Die Gartenlaube (1867)/Heft 18

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1867
Erscheinungsdatum: 1867
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 18.   1867.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. Herausgeber Ernst Keil.
Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen.      Vierteljährlich 15 Ngr.      Monatshefte à 5 Ngr.


Die Herrin von Dernot.
Von Edmund Hoefer.
(Fortsetzung.)


Der Kammerherr drückte sich vor allen Dingen mit beiden Händen seine Perücke recht fest an den Kopf. Dann sagte er niedergeschlagenen Augs und leise: „Ihr Herr Vater hat leider die Beweise erhalten, daß die Baronin Karoline, seine erste – Sie verstehen mich wohl, liebes Kind?“ unterbrach er sich mit einem kleinen Seufzer und fügte dann mit einer Art von Aufathmen hinzu: „Daß hiernach der Baron gegen seinen – seinen sogenannten Sohn noch mehr und für immer erkältet wurde –“

„Noch mehr? Er erfuhr es also erst spät?“ fiel sie ein.

„So scheint es, liebes Kind, erst nachdem seines Sohnes Benehmen schon einen ohnehin fast irreparablen –“

„Sie meinen seine Heirath, Kammerherr?“ Und mit Bitterkeit fügte sie hinzu: „Was muß ich, die ich so voll Liebe und Vertrauen, das Alles nur nebenher erfahren! – Genug! – Wie ist es damit?“

„Er verheirathete sich – mit – ich meine, mit einer Aufseherstochter oder dergleichen, die er auf der Festung kennen gelernt,“ erwiderte Brose bei weitem freier und mit allen Anzeichen des Abscheus. „Er machte sich begreiflicherweise dadurch für das Treuenstein’sche Majorat unmöglich, und daß Ihr Vater außer sich –“

„Lassen wir das, Papa, lassen wir das!“ unterbrach sie ihn ungeduldig. „Es ist traurig oder vielmehr abscheulich genug, daß Rang und Stand und wahnsinnige alte Gesetze das Glück oder Unglück eines Menschen bedingen sollen und ihm vorschreiben dürfen, was er für das Eine oder Andere halten muß! – Kommen wir auf das Frühere zurück: der Vater hat also das – das Andere erst später erfahren? Wie war das möglich? Wie geschah das? Zumal, da ja doch jener alte schreckliche Mann, der Augustin, gleichfalls davon zu wissen schien?“

Der Kammerherr wurde wieder verlegen und senkte sein Haupt. Erst nach einer Pause sprach er, sich zusammennehmend und, wenn auch noch mit unsicherem Blick aufschauend, gedämpft wie vorhin, aber rascher: „Mein Kind, das weiß ich kaum. Ihr Vater hat sich nicht klar geäußert. Doch scheint’s, daß dieser Unmensch, der Müller, Ihrer – der Baronin Karoline Kunde gegeben von jener Jugendaffaire, welche dazumal, wo Ihr Vater schon mit ihr verlobt war, in Dernot spielte – ich kann das nicht entschuldigen, mein liebes Kind, und daß die stolze Dame in Folge dessen sich gleichfalls nicht –“

„Genug, Kammerherr, genug!“ fiel Esperance von neuem ein. „Ich habe einmal etwas Aehnliches gelesen, das mir jetzt verständlich ist. Also jene Jugendaffaire, wie Sie’s heißen, ist wahr, und der Müller hat aus Rache oder zur Strafe –“

„Ach, mein theures Kind,“ brach Brose klagend aus, „was hat dieser entsetzliche, nichtswürdige Mensch nicht alles gethan! Das Lebensglück der Seinen untergraben – es hätte sich ja so leicht – das Glück und den Frieden Ihrer Eltern – ach, mein theures Kind,“ fügte er diesen abgebrochenen Worten hinzu, indem er schwermüthig das kleine Haupt schüttelte, „dies Dernot und was von dort kam, hat Ihrer Familie niemals Segen und Glück gebracht!“

„Wie’s sein Name verheißt,“ erwiderte sie kurz und fragte das Auge fest auf ihn richtend: „Und das, was man vom Tode und dem Testamente des Barons August redet, Papa?“

„Nichtswürdiges Geschwätz, mein Kind!“ sagte er lebhaft; „weiter weiß ich davon nichts, denn es bezieht sich auf Vorgänge, die vor meiner und auch vor Ihres Vaters Zeit stattgefunden haben. Ihr Großvater – der Bruder des August – hat ihn beerbt und alles geordnet. Und Seine Excellenz waren, so weit ich die Ehre hatte, ihn zu kennen, und nach dem Glauben aller, ein Herr von Ehre.“

„Ich danke Ihnen, Papa,“ sprach Esperance, indem sie sich nach einer Weile erhob und dem alten Herrn die Hand bot; „das ist es, was ich wissen wollte und wissen mußte. Das Uebrige wird werden, wie es werden muß.“

„Mein liebes Kind,“ sagte er in ganz anderem Tone als bisher, und sein Auge blickte voll herzlicher Theilnahme auf das Mädchen, „wenn Sie doch nur diese Ihre Caprice für Dernot aufgeben und alles dahin Bezügliche anderen Köpfen und Händen überlassen möchten! Jene Bestimmung Ihres Vaters, auf die Sie sich stützen, ist sicherlich von ihm nur getroffen, damit in allen Fällen ein legitimer, anerkannter Besitzer vorhanden sei. Das ist ja jetzt nicht mehr nöthig, mein Kind, oder vielmehr der Besitz ist höchstens nur noch von einem Halbwahnsinnigen angefochten. Lassen Sie’s den Geschäftsleuten, sage ich; die werden damit fertig. Sie – ich sagte schon,“ fügte er kopfschüttelnd hinzu, – „ich bin fast ein wenig abergläubisch in Betreff dieses alten Nestes.“

„Noblesse oblige, Papa!“ entgegnete sie ruhig. „Was das Geschick uns auferlegt, müssen wir tragen.“ –

Die Anfänge der großen Veränderung, die mit Esperance vorgegangen war, wurden, wie wir wissen, von den Ihren bereits in Dernot beobachtet; halb mit Erstaunen, halb mit Schrecken [274] nahmen sie wahr, daß das lustige und sorglose Kind fast niemals mehr zum Vorschein kam, daß Esperance nie mehr ganz aus einem gewissen ruhigen Ernst hervortrat. Sie war, da sie jetzt im Grunde zuerst in der Gesellschaft erschien, nicht sowohl durch den Rang und den Namen ihres Vaters, als vielmehr durch sich ganz allein sogleich die erste und gebietende Schönheit derselben und verdiente diesen Platz nicht bloß durch die strahlenden Reize ihrer Erscheinung, sondern auch und fast noch mehr durch die glänzende geistige Begabung, durch die Tiefe des Gemüths und die Wärme und Reinheit des Herzens, welche sie in freilich seltenen Augenblicken der Hingebung und des Selbstvergessens zuweilen mit reizendster Unbefangenheit sichtbar werden ließ.

Da sah man dann wohl, daß „die Herrin von Dernot“, wie man sie jetzt noch häufiger und mit größerem „Empressement“ hieß, das Urtheil, das über sie bald in diesen Kreisen umging, nicht verdiente: sie war weder stolz oder gar hochmüthig, noch kalt und schroff, weder bewußtvoll hier und unempfindlich da, noch herrisch oder spöttisch. Und wenn dies von Einsichtigeren doch auch in der Gesellschaft anerkannt wurde, so flüsterten Andere ihr bald lobend, bald tadelnd nach, daß das starre Regiment, das der Vater übte, und seine unerbittliche Verfolgung jeder freien Regung auch unter den Männern keinen entschiedeneren Gegner hätte, als es seine junge Tochter war.

Hier war der Punkt, wo sie neuerdings auch von der alten Tante und Eugenie geschieden war, in welchen Beiden das alte Regime seine treuesten und rücksichtslosesten Anhängerinnen fand: Tante Kunigunde verstand es entweder gar nicht oder fühlte sich von einem Schauder durchdrungen, wenn von einem Recht der Regierten gegen ihre Regierer die Rede war, und Eugenie hatte von jeher zu viel aristokratische Anlagen gehabt, als daß sie nicht durch das, was sie ringsumher sich regen sah, zu Hohn und Verachtung sich hätte aufgereizt finden sollen. So hatten sich die Vertraulichkeit und Einigkeit zwischen den beiden jungen Mädchen nach der Rückkehr von Dernot allmählich immer mehr in Gleichgültigkeit und Fremdheit verloren, ja zum mindesten auf Seiten Eugeniens offenbarte sich eine von Tag zu Tag steigende Kälte und endlich wirkliche Abneigung, welche sich nicht selten in herben Worten Luft machte und durch die ihr von Esperance meistens entgegengesetzte Ruhe oder Gleichgültigkeit nicht verringert wurde. Eugenie hatte ihres Zornes kein Hehl, daß die Cousine ihre Triumphe in einer Gesellschaft feiern möge, auf die sie herabsehe, ja auf deren Sturz sie hoffe – so warf sie wohl erbittert ihr vor, ohne daß es klar geworden wäre, ob in der jungen Dame sich heimlich nicht auch ein wenig Mißgunst über diese „Triumphe“ Derjenigen regen mochte, welche sie so lange als sorgloses, lustiges und lenkbares Kind unter sich gesehen und nun als die gefeierte Schönheit des exclusivsten Kreises wiederfand.

