Lassen Sie uns fortfahren. War außerdem Niemand um die Kranke gewesen?“

„Eine Nachbarin, die Wittwe Kühl, ist gestern fast den ganzen Tag im Hause gewesen, um der Kranken Handreichungen zu leisten; sie war auch bei ihrem Tode da.“

„In welchem Rufe steht die Frau?“

„Im besten.“

„Sie haben sie gesprochen?“

„Sie war vorhin bei der Leiche, als Mahler mich zu dieser führte.“

„Und?“

„Sie erzählte mir über die Krankheit, aber nichts weiter Verdächtiges. Sie bestätigte nur die Angaben Mahlers.“

„Ist jene Nichte der Frau Mahler hier bekannt?“

„Sie war schon früher im Mahler’schen Hause.“

„Und warum hatte sie dieses verlassen?“

„Ich weiß es nicht.“

„In welchem Rufe steht sie?“

„Ich habe nie etwas von ihr gehört.“

„Und Mahler selbst steht in gutem Rufe?“

„Bis heute vollkommen.“

„Und Sie wissen keinen Grund, so wie keine Quelle jenes Gerüchtes der Vergiftung?“

„Keinen.“

Wir waren mit den Thatsachen zu Ende.

Was war zu machen? Es mußte eine schnelle Entscheidung getroffen, ein sofortiger Entschluß gefaßt werden.

Ueberließ ich dem Arzte allein die Section als eine Privathandlung – und nur das war sie ohne eines jener Erfordernisse unter allen Umständen, so trug ich die Schuld, wenn ein wirklich verübtes Verbrechen der verdienten gesetzlichen Strafe entging. Als Dirigent des Criminalgerichts machte ich mich doppelt verantwortlich. Der verwahrloste Gerichtsbezirk war durch den neuen Director aus dem Regen in die Traufe gekommen.

Andererseits hatte ich zu einem amtlichen Einschreiten durchaus keine gesetzliche Befugniß. Nichts sprach für das Vorhandensein eines Verbrechens. Jeder directe Schritt, den ich that, war ein ungesetzlicher Angriff, zudem gegen einen Mann und eine Familie, deren Ruf ein völlig unbescholtener, bisher vollkommen unangerührter war. Wollte ich auch nur unter dem Scheine eines unbefangenen oder neu- oder wißbegierigen Zuschauers, dem Acte der Section beiwohnen, in der kleinen Landstadt hätte sich auf der Stelle das Gerücht eines gerichtlichen Vorgehens gegen den Fleischer Mahler wegen Vergiftung seiner Frau verbreitet, und wenn dann auch der Arzt erklärt hätte, er habe kein Gift gefunden – es bleibt immer etwas haften; ein Mensch, gegen den das Criminalgericht einmal verfahren hat, gar wegen heimlichen und daher doppelt verabscheuten und doppelt geglaubten Verbrechens der Vergiftung, ist für die Masse stets ein Gegenstand des Mißtrauens, des Verdachtes. Das Gewerbe des Mannes forderte zudem eine besondere Schonung seiner Ehre gegenüber dem Publicum.

Ich durfte nicht einschreiten; ich mußte es auf jene erste Alternative ankommen lassen. Indeß traf ich mit dem Kreisphysikus die Verabredung einer Art von Mittelweg.

Ich hätte noch einen andern Ausweg haben können; ich konnte auf die Entscheidung des Gerichtscollegiums provociren. Ich konnte, ich mußte nicht. That ich es, so war ich von wenigstens rechtlicher Verantwortlichkeit frei. Aber ich wollte mich lieber aller Verantwortlichkeit unterwerfen, als gleich zu Anfang meiner amtlichen Wirksamkeit mich von einer Majorität abhängig machen, unter deren Einfluß die Strafrechtspflege in dem Gerichtsbezirke eine verwahrloste geworden war. Ich hatte schon die besseren Gerichtscollegien kennen gelernt!

[404] Ich redete mit dem Arzte Folgendes ab:

Er sollte die Section der Leiche bis zum späten Nachmittage aufschieben. Ich wollte unterdeß nähere Erkundigung nach dem Gerüchte einziehen; das befahl mir die Criminalordnung, freilich auf dem für Mahler schonendsten Wege; ich fand den letzteren zunächst in einem Anfragen bei dem Schwager des Mahler selbst.

Lieferte diese Nachforschung mir einen Anhalt, so wurde am Abend ohne Weiteres die gerichtliche Section vorgenommen. Blieb sie ohne Resultat, so nahm der Kreisphysikus die Leichenöffnung ohne mich, aber unter Zuziehung des Kreischirurgus vor. Gegenüber dem Mahler verlangte er diese zur mehreren Beruhigung ihrer Beider. Wurde Gift in dem Körper ermittelt, so waren schon sofort bei dessen Auffinden die beiden vom Gesetze geforderten Medicinalpersonen zugegen gewesen. Um aber auch dem Erfordernisse der Anwesenheit der beiden Gerichtspersonen zu genügen, sollte in dem Momente, in welchem Gift gefunden wurde, mit jeder weiteren Operation eingehalten, Alles in dem Zustande des Augenblickes des Auffindens gelassen und nach mir geschickt werden. Ich wollte mit einem Actuarius des Criminalgerichts mich bereit halten, um sofort die gesetzliche Direction des Verfahrens von da an übernehmen zu können.

Dabei kamen wir noch über einen Umstand überein.

Nach der Criminalordnung gehörte zu den Erfordernissen der „Legalsection“ auch die Eröffnung aller drei „Haupthöhlen“ des menschlichen Körpers, der „Kopf-, Brust- und Bauchhöhle“. Dabei war zwar nicht vorgeschrieben, in welcher Reihenfolge die Oeffnung geschehen solle; ein alter Gerichtsgebrauch hielt aber jene genannte fest. Ich hatte mich schon früher an diese Ordnung nicht immer gebunden und ersuchte auch jetzt den Arzt, mit der Oeffnung der Bauchhöhle und zwar hier mit Untersuchung des Magens zu beginnen, da in diesem allem Vermuthen nach die ersten Spuren eines Giftes sich zeigen müßten.

So hatte ich in aller Weise dafür gesorgt, daß, wenn es nöthig sei, das Verfahren auf der Stelle möglichst vollständig in das gesetzliche umgewandelt werden könne.

Der Arzt ging.

Ich ließ den Schwager des Fleischers Mahler zu mir rufen. Er war gleichfalls Fleischermeister, ein stattlicher, besonnener, dem Anscheine nach etwas zurückhaltender Mann.

„Ihre Schwester, die Frau Mahler, ist gestorben?“

„Ja, Herr Director.“

„Unter verdächtigen Umständen?“

„Ich weiß das nicht, Herr Director. Weder ich, noch ein anderer Verwandter ist bei ihr gewesen.“

„Auch kein Arzt?“

„Nein.“

„Wären diese Umstände nicht schon verdächtig?“

„Ich kann das nicht sagen. Sie war nur kurze Zeit krank, und was den Arzt betrifft, so gab sie nicht gern unnützes Geld aus.“

„Mahler hat die Section der Leiche beantragt?“

„Er hat es mir selbst gesagt.“

„Was hat ihn dazu bewogen?“

„Er hat doch wohl Gewißheit über die Todesursache haben wollen.“

„Und warum dies? Zu solchen Sectionen schreitet die Familie ungern.“

Der Mann besann sich einen Augenblick.

„Herr Director,“ sagte er dann, „es war davon gesprochen, daß meine Schwester an Gift gestorben sein möge. Ich hörte das und theilte es meinem Schwager mit. Darauf entschloß er sich zu der Leichenöffnung.“

„Kam der Entschluß aus ihm selbst?“

„Ich hatte zuerst davon gesprochen.“

„Und Ihr Schwager war darauf sofort bereit?“

Der Mann besann sich erst wieder, was er sagen solle.

„Sogleich wohl nicht. Ich fand das aber auch natürlich. Es war seine Frau und Sie selbst sagten eben, man schreite nicht gern zu so etwas.“

„Sie redeten ihm also zu?“

„Ja.“

„Mußten Sie ihm viel zureden?“

„Das kann ich eben nicht sagen.“

„Wurde ein Grund jenes Gerüchtes der Vergiftung angegeben?“

„Die Frau sei so plötzlich gestorben und habe so sehr viel Erbrechen gehabt.“

„Kein anderer?“

„Kein anderer.“

„Von wem ist es Ihnen mitgetheilt?“

„Auf der Schranne heute früh, von meinen Freunden.“

„Wurde keine Person dabei als verdächtig genannt?“

„Kein Mensch.“

„Haben Sie Niemanden in Verdacht?“

„Keinen Menschen.“

„Lebte Ihre Schwester mit ihrem Manne glücklich?“

„Ich habe nie von einem Streite gehört.“

„Hatten sie Kinder?“

„Die Ehe war kinderlos.“

„Die Frau war oft kränklich?“

„Und älter, als er.“

Die paar Worte entfielen dem Manne rasch, wie unwillkürlich. Er wurde unruhig, als sie ihm entfallen waren.

„Meister,“ sagte ich zu ihm, „Sie haben noch etwas auf dem Herzen, was Sie sich scheuen, mir mitzutheilen.“

Er sah ein paar Secunden vor sich hin.

„Nein,“ sagte er dann entschlossen. „Ich weiß nichts Gewisses, und durch die Oeffnung muß sich ja finden, ob sie Gift hat.“

Ich sah ein, daß ferneres Fragen vergeblich sei, und entließ ihn deshalb.

Ich durfte auch jetzt nicht gerichtlich einschreiten.

Die Verstorbene war älter, als ihr Mann, die Ehe kinderlos. Der Schwager des Mannes hatte vielleicht nicht Alles gesagt, was er wußte; weitere Verdachtsgründe hatte ich nicht. Aber sie reichten nicht zum zehnten Theile aus, um auf sie und ein grundloses Gerücht hin gegen eine geachtete Familie das schwerste Verbrechen anzunehmen.

Es war an demselben Tage gegen sechs Uhr Abends, als der Kreisphysikus selbst wieder zu mir kam. Er war in großer Eile.

„Die Mitwirkung des Criminalgerichts wird nöthig.“

Ich begleitete ihn auf der Stelle unter Zuziehung eines Actuars und mehrerer Criminalboten. Wir gingen zu dem Hause des Fleischermeisters Mahler.

Unterwegs theilte der Arzt mir mit:

Er hatte mit dem Kreischirurgus die Besichtigung, dann die Oeffnung der Leiche begonnen. Der Verabredung gemäß hatte er zuerst den Magen untersucht. Aber schon gleich anfangs bei dessen äußerer Besichtigung hatte er an demselben solche röthliche, entzündete Stellen gefunden, daß ihm, nach Wissenschaft und Erfahrung, kein Zweifel einer metallischen Vergiftung mehr blieb. Er hatte darauf sofort eingehalten und sich entfernt, um mich herbeizurufen. Der Kreischirurgus war bei der Leiche zurückgeblieben, um darüber zu wachen, daß bis zu unserer Ankunft nichts verändert werde.

„Und Mahler?“ fragte ich.

Mahler war bei der Section ununterbrochen zugegen gewesen, und hatte den Aerzten die nothwendigen Handreichungen geleistet. Sein Benehmen war dabei ein unbefangenes gewesen.

„Aber,“ setzte der Arzt hinzu, „in dem Hintergrunde dieses Benehmens schien mir eine große Angst zu lauern. Der Blick seines Auges war nur unbefangen, wenn er sich beobachtet wußte. Glaubte er sich unbeachtet, so sprach sich jene Angst desto unverhohlener darin aus. Bei der Entdeckung des verdächtigen Zustandes des Magens verrieth ich nicht die geringste Ueberraschung und Bewegung und ich entfernte mich unter dem Vorwande, daß ich zu Hause etwas vergessen habe; gleichwohl sah er mich mit sichtlicher Unruhe gehen.“

„Sie halten den Mann also für verdächtig?“

„Nach diesem Allen, ja; aber Sie werden es ja schon selbst sehen.“

Eine Vergiftung war jetzt jedenfalls wenigstens angezeigt; eine gerichtliche Untersuchung und Feststellung des Thatbestandes war also nicht nur noch blos zulässig, sondern sogar unbedingt erforderlich, mochte der Thäter sein, wer er wollte.

[413] Ein Verdacht gegen den Ehemann der Verstorbenen mußte unter den angeführten Umständen mindestens angeregt sein. Bei mir um so mehr, als ich immer wieder an den Fremden in dem Wirthshause an der hannoverschen Grenze denken mußte.

Die Leiche befand sich in einer auf den Hof führenden Kammer des Hauses.

Der Arzt hatte nur kurze Zeit gebraucht, mich herbeizurufen. Der Kreischirurg hatte unterdeß den Mahler in der Stube zu halten gewußt. Wie er nachher mittheilte, hatte Mahler sich zwar äußerlich ruhig gezeigt, ihn aber doch zweimal mit einer Gleichgültigkeit, die desto verdächtiger erscheinen mußte, gefragt, ob nichts Verdächtiges in der Leiche aufgefunden sei. Der Chirurg hatte es verneint.

Ich vergesse nie den Moment, als wir in die Stube eintraten. Als die Thür sich öffnete, fiel mein erster Blick auf den Fremden in jenem hannoverschen Wirthshause. Ich erkannte ihn auf der Stelle. Es war der Fleischermeister Mahler. Er stand am Fenster, und wandte sich nach der Thür, als diese geöffnet wurde.

Ich hatte absichtlich den Kreisphysikus zuerst eintreten lassen; ihm folgte ich. Ich konnte so besser beobachten.

Mahler sah mit unruhig forschendem Blick den zurückkehrenden Arzt an.

Dann sah er auf einmal mich.

Sein Gesicht wurde kreideweiß. Er griff mit der einen Hand nach seiner Brust, als wenn er den Tod dort fühle. Mit der andern faßte er nach der Fensterbank; er mußte sich fest halten, wollte er nicht umfallen.

Hinter mir traten die Beamten des Criminalgerichtes ein, die er kannte. Es konnte ihm auch nicht mehr zweifelhaft sein, wer ich sei. Er warf einen Blick fürchterlicher Wuth auf die Leiche, die mitten in der Stube auf einem Tische lag. Es war der Blick des Mörders, der seinem Verräther tödtliche, vernichtende Rache droht. So psychologisch merkwürdig und doch so psychologisch wahr!

Das Alles hatte keine drei Secunden gedauert. Ich hatte in diesen drei Secunden eine schreckliche Ueberzeugung gewonnen. Sie drückte mich doppelt, denn sie war meine menschliche Ueberzeugung; ich mußte mich hüten, sie dem Criminalrichter aufzudrängen. Das hält schwer.