Vielleicht kam noch etwas Anderes hinzu, Eugenien zu verstimmen. Wie fast alle Uebrigen hatte auch Herr von Heimlingen viel Bewunderung für den neu aufgegangenen Stern gezeigt und damit auf Esperance ebensowenig Eindruck gemacht, wie irgend ein Anderer. Der junge Herr hatte sich – erst in Folge dieses Mißerfolges – sodann ernstlich für die schöne Cousine entschieden und die politische Uebereinstimmung beförderte die der Herzen. Eugenie hatte ihn angenommen und mochte, wie es in solchen Fällen ja wohl einmal passirt, weniger dem Verlobten sein Schwanken und seine Neigung zu der Verwandten, als dieser die Zurückweisung derselben anrechnen, zumal Esperance unvorsichtig genug gewesen war, die Wahl Eugeniens leise als eine überaus genügsame zu bezeichnen.

„Zu Deiner Höhe der Anschauung kann ich mich freilich nicht erheben,“ hatte Eugenie, vermuthlich in Bezug hierauf, einmal bitter spottend bemerkt.

„Ich verstehe Deinen Spott nicht,“ erwiderte Esperance kalt.

„Nun Liebste – gestehe es nur: bei Dir gipfelt doch alles in dem Plane, Deine Rechte als freie Bürgerin jenem Jägerjüngling zu geben und damit auch das Unrecht zu sühnen, das Du ihm, dem rechten Erben, als einstweilige Besitzerin Dernots thust. Gestehe es nur – ich merkt’ es wohl! Und jetzt – seid ihr einig?“

Da entgegnete das junge Mädchen mit stolzem Blick: „Ich habe in jenem jungen Mann mehr Bildung, Herz und Verstand, mehr Edelmuth und Männlichkeit gefunden, als ich den Herren unseres Parkets leider nachzurühmen vermag, und ich glaube, nein, ich weiß, daß Diejenige, welche er einst heimführt, ein glücklicheres Weib sein wird, als die Gattin eines jener – armen Wappenträger. Von mir, Liebste, ist dabei übrigens keine Rede,“ fügte sie mit einem ruhigen Lächeln hinzu. „Er hat meine Liebe und meine Hand noch nicht verlangt, und ich habe daher auch noch keine Veranlassung gehabt, mich über das Für und Wider zu entscheiden.“

„Gottlob, daß die Deinen Dir eine solche Entscheidung erleichtern würden!“ meinte die Cousine hochmüthig.

Und mit dem früheren ruhigen Stolze erwiderte das Mädchen: „Liebe Eugenie, beunruhige Dich nicht um nichts, da der Fall weder für mich, noch für die Meinen vorhanden. Deren Entscheidung würde ich gewiß nicht beanspruchen, selbst die Deine und Heimlingen’s nicht.“

Eugenie war blaß geworden vor Zorn, aber sie schwieg, da sie fühlte, daß sie ihrer Cousine auch in solchem Streit nicht gewachsen sei. Sie verfolgte indessen den Gedanken an eine Verbindung Esperancens mit den Dernoter Bekannten, obgleich nur die augenblickliche gereizte Stimmung denselben hatte in ihr aufsteigen lassen. Allein ihr Beobachten blieb umsonst. Von Dernot schien kein Laut herüberzuklingen und Esperance selbst von ihrem Bruder keine Kunde zu haben. –

Der Winter ging herum, ohne daß sich in diesen Zuständen und Stimmungen etwas zum Besseren gewandt hätte. Im Gegentheil traten die Einzelnen wie die Parteien einander immer schroffer gegenüber, und das eiserne Regiment Treuenstein’s erregte nicht mehr bloß die Erbitterung und den Haß der Volkspartei, sondern erfüllte allmählich auch die Anhänger des Systems durch des Ministers Maß- und Rücksichtslosigkeit mit steigender Besorgniß.

Die Nachricht von der Pariser Revolution und Louis Philipp’s kläglichem Ende hatte auf die Bevölkerung in Stadt und Land einen Eindruck gemacht, dem die Regierung kaum noch zu widerstehen vermochte. Der Wiener, noch mehr der Berliner Sturm aber brachten auch hier die Geduld der Einen und den Widerstand der Anderen zum Ende, und die Massen, welche vor Kurzem noch durch mäßige Concessionen zu beschwichtigen gewesen wären, erhoben sich nunmehr nicht minder rücksichts- und schrankenlos gegen die verhaßten Unterdrücker. Treuenstein’s Entlassung half nichts mehr, man wollte sich an dem gehaßten Mann selber rächen, sein Stadtpalais wurde verwüstet und angezündet und am nächsten Tage machten sich wilde Schaaren auf, den Exminister in Heitersberg, wohin er geflohen sein sollte, mit ihrer Strafe heimzusuchen.

Als der Baron seine letzten energischen Vorschläge vom Fürsten verworfen sah, als er vernahm, daß auch die Truppen abgefallen seien, und, mit seiner Entlassung in der Tasche, vor der brüllenden Menge noch kaum sein Palais erreicht hatte, wurde er von einem jener oben erwähnten Zufälle niedergeworfen. Zu ihm schien sich diesmal jedoch auch noch ein wirklicher Schlaganfall gesellt zu haben, da der Minister in einem halbbewußtlosen, selbst körperlich gebrochenen Zustande blieb.

In diesen traurigen Stunden war Esperance die Einzige, welche weder die Geistesgegenwart noch den Muth verlor. Sie ließ den willenlosen Vater und die Ihren nach Heitersberg schaffen; sie sorgte dafür, daß wenigstens der werthvollste Besitz noch rechtzeitig aus der Residenz geflüchtet wurde, und sie war es endlich, die auch auf Heitersberg befahl, ordnete, retten ließ, was noch möglich war – das Wohin erfuhr nur der Verwalter, der die Wagen expedirte.

Am Abend dieses sorgenvollen Tags, als man erfuhr, daß die Haufen wirklich nach Heitersberg aufgebrochen waren und zur Nacht anlangen mußten, ließ sie die Wagen für die Familie vorfahren, welcher sich der gleichfalls geflüchtete Heimlingen angeschlossen hatte – die Vermählung des Paars war auf diese Tage anberaumt gewesen. Für sich selbst hatte sie einen Platz neben dem Vater in der „gelben Chaise“ erwählt und nahm nun mit vertrauenerweckender Ruhe Abschied für die Fahrt von den Uebrigen im schwerbepackten Reisewagen.

„Wohin führst Du uns?“ schluchzte die Tante.

„Nach Dernot,“ lautete die muthige Antwort. „Nur von dort aus erreichen wir noch die Grenze.“

„Zu den Feinden – den Demagogen – den Barbaren?“ rief Eugenie heftig. „Nie –“

[275] „Wie Ihr wollt,“ sprach Esperance unverändert. „Den Vater bringe ich dorthin und bürge für seine Sicherheit. Als Minister kennen sie ihn dort nicht; die paar alten Thoren, die ihm feind, zählen nicht.“ Und sich abwendend und ihren Platz neben dem Baron einnehmend, fügte sie gegen Jonas, welcher auf dem Bock saß, entschlossen hinzu: „vorwärts, nach Dernot!“




9. Von der Not.

Es sah fast danach aus, als habe das Mädchen zu viel gehofft und verheißen: je weiter man auf der schlimmen Reise kam, desto bedenklicher erschien das bestimmte Ziel, denn die Aufregung und Gereiztheit nahm mit der Entfernung von der Residenz nicht ab, und man erkannte erst hier, wie unheilvoll das gestürzte Regiment gewirkt und wohin es die schlichten, geduldigen oder indifferenten Menschen dieser Gegenden geführt hatte. Man hatte böse Stunden zu erleben und mußte es wohl als ein Glück schätzen, daß Treuenstein seit vielen Jahren nicht in diese Landstriche gekommen und mit den Seinen niemand bekannt war. Und abgesehen davon, daß der Weg, welcher ihnen übrig blieb, schon an und für sich nicht der nächste, wagte doch selbst Esperance nicht, die Wagen stets der wirklichen Straße folgen zu lassen. Hie und da hatte man weite Umwege zu machen, um die belebteren und daher auch aufgeregteren Orte zu vermeiden, und man durfte es wohl eine Gunst des Geschicks heißen, daß man in dem kleinen Dorfe, wo man endlich rasten mußte, fast keinen männlichen Bewohner außer dem Pfarrer daheim und in diesem einen wackeren Mann fand, welcher nicht auf die „Gefährlichkeit“, sondern auf die Hülfsbedürftigkeit seiner plötzlichen Gäste sah und es ihnen möglich machte, ein paar Stunden lang in Sicherheit zu ruhen.