Indeß, Mahler war kein gewöhnlicher, wenigstens kein schwacher, charakterloser Verbrecher. Er hatte sich in einer Secunde gefaßt. Sein Gesicht war nur noch weiß; bleich war es immer. Aber er stand aufrecht, fest und er sah mit seinem gewöhnlichen melancholischen Blicke auf die Leiche, auf uns. Ich mußte ihm das gerichtliche Einschreiten und dessen Grund ankündigen.

„Nach der Anzeige des Kreisphysikus haben in der Leiche Ihrer Frau sich Spuren gezeigt, die den Verdacht einer Vergiftung begründen. Dadurch wird die gerichtliche Section der Leiche und weitere gerichtliche Untersuchung, auch Ihre Vernehmung nöthig. Sie werden anwesend bleiben und über Alles, wonach ich Sie befragen werde, vollständige Auskunft geben.“

Er hatte sich einmal gefaßt, und blieb vollkommen gefaßt. Keine Miene seines Gesichts veränderte, kein Glied seines Körpers bewegte sich. Er blieb nur bleich und melancholisch, wie ich ihn schon in jenem Wirthshause gesehen hatte.

Ich begann die gerichtliche Handlung mit der äußern Besichtigung der Leiche, und ließ dann die Oeffnung derselben fortsetzen. Ueber die Vergiftung blieb kein Zweifel. Schlund, Magen und Darmcanal zeigten sich in einer Weise entzündet, selbst brandig, die bewies, daß die Verstorbene eine ungewöhnliche, wie der Arzt sich ausdrückte, eine „unsinnige“ Masse von Gift müsse genossen haben. Auch die Species des genossenen Giftes ließ sich schon bei der Section selbst erkennen. In der Regel kann sie bei mineralischen Vergiftungen erst durch die künstliche Anwendung chemischer Reagentien dargestellt werden. Allein in dem Körper der Frau fand sich das erkennbare Gift offen vor. Bei seiner Auffindung verrieth Mahler noch einmal die ungeheure Angst seines Innern. In dem Magen hatten sich mehrere feste Körnchen vorgefunden. Wir besahen sie genau, aber schweigend. Schon dies war ihm unheimlich; sein Blick verlor den melancholischen Eindruck, und schweifte desto unsicherer umher.

Um unseren, meist nur durch Gebehrden ausgedrückten Verdacht, daß die Körnchen reiner Arsenik seien, zu verstärken, ließ ich eine brennende Kohle herbeibringen; auf die wurde eins der Körnchen gelegt; in demselben Augenblicke entwickelte sich der schneeweiße Dampf und der bekannte Knoblauchgeruch des Arseniks. Unsere Mienen verriethen unsere vollständige Ueberzeugung,

Mahler hatte unsere Operationen mit der gespanntesten Aufmerksamkeit verfolgt. Als er bemerkte, wie wir mit jener Ueberzeugung uns ansahen, erschien er wieder einen Augenblick innerlich vernichtet. Nur durch ein gewaltsames Aufschlucken konnte er sich Luft verschaffen.

Es war schon dunkel geworden, als die vollständige Obduction der Leiche beendigt war. Das zu Protokoll gegebene Gutachten der Aerzte sprach entschieden als Ursache des Todes der Ehefrau [414] Mahler Vergiftung durch Arsenik aus. Der Thatbestand des Verbrechens stand fest.

Es kam nun darauf an, den Thäter, den Verbrecher zu ermitteln und zu überführen.

Zu ermitteln? War nicht in dem eigenen Manne der Vergifteten der Thäter bereits ermittelt?

Ich mußte auch als Criminalrichter wenigstens an das anknüpfen, was auf meine menschliche Ueberzeugung so tief eingewirkt hatte.

Das Mahler’sche Hauspersonal bestand nur aus dem Manne, dem dreizehnjährigen Dienstmädchen und jener Nichte, die Mahler in der Nacht vor dem Tode seiner Frau heimgebracht hatte.

Durch die ausführliche, sorgfältige Vernehmung zunächst dieser Personen, und sodann der Nachbarin, der Wittwe Kühl, die während der Krankheit und beim Tode der Frau im Hause gewesen war, mußte der Weg zur Auffindung der Wahrheit betreten werden; ein ungewisser, dunkler, schwieriger Weg.

Mahler war ein kalter, besonnener, fester Mann und, wenn der Thäter, einer von jenen Verbrechern, an denen alle ehrlichen Mittel der Inquirenten zur Erforschung der Wahrheit scheitern. Zu unehrlichen konnte ich nicht schreiten.

Das Dienstmädchen war ein Kind, unbefangen, arglos, beschränkt. Die Nichte hatte ich noch nicht gesehen. Sie war, als ich in das Mahler’sche Haus kam, ausgegangen, man wußte nicht, wohin. Sie war während meiner Anwesenheit dort nicht zurückgekehrt.

Hatte ich sie wirklich noch nicht gesehen? Mahler hatte diese Nichte in der vorhergehenden Nacht mitgebracht. Er war in derselben Gegend gewesen, wo ich an der hannoverschen Grenze das hübsche Mädchen mit den schwarzen Augen von dem Burschen hatte Abschied nehmen sehen. Sie hatte von einer Reise mit ihrem Oheim gesprochen. War die Nichte Mahler’s jenes Gretchen? Der Bursche des Mädchens hatte sich vor dem Zuchthause zu fürchten.

Mit der Vernehmung der sämmtlichen genannten Personen mußte ohne allen Verzug verfahren werden, bevor sie unter sich oder mit anderen irgend eine Rücksprache nehmen konnten.

Den Mahler nahm ich sofort selbst mit zum Gebäude des Inquisitoriats. Das Dienstmädchen ließ ich durch einen Criminalboten hinführen. Andere Criminalboten ließ ich als Wache im Hause zurück mit der Anweisung, die Nichte, sobald sie zurückkehre, zum Gerichte zu führen. Die Nachbarin war schon vorher dahin bestellt. Sämmtliche Personen wurden dort getrennt und unter Aufsicht von Beamten untergebracht.

Ich begann mit der Vernehmung Mahlers. Je weniger ich bei seinem Verhör von der Sache wußte, desto unbefangener war ich dabei, desto mehr ließ er also auch sich gehen, desto eher war er, wenn schuldig, zum Vorbringen von Unwahrheiten geneigt; und jede Unwahrheit von seiner Seite war ein erheblicher Schritt zu seiner Ueberführung.

Er trat mit seiner vollen Ruhe, Kälte und Besonnenheit in das Verhörzimmer. Er hatte mir nicht viel zu sagen. Aber was er sagte, sprach er klar und dem Anscheine nach mit voller Offenheit, ohne allen Hinterhalt. So fast bis zum Ende des Verhörs.

Er war in der vorgestrigen Nacht von einer mehrtägigen Reise durch das Land zurückgekehrt. Seine Reise hatte den Ankauf von Schlachtvieh von den Bauern zum Zweck gehabt. Er war bis an die hannoversche Grenze gekommen. Bei seiner Rückkehr hatte er seine Frau unwohl gefunden. Wie schon seit Jahren öfters, hatte sie an Erbrechen gelitten. Sie hatte sich immer durch Hausmittel geholfen und durch Rhabarber, den sie aus der Apotheke holen ließ. Sie hatte dieselben Mittel auch diesmal angewandt, und auch er hatte den gewohnten Erfolg von ihnen gehofft. So war er schon des Morgens früh seinen Geschäften nachgegangen; um so weniger beunruhigt, da er sie unter der Pflege ihrer Nichte zurückließ. Auch auf die Hülfe der Nachbarin Kühl durfte er, wie in früheren Fällen, rechnen. Erst zu Mittag war er zurückgekommen. Der Zustand der Kranken hatte sich bedeutend verschlimmert. Er hatte davon gesprochen, zum Arzt zu schicken. Sie hatte es entschieden nicht gewollt. Nach Tisch hatte er wieder ausgehen müssen. Vor acht Uhr Abends hatte er nicht zurückkehren können. Sie hatte unterdeß fürchterlich gelitten. Bei seiner Ankunft aber war sie ruhig. Es war wohl nur Erschöpfung, wie er sich, aber erst später, überzeugen mußte. Seine Geschäfte erforderten sein nochmaliges Ausgehen. Als er um elf Uhr in der Nacht wieder kam, kämpfte sie schon mit dem Tode. Er hatte noch jetzt zum Arzt schicken wollen, obwohl er keine Hülfe mehr sah. Aber auch die Frau Kühl hatte ihm vorgestellt, wie völlig fruchtlos dies sei, und sie hatte ihn gebeten, die Sterbende nicht zu verlassen. Nach einer Viertel- oder halben Stunde war sie verschieden.

Am andern Morgen schon, gleich nach sechs Uhr, hatte er seinen eigenen und den Verwandten der Frau Mittheilung von dem Todesfalle gemacht. Um neun Uhr war sein Schwager, der Fleischermeister Kopp, zu ihm gekommen, hatte ihm gesagt, in der Stadt spreche man davon, daß seine Frau vergiftet sei, und hatte ihn aufgefordert, um die Sache klar zu stellen, die Leiche durch den Kreisphysikus seciren zu lassen. Er sei gleich dazu bereit gewesen, obwohl er die Entstehung des Gerüchts nicht habe begreifen können. Mit seiner Frau habe er immer in Frieden gelebt. Sie sei zwar älter gewesen, als er, auch schwächlich und sehr oft kränkelnd; ihre Ehe sei ohne Kinder geblieben. Er habe sie dennoch geachtet und geliebt, wie eine brave Frau das verdiene.

Das Alles erzählte er, wie gesagt, offen, mit allen Anzeichen der Wahrheit.

Ich fragte ihn nach der Nichte seiner Frau.

Sie hieß Gretchen Kopp, war achtzehn Jahre alt, die Tochter eines verkommenen und in Armuth gestorbenen Bruders seiner Frau. Diese hatte das Mädchen als Kind zu sich genommen; allein das Mädchen hatte einen eigensinnigen und etwas trotzigen Charakter gezeigt, hatte sich daher mit ihrer Tante nicht vertragen können und vor etwa einem halben Jahre sein Haus verlassen, um in der Nähe der hannoverschen Grenze bei entfernten Verwandten in Dienst zu treten. Hinterher hatte es seiner Frau leid gethan, daß ihre Nichte doch eigentlich bei fremden Leuten dienen müsse, und als sie vor einigen Tagen gehört, daß er zu der Grenze verreisen müsse, hatte sie ihn gebeten, das Kind wieder mitzubringen. Dies hatte er gethan.

Er erzählte auch dies offen, wahr.

Ich theilte ihm jetzt mit, daß Gift, Arsenik, in dem Körper seiner Frau gefunden sei. Er hatte die Mittheilung erwartet, nach Allem erwarten müssen. Sie ließ ihn ruhig.

„Ich hatte es schon gemerkt,“ sagte er, „als Sie in die Stube traten. Ich sah auch ein, warum Sie es mir nicht gleich sagten. Sie müssen einen Verdacht gegen mich haben. Ich kann nur nicht begreifen, wie dieser hat entstehen können.“

„Hat Ihnen Ihr Schwager nichts darüber gesagt?“

„Wie konnte er? Er hat mir ja nicht einmal zu verstehen gegeben, daß man mich in Verdacht hätte; er sprach nur von einem Gerüchte der Vergiftung.“

„Haben Sie auf Niemanden Verdacht?“

„Auf keinen Menschen.“

„Könnte Ihre Frau nicht durch Unvorsichtigkeit Gift genossen haben?“

„Ich könnte mir auch das nicht erklären.“

„Haben Sie keinen Arsenik im Hause gehabt?“

„Niemals.“

Bevor ich durch Vernehmung anderer Personen neuen Anhalt hatte, konnte ich mit ihm nicht weiter verhandeln. Ich ließ ihn in ein besonderes Zimmer unter Aufsicht von Beamten abtreten. Es durfte dort Niemand zu ihm.

Sein Verhör hatte nicht das Geringste dazu beitragen können, meinen Verdacht gegen ihn zu bestätigen. Er hatte keinen Augenblick Unruhe oder Verwirrung gezeigt; ich konnte ihn keines unwahren, keines zurückgehaltenen Wortes zeihen. Dennoch konnte ich mich des Verdachtes nicht entledigen.

Ich vernahm hierauf das Dienstmädchen. Von dem arglosen und beschränkten Kinde erhielt ich nur geringe Auskunft, und was sie wußte, bestätigte fast nur die Aussage ihres Herrn.

Die Frau war öfters krank gewesen. Als Mahler abgereist war, hatte sie sich wohl befunden. Am Abende vor seiner Rückkehr hatte sich aber wieder einer ihrer gewöhnlichen Krankheitsanfälle, Erbrechen, eingestellt. In der Nacht war Mahler mit der Nichte zurückgekommen. Der Zustand der Frau war bis zum Morgen der gleiche geblieben. Schon um sechs Uhr hatte sie das Mädchen in die Apotheke geschickt, ihr ein Rhabarberpulver zu holen. Mahler selbst hatte dies der Kranken eingegeben.

Nach dem Genusse des Pulvers hatte der Zustand der Kranken sich plötzlich und sehr verschlimmert. Diese beiden Umstände waren die einzigen neuen. Wie unerheblich sie zu sein schienen, ich mußte sie unwillkürlich besonders festhalten.

[415] Das Mädchen diente seit einem halben Jahre im Hause und hatte nie Unfrieden zwischen den Eheleuten bemerkt.

Auch die Wittwe Kühl konnte mir nichts wesentlich Neues mittheilen. Um acht Uhr des Morgens hatte sie gehört, daß ihre Nachbarin, die Frau Mahler, wieder krank sei. Sie hatte früher die Frau gepflegt, wenn diese unwohl war; Mahler hatte fast den ganzen Tag außer dem Hause und das Mädchen genug mit der Wirthschaft im Hause zu thun gehabt; so hätte die Kranke ohne die Nachbarin ganz allein liegen müssen. Sie hatte sich zu ihr begeben. Die Frau hatte auch diesmal ihr gewöhnliches Unwohlsein, aber in weit höherem Grade; sie selbst schob es darauf, daß sie in Abwesenheit ihres Mannes Fische gegessen, die sie nicht vertragen könne. Zu Mittag sei Mahler nach Hause gekommen und habe zum Arzte schicken wollen; die Frau habe sich entschieden dagegen gewehrt; sie werde es aus dem Fenster werfen, was der Arzt ihr verschreibe.