Die Grenze ließ sich von hier aus durch das Gebirge in ein paar Stunden erreichen, und Eugenie und Heimlingen drängten von neuem sie zu überschreiten und im Nachbarlande einen ruhigeren Weg zu suchen.

So fuhren sie wieder weiter und gelangten endlich dahin, wo der Weg nach Dernot sich von der bisher verfolgten Straße trennte. Da jammerte Kunigunde noch einmal und Eugenie und Heimlingen widersetzten sich mit herben Worten der Weiterfahrt, da sie unterwegs in einer kleinen Waldschenke vernahmen, daß es in der Dernoter Gegend noch unruhiger zugehe als anderswo; sie erklärten, daß man Esperancens Eigensinn und Thorheit bereits viel zu viel nachgegeben habe, und Eugenie bemerkte in einem halb schroffen, halb wegwerfenden Ton, es sei Zeit, daß man sich von der Herrschaft eines phantastischen Kinderkopfes emancipire – sie seien wieder nüchtern geworden.

„Schlimm genug, daß Ihr Euch berauschen und betäuben ließet, wie Ihr’s waret,“ entgegnete Esperance kalt. „Macht es wie Ihr wollt, ich sagte Euch das schon gestern, in Heitersberg. Ueber den Vater, wie er jetzt ist, und über mich selbst bestimme ich, und wenn Ihr, die Tante und Du, meint, fortan – besser ohne uns zu sein“, fügte sie nach einem momentanen Zögern hinzu, „so trennen wir uns.“

„Fahrt zu!“ rief Eugenie erbittert aus, „hier rechts, gegen die Grenze.“

„Nach Dernot, Jonas,“ sagte Esperance kalt, in ihren Wagen steigend, und die müden Pferde zogen von neuem an.

„Kerl – hast Du den Befehl nicht gehört? Du unterstehst Dich –“ rief im nächsten Augenblick der Kammerjunker aus dem Schlage höchst entrüstet dem Kutscher, der sein Gespann dem voraustrabenden Esperancens auf den bereits tief dämmerigen Waldweg folgen ließ.

Der Mann, gleichfalls ein langjähriger Diener des Hauses, wandte sich vom Bock ein wenig zurück und erwiderte respectvoll, aber ohne Zögern: „Um Verzeihung, Herr Kammerjunker, ich diene dem Herrn Baron und unserem gnädigen Fräulein. Wo die bleibt, da bleib’ ich auch.“ –

„Dies ist nicht mehr zu ertragen!“ murmelte Eugenie voll bitteren Zorns und warf sich, den Shawl fest um die Schultern ziehend, in die Ecke zurück. „Sollen wir uns willenlos von einem kindischen Geschöpf und einem unzurechnungsfähigen –“ sie verschluckte das Folgende.

Aber Tante Kunigunde hatte das Wort nicht überhört und raffte sich plötzlich auf das Ueberraschendste aus ihrer Betäubung auf. „Mein liebes Kind,“ sagte sie ungewöhnlich scharf, „ich dächte, Dein unglücklicher Onkel dürfte allerdings die höchste Rücksicht von Dir erwarten. Esperance hat Recht – unser Platz ist unbedingt an seiner und ihrer Seite – der meine wenigstens gewiß, ma chère, – und bisher, leugne es, ma nièce, haben wir keinen Grund, das Kind kindisch zu heißen. Sie hat uns gerettet, uns arme Hasen.“

Sie fuhren weiter, immer tiefer in das Gebirg und in den Wald, der sich hier fast ununterbrochen über die Höhen und durch die Thäler breitete, und der Abend brach herein und die Sterne fingen an zu leuchten, mit mattem Licht den Weg erhellend, dem sie zu folgen hatten. Niemand begegnete ihnen und rings umher war es still; nur das Rollen der Wagen und das Rieseln der Gewässer, welche die wunderbar milde Luft überall den hier noch lagernden Schneeresten entströmen ließ, unterbrach das Schweigen. Sie mußten schon in der Nähe von Dernot sein, das sie diesmal freilich von der entgegengesetzten Seite zu erreichen suchten. Jonas glaubte die Gegend zu erkennen, die er vor vierzig Jahren, nach seinem Ausdruck, wie seine Tasche gekannt. Verändert hatte sich in diesen Revieren seitdem schwerlich viel.

Indem erhob sich der alte Bursche ein wenig von seinem Sitz und sah in den Weg hinaus, auf den eben durch das laublose Gezweig der alten Bäume der erste Mondenstrahl silberhell herabsank. Dann wandte er den Kopf etwas gegen den Wagen und flüsterte: „Da steht einer und guckt uns entgegen, Fräulein, und es mögen noch mehrere im Busch stecken. Es blitzt dort was – wenn’s Gesindel wäre, Fräulein –“

„Fahrt ruhig weiter,“ unterbrach ihn Esperance. „Erwarten kann uns hier niemand, und im Uebrigen haltet Eure Waffen bereit.“ Das leise Knacken eines Pistolenhahns bewies, daß das entschlossene Mädchen selbst der gegebenen Weisung zuerst nachkam. Dann zog sie die Decke höher über den stumpf hinliegenden Vater und ließ auf seiner Seite das die Vorderöffnung des Wagens schließende Fenster aus dem haltenden Riemen herab, während das an ihrer Seite geöffnet blieb.

Sie sah den nächtlichen Späher jetzt gleichfalls; da der Wagen nahte, trat er von der Straße an den Waldrand zurück, und im nächsten Augenblick sagte seine gedämpfte Stimme: „Halt! Wohin wollt Ihr? Ihr müßt Euch verirrt haben –“

„Burgsheim!“ sprach Esperance mit einem wunderbaren, nicht lauten Ton, und doch klang daraus etwas wie ein innerliches Aufjauchzen.

Der Mann hatte den Namen gehört. „Wer ruft mich?“ fragte er und sprang an den haltenden Wagen heran, den Kopf vorbeugend, um die Sprecherin zu erkennen. Das ward ihm nicht schwer, denn auch sie beugte das Gesicht aus dem Wagen, und auf der ein wenig freiern Stelle des Halteplatzes war das Nachtdunkel durch die Mondstrahlen zur Genüge gelichtet. „Um Gotteswillen, gnädiges Fräulein – Sie! – hierher!“ rief er hörbar erschrocken aus.

„Ich flüchte meinen armen Vater“, sagte sie.

„Hieher – nach Dernot?“ rief er von neuem.

„Ich mußte,“ unterbrach sie ihn. „Es war wie eine Stimme von oben, die es mich hieß. Und wenn der Vater Schutz suchen muß, wo soll er’s, wenn nicht bei seinem Kinde? – Was er besaß, scheint Alles verloren. Dernot hat er mir gegeben – vielleicht darf ich es uns erhalten.“

Burgsheim war ein paar Augenblicke still. Dann fragte er: „Und Ihr Herr Vater ist krank und bei Ihnen, Fräulein?“

„Ja, hier im Wagen und schlimmer als krank, körperlich und geistig gelähmt.“ Und das Haupt schüttelnd, fügte sie die leisen Worte hinzu: „Ich durfte das laut sagen, er weiß nichts von uns.“

Und wieder nach einer Weile sprach Franz zu ihr: „Sie haben vielleicht Recht gehabt, zu uns zu kommen, Fräulein. Vielleicht bringt Ihre Gegenwart die Ruhe und Vernunft zurück, denn ich hab’s erfahren: man denkt hier noch mit viel Liebe an die alte ‚Herrin von Dernot‘, und seit man Sie im vorigen Herbst kennen lernte, liebt man auch die neue und hängt an ihr. – Jetzt aber, zur Ruhe und in Sicherheit,“ brach er ab. „Ich werde Sie führen, die Stunde ist gut und der Weg auch, Sie können das Schloß im Geheimen erreichen und dort verborgen bleiben. Denn das Geheimniß mache ich Ihnen für Sie und Ihren Vater zu Pflicht,“ schloß er. „Sie riskiren sonst das Schlimmste: Wir müssen für Sie werben. Vertrauen Sie mir, Fräulein?“

[276] „Ja,“ versetzte sie, ihm von neuem die Hand bietend.

„Gut; also vorwärts,“ sagte er, dem Kutscher zuwinkend. „Mein Begleiter, – es ist ein Holzwärter – kann das Revier unter Augen behalten. Er ist sicher. Sind Sie es Ihrer Begleiter auch, Fräulein?“ Sein Auge wandte sich auf den folgenden Wagen zurück.

„Ja,“ entgegnete sie, einfach wie vorhin, und setzte dann in hartem Tone hinzu: „meine Verwandten dort hinten, die müssen sich fügen. Oder sie gehen.“ –

Der Zug ging weiter durch das Gebirg’ und den Wald, der nun, da sie in die Thäler hinabgelangten, sie immer dichter und höher umfing. Der ortskundige Begleiter war zur rechten Zeit gekommen, Jonas hätte sich hier niemals mehr zurecht gefunden. Nur einmal blickte[WS 1] in der Ferne, durch die alten Stämme ein Licht: „Es ist die Försterei,“ sagte Franz, der neben Esperancens Wagen ging, „und zur Noth könnten Sie auch dort bleiben. Der Förster Heiter ist ein lustiger, aber treuer Mann.“

„Ich muß nach Dernot, das ist mein und da ist mein Platz,“ versetzte das Mädchen stets mit der gleichen Entschlossenheit und Ruhe. Sie sprach sonst nicht mehr auf dem Wege.

Das Dorf, das übrigens völlig still und fast schon ganz dunkel dalag, umfuhren sie und gelangten den Schloßhügel hinauf vor das verschlossene Thor. Meister Tobias, da er endlich erschien und erfuhr, wer ihn noch so spät heimsuche, bekam einen von seinen Schreckensanfällen, der jedoch diesmal glücklicherweise schneller vorüberging denn vordem – als er die junge Herrin an der Spitze seiner Gäste sah, und noch mehr, als er den gestrengen Gebieter in einem Zustande fand, welcher denselben als durchaus ungefährlich erscheinen ließ, zeigte er sich sehr beruhigt und entwickelte eine Art von Theilnahme, Rührigkeit und sogar Gewandtheit, die selbst in Esperancens ernsten Zügen mehr als einmal ein leises Lächeln hervorzurufen vermochte und Herrn von Heimlingen zum wirklichen Lachen brachte, obgleich ihm dasselbe den strafendsten Blick von Eugenien eintrug. Daß Katharine sich auch jetzt als die Alte erwies: voll schicklicher Herzlichkeit und Theilnahme, voll Geistesgegenwart und stiller, wohlthuender, alles bedenkender und alle befriedigender Thätigkeit, dessen brauchen wir wohl kaum zu erwähnen.

„Da sind wir wieder, Mutter,“ sagte Esperance, als sie vor allen Dingen den Baron in’s Haus und hinauf geschafft und es dem armen Leidenden mit der Hülfe des alten Kammerdieners so bequem gemacht hatte, wie möglich. „Ihr seht wohl, die alten von der Not sind noch nicht ausgestorben – oder vielmehr,“ unterbrach sie sich mit beinah finsterem Lächeln, „sie leben wieder auf.“

„Fräulein,“ erwiderte die Matrone, und ihr Aug’ umfaßte das Mädchen mit seinem tiefsten und liebevollsten Blick, „darin sind wir Menschen alle ihre Kinder, und Sie – das ist richtig, – Sie sind das echteste von allen, die rechte Herrin von Dernot. Aber ich sah es damals: der Herrgott hat Ihnen die hellen Augen gegeben und das fröhliche und doch feste Herz – die Euphemia hatte das nicht! – und damit werden Sie’s gewinnen.“

„Mutter, fröhlich ist mein Herz nicht mehr,“ sagte das Mädchen ernst.

„Aber fest und unverzagt, Fräulein,“ versetzte Katharine ruhig, „und ein solches findet auch seine Fröhlichkeit immer einmal wieder.“

„Esperance ging von hier in den kleinen „Salon“ hinüber, wie sie im Herbst das als Wohnzimmer benützte Gemach geheißen hatten und das sich auch jetzt wieder als das wohnlichste in dem alten Hause erwies, freundlich erhellt und von dem flammenden Holzstoß im Kamin schon leise durchwärmt, so daß die drei Menschen, welche sie darin traf, alle Veranlassung hatten, freundlichere Gesichter zu zeigen als während der mehr als vierundzwanzigstündigen, angreifenden, gefahrvollen Reise. Heimlingen kam dem Mädchen mit großer Artigkeit entgegen und rückte einen Stuhl für sie in die Nähe des Feuers. „Sie müssen sich nothwendig Ruhe gönnen, Cousine,“ sagte er in einem Tone, der Esperance durch seine Herzlichkeit überraschte. „Sie dürfen sich nicht aufreiben – es scheint hier ja wirklich ruhig und sicher zu sein für unseren armen Kranken. Wie steht’s mit dem Onkel?“

„Er scheint die Fahrt glücklich überstanden zu haben,“ erwiderte sie; „ich finde keinerlei Veränderung – er ist wie unterwegs völlig theilnahmslos und kennt, glaub’ ich, niemand. Jetzt freilich,“ sprach sie, flüchtig die Brauen zusammenziehend, weiter, „darf es nicht so fort gehen, er muß ernstliche Hülfe haben. Wir wollen das sogleich in Ordnung bringen.“ Sie verließ das Gemach und kehrte nach einer Weile mit Burgsheim zurück. Und nachdem sie den jungen Mann der Tante und Heimlingen kurz vorgestellt, sagte sie: „Sie machten die Sicherheit unseres Aufenthalts von der strengsten Bewahrung des Geheimnisses abhängig, mein Freund. Vorhin schwieg ich – nun muß ich jedoch eine Ausnahme für den Arzt verlangen, dessen mein Vater unbedingt bedarf. Doctor Hallberg erschien mir im Herbst als ein Mann von Kopf und Herz, bei dem wir keine Gefahr laufen werden. Sie kennen ihn näher, dächte ich. Sie – setzen Sie Ihren Beistand von heut Abend damit fort! – müssen ihn herschaffen.“

Burgsheim schüttelte mit sorgenvollem Ausdruck den Kopf. „Und gerade in jenem Nest ist die Aufregung so toll wie möglich,“ bemerkte er. „Wenn sie dort erfahren oder nur ahnen, daß Seine Excellenz hier weilt, so haben wir sie auf dem Halse.“

„Das ist die Sicherheit von Dernot, wo sie den Minister nicht kennen!“ sagte Eugenie mit herbem Spott.

Die Antwort, welche auf Esperancens Lippen schwebte, wurde zu des Mädchens verwunderter Ueberraschung durch Heimlingen abgeschnitten. Nach einem – man hätte sagen mögen, gleichgültigen Blick auf seine Braut sprach er in leichtem Ton: „Aber weshalb sollten sie erfahren und ahnen? Wer von der schweren Krankheit des Ministers nichts erfuhr, wird ihn bestimmt nicht mehr im Lande glauben, und daß seine Familie sich hierher auf ihr altes Besitzthum geflüchtet, kann nicht auffallen, so wild wie es überall, besonders in größeren Städten, zugeht. Den Minister allein auf einige Zeit, bis sein Zustand sich entschieden und wieder mehr Ruhe über die Menschen gekommen, in diesem alten Nest zu verbergen und ihm den Neugierigen gegenüber einen andern Patienten zu substituiren, sollte, wenn der Arzt sicher ist, doch nicht schwer sein, dächte ich.“

In Esperancens Augen blitzte etwas auf wie eine wehmüthige Freude. „Cousin, so dachte auch ich in der Eile,“ sagte sie und fügte lächelnd hinzu: „ich will gern diese Patientin sein.“

„Sie? Behüte Gott, Cousine! Sie müssen gesunder sein als alle übrigen,“ erwiderte der Kammerjunker scherzend. „Jeder von uns anderen wird die Rolle gern übernehmen. Schaffen Sie uns den Arzt, Herr Burgsheim.“

„Sie scheinen zu vergessen, mein Freund, daß wir nur gezwungen hierher kamen,“ bemerkte Eugenie mit leicht gerötheten Wangen, aber in eiskaltem Ton. „Wir werden hoffentlich Mittel finden –“

„Aber sie nicht benützen, wenn sie dazu dienen sollen, den Oheim zu verlassen, dem wir so viel verdanken,“ unterbrach Heimlingen sie mit dem ruhigsten Ausdruck, der trotzdem jede Einwendung auszuschließen schien. „Ich bekenne demüthig,“ schloß er dann lächelnd, „daß ich in der Aufregung oder Abspannung der langen Fahrt vorhin selber mich ungeduldig zu Fluchtgedanken hinreißen ließ. Allein ich büße jetzt ab. Sie haben mich beschämt, Tante Kunigunde, und Sie, Cousine, bewundere ich. – Den Arzt, Herr Burgsheim. Ich will, wenn’s nöthig, selber der Kranke sein.“

(Fortsetzung folgt.)




Ein deutscher Handwerksmann.


An einem sonnigen Märztage des Jahres 1516 ging ein einsamer Wanderer mit eilenden Schritten auf der viel befahrenen Heerstraße, die durch den großen Reichsforst führte, der bis fast an die Thore der alten freien Reichsstadt Nürnberg sich erstreckte. „Des Reiches Bienengarten“ hieß man den Forst – und in der That! schon gaukelte da und dort eine Biene vor dem Wanderer her, gerade so arbeitsam und auf Erwerb bedacht wie die fleißigen Bürger von Nürnberg, die auch durch alle Zonen ruhelos schwärmten, um das Köstlichste, was sie fanden, zusammen zu tragen, es dann zum Schmuck der Heimath aufzuhäufen und mit Stolz zu genießen.

[277]

Hans Sachs.
Nach dem Oelbilde von Karl Otto in München.