Mahler war sehr gut gegen seine Frau gewesen; er hatte ihr des Mittags Suppe an das Bette gebracht und des Abends um acht Uhr, als er nochmals nach Hause gekommen, eine Tasse Kaffee. Die Frau habe auch beide Male das Gebrachte genossen; es sei ihr aber nicht gut bekommen; sie habe sich jedes Mal stärker darnach erbrechen müssen.

Wieder dieselben, dem Anscheine nach so unbedeutenden Umstände, wie in der Aussage des Dienstmädchens, und mir dennoch so schwer wiegend!

Die Frau hatte in dem Tode der Frau Mahler nichts Auffallendes gefunden. Die Kranke, schon lange sehr schwächlich, hatte, wie sie meinte, das viele Erbrechen zuletzt eben nicht mehr aushalten können. Das Erbrechen war aber nun einmal schon immer ihr Leiden. War die Frau wirklich an Gift gestorben, so war ihr dies unerklärlich, und sie wußte in der Welt keinen Menschen, auf den sie einen Verdacht werfen könne.

Die Frau war völlig unverdächtig und ehrlich.

Ich hatte jetzt nur noch die Nichte zu vernehmen. Sollte sie das völlige Dunkel, das um mich herrschte, mir erhellen können?

Daß sie jenes hübsche, frische, fröhliche, liebende und geliebte Gretchen war, an dem ich in dem hannoverschen Grenzwalde eine so herzliche Freude gehabt hatte, konnte mir kaum mehr zweifelhaft sein. In welches traurige, schreckliche Drama war sie hier mitten hineingerathen!

Sollte gerade sie das Mittel zu der Entdeckung des unzweifelhaft vorliegenden schweren Verbrechens sein?

Sollte sie gar – der Fleischer Mahler hatte sie eigensinnig, trotzig genannt; ihr Geliebter war ein Mensch, der das Zuchthaus zu fürchten hatte – sollte sie gar selbst eine Rolle in diesem schrecklichen Drama spielen?

Sie war schon im Gerichtslocal und wartete auf ihre Vernehmung, abgesondert, wie die Anderen.

Als ich sie gerade wollte vorführen lassen, meldete sich der Fleischermeister Kopp, der Schwager Mahlers, den ich schon am Morgen befragt hatte. Ich ließ ihn sofort eintreten.

„Herr Director, es hat sich Gift in der Leiche meiner Schwester gefunden?“

„Ja, Arsenik.“

Der Mann war sehr aufgeregt; er konnte, in sichtlichem heftigen Kampfe mit sich selbst, kaum auf einer Stelle stehen bleiben.

„Sie haben etwas auf dem Herzen, Meister Kopp!“

Er faßte einen Entschluß; vielleicht nur einen halben.

„Herr Director, ich habe Ihnen heute Morgen nicht die volle Wahrheit gesagt.“

„Ich hoffe, Sie werden sie mir um so mehr jetzt sagen.“

„Es soll geschehen. Heute Morgen wußte ich ja noch nicht, ob meine Schwester wirklich vergiftet war, und ich durfte Niemandem zu nahe treten. Jetzt darf ich nun aber nichts mehr verschweigen.“

Er hatte einen vollen Entschluß gefaßt; man sah es ihm an; es mochte ihm schwer genug geworden sein. Er fuhr fort:

„Ich hatte Ihnen heute Morgen gesagt, daß Mahler gleich auf mein Zureden sich entschlossen habe, die Leiche seiner Frau öffnen zu lassen.“

„Das war nicht der Fall?“

„Nein. Erst als ich ihm drohete, vom Criminalgerichte die gerichtliche Oeffnung der Leiche zu verlangen, entschloß er sich, zum Arzte zu gehen. Und auch dabei war er in großer Angst.“

„Sie haben mir noch mehr zu sagen.“

„Ja. Von dem Gerüchte, daß Mahler seine Frau vergiftet habe, hatte ich nichts gehört; ich habe es nur vorgegeben.“

„Sie? Und was bewog Sie dazu?“

„Ich muß Ihnen Alles sagen. In dem Hause meines Schwagers diente früher ein Mädchen, Namens Louise Schmid. Sie mußte das Haus verlassen.“

„Warum?“

„Meine Schwester hatte darauf bestanden; sie war eifersüchtig auf das Mädchen.“

„Hatte sie Grund dazu?“

„Ich glaubte das damals nicht.“

„Wann war es?“

„Schon vor zwei Jahren.“

„Und jetzt –? Nach so langer Zeit –?“

„Das Mädchen lebt seitdem hier bei ihren Eltern. Sie leben gut; im Hause ist beinahe Ueberfluß; das Mädchen hat sogar Putzsachen, und kein Mensch weiß, woher die Leute das Alles nehmen. Ich habe Verdacht, daß mein Schwager die Familie unterhält und daher noch immer mit der Person in einem Verhältnisse steht.“

„Und worauf gründet sich Ihr Verdacht?“

„Das ist es eben; ich habe eigentlich gar keinen Grund dafür. Das Mädchen ist hübsch und sehr verschlagen. Mein Schwager ist ein eben so entschlossener wie verschlossener Mann. Die Leute leben im Ueberfluß und ich wüßte von keinem Menschen in der Welt, außer meinen Schwager, der sie unterstützen könnte.“

„In welchem Rufe steht die Familie Schmid?“

„Man weiß nur das von ihnen, was ich sagte.“

„Und das Mädchen besonders?“

„Ehe sie zu meinem Schwager in den Dienst kam, soll sie leichtfertig gewesen sein; seitdem weiß man nichts mehr von ihr zu sagen.“

„Wie lange war sie in dem Dienste?“

„Kaum ein halbes Jahr. Da wollte meine Schwester Vertraulichkeiten zwischen den Beiden bemerkt haben, und das Mädchen mußte aus dem Hause. Mein Schwager hatte sie hineingebracht.“

„Sie haben seitdem nichts von einer Verbindung Ihres Schwagers mit dem Mädchen gehört?“

„Nichts.“

„Ihr Schwager besucht das Haus nicht?“

„Ich habe nichts davon erfahren.“

„Man hat die Beiden niemals beisammen gesehen?“

„Niemals.“

„Sie müssen gestehen, daß das Alles Umstände sind, die weit mehr gegen, als für Ihren Verdacht sprechen.“

„Ich weiß das, und doch kann ich mich nicht frei von ihm machen.“

Es ging mir beinahe, wie dem Manne.

Ich ließ ihn in ein anderes Zimmer abtreten; es konnte sein, daß ich seiner noch bedurfte.

So sollte es sein.

Ich wollte jetzt die Nichte Mahlers vernehmen, wurde aber nochmals daran verhindert. Ein Criminalbote meldete mir, der Fleischer Mahler wünsche dringend, mich auf der Stelle zu sprechen. Ich ließ ihn sofort vorführen.

Er trat ruhig, kalt, aber doch mit einem eigenthümlichen Ausdrucke eines festen Entschlusses ein.

„Herr Criminaldirector, ich habe über Alles nachgedacht, und ich muß Ihnen etwas anvertrauen, so schwer es mir auch wird.“

Ich sah ihn erwartungsvoll, aber auch forschend, mißtrauisch forschend an. Daß er mir kein Geständniß abzulegen habe, zeigte dieses völlig allen Gefühls, namentlich aller Reue baare Gesicht. Er begegnete indeß meinem Blicke mit voller Festigkeit.

Er fuhr fort:

„Sie haben Arsenik in der Leiche gefunden?“

„Ja.“

„In Preußen kann man nur schwer Arsenik bekommen; nur aus den Apotheken und dann nur gegen einen Schein von der Polizei.“

„So ist es.“

„Aber im Hannoverschen ist man nicht so strenge.“

Wohin wollte er mit dieser Einleitung? Ich rieth vergebens hin und her.

[416] „Woher ist Ihnen dies bekannt?“ fragte ich ihn.

„Ich habe oft davon sprechen hören.“

„Von wem?“

„Wir Fleischer sprechen oft davon. Sie wissen, man mengt dem Vieh Arsenik unter das Futter; es wird fetter davon, bekommt ein besseres Aussehen.“

Ich schwieg.

Er machte eine Pause. Dann fuhr er fort:

„Sie fragten mich vorhin nach der Nichte meiner Frau.“

Ich schwieg wieder, konnte aber noch immer nicht errathen, wohin er wollte.

„Das hat mich auf sonderbare Gedanken gebracht. Das Mädchen wohnt dicht an der hannoverschen Grenze und ist oft über diese gegangen; sie hat auch drüben eine Bekanntschaft.“

Ich ließ ihn immer sprechen, ohne ihm zu antworten. Was er mir auch zu sagen hatte, er sollte es einzig und allein aus sich selbst heraussagen; um so objectiver konnte ich meinerseits seine Angaben würdigen.

Er sprach immer pausenweise und schien eine Bemerkung, eine Frage von mir zu erwarten; aber um so mehr beobachtete ich jenes Schweigen.

Er sprach weiter:

„Sie hat eine Bekanntschaft mit einem schlechten Menschen, der nicht nach Preußen zurückdarf. Der Mensch ist ein Verbrecher. Er hat auch das Mädchen auf schlechte Wege gebracht; schon hier, als sie bei mir im Hause war.“

Er machte eine längere Pause.

Ich sah ihn fragend an. Er schien mit sich zu berathen, ob er weiter sprechen solle.

„Weiter!“ sagte ich kurz.

Und nun fuhr er rascher und ohne sich wieder zu unterbrechen, fort:

„Das Mädchen zeigte leider keinen guten Charakter; sie war hart, roh gegen meine Frau, die ihre Tante und Wohlthäterin war; darum mußte sie auch aus dem Hause. Sie schied damals in Haß und Zorn und mit der Drohung von uns, wir sollten noch an sie denken. Meine Frau behielt sie dennoch lieb. Sie hatte ihr in ihrem Testamente fünfhundert Thaler vermacht; sie hat dies nicht zurückgenommen.“

Noch einmal machte er eine Pause. Dann sagte er langsam und die Worte betonend:

„Das Mädchen wußte von dem Vermächtniß; meine Frau hatte es ihr selbst gesagt.“

Er schwieg und sah jetzt seinerseits mich fragend an. Ich mußte sprechen.

„Haben Sie mir noch mehr mitzutheilen?“

„Ich wüßte für den Augenblick nichts.“

„Sie halten nach dem, was Sie mir sagten, Ihre Nichte der Vergiftung verdächtig?“

„Ich habe von keinem Verdachte gesprochen, Herr Director; aber ich hielt es für meine Pflicht, Ihnen mitzutheilen, was ich wußte.“

„Warum haben Sie das Mädchen in Ihr Haus zurückgebracht?“

„Meine Frau hatte mich darum gebeten, und dann erfuhr ich auch, als ich in der Gegend war, wo sie diente, daß sie mit dem schlechten Menschen dort in einem fast täglichen Verkehr stehe.“

„Warum duldete ihre Herrschaft diesen Verkehr?“

„Sie mußte wohl, aus Furcht vor dem Menschen, der in der Gegend berüchtigt genug ist. An der Grenze ist solch’ Gesindel zu Allem fähig.“

„War das Mädchen bereit, Ihnen zu folgen?“

„Sogleich. Es ist mir hinterher aufgefallen.“

„Wie heißt jener Mensch?“

„Friedrich Beck. Er ist von hier.“

„Weiter haben Sie mir für jetzt nichts zu sagen?“

„Nein.“

Ich ließ ihn zurückführen.

Seine Angaben hatten doch Eindruck auf mich gemacht. Waren die Thatsachen, die er mittheilte, richtig, so berechtigten sie zu einem Argwohne gegen das Mädchen mindestens eben so sehr, als das Wenige, was gegen ihn vorlag, zu einem Verdachte gegen ihn.

Die Art und Weise, wie alle jene Verdachtsmomente vorgebracht waren, war zwar nicht geeignet. Vertrauen zu erwecken; aber das konnte überhaupt die Art und Weise dieses kalten, besonnenen, vorsichtigen Mannes sein.

Dazu kam: eine falsche Denunciation, nur eine falsche Insinuation gegen das Mädchen mußte sich leicht herausstellen und bildete dann sofort ein nicht unerhebliches Anzeichen gegen ihn. Als verständiger, sogar kluger und berechnender Mann, wie ich ihn nach Allem schon jetzt auffaßte, mußte er Beides sich selbst sagen.

Und dennoch, jenes frische, fröhliche Kind eine Giftmörderin? Es wollte und wollte mir nicht in den Sinn.

War ich aber in meinem vielbewegten Inquirentenleben nicht schon mehrfach in noch schlimmerer Weise ge- und enttäuscht worden? Ferner, mußte nicht der Mensch, der wider besseres Wissen das völlig unschuldige Kind als Mörderin anklagen konnte, ein so vollendeter Bösewicht sein, wie sie mir, was ich freilich auch schon davon gehört haben mochte, in jenem vielbewegten Leben noch nicht vorgekommen waren? Ich hatte wohl falsche Denunciationen erlebt, aber bis dahin nur entweder von sehr stupiden Verbrechern, oder von solchen, die durch die Kraft der gegen sie vorhandenen Verdachtsgründe und durch ihre eigenen Lügen und Widersprüche momentan völlig den Kopf verloren hatten. Ein Fall so vollendeter Bosheit, wie er hier vorliegen müßte, war mir bis jetzt fremd geblieben.

Ich mußte über das Mädchen nähere Auskunft haben, ehe ich zu ihrer Vernehmung schritt. Ich ließ ihren leiblichen Onkel, den Fleischer Kopp, wieder hereinkommen. Er war ein ordentlicher, einsichtiger Mann, von dem ich die Wahrheit erwarten konnte.

„Ihr Schwager Mahler hat bei seiner Rückkehr vorgestern Abend eine Nichte mitgebracht?“

„Ich habe es gehört.“

„Kennen Sie das Mädchen näher?“

Der Mann hatte die ersten Worte kurz, kalt gesprochen. Jetzt antwortete er mit einer gewissen scheuen Zurückhaltung.

„Ich habe das Mädchen wenig gesehen.“

„Sie ist doch auch Ihre Nichte?“

„Die Tochter meines verstorbenen Bruders. Aber mein Bruder führte kein gutes Leben; ich hatte deshalb keinen Umgang mit ihm; und nach seinem Tode nahm meine Schwester, die Mahler, das Mädchen zu sich.“

„Und wie betrug sie sich gegen Ihre Schwester?“

Es kostete dem Manne Ueberwindung, zu antworten.