Freilich war der Wanderer kein zarter Troubadour, kein geschniegeltes Poetlein, kein genialer Sonderling – er war ein einfacher Schuhmachergesell Namens Hans, der Sohn des ehrsamen Schneidermeisters Hans Sachs, auf dessen dringendes Verlangen er jetzt zurückkehrte in seine Vaterstadt, sein Handwerk hier zu betreiben, nachdem er in fünfjähriger Gesellenwanderung auf die Meisterschaft sich vorbereitet. Allerdings hatte Hans Sachs, der Sohn auch mehr gelernt, als allein die Handgriffe seines Handwerkes. Er hatte bis zu seinem fünfzehnten Jahre die lateinische Schule in Nürnberg besucht und war für den Gelehrtenstand bestimmt [278] gewesen. Aber nach einer heftigen Krankheit erschienen fernere Geschäftsanstrengungen für ihn bedenklich und auf den Wunsch seiner Eltern wählte er ein leichtes Handwerk und ward Schuhmacher.

Die Zunftordnungen der damaligen Zeit schrieben bei allen Handwerksfeierlichkeiten eine Menge Sprüche, Gesänge und Reden vor, welche es allein schon nöthig machten, daß die Reimkunst auch mit diesen Kreisen in Verbindung trat. So blühte denn auch in Nürnberg, das ja in Allem, was Kunst, Wissenschaft und Bildung hieß, andern Städten voraus war, eine edle Sängerzunft, die in der Katharinenkirche an Sonn- und Feiertagen ihr Festsingen hielt. Hans Sachs ließ sich in sie aufnehmen und fand in dem Meistersänger L. Nunnenbeck, einem Leineweber, seinen Lehrer. In dieser Kunst hatte er sich nun auch auf seinen Wanderjahren an andern Orten versucht, zuerst in München öffentlich mit einem Liede zum Preise Gottes, das ihm großes Lob bei allen Kennern eintrug, so daß er von da an, erst zwanzig Jahre alt, in München die Singschulen mit verwalten half und sich in die Reihen der Sänger stellte, obwohl er nur in dem Freisingen, welches den eigentlichen Wettgesängen vorausging, sich hören lassen durfte.

Aehnliche Anerkennung hatte er auch noch anderer Orten gefunden, wo er überall gern nach redlich vollbrachtem Tagewerk des Abends in den Singschulen mit wirkte; wie er denn überall gern gesehen war, um seines heitern, offenen, ehrlichen Wesens willen. Darum war es ihm auch fast überall in der Fremde wohl gegangen, überall hatte er Meister gefunden, die mit ihm zufrieden waren, und treue Mitgesellen, die Leid und Freud gern mit ihm theilten. Aber wie weit er auch das deutsche Land nach allen Richtungen, nach Süden und Norden durchwandert, es gab doch keine Stadt, die sich mit seinem heimischen Nürnberg hätte vergleichen können, und als er jetzt bei seiner Rückkehr die herrlichen Thürme vor sich liegen sah, den hohen von St. Sebald, den zierlichen von St. Lorenz, da kniete er vor Freuden weinend nieder und küßte die theure Heimatherde, küßte den Wanderstab, der ihn hierher zurückgeleitet, und gedachte des alten Nürnberger Spruches:

Wer einmal nur in Nürnberg war,
Der käm’ gern wieder jedes Jahr!

Drei Jahre waren vergangen, seit Hans Sachs wieder in die Heimath zurückgekehrt. Er war nun nach abgelegtem Meisterstück als Meister des löblichen Schuhmacherhandwerks eingeschrieben, hatte sich in der Vorstadt von Nürnberg, welche dem Frauenthor zunächst liegt, eine Wohnung zugerichtet und arbeitete tagüber fleißig in Leder mit Pfrieme, Pech und Ahle; aber wenn der Feierabend kam, dann wanderte er entweder auf die Zunftstube zu den Meistersängern, oder er saß vor seiner Thür auf dem runden Ecksitz unter dem zierlich geschnitzten Dächlein, das den Hauseingang vor Regen und Sonne beschützte. Da schlug der junge Meister wohl auch das linke Bein über das rechte, wie am Tage bei der Arbeit, die eines Stützpunktes bedurfte, aber jetzt brauchte er diesen nur für seine Schreibtafel, auf die er seine Lieder dichtete und zwar anfangs ganz regelrecht nach der von den Meistersängern vorgeschriebenen Form, wie sie auch ihm gelehrt worden war, bald aber frisch und frei in selbsterfundenen Weisen und unbekümmert um die alten Regeln der Schule.

Als er nun einmal – am 4. Mai 1518 – auch so dasaß und dichtete, als der Frühling jenes Sehnen in ihm mehr und mehr aufregte, das nach einem Glück verlangt, welches kein Wesen für sich allein finden kann – da schrieb er „zum Besten der frommen Jungfrauen Nürnbergs“ ein Gedicht, „Klag der vertriebenen Frau Keuschheit“. Die Keuschheit ist darin als eine von Frau Venus und ihren Dienerinnen vertriebene Königin geschildert etc. Er hatte sein Werk noch nicht ganz beendet, als zwei junge Mädchen des Weges kamen, von denen das eine noch die Stiefeln ihres Vaters bei Meister Sachs abholen wollte und nun nur schüchtern fragte: Ob sie dieselben noch bekommen könne, da sie sich bis nach dem Feierabend verspätet; aber sie sei aus Wendelstein und wolle nicht vergeblich nach Nürnberg gekommen sein.

Hans Sachs war bereit, ihr das Gewünschte mitzugeben und sie folgte ihm in das Haus, indeß ihre Begleiterin, Kunigunde Kreuzer, vor der Thür wartete. Sie sah die Schreibtafel mit zierlichen Versen beschrieben daliegen und konnte sich nicht enthalten, einen Blick darauf zu werfen. Sie war von dem Inhalt gefesselt und, obwohl sie die Kunst des Lesens gelernt, doch nicht so geübt darin, daß sie nicht sich ganz hätte darein vertiefen sollen, und so bemerkte sie die Rückkehr des Meisters nicht eher, als bis er vor ihr stand.

Zum Tod erschrocken und beschämt warf sie die Tafel hin und entfloh wie ein gescheuchtes Reh. Kaum vermochte ihre Begleiterin ihr zu folgen. Hans Sachs wagte es nur mit den Augen. Aber die holdselige, eben erst erblühende sechszehnjährige Unschuld war ihm unvergeßlich, und als der nächste Sonntag kam, fand er sich auf dem Wege nach dem Dorfe Wendelstein, dort forschte er so lange nach ihr, bis er sie gefunden.

Kunigunde war elternlos und arm, und als nach öfterem Begegnen der junge Meister, der zwar nur erst eine kleine Werkstätte, aber schon einen großen Namen hatte, um sie freite, da vermochte sie ihr Glück kaum zu fassen! In jenem Gedicht hatte sich ein so reiner, treuer Sinn ausgesprochen, ein so edles keusches Gemüth, daß sie sich und ihr eigenes reines Herz einem solchen Manne in seliger Zuversicht vertrauen durfte. Freilich waren die Eltern desselben gerade nicht sehr erfreut, als er ihnen ein so armes Mädchen als künftige Schwiegertochter zuführte, freilich riethen der Meister Leonhard Nunnenbeck und andere erfahrene Freunde in Poesie und Prosa dem jungen Meister ab, sich in die Sorgen einer solchen Ehe zu stürzen: aber er konnte sich einmal ohne sie keine Freude mehr denken, und im folgenden Jahre zu St. Aegidien waren Eltern, Lehrer und Freunde bei ihm doch fröhliche Gäste, als er sein Hochzeitfest mit Kunigunde feierte. Allerdings kam danach Manches, wie die warnenden Freundesstimmen gesagt hatten: das junge Pärchen mußte sich während des ersten Jahrzehents manchmal kümmerlich behelfen und den ganzen Tag angestrengt arbeiten, um das Nöthigste zu verdienen, – allein es war darum doch nicht minder glücklich in und mit einander und in den Kindern, welche ihm der Himmel schenkte. Als Dichter aber war und blieb er ein Mann, der seine Zeit verstand und mit heiligem Eifer an die Sache des Fortschrittes sich dahingab.

Und welche Ereignisse rüttelten nicht damals in Deutschland die Geister zu neuem Leben auf! Luther war aufgetreten und das Werk der Kirchenverbesserung begonnen worden. In Nürnberg druckte man seine Schriften nach und Viele jauchzten ihm zu; wenn auch der immer vorsichtige Rath aus Furcht vor Neuerungen, die sich auch auf andere als kirchliche Gebiete erstrecken könnten, und aus der Besorgniß, der Kaiser könnte zürnen und Nürnberg nicht besuchen, mit seiner Meinung hinter dem Berge hielt, so gab es doch daselbst genug entschiedene Männer, die sich offen zu Luther bekannten, darunter Albrecht Dürer, der Maler, der in seinen „vier Temperamenten“ das erste evangelische Werk der bildenden Kunst schuf, und Hans Sachs, der Volksdichter, welcher der „Wittenberger Nachtigall“ einen Hymnus dichtete. Wiewohl der Rath es strenge verboten hatte, eines von den Büchern Luther’s ferner in Nürnberg nachzudrucken, auszugeben und zu verbreiten, und wiewohl ein Mandatum Kaiserlicher Majestät mit der bei schwerer Strafe angedrohten Warnung, kein Buch Luther’s irgend feil zu bieten noch zu beherbergen, öffentlich angeschlagen war, so hatte doch der wackere Schustermeister in Nürnberg sich nicht im Mindesten daran gekehrt – noch heute zeigt man einen ganzen Band lutherischer Schriften mit der Einschrift: „Diese Büchlein habe ich, Hans Sachs, also gesammelt, Gott und seinem Wort zu Ehren und den Nächsten zu gut einbinden lassen 1522. Die Wahrheit bleibt ewiglich.“ Es war der zehnte Band seiner kleinen Büchersammlung.