„Es kommt mir sehr viel, Alles auf die vollständige Wahrheit an,“ bemerkte ich ihm.

Er überwand seine Bedenken.

„Wenn ich es Ihnen denn sagen muß – ich fürchte, auch das Mädchen ist aus der Art geschlagen, wie ihr Vater. Meine Schwester hat sich oft mit Thränen in den Augen über sie beklagt. Sie war ungehorsam, widerspenstig, wollte immer nur ihrem eigenen Willen folgen; dabei war sie heftig, jähzornig.“

„Sie mußte das Haus Ihrer Schwester verlassen?“

„Vor ungefähr einem halben Jahre. Es war nöthig, wenn endlich Friede im Hause sein sollte.“

„Das Mädchen hatte Bekanntschaft mit einem jungen Menschen gemacht?“

„Muß ich auch das sagen?“

„Es kommt mir auch gerade viel darauf an.“

Man sah es dem Manne an, wie er nur mit großem Widerstreben zu seinen weiteren Mittheilungen sich entschließen konnte.

„Ja, sie hatte eine Bekanntschaft. Hier lebte ein Bursch, der zu nichts Lust hatte, als zu unnützen Streichen; sein Vater war Executor beim Landrathsamte, darum ging dem Burschen auch Manches hin. Dieser fing mit meiner Nichte eine Liebschaft an, als er kaum neunzehn und sie noch nicht einmal vierzehn Jahre alt war. Das Mädchen war ganz vernarrt in den Jungen und nichts konnte sie von ihm abhalten; so wie sie ohne Aufsicht war, lief sie zu ihm, da er nicht zu ihr kommen durfte. Das war ein Hauptgrund mit ihres Ungehorsams gegen meine Schwester. Um Beide zu trennen, mußte sie fort. Der Zweck wurde aber nicht erreicht. Kaum war sie weg, so folgte er ihr. Hier machte er nichts, als dumme Streiche, und lebte aus seines Vaters Tasche. An der Grenze ist er ein berüchtigter Schleichhändler geworden.“

[425] Ich setzte das Verhör fort.

„Hat er hier Verbrechen begangen?“ fragte ich.

„Ich habe gerade nicht davon gehört; aber dem Menschen ist Alles zuzutrauen.“

„Ich hörte, er habe Zuchthausstrafe zu befürchten, wenn er nach Preußen zurückkomme.“

„Das ist wohl möglich.“

„Seit wie lange steht Ihre Nichte mit dem Burschen in Verbindung?“

„Sie ist jetzt achtzehn Jahre alt; also seit vier Jahren.“

„Halten Sie auch das Mädchen für fähig, ein Verbrechen zu begehen?“

„Der schlechte Mensch kann sie leicht ganz verdorben haben.“

Er hatte mir die Antwort schnell gegeben, wie die früheren. Auf einmal mochte er ihre Schwere fühlen.

„Das heißt, –“ wollte er einlenken, aber er vollendete nicht und schwieg.

„Nun?“ fragte ich.

Eine große, sichtbare Angst hatte sich seiner bemächtigt.

„Herr Criminaldirector,“ fragte er, und er hatte kaum den Muth, zu sprechen – „Sie denken doch wegen der Vergiftung nicht an das Mädchen?“

„Wenn das nun der Fall wäre?“

„Großer Gott, großer Gott!“

Er mußte das Gesicht mit beiden Händen bedecken.

Er glaubte daran. Er hielt das Mädchen für fähig, einen Giftmord zu verüben, ihre eigene Tante, ihre Wohlthäterin zu vergiften.

„Sie sind mir noch Ihre Antwort schuldig,“ sagte ich.

Er entblößte sein Gesicht; es war leichenblaß.

„Herr Director, ich kann Ihnen die Antwort nicht geben. Sie ist das Kind meines Bruders. Aber wenn es wahr wäre, nein, ich überlebte das Unglück und die Schande nicht.“

Ich hatte noch eine Frage an ihn:

„Ist Ihnen das Testament Ihrer Schwester bekannt?“

Sein Schmerz fuhr von Neuem auf.

„O, mein Gott, sie hatte ja darin dem unglücklichen Geschöpfe fünfhundert Thaler vermacht.“

„Wußte das Mädchen das?“

„Gewiß, gewiß.“

Ich entließ den Mann, den der furchtbarste Schmerz immer heftiger ergriff.

Ich wußte jetzt für den Augenblick genug, leider genug.

Wie tief, wie fest begründet mußte bei dieser Angst, bei diesem Erschrecken, bei diesem Schmerze die Ueberzeugung des Mannes von dem schlechten Charakter und von der Schuld des Mädchens sein!

War sie denn wirklich eine Verbrecherin, eine Mörderin, das frische, fröhliche Kind?

Ich mußte jetzt mit ihrer Vernehmung verfahren; ich konnte es nur mit schwerem Herzen, eine große Angst ergriff mich. Fand ich sie schuldig – und wie sehr mußte ich das jetzt fürchten? – in welches entsetzliche moralische Elend sah ich dann hinein! Den fröhlichen Sinn des Mädchens hatte ich selbst kennen gelernt; auch ihre herzliche, tiefe, innige Liebe; und vier Jahre lang schon hatte diese innige Liebe in ihrem Herzen geblüht und allen Drohungen und Stürmen, die sie ersticken wollten, widerstanden. Und dennoch eine Mörderin! Noch so jung und schon eine Mörderin! Wenn auch nur von einem schlechten Menschen verführt, immer eine Mörderin, die mit kaltem Blute, mit teuflischer Hinterlist das Leben eines Menschen, ihrer nächsten Anverwandten, ihrer zweiten Mutter, hatte vernichten können! War es denn möglich?

Und auch der Gedanke ergriff mich mit Schrecken, daß das junge, frische Leben dem Henker verfallen sei, daß ich selbst sie diesem überliefern sollte.

Sie trat in das Verhörzimmer. Es war wirklich das hübsche Kind aus dem hannoverschen Walde. Ich mußte mich doppelt zusammennehmen, um mich nicht zu verrathen, daß ich sie schon kannte. Sie hatte mich damals nicht gesehen. Sie hatte sich sehr verändert; es war keine Spur mehr von jenem heiteren, fröhlichen, neckischen Wesen an ihr zu bemerken.

Hatten diese – wie von vielem Weinen – erschlafft herabhängenden Lippen damals so herzhaft den jungen Mann küssen können? Hatten sie so fröhlich gesungen: „Zufriedenheit ist mein Vergnügen!“? Hatten sie so schelmisch gerufen: „Spitzbube, Du bist es!“? Und hatten diese rothen, verschwollenen Augen damals so glücklich gelacht, als sie dem Burschen zurief: „Ich kratze Dir die Augen aus!“?

Sie war sehr verändert. Aber konnte diese Veränderung nicht eben Folge und Zeichen einer tiefen, schmerzlichen Trauer um den Verlust einer theuren Verwandten sein, die früher von ihr verkannt und gekränkt war und über deren Kränkung sie noch vorgestern in meiner Gegenwart so aufrichtige Reue ausgesprochen hatte? Und in ihrem noch immer frisch blühenden, hübschen Gesichte mochte [426] sich noch so starker Schmerz, noch so tiefe Trauer zeigen, von der Spannung, von der Angst, von dem unruhigen, ängstlichen Lauern eines Verbrechers fand ich keine Spur darin. Sie mußte zugleich eine vollendete Heuchlerin sein, wenn sie eine Verbrecherin war, eine so vollkommene Heuchlerin, wie nach meinen bisherigen Erfahrungen nur eine langjährige Schule des Lasters und des Verbrechens sie bilden konnte.

Nein, rief es in mir, und wenn auch ihre nächsten Verwandten es ihr zutrauen und sie anklagen, und wenn auch der Mensch, an den sie seit Jahren gefesselt ist, ein unerhört frecher Verbrecher wäre, und wenn auch ihr Verhältniß zu ihm das verbrecherischste wäre, die Mörderin ist sie nicht, kann sie nicht sein.

Ich begann mit mildem Ernste das Verhör mit ihr. Sie that sich Gewalt an, ihren Schmerz zurückzudrängen; sie antwortete mir klar, bestimmt, ruhig.

„Sie sind vorgestern Abend hier angekommen?“

„Ja, mit meinem Oheim Mahler. Es war schon in der Nacht.“

„Wo waren Sie bis dahin gewesen?“

„Bei Verwandten an der hannoverschen Grenze.“

„Warum kamen Sie hierher?“

„Mein Oheim kam, mich abzuholen.“

„Welchen Grund gab er Ihnen dafür an?“

„Er sagte, meine Tante wünsche es; es thue ihr leid, daß wir in Unfrieden auseinander gegangen seien, ich sei doch ihres Bruders Kind; sie wünsche, mich wieder bei sich zu haben.“

„War Jemand zugegen, als Mahler Ihnen dies sagte?“

„Wir waren ganz allein.“

„Sie waren schon früher im Hause Ihrer Tante gewesen?“

„Sie hatte mich schon als Kind, nach dem Tode meines Vaters, zu sich genommen.“

„Waren Sie wirklich in Unfrieden von ihr geschieden?“

Sie schlug die Augen nieder und weinte.

„Ja, ich war unartig gegen die Tante gewesen, sehr unartig. Und sie hatte mich doch immer so lieb. Als ich fort war, sah ich es ein, und es that mir leid genug. Darum war ich auch gleich bereit, mit meinem Oheim zurückzukehren.“

Nur die Unschuld oder die vollendete Heuchelei konnte so sprechen.

„Sie haben einen Liebhaber?“ fuhr ich, ohne Vorbereitung, im Fragen fort.

Sie wurde glühend roth und sah mich plötzlich unwillkürlich an; aber eben so schnell schlug sie in großer Verwirrung die Augen nieder. Aber die glühende Röthe wich nicht aus ihrem Gesichte. Nur die Verwirrung des Mädchens, des unschuldigen Mädchens beherrschte sie also. Bei einer Verbrecherin wäre der Röthe eine Todesblässe gefolgt, alle ihre Nerven hätten zittern, auffliegen müssen.

Sie mußte mir antworten.

Leise sagte sie: „Ja.“

Aber dann auf einmal erhob sie ihr Gesicht. Sie sah mich mit ihren großen, schwarzen Augen klar an, und mit lauter, fester, stolzer Stimme sagte sie schnell:

„Aber er ist ein braver Mensch, was man Ihnen auch von ihm gesagt hat. Es ist ein Unglück für ihn, daß er nicht nach Preußen zurückkommen darf; er ist kein Verbrecher, glauben Sie es mir.“

Das war wieder der schöne, zuversichtliche Muth, den sie in jenem hannoverschen Walde gezeigt hatte.

„Warum darf er nicht nach Preußen zurückkommen?“ fragte ich sie.

„Er hat sich leider unter die hannoverschen Schleichhändler begeben, die nach Preußen herüberschmuggeln. Sie verdienen viel Geld und er meinte, wir kämen um so eher zum Heirathen; darum litt ich es. Aber hätte ich Alles vorher gewußt, so hätte ich es nicht gelitten.“

„Was wußten Sie nicht vorher?“

„Daß in Preußen so schwere Strafen darauf stehen. Und dann auch –“

„Und dann?“

„Sie haben ihn in Verdacht, daß er dabei gewesen sei, als vor einem Vierteljahre ein Grenzbeamter von den Schmugglern erschlagen ist; aber es ist nicht wahr.“

„Wie wissen Sie das?“

„Er hat es mir selbst gesagt.“

Es war mir nicht möglich, den schönen Glauben des Mädchens auch nur durch eine Frage des leisesten Zweifels zu stören. War sie wirklich eine verdorbene, verbrecherische Heuchlerin, dieser Schein der reinsten Unschuld hatte etwas Zauberhaftes für mich. Ich konnte ihn mir selber nicht zerstören.

Ich richtete eine andere Frage an sie.

„Ist Ihr Verhältniß zu dem jungen Menschen Ihren Verwandten bekannt?“

„Ja,“ sagte sie mit ihrer vollen Offenheit. „Daher kam auch jener Unfriede mit meiner Tante. Sie sagten, der Fritz sei ein schlechter Mensch und ich solle von ihm lassen. Aber er machte nur lustige, mitunter tolle Streiche, die er freilich wohl hätte lassen sollen; schlechte Streiche hat er aber nie gemacht, und er hat das bravste Herz von der Welt.“

Ich mußte ihr doch noch näher treten.

„Haben Sie vorgestern Abschied von ihm genommen?“

„Ja.“

„Sagte er Ihnen dabei nicht etwas Besonderes?“

„Ich wüßte nicht.“

„Besinnen Sie sich.“

„Ich wüßte gewiß nicht.“

Sie sprach immer mit allen Zeichen vollster Aufrichtigkeit.

„Aber, als Sie im Walde bei ihm waren, sagte er auf ein mal zu Ihnen die Worte: Gretchen, ich habe da einen Gedanken!“

Sie sah mich verwundert an, auch mit einem kleinen Schreck; etwa wie einen Menschen, von dem man unerwartet etwas sieht, das man für Zauberei halten möchte. Ein böses Gewissen war es nicht, was in ihr erschrak.

Sie vergaß in ihrer Verwunderung das Antworten.

„Sprach er nicht jene Worte?“ fragte ich.

Sie wurde traurig.

„Gewiß sprach er sie, der arme Fritz.“

„Und welchen Gedanken hatte er?“

„Er meinte, wenn ich hier wäre, so sollte ich meine Verwandten bitten, daß wir uns heirathen dürften, und meine Tante, daß sie uns ein kleines Capital geben möchte, um uns drüben im Hannoverschen Land zu kaufen. Meine Tante hatte Vermögen, sie hätte es wohl gekonnt.“

Sie sprach auch das Alles offen und frei; ihre Trauer erschien so natürlich.

Auf einmal sah sie mich wieder verwundert, fragend an. Meine Zauberkünste fielen ihr wieder ein; sie mußte jetzt darüber im Klaren sein

„Aber woher wissen Sie, daß der Fritz jene Worte zu mir gesprochen hat?“

„Ich weiß es.“

„Wir waren doch ganz allein.“

Hätte ich noch einen Zweifel an ihrer Unschuld haben können, diese Worte der höchsten Unbefangenheit hätten ihn mir genommen.

Als vorsichtiger Inquirent durfte ich ihr dennoch diese Frage nicht beantworten. Ich mußte in meinem Verhöre fortfahren.

„Wissen Sie, daß Ihre verstorbene Tante ein Testament gemacht hat?“

„O ja. Sie hat mir darin fünfhundert Thaler vermacht. Mit dem Gelde hätten wir uns ja eben das Land kaufen können.“

Und Mahler hatte insinuiren wollen, sie habe, um das Geld zu erben, den Mord verübt!

Ich fragte sie nach der Krankheit und dem Tode ihrer Tante. Sie antwortete auch hier mit der bisherigen Offenheit und Bestimmtheit.

„Wir fanden meine Tante schon krank, als wir ankamen; sie lag im Bette und hatte Erbrechen. Sie hatte auch schon früher oft daran gelitten. Am Morgen ließ sie Rhabarber holen; als sie den aber genommen hatte, wurde es schlimmer mit ihr. Ich war den ganzen Tag bei ihr, um sie zu pflegen; sie freute sich sehr darüber und versprach daher auch, wenn sie wieder besser werde, für mich zu sorgen und auch mit ihrem Bruder für mich zu sprechen. Auch die Frau Kühl war da. Diese blieb die Nacht bei ihr, als ich um neun Uhr Abends zu Bette ging. Ich war müde von der Reise in der vorigen Nacht. Aber schon gegen Mitternacht weckte mich die Frau Kühl: die arme Tante war gestorben.“

Ich richtete specielle Fragen an sie.

„War die Frau Kühl immer bei der Kranken?“

„Nicht immer; sie mußte ein paar Mal nach Hause gehen.“

[427] „Wer blieb dann bei der Kranken?“

„Ich“

„Sie allein?“

„Ich allein.“

„Genoß Ihre Tante in ihrer Krankheit etwas?“

„Das Rhabarberpulver.“

„Wer reichte es ihr?“

„Der Oheim. Aber er hatte es mir gegeben, um es einzurühren.“

„Das hatten Sie gethan?“

„Ja.“

„Haben Sie gesehen, wie Ihr Oheim der Tante das Pulver gab und sie es einnahm?“

„Nein. Ich war unterdeß mit dem Dienstmädchen beschäftigt, die Stube zu reinigen.“

„Warum hatte Ihr Oheim Ihnen die Zubereitung des Pulvers übertragen?“

„Das weiß ich nicht. Er bat mich darum; ich hatte gerade nichts zu thun.“

„Was genoß Ihre Tante mehr?“

„Soviel ich weiß, nur des Mittags etwas Suppe und des Abends eine Tasse Kaffee.“

„Wer gab ihr die Suppe?“

„Der Oheim.“

„Und den Kaffee?“

„Auch der Oheim. Aber ich hatte ihn einschenken und Milch hinzugießen müssen.“

„Trank sie ihn mit Zucker?“

„Den that der Oheim hinein.“

„Sahen Sie das?“

„Ich sah, wie er ein Stück aus der Zuckerschale nahm, die auf dem Tische stand.“

„Und dann?“

„Er muß es in die Tasse geworfen haben; gesehen habe ich es nicht. Aber wo sollte er es gelassen haben? Ich sah ihn auch mit dem Löffel in der Tasse rühren. Dann reichte er sie ihr und sie trank.“

„That der Genuß der Suppe und des Kaffee ihr wohl?“

„Sie konnte Beides nicht bei sich behalten und mußte sich immer von Neuem danach erbrechen.“

Ich war mit meinen Fragen zu Ende und mit mir im Klaren. Sie war nicht die Mörderin; jede ihrer Mimen vom Anfange des Verhörs bis zum Ende bewies es mir; jedes Wort, jedes Zugeständniß, bis zu dem letzten, der offenen, freiwilligen Erklärung, daß sie das Pulver eingerührt, den Kaffee und die Milch eingeschenkt habe.

Ich hatte nicht einmal mehr die Wahl zwischen Unschuld und vollendeter Heuchelei. So konnte, nach meinem Dafürhalten, auch die vollendetste Heuchlerin sich nicht benehmen.

Dennoch mußte ich ihr vorhalten, was ihr Oheim gegen sie insinuirt, denuncirt hatte; auf meine Physiognomik allein durfte ich mich nicht verlassen; sie konnte trotzdem schuldig sein. Nichts mehr als jener plötzliche, unerwartete Vorhalt, in einem Augenblicke, in dem sie die völlig Unschuldige, Sichere spielte, sich für völlig sicher hielt, konnte, wenn sie schuldig war, geeignet sein, zum Verräther ihrer Schuld zu werden.

„Ihre Tante,“ hob ich an, zwar etwas langsamer sprechend, als bisher, aber ohne besonderen Nachdruck und ohne sie irgend scharf zu fixiren; nur nachdem ich geendigt hatte, ließ ich mein Auge fest und durchdringend auf ihr ruhen; „Ihre Tante ist an Gift gestorben und Ihr Oheim gibt an, daß Sie sie vergiftet hätten.“

Die ruhig gesprochenen Worte machten in der That einen überraschenden Eindruck auf sie. Sie zuckte heftig auf; dann zitterte ihr ganzer Körper; aus ihrem Gesichte war alles Blut getreten; ihre Lippen waren blau geworden; ihre Augen starrten mich an. Sie wollte sprechen und vermochte es nicht; sie war in einem entsetzlichen Zustande. Ich fürchtete einen Schlag-, einen Krampfanfall. Aber sie konnte sich aufrecht halten.

Die Veränderung war plötzlich, mit unglaublicher Schnelligkeit erfolgt. Sie versetzte mich in Besorgniß; ich machte mir Vorwürfe, daß ich einen so heftigen, ich mußte mir sagen, so rohen Angriff auf das jugendliche Geschöpf gemacht hatte; ich hätte für meinen Zweck milder verfahren können.

Sie erholte sich nur sehr langsam. Als das convulsivische Zittern aufgehört hatte, bekam sie die Sprache wieder.

„Das ist abscheulich!“ rief sie. „Mein eigener Oheim!“

Weiter sagte sie nichts; aber ein Strom von Thränen folgte ihren Worten. Sie war unschuldig; sie hatte auch die letzte Probe bestanden.

Zeigte mir jene plötzliche, furchtbare Veränderung auch die Heftigkeit ihres Charakters an, von der auch ihr Oheim Kopp gesprochen hatte, eine Mörderin war sie nicht; gerade diese Heftigkeit legte Bürgschaft dafür ein. Ich ließ sie sich setzen, sich völlig erholen und ausruhen. Sie saß noch eine halbe Minute stumm; dann sah sie mit ihren dunklen Augen mich bittend, ängstlich bittend an.

„Sie haben ihm doch nicht geglaubt?“ fragte sie.

Die Frage war so unschuldig, so kindlich unschuldig. Wäre ich nicht ihr Inquirent gewesen, ich hätte sie an mein Herz drücken und ihr zurufen mögen: Nein, Du gutes, unschuldiges, schändlich verleumdetes Kind; aber Dir glaube ich. – Aber ich mußte der kalte, ruhige, vorsichtige Criminalrichter bleiben.

„Ich glaube nur den Beweisen, die mir gebracht werden,“ erwiderte ich ihr.

Sie athmete leichter. Sie sagte nichts darauf; aber sie sah mit einer stillen Befriedigung vor sich hin, als wenn sie sagen wollte: Was ich nicht gethan habe, wie wollte man das beweisen können?

Ich richtete noch ein paar Fragen an sie.

„Wußten Sie, daß Ihre Tante vergiftet ist?“

„Ich erfuhr es von den Nachbarn, als ich heute Abend nach Hause zurückkehrte.“

„Hatten Sie Verdacht auf Jemanden?“

„Ich habe an keinen Menschen in der Welt denken können.“

„Auch jetzt nicht?“

„Nein, auch jetzt nicht.“

„Auch nicht an ihren Oheim?“

Sie erschrak bei dieser Frage. Sie sann ein paar Secunden nach; dann sagte sie hastig, heftig abwehrend:

„Nein, nein!“

„Sie haben mir nichts weiter zu sagen?“

„Nein. Aber halten Sie auch nicht meinen Oheim für den Thäter.“

„Sie können gehen,“ sagte ich zu ihr.

„Nach Hause?“ fragte sie in einem Tone, als wenn sie einen, allerdings nur leichten Zweifel habe.

„Nach Hause.“

Sie ging. Sie war nicht überrascht, verwundert, denn sie ging ruhig. Aber desto überraschter und verwunderter sah mich der Criminalactuarius an, der mir das Protokoll führte.

Ich muß hier einige Worte über ihn sagen. Er war ein Mann in den mittleren Jahren, mit einem intelligenten Gesichte. Ich hatte ihn in den wenigen Stunden, die ich ihn kannte, zu erkennen geglaubt, und ich überzeugte mich später bald, daß ich mich nicht in ihm geirrt hatte. Er gehörte zu jenen klaren und praktischen Menschen, die zu ihrem Glücke nicht, wie der große Haufe, studirt, also ihren klaren Verstand und praktischen Sinn nicht durch gelehrte Brocken beeinträchtigt haben. Er hatte aber auch andererseits, indem er gar nicht studirt hatte, seinen Geist und Sinn durch das Aufnehmen der wahren Wissenschaft in sich nicht läutern, nicht auf eine höhere Stufe erheben können. So hatte er zwar stets eine richtige Einsicht in die Bestimmungen des Gesetzes und in die Bedürfnisse der Praxis. Aber beides nur für gewöhnliche Fälle. Ungewöhnliche Ereignisse lagen außerhalb seines Verständnisses des Gesetzes wie des Herkommens, des Gebrauches, der Praxis. Durch seine Stellung unter Vorgesetzten, denen er geistig so sehr überlegen war, hatte zudem sein Urtheil für ihn selbst, wenn auch nicht die Eigenschaft der Untrüglichkeit, doch die der Richtigen, bis man ihm überzeugend das Gegentheil beweisen werde, gewonnen. Er war dabei zu klug und zu sehr Mitglied der preußischen Bureaukratie, um jemals anmaßend oder nur im geringsten beschwerlich zu werden.

Er sah mich verwundert an, und sagte nichts. Aber ich las in seinen Augen deutlich: Was ist denn das? Diese Person läßt er ohne Weiteres gehen, läßt er frei, die geradezu des Verbrechens bezichtigt ist, bei deren Eintreten in das Haus plötzlich Gift in dem Hause war, die den Tod mitbrachte, unter deren Augen das Gift genossen sein muß, die sogar nach ihrem eigenen Geständnisse zweimal [428] den Trank gemischt hat, in welchem fast unzweifelhaft das Gift enthalten war! Diese Person läßt er frei, weil sie ein ehrliches Gesicht machen, weil sie in etwas anderer Weise, wie gewöhnliche Spitzbuben, ihre Unschuld versichern, weil sie allerdings recht hübsch weinen kann! Nun, ich bin neugierig, wie das enden wird. Ich fürchte, ich fürchte, mit diesem neuen Herrn Director haben wir nicht viel gewonnen.

Der Mann sollte freilich noch mehr erstaunen. Sollte er auch Recht haben?

Ich hatte schon gleich nach der Vernehmung des Fleischers Kopp einen Criminalbeamten ausgesandt, die Louise Schmid herbeizuholen, jenes frühere Mahler’sche Dienstmädchen, auf das die Frau Mahler eifersüchtig gewesen, von dem aber trotzdem, und trotz dem noch immer bei Kopp vorhandenen Verdachte, nichts bekannt war, daß Mahler irgend ein Verständniß mit ihr unterhalte. Es lag nichts, gar nichts Thatsächliches gegen sie vor. Ich konnte mir das nicht verhehlen, aber eine Stimme rief mir zu: sie ist, wenn nicht selbst eine Mitschuldige, die Ursache des verübten Verbrechens; durch sie wird auch das Verbrechen an den Tag kommen. Diese Ahnung wurde immer lebendiger in mir. Ich mußte daher das Mädchen vernehmen. Und nicht blos sie. Voraussichtlich, sollte ihre Aussage von Erfolg sein, mußte ich sie vorher auf Lügen ertappen. Deshalb hatte ich durch einen zweiten Boten auch ihre beiden Eltern zum Criminalgericht abholen lassen. Zuletzt hatte ich noch etwas Anderes vor.

Alle waren mit voller Schonung nur vorgeladen, um als Auskunftspersonen vernommen zu werden. In der That war es auch so. Beiden Gerichtsboten hatte ich die möglichste Vorsicht empfohlen. Mahler durfte nicht erfahren, daß irgend Jemand von der Schmid’schen Familie am Gerichte erscheine; die zuerst abgeholte Tochter durfte von dem Erscheinen ihrer Eltern nichts wissen.

Ich vernahm zuerst das Mädchen. Es war wirklich eine hübsche, beinahe schöne Person; eine schlanke und doch runde, weiche Gestalt; ein feines Gesicht, große, tiefblaue Augen, mit dem Ausdrucke der bescheidensten, stillsten Sanftmuth.

Ich wurde beinahe irre an meiner innern Stimme. Aber ich sah ein, wie verführerisch dieses Mädchen sein konnte. Eine Mitschuldige brauchte sie ja darum nicht zu sein. Sie erschien mit ihrem ganzen sanften Wesen in dem Verhörzimmer. Sie sah mich mit ihren schönen, dunkelblauen Augen klar, ruhig erwartend an.

„Sie kennen den Fleischer Mahler?“ fragte ich.

Sie antwortete mit der Ruhe ihrer äußern Erscheinung:

„Ja, ich habe bei ihm gedient.“

„Wie lange?“

„Ein halbes Jahr lang.“

„Warum verließen Sie den Dienst?“

„Die Frau konnte mich nicht recht leiden,“

„Was hatte sie gegen Sie?“

„Sie that mir Unrecht.“

„Sprechen Sie aus, was es war.“

Das Mädchen wurde roth, sie schlug die Augen nieder. Es war eine natürliche Scham, die sich so verrieth. Auch ihr Zögern, mit der Wahrheit herauszukommen, sprach für sie. Nicht minder die Art, wie sie zuletzt damit herauskam.

„Sie hatte ihren Mann und mich in Verdacht mit einander. Aber ich versichere Sie, Herr Director, die Frau hatte Unrecht.“

„Haben Sie, seitdem Sie den Dienst verlassen, Mahler wieder gesehen?“

„Auf der Straße.“

„Haben Sie mit ihm gesprochen?“

„Im Vorbeigehen.“

„Sonst nicht?“

„Ich kann mich nicht besinnen.“

„Hat er Sie nie in Ihrem Hause besucht?“

„Nein.“

Sie sah mich außerordentlich klar und unbefangen bei der Antwort an. Sie konnte indeß bei dieser einen Hintergedanken haben.