Sein Gedicht „Die Wittenberger Nachtigall“, mit der er als entschiedener Parteimensch hervortrat, verschaffte ihm natürlich die Freundschaft der einen und die Feindschaft der andern Partei. In weihevoller Begeisterung schrieb er evangelische Kirchenlieder, von denen mehrere in die von Luther und Anderen herausgegebenen Gesangbücher übergingen. Und als 1530 sich auch der Nürnberger Rath für die Reformation erklärt hatte und eine evangelische Schule gründete, zu der er sogar Luther’s treuesten Freund Melanchthon mit berief: da durfte sich der Schuhmacher Hans Sachs wohl des Triumphes freuen, daß er gleich von Anfang an das Licht, das aus Wittenberg kam, erkannt hatte.

Im Jahre 1558 finden wir den Meister Hans Sachs mitten in Nürnberg in der Vollkraft seines Schaffens, obwohl er schon dreiundsechszig Jahre alt geworden. Seit achtzehn Jahren hat er [279] sein kleines Häuslein in der Vorstadt verlassen und ist in die Mitte von Nürnberg selbst gezogen. Erst in die Nähe der Lorenzkirche, dann aber in das Mehlgäßlein, unweit des Spitalkirchhofes, wo man noch heute seine Wohnung zeigt und der Gasse nun seinen Namen gegeben. Achtunddreißig Jahre hatte er schon mit seiner theuern Kunigunde in der glücklichsten Ehe gelebt. Von den sieben Kindern, die sie ihm geschenkt und die zum Theil schon erwachsen starben, war nur eine Tochter noch am Leben und bereits verheirathet; blühende Enkel und Enkelinnen gewährten Ersatz für den Verlust der eigenen Kinder. Die Zeit der Mühsale und Sorgen für die häusliche Existenz war vorüber – durch Fleiß, Redlichkeit, Kraftanstrengung und Sparsamkeit hatte sich Hans Sachs zum Wohlstand emporgearbeitet. Neben der Betreibung seines gewöhnlichen Schusterhandwerkes, wozu er immer mehr Gesellen annehmen mußte, hatte er sich auch einen kleinen Kram mit allerhand Lederwerk und fertigem Schuhzeug und „Waaren im Pfennwerth“ zugelegt und bezog die Messen in Frankfurt und anderen Orten. Jetzt hatte er diese Reisen wieder eingestellt und darum mehr Muße für die Dichtkunst gewonnen. Seine Gedichte zählte er schon nach Tausenden. Sein Ruhm als Altmeister und Vordichter hatte in der nürnbergischen Schule wie auswärts mit jedem Tage mehr zugenommen; sein Bildniß prangte seit längst als Zeichen der Anerkennung auf einem besondern Täflein an den Tagen der Singschulen; er selbst hatte eine silberne Kette gestiftet, mit welcher der jedesmalige Sieger im Gesange geschmückt ward, und in allen deutschen Singschulen wurden die von ihm zusammengesetzten meisterlichen Lieder unter seinem Namen als Muster aufgenommen.

Dennoch legte er auf diese „Meistersingerei“ gerade das allerkleinste Gewicht und was er so nur nach den Schulregeln gedichtet, wünschte er auch nicht weiter verbreitet, als innerhalb der Schulen. Er hatte damit nur gezeigt, daß er auch konnte, was die gelehrten Reimschmiede konnten – aber der Vertreter des Volkes, des Handwerkerstandes in seiner Würde konnte mehr.

In ganz Deutschland hatten sich unter den Bürgern kleine Gesellschaften und Verbindungen gebildet, welche unter Anleitung eines Dichters sich zur Aufführung weltlicher Vorstellungen vereinigten, wie es die Mönche zu den geistlichen thaten. In Nürnberg hatten Folz und Rosenblüth solche Schauspiele gedichtet, und Hans Sachs folgte ihrem Beispiel. War irgend eine fröhliche und ehrbare Gesellschaft von Bürgern zusammen, so führten die Gäste selbst diese Stücke vor, die sie dazu sich eingeübt hatten – es waren Liebhabertheater nach heutigen Begriffen. Zu diesem Zweck schrieb nun Hans Sachs eine Menge Schauspiele, die er selbst mit aufführen half und die sich meist durch ihren volksthümlichen Humor, wie ihre ehrliche Moral auszeichnen. Er geißelte darin die Gebrechen seiner Zeit und half so auch auf diesem Gebiet der Wahrheit und Freiheit eine Gasse brechen.

Aber trotz all dieser Leistungen, dieses Rufes und Ruhmes hatte Hans Sachs doch nicht eher, als bis er dreiundsechzig Jahre alt geworden, seine Gedichte durch den Druck veröffentlicht. Endlich geschah dies 1558. Es erschien bei Georg Willer in Augsburg ein Buch unter dem Titel: „Sehr herrliche, schöne und wahrhafte Gedichte, geistlich und weltlich allerlei Art, als ernstliche Tragödien, liebliche Comödien, seltsame Spiel, kurzweilige Gespräch, sehnliche Klagreden, wunderbarliche Fabel, sammt anderen lächerlichen Schwänken etc. 376 Stück, die vormals nie gedruckt, jetzt aber aller Welt zu Nutz und Frommen in Druck verfertigt durch den sinnreichen und weitberühmten Hans Sachsen, ein Liebhaber deutscher Poeterei. Gedruckt zu Nürnberg bei Chr. Heußler 1558.“

Das Buch war schon in zwei Jahren vergriffen, als Hans Sachs auch bereits einen neuen Band zusammengestellt hatte. Aber da traf ihn mitten im fröhlichen Schaffen ein harter Schlag: seine theure Kunigunde starb am 25. März 1560. Monate lang war er in diesen Gram versenkt, den er in Liedern auszusingen suchte.

Er fand die Einsamkeit, die ihn nun umgab, so unerträglich, daß er sich nach anderthalb Jahren wieder verheirathete mit einem jungen Mädchen Barbara Harscherin, der Tochter eines kunstreichen Zinngießers aus Nürnberg. Wenn er ihr indeß auch als Braut ein entzücktes Lobgedicht widmete, so konnte sie ihm doch schon durch den Unterschied der Jahre nicht das trauliche häusliche Glück geben, das er Kunigunden dankte. Dreiundsiebzig Jahre alt gab er den dritten Band seiner Werke heraus und nahm Abschied von der Dichtkunst, aber er lebte noch im stillen Sinnen bis 1576, in welchem Jahre er am 25. Januar starb.

Mit stillen Ehren ward er bestattet und die Pfleger des deutschen Gesanges erhoben auch an seinem Grabe ihr trauerndes Gesellschaftslied. Sein Freund und Schüler Adam Puschmann schrieb ihm einen begeisterten Nachruf, und als der Frühling kam, da sangen und zwitscherten die Vöglein über den freundlich grünenden Grabhügel, in dem ein dreiundachtzigjährer Greis nach wohl vollbrachtem Tagewerk friedlich schlummern mochte, und die Bienen aus dem Reichsforst summten auch um die Blumen, die die liebende Enkelhand auf das Grab gepflanzt. Dein Leben voll Arbeit und Gesang war nicht vergeblich gelebt, wackrer Handwerksmann! und wohl hattest Du Ursache, als Du nach Nürnberg von der Wanderschaft zurückkehrtest, vor Freuden weinend die Vatererde zu küssen, die Dir mehr als sechzig glückliche Meisterjahre gab und ein Andenken, das durch Jahrhunderte währt!
Louise Otto-Peters.




Immerfrisches Obst.


Es war ein wunderschöner Frühlingstag, als ich mit einem meiner Freunde die frisch aufathmende Schöpfung begrüßte. In vollen Zügen schlürften wir den Nektar der würzigen warmen Luft und freuten uns nicht blos der Blüthen, die uns rings umdufteten, wir freuten uns in Hoffnung schon der Früchte, die aus diesen Blüthen wachsen würden. Denn wir waren Beide eifrige Obstzüchter und hatten es im vorigen Jahre schmerzlich beklagt, daß ein harter Spätfrost jene Hoffnung getödtet. Da mußte denn auch, wenn nicht ohnehin die politischen Wirren ein Veto eingelegt hätten, die allgemeine Obstausstellung unterbleiben, die unter dem Vorsitz des pomologischen Koryphäen Ed. Lucas in Reutlingen abgehalten werden sollte.