„Er war auch nie in Ihrem Hause?“

„Ich sage Ihnen ja, er hat mich nie besucht.“

„Sein Besuch könnte Ihren Eltern gegolten haben?“

„Er war nie in unserm Hause.“

Ich endete das kurze Verhör mit ihr. Sie hatte mit einer Bestimmtheit, die später keine Ausrede zuließ, abgeleugnet, Mahler anders, als auf der Straße, namentlich in ihrem Hause, gesehen zu haben. Das genügte mir für meinen Zweck vorläufig vollkommen.

Ihr Vater mußte eintreten. Es war ein Mensch von gemeinem, aber entschlossenem Aeußern. Etwas von einem Trunkenbolde glaubte man ihm ansehen zu müssen. Wenn er schon vor der Abholung mit seiner Tochter sich verabredet hatte, so war auf Widersprüche bei ihm nicht zu rechnen. Und in der kleinen Stadt hatte die Kunde von dem Verbrechen und dem gerichtlichen Einschreiten schon seit Stunden sich wie ein Lauffeuer verbreitet. Schuldbewußte mußten also bereits die genauesten Verabredungen getroffen haben.

Der Mann wollte den Fleischer Mahler nur von Ansehen kennen, und in seinem Hause nie gesehen haben.

Ich vernahm die Frau, eine lauernde, verschmitzte Person. Sie machte einen noch schlechteren Eindruck, als ihr Mann. Ihre Aussage stimmte völlig mit denen des Mannes und der Tochter überein.

Bis jetzt hatte ich für die Bestätigung meiner Ahnung noch nichts gewonnen. Das Mädchen hatte sich völlig so unschuldig und unbefangen gezeigt, wie Gretchen Kopp. Was konnte sie dafür, wenn ihre Eltern gemein aussahen? Was galt dies überhaupt für die Untersuchung?

Aehnliche Bemerkungen las ich wieder in dem Gesichte meines Actuarius, dem es nicht hatte entgehen können, welches Gewicht ich auf die Vernehmung der Familie Schmid legte.

Ich ließ die drei Personen sogleich nach Beendigung ihres Verhörs nach Hause gehen. Der Actuarius schien das wieder nicht begreifen zu können. Es war allerdings gegen die gewöhnliche Praxis. Noch weniger begreiflich war ihm das gleich Folgende.

Ich ließ den Fleischer Mahler wieder vorführen.

„Bei Ihnen hat vor nicht langer Zeit eine Louise Schmid gedient?“

Ein erdfahler Schein flog plötzlich durch sein Gesicht, und wenn auch der ganze übrige Mann fest und eisern stand, sein Auge zitterte.

War ich doch auf dem rechten Wege?

„Ja,“ antwortete er, und es kostete ihm Anstrengung, um nur zu dem einzigen kleinen Worte Luft zu gewinnen.

Ja, ich war auf dem rechten Wege; ich mußte es sein. Auch in dem still, zwar überrascht, aber befriedigt vor sich hin nickenden Gesichte des Actuarius las ich es. Ich hatte jetzt nur noch wenige Fragen an den Menschen, fast nur dieselben, die ich an das Mädchen gerichtet hatte.

„Haben Sie die Louise Schmid seit ihrer Entfernung aus Ihrem Hause wieder gesehen?“

„Zuweilen auf der Straße.“

„Auch gesprochen?“

„Es ist möglich, im Vorbeigehen.“

„Haben Sie sie in ihrem Hause besucht?“

„Nein.“

„Waren Sie niemals in ihrem Hause?“

„Niemals.“

Fast Wort für Wort die Antworten des Mädchens und mit völliger Ruhe und Bestimmtheit abgegeben; jenes Erschrecken hatte nur den kürzesten Augenblick gedauert. Aber ich war zufrieden; ich hatte jetzt die Fäden des Verbrechens und mußte sie nur noch zusammenknüpfen.

Mein Plan, schon gleich, als der Fleischer Kopp die Louise Schmid erwähnt hatte und ich darauf durch die Vernehmung der Gretchen Kopp die Ueberzeugung gewonnen zu haben glaubte, daß dieses Kind unschuldig sei, mein Plan, schon damals rasch entstanden, hatte während der letzteren Vernehmungen sich immer mehr entwickelt und bis in seine Einzelnheiten ausgebildet.

„Sie können nach Hause gehen,“ sagte ich zu dem Fleischer Mahler.

Er verließ das Verhörzimmer, ohne ein Wort zu sagen, ohne nur eine Miene zu verziehen. Aber mein Actuarius war außer sich gerathen. Es ist kein Zweifel, mit dem sind wir aus dem Regen unter die Traufe gerathen, sagte sein Gesicht.

Der brave, pflichtgetreue Beamte aber mußte noch mehr thun.

[438] Nach der Criminalordnung konnte ich als Inquirent, auf meine Verantwortlichkeit, handeln, wie ich wollte; nur ein Beschluß des Richtercollegiums konnte mich binden. Der Actuarius hatte aber die Pflicht, wenn er Unregelmäßigkeiten oder gar Gesetzwidrigkeiten in meinem Verfahren bemerkte, mir „seine Bedenken mit Bescheidenheit vorzutragen.“ Das that er.

„Herr Criminaldirector, daß ein Giftmord verübt ist, steht fest. Mahler hat sich durch sein Benehmen verdächtig gemacht. Er hat sich namentlich dadurch sehr verdächtig gemacht, daß er jede Beziehung zu der Louise und Familie Schmid ableugnete, die, wie Sie so richtig geahnt hatten, auch nach meiner jetzigen Ueberzeugung dennoch besteht. Der Wahrheit dürfte also fast nur dann auf den Grund zu kommen sein, wenn es gelänge, ihn mit der Familie Schmid und diese unter sich in Widersprüche zu verwickeln. Dennoch lassen Sie alle diese Personen in Freiheit und geben ihnen somit volle Gelegenheit, so viel zu colludiren, wie sie wollen. Entschuldigen Sie, wenn ich es für meine Pflicht halte, Ihnen diese Umstände zur Erwägung vorzutragen.“

Ich hatte ihn ruhig aussprechen lassen und hatte ihm vorläufig nur wenig zu erwidern.

„Lieber Herr Actuar, ich habe das Alles erwogen; aber auch noch mehr. Indeß darüber später, jetzt thut Eile Noth. – Sie kennen die Unterbeamten des Gerichts. Rufen Sie mir drei oder vier der gewandtesten und zuverlässigsten herein.“

Er verließ das Zimmer und kehrte nach wenigen Augenblicken mit vier Boten und Executoren des Inquisitoriats zurück. Ich instruirte diese einzeln: Zweien trug ich auf, das Mahlersche Haus zu bewachen, das nach zwei Seiten Eingänge hatte; zwei andere mußten das Schmid’sche Haus in Obacht nehmen. So wie einer von ihnen den Mahler oder die Louise Schmid oder den Vater oder die Mutter des Mädchens auf der Straße sah, hatte er ihnen zu folgen und sie nicht aus den Augen zu lassen. So weit es außerdem angehe, hatten sie, auch auf die Gretchen Kopp und das kleine Mahler’sche Dienstmädchen zu achten.

Alle hatten mit großer Vorsicht zu verfahren und sich vor keiner der genannten Personen sehen zu lassen, aus ihrer Verborgenheit nicht hervorzutreten, es mochte sich ereignen, was wollte. Keine einzige der genannten Personen durfte nur eine Ahnung davon haben, daß sie beobachtet werde oder beobachtet worden sei. Am folgenden Morgen um sieben Uhr hatten sie mir am Criminalgerichte zu rapportiren.

Sie begaben sich auf ihre Posten.

„Nun?“ fragte ich den Actuarius.

Der einsichtige und erfahrene Mann hatte meinen Plan begriffen.

„Sie erwarten, daß namentlich der Mahler und die Louise Schmid sich heimlich sprechen und dies morgen ableugnen werden?“

„So ist es, wenn sie schuldig sind.“

„Aber Sie spielen, entschuldigen Sie den Ausdruck, ein gefährliches Spiel.“

„Ich fürchte nicht. Mahler und das Mädchen wissen nichts davon, ob sie gegenseitig übereinander vernommen sind. Es liegt ihnen Alles daran, dies zu erfahren und was Jeder gesagt hat. Beide, von ihrem Gewissen belastet, haben daher ein kaum widerstehliches Verlangen, sich zu sprechen, zugleich, um Ferneres für die Zukunft zu verabreden. Es ist also mit Sicherheit zu erwarten, daß sie nicht nur sich gegenseitig aufsuchen, sondern auch, im Gefühle ihrer Schuld und um ihre Aussagen nicht Lügen zu strafen, auf eine heimliche Art sich zu treffen suchen werden. Dies macht sie von der einen Seite eben so verdächtig, als sie von der anderen Seite, indem sie eben durch ihre Nichtverhaftung sicher geworden sind und deshalb auf genaue Verabredungen und für alle Fälle nicht bedacht sein werden, morgen nothwendig sich in Widersprüche verwickeln müssen.“

„Ihr Verfahren,“ meinte der Actuarius, „bleibt dennoch ein gefährliches und gegen alle Grundsätze der Criminalordnung ist es unzweifelhaft.“

Er hatte nicht Unrecht. Nach den Grundsätzen der Criminalordnung hätte ich, bei dem Vorhandensein eines so schweren Verbrechens, vor allen Dingen die verdächtigen Personen in Haft nehmen müssen, damit sie „einerseits nicht durch Flucht sich der Strafe entziehen oder andererseits durch Verabredungen unter einander nicht die Wahrheit verdunkeln und die Zwecke der Untersuchung vereiteln“ konnten.

Diese Grundsätze hatten auch an sich ihre volle Berechtigung und ich wagte selbst für den vorlegenden Fall viel, konnte eine große Verantwortlichkeit auf mich laden. War wirklich, wovon ich ja eben ausging, Mahler schuldig: konnte er nicht die Freiheit, die ich ihm ließ, dazu benutzen, durch schleunige Flucht ein Leben zu retten, das unter den unmöglich im Voraus zu berechnenden Chancen der bereits eingeleiteten Untersuchung so leicht dem Henker verfallen war? Und wenn auch das nicht, ein einziger Mißgriff der von mir bestellten Wächter, zudem ungebildeter, mir kaum erst dem Namen nach bekannter Unterbeamten, die geringste Unachtsamkeit von ihrer, eine kleine List von seiner Seite, mußten sie ihm nicht, ohne alle Gefahr der Entdeckung, ein Einverständniß mit seinen Mitschuldigen, wenn auch nur Mitwissern ermöglichen, durch welches ich für immer alle Fäden der Entdeckung und Ueberführung wieder aus den Händen verlor?

Ich hatte mich dann schwer verantwortlich gemacht und – ich leugne nicht, daß auch der Gedanke bei mir mit in die Wagschale fiel, ich hatte mich dort, wo ich gerade eine bessere Rechtspflege wieder herstellen sollte, lächerlich, unmöglich gemacht; die Leute waren wirklich aus dem Regen unter die Traufe gekommen.

Und doch mußte ich es wagen; ich konnte, so meinte ich, den Charakteren der verdächtigen Personen gegenüber, nicht anders. Der verschlossene, kalte Mahler; das Mädchen, die, wenn sie seine Geliebte war, unter ihrem sanften Aeußeren die Natur einer lauernden Katze verbarg; die gemeinen, verschmitzten Eltern der Person; sie Alle sahen nicht darnach aus, als ob ich auf gewöhnlichem Wege Geständnisse oder erhebliche Auskunft von ihnen erlangen könne. Und um sie in Lügen und Widersprüche zu verwickeln, dazu fehlte es mir, ohne den eingeschlagenen Weg, an aller Handhabe.

Ich wagte es und verließ mich auf meine Physiognomik, auf meine Psychologie, auf mein Glück. Aber ruhig schlafen konnte ich doch nicht; ich träumte von Auslachen, von Regen, von Dachtraufen, von Mord; zuletzt wollten sie mich sogar köpfen.

Mit dem Glockenschlage sieben am andern Morgen waren die Criminalboten zum Rapport bei mir; und – ich hatte mich nicht geirrt, bis jetzt wenigstens hatte ich richtig gerechnet.

Mahler war vom Gerichte auf dem geraden Wege nach seinem Hause gegangen. Bis Mitternacht hatten die Verhöre gedauert. Er hatte seine Nichte und das kleine Dienstmädchen noch wach gefunden und ihnen befohlen, zu Bette zu gehen; er wollte auch gehen. Einer der Wächter hatte das durch das Fenster der zu ebener Erde gelegenen Stube gehört.

Die beiden Mädchen waren in eine Kammer gegangen. Mahler hatte dann die Hausthür verschlossen; gleich darauf aber war er an dem Fenster der Stube erschienen, hatte es geöffnet und in die Straße geblickt; als er nichts gesehen und gehört, schloß er dasselbe wieder und löschte das Licht in der Stube aus. Wenige Minuten nachher hatte er das Fenster zum zweiten Male geöffnet, [439] aber sehr leise. Eben so leise war er hindurch auf die Straße gestiegen. Er hatte dann das Fenster angelehnt und war nun mit raschen, fast unhörbaren Schritten, immer dicht an den Häusern entlang, die Straße hinaufgegangen, in der Richtung nach dem Schmid’schen Hause.

Der Beamte, der ihn soweit beobachtet, hatte den zweiten, an der Rückseite des Hauses aufgestellten Wächter herbeigerufen. Beide hatten auf verschiedenen Wegen gleichfalls die Richtung nach dem Schmid’schen Hause eingeschlagen; der erste, indem er Mahler von Weitem folgte.

Das Schmid’sche Haus lag am Stadtwalle, am äußersten Ende einer nur mit wenigen, zerstreuten Häusern besetzten Straße. Es lag dort einsam, nach allen Seiten frei.

In diesem Hause hatte schon bei der Ankunft der dahin beschiedenen Wächter eine heimliche, geheimnißvolle Unruhe geherrscht. Die Fensterladen waren fest verschlossen gewesen, aber die Hausthür hatte sich zum Oefteren geräuschlos geöffnet und es war eine Frauensperson darin erschienen, die auch wohl einige Schritte, wie um nach Jemandem auszusehen, auf die Straße getreten war. Bald hatte auch der Schornstein geraucht und aus dem Hause hatte sich ein Geruch von Braten und Backen verbreitet. Man erwartete im Hause Jemanden. Der Erwartete erschien endlich. Die Frauensperson stand wieder in der Thür. Es war die Louise Schmid. Der Angekommene war der Fleischer Mahler.

„Kommst Du doch?“ rief das Mädchen.

Sie rief es mit nur wenig gedämpfter Stimme. Häuser waren nicht in der Nähe und Menschen vermuthete sie hier auch nicht.

„Kommst Du doch noch? Sie haben Dich also frei lassen müssen?“

„Jetzt bist Du die Frau Mahler!“ war die Erwiderung des Fleischers.

Beide umarmten sich. Dann fragte das Mädchen:

„Was haben sie Dir gesagt?“

„Was wollten sie mir sagen? Sie hatten mir eben nichts zu sagen.“

„Von uns hatten sie nichts erfahren.“

„Das wußte ich wohl.“

„Dennoch hatte meine Mutter Angst; aber ich blieb dabei, daß sie Dich noch in der Nacht loslassen müßten und daß Du zu mir kommen würdest. Laß uns jetzt in’s Haus gehen.“

Sie gingen dem Hause zu. Unterwegs mußte der Mann dem Mädchen etwas zum Tragen übergeben haben.

„Was ist es?“ fragte sie.

„Ich habe zwei Flaschen Wein mitgebracht.“

Sie verschwanden im Hause und machten die Thür fest hinter sich zu. Was drinnen geschehen war, hatten die Beamten durch die dicht verschlossenen Laden nicht wahrnehmen können. Nur einmal hatten sie gemeint, Gläserklirren zu vernehmen.

Mahler war bis gegen drei Uhr Morgens in dem Hause geblieben. Als er sich entfernt, hatte ihn das Mädchen bis mitten auf die Straße begleitet, und Beide hatten dann dort durch eine lange Umarmung Abschied von einander genommen. Das berichteten mir die Beamten.

Es verschaffte mir eine große Genugthuung. Mein Verfahren hatte sich, wenn auch aller Regel, allem Herkommen und allen Vorschriften der Criminalordnung zuwider, als ein richtiges, zweckmäßiges erwiesen. Was sind alle Regeln und Gesetze gegenüber dem Rechte und der Eigenthümlichkeit des einzelnen Falles? Jene sind todt, dieser allein ist lebendig; und nur das Lebende hat Recht.

Ich hatte auf einmal einen Anhalt für die Untersuchung, ein Licht in dem Dunkel des empörenden Verbrechens gewonnen, wie ich sie auf dem gewöhnlichen Wege der Vorschriften und des Hergebrachten wahrscheinlich gar nicht, jedenfalls nicht in solchem Umfange und nur mit vieler Mühe und nach langer Zeit würde erhalten haben.

Ich sandte auf der Stelle alle vier Beamten mit dem Befehle zurück, sofort den Fleischermeister Mahler, die Eheleute Schmid und deren Tochter Louise zu verhaften und in die Gefängnisse des Inquisitoriats abzuliefern. Mahler sollte nichts von der Verhaftung der Schmid’s, diese sollten nichts von der Mahler’s erfahren. Ueber das mir Mitgetheilte empfahl ich den Beamten das tiefste Stillschweigen gegen Jedermann an.

Ich wollte zugleich einen kleinen Triumph der Eitelkeit haben.

Ich begab mich auf das Inquisitoriat und ließ den Actuarius herüberbitten, um mir das Protokoll führen zu lassen. Er kam alsbald.

Ich dictirte ihm zunächst einfach die Berichte der vier Beamten Wort für Wort zu Protokoll. Die Ueberraschung, das Erstaunen des Mannes waren in der That groß; aber er war ein braver Mann, er freute sich über das gewonnene Resultat.

Wir sind doch nicht aus dem Regen unter die Traufe gekommen, sprachen seine Augen. Laut sagte er:

„Gott sei Dank, jetzt wird hier Vieles anders werden.“

Aber das gewonnene Resultat war nur ein vorläufiges und es war noch Manches zu thun, um zu jenem Ziele zu gelangen, an welchem erst der zu einer Verurtheilung der Schuldigen erforderliche Beweis hergestellt war.

Die vier Personen waren verhaftet, ganz, wie ich es angeordnet hatte. Sie hatten sich am gestrigen Abende, noch heute Nacht so sicher gewußt. Sie mußten sofort, unter dem ersten überraschenden, ängstigenden Eindrucke ihrer Verhaftung vernommen werden; ihre Vernehmung mußte schnell, ohne Umschweife auf ihr Ziel losgehen.

Ich ließ zuerst Mahler vorführen. Er zeigte keine Spur von Angst oder Unruhe.

„Wann haben Sie die Louise Schmid zum letzten Male gesehen?“ begann ich.

„Ich weiß es nicht genau; es können vierzehn Tage bis drei Wochen sein.“

„Wo?“

„Auf der Straße.“

„Wo waren Sie heute Nacht?“

„In meinem Hause.“

„Die ganze Nacht?“

„Die ganze Nacht.“

„Sie waren gar nicht ausgegangen?“

Er besann sich doch; sein Blick zeigte eine leise Unruhe; aber nach einer Weile antwortete er dreist:

„Nein.“

„Gefangenwärter, führen Sie den Gefangenen in das Gefängniß zurück.“

Da wurde er sehr unruhig; diese kalte Kürze hatte sich wie eine Last auf ihn gewälzt, die ihm den Athem nahm. Er blieb stehen und sah mich fragend an, als wenn ich in meinem Schweigen sein Verderben bei mir trüge, das er von mir heraushaben müsse, als wenn er lieber dem Tode in das Gesicht sehen, als ihn lauernd hinter sich wissen wolle.

„Haben Sie mir noch etwas zu sagen?“ fragte ich ihn.

Er fühlte, daß er sich verrathen habe, und nahm sich zusammen.

„Nein!“

Er ging mit dem Gefangenwärter.

Louise Schmid mußte eintreten. Sie hatte nichts von ihrem sanften Wesen verloren; ein Ausdruck stillen Leidens war hinzugetreten. Wäre ich zum Scherzen aufgelegt gewesen, ich hätte sie mit einer sanft leidenden Katze vergleichen können.

„Wann haben Sie den Fleischer Mahler zuletzt gesehen?“

„Vor zwei oder drei Wochen etwa.“

„Wo?“

„Auf der Straße.“

„War er nicht gestern Abend bei Ihnen?“

„Ich war ja fast bis Mitternacht hier am Gerichte.“

„Aber nachher? Heute Nacht?“

„Ich habe ihn nicht gesehen.“

„Und doch war er bei Ihnen.“

„Er war nicht bei mir.“

„In Ihrem Hause.“

„Wer Ihnen das gesagt hat, der hat mich verleumdet.“

„Sie waren ihm bis auf die Straße entgegen gegangen.“

„Großer Gott, welche abscheuliche Verleumdung!“

„Er sagte Ihnen: jetzt seien Sie Frau Mahler.“

„Das ist nicht wahr, das ist gelogen.“

„Er hatte zwei Flaschen Wein mitgebracht.“

„Herr in Deinem Himmel, wie werde ich armes Mädchen verleumdet!“

Sie weinte. Sie hatte wirkliche Thränen. War sie eine von der Natur so wunderbar und so selten begabte Heuchlerin, daß sie diese Thränen hatte, oder preßte sie ihr die ungeheuerste Angst aus?

Ich fuhr ruhig fort:

[440] „Mahler blieb bis drei Uhr Morgens bei Ihnen?“

„Er war gar nicht bei mir,“ schluchzte sie.

„Als er ging, begleiteten Sie ihn wieder bis auf die Straße und nahmen mit einer Umarmung Abschied von ihm.“

„Es ist Alles schändlich erfunden und erlogen.“

„Ich bringe Ihnen die überzeugendsten Beweise.“

„Das thun Sie. Auf der Stelle!“

„Später; vorher habe ich eine andere Pflicht. Gegen Mahler ist bereits ein dringender Verdacht begründet, daß er seine Frau vergiftet hat. Dadurch, daß Sie hier Thatsachen ableugnen, die auf das Vollständigste bewiesen werden können, machen Sie sich einer Theilnahme an seinem Verbrechen in hohem Grade verdächtig. Der Verdacht steigt, je beharrlicher Sie bei Ihrem Leugnen bleiben. Erwägen Sie das, bevor Sie, wenn Sie unschuldig sind, sich selbst in eine Lage gebracht haben, unschuldig als schuldig verurtheilt zu werden.“ Auch diese Ermahnung fruchtete nichts. Sie sah mich mit ihrer leidenden, mit der unschuldsvollsten Miene an.

Einmal verworfene Frauen haben eine unglaubliche Gewandtheit in der Heuchelei, besonders in der leidenden Heuchelei.

Mit der Person war, wenigstens jetzt, nichts zu machen; ich ließ sie daher abtreten und ihren Vater vorführen.

Der Mann hatte in der Nacht einen Rausch gehabt; man sah es dem aufgedunsenen Gesichte, den rothen Augen, dem wüsten Blicke an, der verrieth, wie wüst es ihm im Kopfe sein müsse.

Ich hatte falsch gerechnet, wenn ich meinte, darum mit ihm leichtere Mühe zu haben. Auf alle meine Fragen, auf alle meine Vorhaltungen, daß Mahler die Nacht über in seinem Hause gewesen sei, antwortete er mir einfach und beharrlich: er sei in der Nacht von dem Verhör durstig nach Hause gekommen und da müsse er über den Durst getrunken haben, und darauf sei er alsbald schläfrig geworden, und er habe sich zu Bette gelegt und wisse von nichts, was in seinem Hause passirt sei. Uebrigens glaube er nicht, daß Mahler dagewesen sei, denn er habe diesen noch nie in seinem Hause gesehen.

Sein Rausch sollte indeß mir mehr Dienste leisten, als ihm.

Ich ließ nach seiner Entfernung seine Frau vorkommen.

Der Gefangenwärter, bevor er sie in das Verhörzimmer führte, theilte mir, um Entschuldigung bittend, mit, daß durch ein Versehen von seiner Seite die Frau im Verhörgange ihren Mann gesehen, wie er gerade in die Gefängnisse zurückgeführt worden sei. Zum Glück habe der Mann sie nicht gesehen, so daß sie sich keine Zeichen hätten geben können. Dieser Zufall kam mir zu Nutzen.

Die gewandte, listige Frau trat nicht mit ihrer gestrigen Sicherheit ein. Hatte sie wirklich Angst, daß ihr noch halb berauschter Mann geplaudert, den Verräther gemacht haben möge? Der Gedanke stieg plötzlich in mir auf.

Es wäre unrecht von meiner Seite gewesen, den Irrthum in ihr zu nähren; aber benutzen durfte ich ihn.

Ich sagte ihr sofort auf den Kopf zu:

„Frau, heute Nacht war Mahler in Ihrem Hause.“

Sie erschrak heftig. Er hat Alles verrathen, sagte ihr Erschrecken.

„Wer hat das gesagt?“ fragte sie, leise zitternd, ablehnend, aber lauernd.

„Ich kann Ihnen auf der Stelle den Mann bringen, der es Ihnen in das Gesicht sagen wird.“

„Es ist nicht möglich.“

„Soll ich?“

Ich griff nach dem Klingelzuge. Ich hätte ihr nach und nach die vier Criminalbeamten gegenüber gestellt, um ihr Alles, was in der Nacht an ihrem Hause passirt sei, in das Gesicht zu sagen. Bei der Angst, in der sie einmal war, konnte ich davon ein Resultat erwarten, zumal da sie in ihrem Irrthum befürchten mußte, daß ich zuletzt doch noch ihren Mann ihr bringen werde. Sie überhob mich der Operation.

„Nein, nein,“ sagte sie ängstlich; „ich will Alles sagen.“

Ihre Angst war mir erklärlich. Sie glaubte an eine Gegenüberstellung ihres Mannes. Sie mußte auch ihm gegenüber die Rolle des Leugnens fortsetzen, ihn also zum Lügner machen. Und nun mußte sie ihn wohl genau kennen, wie das ihn zum Aeußersten, zu den gefährlichsten Geständnissen treiben werde.

„Ich will Alles sagen. Ja, Mahler war die Nacht bei uns; aber in allen Ehren, und er hat nie etwas Schlechtes mit meiner Tochter gehabt.“

„Was that er bei Ihnen?“

„Er ißt gern etwas Gutes. Und seine Frau war geizig und meine Tochter ist eine perfecte Köchin. Das ist Alles.“

„Er ist also öfters zu Ihnen gekommen?“

„Manchmal; aber blos darum.“

„Er hatte gestern Wein mitgebracht?“

„Ja, zwei Flaschen.“

„Er blieb bis drei Uhr?“

„Es mag sein.“

Jetzt mußte ich weiter gehen.

„War er auch vorgestern bei Ihnen?“ fragte ich sie.

„Zu welcher Zeit?“ fragte sie zurück.

„Am Abend?“

„Ich weiß es nicht.“

„Lügen Sie nicht wieder.“

„Ja, ja, es kann sein; ich habe nicht recht darauf geachtet, ich hatte zu thun.“

„Um welche Stunde des Abends war er da?“

„Es kann nach acht Uhr gewesen sein.“

„Wie lange blieb er?“

„Nicht lange.“

„Ging er allein fort?“

„Ich denke doch.“

„Besinnen Sie sich, Sie müssen es wissen.“

Die verschmitzte Frau hatte den Kopf verloren. Ich hatte ihr Thatsachen vorgehalten, die ich, da sie an meine ausgesandten Wächter nicht denken konnte, nach ihrer Meinung nur von Mahler selbst oder von ihrer Tochter oder von ihrem Manne haben mußte. Sie dachte unzweifelhaft an den Letzteren, zugleich mit jener Angst.

„Meine Tochter ging mit ihm,“ sagte sie.

„Um welche Stunde war das?“

„Es konnte beinahe zehn Uhr sein.“

„Wann kam Ihre Tochter zurück?“

„Etwa nach einer halben Stunde.“

„Allein?“

„Mahler hatte sie bis an das Haus zurückgebracht.“

„Was erzählte Ihre Tochter bei ihrer Rückkehr?“

„Was hätte sie erzählen sollen?“

„Wo sie mit Mahler gewesen sei?“

Die Frau wurde auf einmal leichenblaß und zitterte wieder. Mir kam es vor, als ob sie mit Entsetzen sich frage: Sollte mein Mann auch das verrathen haben?

„Sagen Sie die Wahrheit,“ ermahnte ich sie.

Sie sah mich mit großer Angst an.