Nun aber war, schneller als es Menschengedanken erwarten durften, der Friede zurückgekehrt und ließ wieder, wenn auch noch immer dunkle Wolken über den politischen Himmel ziehen, an den fleißigen Ausbau volkswirthschaftlicher Bestrebungen denken.

„Und doch“ – schien mein Begleiter im Laufe unseres Gespräches zu scherzen – „habe ich auch im vorigen Jahre, trotz des Frostes und des Schlachtendonners, eine reiche Obsternte gehalten. Ja, was noch wunderbarer, dieses Obst ist in den herrlichsten Exemplaren bis zu dieser Stunde so gesund und frisch geblieben, als sei es eben erst vom Baum genommen.“

„Nein, nein, ich scherze nicht!“ fuhr er mit der ernsthaftesten Miene fort, als ich ihn mit lächelnden Kopfschütteln ungläubig ansah. – „Schenken Sie mir diesen Abend das Vergnügen Ihres Besuches und nehmen Sie mit einem kleinen Imbiß vorlieb, damit ich Sie durch den Augenschein von der Wahrheit meiner Worte überzeugen kann.“

Ich acceptirte, schon aus Neugierde, die freundliche Einladung. – Als ich kam, ward ich von der liebenswürdigen Gemahlin meines Freundes als willkommener Gast empfangen.

„Der Abend ist so mild,“ sagte sie, „daß wir den Tisch in der Gartenlaube gedeckt haben. Dort werden Sie von meinem Manne erwartet.“

Die Gartenlaube war unser Lieblingsplätzchen, wo wir schon manche genußreiche Stunde mit einander verlebten. Je länger wir diesen Genuß entbehrt hatten, um so lieber eilte ich dem Freunde zu, der mir mit herzlichem Gruße entgegen trat. Zunächst bewunderte ich ein Hyacinthenbeet, das, mit kleinen Tulpen umrahmt, in üppigster Blüthe stand und mit seinen Düften den ganzen Garten erfüllte. Bald aber rief die Hausfrau „zu Tische“. Wir setzten uns und aßen und tranken so vortrefflich, wie ich es stets bei meinem Freunde gewohnt war. Von dem gerühmten Obst jedoch war keine Spur zu sehen.

Endlich hieß es: „Nun, liebe Frau, den Nachtisch, damit ich bei meinem Freunde nicht zum Lügner werde.“ Da nahm sie von einem Seitentischchen ein Tuch, das zwei Krystallschalen bedeckt hatte, und aus diesen Schalen – durfte ich meinen Augen [280] trauen? – lachte mir das schönste, frischeste Obst entgegen, das ich je gesehen. Ich erkannte sogleich die einzelnen Sorten, ohne jedoch zu begreifen, wie sie bis zu dieser Jahreszeit erhalten werden konnten, als seien sie, noch mit dem Morgendufte, der auf ihnen thaute, heute erst gepflückt worden.

Lächelnd beobachtete der Freund meine staunende Ueberraschung. Dann reichte mir seine Gemahlin eine der Schalen, damit ich die seltenen Früchte nun auch versuchen möge.

„Nein!“ wies ich sie höflich zurück. „Es wäre Sünde, solche ausgezeichnete Exemplare mit dem Messer zu zerlegen. Ob aber dieser herrliche Grafensteiner auch noch duftet, wie er sonst mit seinem melonenartigen Geruch ein ganzes Zimmer parfümirt?“

Damit nahm ich den schönen Apfel, um daran zu riechen. Fast aber wäre er meiner Hand entfallen, so überrascht war ich von dem leichten Gewicht der großen Frucht. In demselben Momente merkte ich die Täuschung. Es war künstliches Obst, aber so meisterhaft nachgeahmt, und von einer so plastisch vollendeten Treue, daß ich mich nicht gewundert haben würde, wenn die Vögel, wie nach den von Zeuxis gemalten Weintrauben, nach diesen Früchten geflogen wären, um sie zu benaschen.

Bald löste sich meine stumme Bewunderung in laute Anerkennung auf. Ich kannte das ‚deutsche Obstcabinet‘ des berühmten thüringischen Pomologen Georg Dittrich, der das Unternehmen seines Landsmannes, des Pfarrer Sickler in Kleinfahner bei Gotha, mit rühmlichem Erfolge fortgesetzt hatte, indem er die anfangs in Wachs bossirten Früchte wegen der Zerbrechlichkeit dieses Materials später in Pappmasse nachbilden ließ. Ich wußte aber auch, daß dieses verdienstliche Unternehmen, welches nach Dittrich’s Tode († 1842) der Thüringer Gartenbauverein in Gotha noch eine Zeit lang fortgeführt hatte, schon seit Jahren eingeschlafen war, obgleich es der Charakteristik der deutschen Obstsorten wesentlichen Vorschub leistete. Seitdem behalf man sich, um irgend einen Ariadnefaden im Labyrinthe der deutschen Pomologie zu gewinnen, mit colorirten oder nicht colorirten Abbildungen der verschiedenen Früchte, die jedoch bei aller stereometrischen Treue die plastische Darstellung niemals ersetzen und dem vergleichenden Anschauungsvermögen nur unvollständig zu Hülfe kommen. Aber eine solche Portraitähnlichkeit der Natur, wie sie mir in jener Gartenlaube entgegentrat, als habe die Kunst der Photographie plastische Gestalten angenommen, hatte ich noch nicht gesehen und begriff sofort, wie eine Sammlung solcher Früchte nicht blos für den Pomologen, um sich in dem chaotischen Gewirre der so außerordentlich verschieden genannten Obstsorten zurechtzufinden, sondern auch für solche Lehranstalten, welche den Obstbau theoretisch und praktisch pflegen und fördern wollen, und somit für die wissenschaftliche, wie für die national-ökonomische Bedeutung der Obstcultur von unschätzbarem Werthe sei.

Als mein Freund sich eine Zeit lang an meinem freudigen Erstaunen geweidet hatte, drückte er die Hand seiner Frau und sagte: „Sind nicht diese wohlconservirten Früchte ein Kunststück der Wirthschaftlichkeit, womit meine gute Pomona mich am letzten Weihnachtsfeste überrascht? – Aber Scherz bei Seite! Sollten Sie das Arnoldi’sche Obstcabinet noch nicht kennen?“

Freilich hatte ich schon oft davon gehört und gelesen. Vielleicht hatte ich es auch auf irgend einer Obstausstellung flüchtig gesehen. Die Ueberfülle der natürlichen Früchte aber mochte mich verhindert haben, den künstlichen die Aufmerksamkeit zu schenken, die sie in so reichem Maße verdienen. Und doch hat die naturgetreue Nachbildung der edelsten Obstsorten, wie sie der Commercienrath Heinrich Arnoldi in Gotha seit dem Jahre 1856 liefert, überall im In- und Auslande reichliche Anerkennung und Belobung geerntet, und ist zu einem echt nationalen Kunstwerk gediehen, welches die deutsche Pomologie mit Stolz und Freude begrüßen darf. Dennoch ist es noch nicht so verbreitet, wie es seiner Schönheit und seiner Brauchbarkeit wegen verdient, wenn auch sein Absatz sich bis nach England, Rußland, Amerika und Australien erstreckt. In seinem Heimathslande selbst jedoch mag es zwar beachtet und gepriesen, aber doch nur spärlich gekauft worden sein, – sonst würde ich es doch häufiger gesehen haben – so daß schon die Beharrlichkeit, womit der Fabrikant im eifrigen Interesse der Sache das eben so schwierige, als kostspielige Unternehmen fortsetzt, einer ganz besonderen Anerkennung werth ist. Was aber mag der raschen allseitigen Verbreitung entgegenstehen?

Wir konnten uns nicht verhehlen, daß es vornehmlich der Geldpunkt sein dürfte, der sich mit der Kauflust nicht immer in harmonischen Einklang bringen läßt. Jährlich erscheinen drei bis vier Lieferungen des Arnoldi’schen Obstcabinets. Jede Lieferung enthält sechs verschiedene Früchte mit gedruckter Beschreibung, und kostet dermalen zwei Thaler. Bereits sind siebenundzwanzig Lieferungen mit einhundertundzweiundsechszig Obstfrüchten ausgegeben. Wer die Ausgabe dafür nicht scheut, besitzt aber auch eine Sammlung, die eben so viel Nutzen als Vergnügen gewährt. Auch jede einzelne Frucht ist für fünf bis zehn Neugroschen zu haben, und Arnoldi hat sogar dafür gesorgt, daß gerade diejenigen Obstsorten, welche bei den pomologischen Versammlungen zu Naumburg, Gotha, Berlin und Görlitz als die besten und culturwürdigsten empfohlen wurden, in besonderen Collectionen zu beziehen sind.