„Sie wissen auch das?“

„Ich will es von Ihnen wissen.“

Sie glaubte in der That Alles verrathen, und rang die Hände. „O, mein Gott, mein Gott, mein armes Kind! Aber sie ist unschuldig! Glauben Sie mir, Herr Director, bei Allem, was heilig ist, bei Gott im Himmel, sie ist unschuldig, sie hat keinen Theil an dem Verbrechen. Sie hat ihn immer davon abgehalten; sie wollte ja gern warten, bis die Frau, die immer kränkelte, eines natürlichen Todes gestorben sei; aber er hatte keine Geduld mehr, und da hat er es denn gethan. Aber er allein, und sie hat vorher nichts davon gewußt; glauben Sie mir. Glauben Sie mir, daß sie unschuldig ist.“

Die Frau war gebrochen. Die Mutterliebe hatte sie gebrochen. Sie weinte bittere, heftige Thränen der Angst, der Todesangst für ihr Kind, und nun auch der Reue.

„Frau,“ sagte ich zu ihr, „nur ein volles Geständniß von Ihrer Seite kann beweisen, daß Ihre Tochter unschuldig ist, wenn sie es wirklich ist.“

„Sie ist es!“ rief sie.

Und nun erzählte sie Folgendes:

Mahler war vorgestern Abend um acht Uhr in ihr Haus gekommen, wie sehr oft, seitdem ihre Tochter nicht mehr bei ihm im Dienste war. Er war mit dem Mädchen allein gewesen, wie ebenfalls häufig. Er war der Frau bei seiner Ankunft etwas blaß vorgekommen. Sonstige Veränderung wollte sie nicht an ihm bemerkt haben. Kurz vor zehn Uhr war er mit dem Mädchen ausgegangen. Sie hätten blos gesagt, sie wollten ein halbes Stündchen spazieren gehen. Als bald nach halb elf Uhr das Mädchen, von Mahler bis an die Hausthür begleitet, zurückgekommen, habe sie so ganz besonders, so verstört ausgesehen. Sie, die Mutter, habe [441] sie gefragt, was sie habe. Da habe sie unter Jammer und Weinen gesagt, die Frau Mahler liege im Sterben. Mahler habe sie zu seinem Hause geführt; sie hätten sich vor das Fenster der Stube gestellt und draußen hören können, wie die Frau schrecklich gestöhnt habe, so daß sie es nicht lange mehr machen könne. Und nun habe Mahler ihr auch gesagt, daß seine Frau sterben müsse; sie sei ohnehin immer kränklich und es geschehe ihr eine Wohlthat damit, wenn sie von ihren ewigen Leiden erlöst würde, und sie Beide könnten desto eher heirathen; er könne es nicht mehr aushalten, bis sie seine Frau werde. Sie habe aber über diese Worte einen solchen Schreck bekommen, daß ihr die Kniee eingeknickt seien, und Mahler sie nach Hause beinahe habe tragen müssen. Früher habe Mahler zwar wohl zuweilen Redensarten geführt, als wenn er den Gedanken habe, seiner Frau Gift zu geben, aber sie, das Mädchen, habe das nie für seinen Ernst gehalten und auch immer gesagt, daß er es nicht thun solle und daß sie gern mit dem Heirathen warten wolle, bis die Frau eines natürlichen Todes sterbe. Das Mädchen habe sich gar nicht trösten können, und sie, Mutter und Tochter, hätten noch bis gegen zwei Uhr Morgens so beisammen gesessen, als es auf einmal an den Fensterladen geklopft habe und Mahler dagewesen sei und gesagt habe, um Mitternacht sei seine Frau gestorben. Er sei darauf gleich wieder gegangen.

Das waren die Mittheilungen der Frau; vielfach offen und aufrichtig, wenn auch sehr wahrscheinlich noch mit mannichfacher Zurückhaltung von Umständen, die auf die Schuld der Tochter Bezug hatten. Weitere Auskunft war aber von ihr nicht zu erhalten.

Ich suchte nach einem auch für Inquirenten goldenen Spruche, das Eisen zu schmieden, so lange es warm war. Allein vergeblich. Ich inquirirte den ganzen Tag bis wieder spät in den Abend hinein.

Aus dem alten Schmid war nichts herauszubekommen. Er versteckte sich hinter seine Gewohnheit, gern zu trinken, und schnell und früh betrunken zu werden. So wisse er von nichts was in seinem Hause passirt sei, und er könne daher nicht dafür aufkommen, was „seine Weibsleute im Hause trieben.“

Louise Schmid gestand zu, daß Mahler in der letztverflossenen Nacht, nach dem Ende der Verhöre, in dem Hause ihrer Eltern bei ihr gewesen, und daß er auch früher hin und wieder dagewesen sei, wo sie ihm dann etwas Gutes habe kochen müssen, was er zu Hause nicht bekommen habe. Sie habe das bisher aus Angst verschwiegen, was, wie sie jetzt einsehe, unrecht genug sei, und ihr Schaden bringen könne. Alles Andere bestritt sie unter stillem Weinen des sanften Leidens. Die Dirne war eben so zähe wie glatt.

Mahler war ein durch und durch kalter, fester Mensch, der keine einzige Stelle darbot, an der man ihn fassen konnte. Daß [442] er gestern Nacht, nach seiner Entlassung aus dem Verhöre, in dem Schmid’schen Hause gewesen, konnte er, nachdem ich ihm die Beweise darüber vorhielt, nicht mehr leugnen. Er wollte nur dagewesen sein und auch den Wein hingebracht haben, um die Familie Schmid für die Angst und Leiden ihrer langen Verhöre zu entschädigen. Daß sie verhört seien, habe er sich denken müssen, da ich ihn nach dem Mädchen gefragt habe. Nur um nicht das Mädchen unschuldig in die Sache zu verwickeln, habe er auch zuerst seine Anwesenheit im Hause abgeleugnet. Alles Andere bestritt er. Wenn die Schmids, Mutter und Tochter, anders sagten, so begreife er das nicht, die Angst müsse ihnen den Kopf verdreht haben. Dabei blieb er.

Ich confrontirte die Frau Schmid mit ihm. Die Frau wiederholte ihm ihre Aussage in’s Gesicht. Er zuckte kalt die Achseln, und erklärte auch ihr, es sei ihm unerklärlich, wie sie zu solchen handgreiflichen Lügen komme.

Zu einer Confrontation zwischen Mutter und Tochter konnte ich es nicht bringen. Es war mir das eine Erscheinung, die mir zeigte, wie auch in dem verdorbensten und verworfensten Menschen noch immer einiges wahre und bessere Gefühl lebt. Nach ausdrücklicher Vorschrift der Criminalordnung hätte ich den Versuch einer Zusammenstellung zwischen Mutter und Kind machen müssen; aber die Frau erklärte mir jedesmal mit einer Festigkeit, die ich nicht bewältigen konnte, nichts in der Welt werde sie bewegen, ihrer Tochter nur ein einziges Wort vorzuhalten, das diese veranlassen könne, sich als Lügnerin darzustellen. Ich mußte von meinen Versuchen Abstand nehmen.

Gegen Mahler hatte ich indeß durch die Aussage der Frau erhebliche Indicien gewonnen. Zu einem Beweise gegen ihn, der seine Bestrafung begründen mußte, bedurfte ich nur noch des Nachweises, daß er im Besitze von Arsenik gewesen sei. Und diesen Nachweis sollte mir die kleine Gretchen Kopp herbeischaffen. Dabei mußte ich mich aber in der That einer kleinen List schuldig machen.

Das brave Kind war nicht zu bewegen, auch nur ein einziges Wort zum Nachtheile des Mannes auszusagen, der sie mit so unendlicher Bosheit des von ihm verübten Verbrechens bezichtigt hatte. Er sei ihr Oheim, er sei ihr wie ein Vater gewesen; sie könne nun einmal nichts gegen ihn sagen, und sie thue es nicht. Dennoch war namentlich über einen Punkt ihre Aussage mir von der größten Wichtigkeit.

Jener häßliche Reiter an der hannoverschen Grenze hatte eine heimliche Zusammenkunft mit einem Menschen gehabt, in dem ich mit großer Wahrscheinlichkeit den Fremden aus dem Wirthshause an der Grenze, also den Fleischer Mahler, zu erkennen gemeint hatte. Ich verband damit den dringenden Verdacht, daß Mahler damals von jenem Menschen sich habe Gift geben lassen. Aber wer war der häßliche Reiter? In dem Wirthshause hatte Niemand von ihm gewußt. Nur Fritz Beck, der Liebhaber Gretchens, hatte ihn gesehen. Er schien ihn auch gekannt zu haben. Jedenfalls konnte durch ihn der Mensch ermittelt werden.

Allein wo hielt Fritz Beck sich auf? Und wie war dem von den Behörden Verfolgten so beizukommen, daß er sich zu der nöthigen Auskunft entschloß?

Das war nur durch Gretchen Kopp zu erlangen; und von ihr erlangte man es nicht, wenn sie den Zweck wußte.

Ich sprach mit ihrem Oheim Kopp über sie und den Burschen. Das Testament der Frau Mahler war eröffnet. Dem Mädchen waren darin die fünfhundert Thaler vermacht. Der Oheim war bereit, in Gemeinschaft mit den übrigen vermögenden Verwandten eine etwa gleiche Summe zuzugeben. Dafür sollte dem Mädchen im Hannoverschen, aber weit genug von der Grenze entfernt, ein bäuerliches Grundstück gekauft werden, und die beiden jungen Leute sollten sich heirathen. „Man könne es ja einmal probiren.“

Das Mädchen war außer sich vor Freude, als ihr das Alles gesagt wurde. Sie fuhr mit ihrem Oheim zur Grenze, um dem Burschen sein Glück anzukündigen. Ich fuhr, wie zufällig, ebenfalls dahin. Ich traf mit Kopp und seiner Nichte zusammen, wie sie eben in der Nähe des Wirthshauses an der Grenze ihre Unterredung mit Fritz Beck hatten. Der Bursch erkannte mich wieder. Ich nahm ihn auf die Seite, und fragte ihn nach dem häßlichen Reiter.

„Der Henker hier auf der Grenze!“

Hatte Mahler von dem Henker das Gift geholt, das ihn dem Henker überliefern mußte?

Ich ließ mir Namen und Wohnort des Henkers nennen, und fuhr dann weiter zu dem nächsten hannoverschen Gerichtsorte. Ich wandte mich dort an das Gericht. Die hannoversche Behörde war sehr zuvorkommend. Noch an demselben Tage wurde der Mann vernommen. Ich wurde zu der Vernehmung zugelassen.

Der an der Frau Mahler verübte Giftmord war auch schon an der Grenze bekannt geworden. Der Henker, sobald er sich bezüglich des Verbrechens vernommen sah, hatte daher eine dringende Veranlassung, wenigstens nicht Alles abzuleugnen, wenn er sich nicht als Mitschuldigen in die Sache verwickelt sehen wollte.

Er räumte sofort ein, daß Mahler Arsenik von ihm erhalten habe, und zwar damals an jener nämlichen Stelle, wo ich mich so sehr in der Nähe der Zusammenkunft der Beiden befunden hatte. Mahler war, so gab er an, des Nachmittags bei ihm gewesen, um ihn um das Gift zu bitten. Er hatte ihn auf den Abend an jenen Ort bestellt, da seine Rückkehr zum Hause des Henkers bemerkt werden und auffallen könne; dort unmittelbar an der Grenze seien sie am sichersten. Zu welchem Zweck Mahler das Gift haben wolle, hatte dieser nicht gesagt. Die Heimlichkeit sei übrigens schon darum geboten gewesen, weil der Giftverkauf auch im Hannoverschen für Privatpersonen verboten sei.

Der Mann wurde mir von den hannoverschen Behörden mit nach Preußen gegeben. Er wiederholte dort seine Aussage dem Mahler in’s Gesicht.

Mahlers Kaltblütigkeit war unterdeß zu einer Unempfindlichkeit geworden. Ihn beherrschte nur ein Gefühl, die Lust zum Leben. Das Leben hatte er aber gerettet, wenn er sein Verbrechen nicht eingestand.

Nach der preußischen Criminalordnung konnten noch so viele und noch so vollkommen überzeugende Anzeichen gegen ihn vorliegen, auf Grund derselben konnte nie eine Todesstrafe, nicht einmal eine lebenslängliche Freiheitsstrafe, sondern höchstens, als sogenannte außerordentliche Strafe, eine Zuchthausstrafe von zwanzig bis dreißig Jahren gegen ihn erkannt werden.

So bestritt er Alles, was gegen ihn vorgebracht wurde, mit einer Beharrlichkeit und Unempfindlichkeit, die, zumal in diesem, von Natur kalten und schlechten Menschen, vollkommen unerschütterlich waren. Es schien eine Art Verzweiflung so in ihm zu wirken.

Indessen waren der überzeugenden Anzeichen gegen ihn genug da. Er wurde nach jenem Grundsatze der außerordentlichen Strafe zu fünfundzwanzig Jahren Zuchthaus verurtheilt.

Louise Schmid, gegen welche, bei ihrem gleichfalls beharrlichen Leugnen, außer ihrem verdächtigen Benehmen, nichts vorlag, als die Aussage ihrer Mutter, wurde von einer Theilnahme an dem Verbrechen Mahler’s vorläufig freigesprochen.

Gretchen Kopp und Fritz Beck wurden ein Paar und zwar ein recht glückliches Paar. –

Und nun, nachdem ich meine Erzählung beendigt habe, höre ich manchen Leser fragen:

„Aber wozu hat er uns diese, nicht einmal so ganz absonderliche Criminalgeschichte erzählt? Welche Idee soll dadurch veranschaulicht werden? Welche Tendenz nur spricht sich darin aus?“

Ich weiß es, ohne Idee und Tendenz thut es die deutsche Novellistik nicht mehr. Nur eine Idee, nur eine Tendenz, dann sind die Geschichte und das Erzählen selbst gleichgültige Nebensachen.

Nun könnte ich Euch in der That auch über die vorstehende Geschichte recht viel von solchen Dingen sprechen, von der Idee eines reinen, schuldlosen, im Gegensatze zu einem verdorbenen, schuldbewußten Charakter; von der erhabenen Idee: „wenn sich das Laster erbricht, setzt sich die Tugend zu Tisch.“ Oder, wenn Ihr eine Tendenz wollt, so könnte ich Euch bitten, anzunehmen, ich hätte Euch einen echt professorlichen – „praktischen Excurs“ aus der empirischen Psychologie geben wollen, oder gar einen Beitrag zu der Kunst des Inquirirens. –

Nehmt, was Ihr wollt, auch nichts. Ich werde zufrieden sein, wenn Euch meine Erzählung gefallen hat, das heißt, nicht blos für Eure Phantasie, sondern auch vornehmlich für Euer Herz.

Also doch eine Tendenz?




Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: weibliche