„Giebt es wohl“ – so mischte sich die Hausfrau in unser Gespräch – „giebt es wohl einen lieblicheren Zimmerschmuck, als diese lachenden Früchte, die uns den Obstgarten gleichsam in die Stube zaubern? In eleganten Glaskästen vereinigt, oder in Etagèren und auf Nipptischen geschmackvoll geordnet, werden sie unausbleiblich alle Blicke nicht nur anlocken, sondern auch fesseln. Wird doch für manche nichtssagende Nippfigur ein hoher Preis gezahlt, warum nicht für ein Kunstwerk, das uns die Natur in ihrer Fruchtbarkeit vergegenwärtigt?“

„Und“ – fiel ihr der Gatte in’s Wort – „sie sind ein Ehrendenkmal deutscher Industrie. In keinem anderen Land der Erde hat das Arnoldi’sche Obstcabinet seines Gleichen. Jene Früchte aber (Aepfel, Birnen, Pflaumen, Kirschen, Pfirsiche, Nüsse), die, ohne Namen und Beschreibung, sowie ohne Rücksichtnahme auf bestimmte Sorten, weniger zur pomologischen Instruction, als zur Decoration der Zimmer und der Tafeln dienen, werden dutzendweise zwei Thaler) verkauft, und empfehlen sich als sinnige Geschenke; wiewohl ich meiner Hausehre zu absonderlichem Danke verpflichtet bin, daß sie mich nicht mit einer solchen Collection abgespeist, wie annehmbar und schön dieselbe sein mag, sondern mit einem vollständigen ‚Cabinet‘ erfreut und beglückt hat.“ Ueber den Werth einer solchen systematisch geordneten Sammlung waren wir einverstanden. Oder wozu legen denn Mineralogen, Botaniker und Entomologen, ohne irgend welche Kosten zu scheuen, naturhistorische Sammlungen an?

Ist nun nicht vor Allem das Obst in seiner reichen Mannigfaltigkeit und Schönheit, sowie in Anbetracht seines Wohlgeschmacks und seiner wirthschaftlichen Verwerthung, einer solchen Beachtung werth? Das Obst aber läßt sich nicht trocknen, wie die Pflanzen, und noch weniger ausstopfen, wie man Thierbälge ausstopft. Hier können blos malerische oder plastische Darstellungen[1] aushelfen. Allein nur die letzteren repräsentiren ein treues Bild der Natur und ersetzen die lebendige Frucht, ohne jemals zu faulen oder einzutrocknen. Dadurch werden sie zu einem wesentlichen Vehikel der Pomologie, die als Wissenschaft ohnedies noch in den Windeln liegt, wie sehr auch einzelne Matadore derselben sich der Pflege des zarten Kindleins angenommen haben. Und doch ist der Obstbau ein nicht zu unterschätzender Factor des Nationalreichthums. Manche Gemeindecasse würde die Einnahmen, die ihr aus den Obstpflanzungen zufließen, kaum entbehren können. Trotzdem liegt die Obstbaumzucht in vielen Gegenden noch so im Argen, daß man es kaum begreift, wie das Volk diese Quelle des Genusses und des Wohlstandes in träger Indolenz versumpfen läßt. Wundert man sich darüber, so heißt es gewöhnlich: Ja, das Obst gedeiht in unserer Gegend nicht. Und warum gedeiht es nicht? Weil man schlechte oder ungeeignete Sorten anpflanzt und die nothdürftigste Pflege versäumt. Dem ersteren Uebelstande will das Arnoldi’sche Obstcabinet abhelfen, indem es sich zu einem sicheren Wegweiser in dem Chaos der pomologischen Nomenclatur erbietet und die zuverlässige Kenntniß der besten Obstsorten vermittelt. Dadurch gewinnt dasselbe einen wissenschaftlichen und einen praktischen Werth von hoher Bedeutung, so daß nicht blos die eigentlichen Pomologen, nicht blos die Obstbaumzüchter und die Obsthändler, sondern auch und vornehmlich alle Lehr- und Lernanstalten, die mit dem Obstbau sich beschäftigen, namentlich die Lehrerseminare und die Ackerbauschulen, ja wohl auch die Volksschulen, worin [281] dieser Unterrichtszweig betrieben wird, einen Schatz daran haben werden, der die darauf verwendete Ausgabe reichlich verzinst. Welche Freude schon für das Auge, wenn es die schönen Früchte in ihrer naturgemäßen Zeitigung, in ihrer vollkommensten Entwickelung sieht! und welch’ eigenthümliches Interesse, wenn man die künstliche Nachahmung mit dem natürlichen Original vergleicht! Aber auch welcher Gewinn, wenn durch solche vergleichende Anschauungen mancher Zweifel gelöst, mancher Name berichtigt, manche Frucht nach ihrem Werthe bestimmt wird! – Darum sollte diese perennirende Obstsammlung, wenn auch nur in einzelnen Lieferungen, die zweckmäßigste Prämie sein, welche die landwirthschaftlichen und Gartenbauvereine, sowie auch die nach dieser Richtung hin arbeitenden Lehranstalten für die hervorragenden Leistungen verabreichen könnten.

Der Abend dämmerte, als wir noch darüber sprachen. Die besorgte Hausfrau rieth, das schützende Zimmer aufzusuchen und nun erst die ganze Sammlung, welche dort in zierlichen Glaskästen aufgestellt war, zu beaugenscheinigen. Vor diesen Kästen hätte ich stundenlang sitzen und Sorte um Sorte mustern mögen! Hier sah ich eine längst bekannte Frucht, die ich in meinem eigenen Garten zog, aber bisher unter einem Provincialnamen cultivirt hatte, den ich vergebens in den pomologischen Lehrbüchern suchte; da war es eine neue Obstsorte, die ich entweder noch gar nicht gekannt, oder doch, wenn ich auch darüber gelesen, noch nicht gesehen hatte; dort bewunderte ich die Vollkommenheit einzelner Exemplare, wie sie mir in dieser gleichsam idealen Schönheit noch nicht vorgekommen. Alle Früchte aber – sechsundachtzig Aepfel, einundsechszig Birnen, zwanzig Pflaumen, eine Pfirsich – waren von einer so scheinbaren Frische und von einer so vollendeten Naturtreue in Gestalt und Farbe, in Krone und Stiel, daß es dem Auge kaum möglich sein dürfte, die Copien von den Originalen zu unterscheiden.

„Daß es keine leichte Aufgabe ist,“ – bestätigte mein Freund, als ich der Anerkennung und des Lobes kein Ende fand – „diese technische Vollendung zu erreichen und daß die scheinbar hohen Preise im Vergleich mit solchen Leistungen immer noch sehr bescheiden sind, werden Sie zugestehen. Da ich mich für das wahrhaft künstlerische Unternehmen lebhaft interessire, so habe ich nähere Erkundigungen darüber eingezogen und kann Ihnen über die Anfertigung dieser Früchte, welche keineswegs als ein Geheimniß behandelt wird, einige Auskunft ertheilen. – Die vorzügliche Obsternte des Jahres 1855 und das rege Interesse, das sich um jene Zeit der Obstkunde und der Obstbaumzucht zuwendete, brachte den Kaufmann H. Arnoldi in Gotha, ein eifriges Mitglied des dasigen Gartenbauvereins, auf den Gedanken, ein neues plastisches Obstcabinet in’s Leben zu rufen, welches jenem so erfreulich erwachten Interesse in die Hände arbeiten und des Dittrich’sche Obstcabinet, das ohnehin nur bescheidenen Ansprüchen genügte, in einer vollkommeneren Weise ersetzen sollte. Dazu wählte er eine leicht gebrannte Porcellanmasse,[WS 2] die in der Arnoldischen Porcellanfabrik zu Elgersburg im Thüringerwalde hergestellt und nach den vorliegenden Originalfrüchten sorgfältigst geformt wurde. Schwieriger war die naturgetreue Färbung, wozu ein geschickter Künstler aus Harburg beigezogen wurde.

Mit Hülfe des als Naturforscher bekannten Professors Hassenstein in Gotha gelang es nach vielfachen Versuchen, die Auftragung der Farben und den Wachsüberzug, der ihnen erst das natürliche Gepräge giebt, so vortrefflich herzustellen, daß auch das Colorit nichts mehr zu wünschen übrig ließ. So erschien die erste Lieferung des Unternehmens, und zwar im Wege der Subscription, die jedoch anfangs so spärlich einging, daß ein minder eifriger Fabrikant den Muth verloren haben würde. Arnoldi dagegen schritt auf dem betretenen Wege rüstig fort. Um aber auch der wissenschaftlichen Bedeutung seines. Werkes eine Vertrauen erweckende Fürsprache und einen gediegenen Halt zu sichern, gewann er die Herausgeber des ‚Illustrirten Handbuches über Pomologie‘ Superintendenten Oberdieck in Jeinsen, Director Lucas in Reutlingen und Medicinalassessor Jahn in Meiningen, ihm mit Rath und That an die Hand zu gehen. Diese unterstützten ihn mit zuverlässig benannten Naturfrüchten, prüften die nachgebildeten Exemplare und redigirten die vom Pfarrer Koch in Nottleben bei Gotha bearbeiteten Beschreibungen. So brach sich das Unternehmen allmählich Bahn und fand namentlich in Oesterreich erfreulichen Absatz.

Indessen hatte sich die Haltbarkeit der Früchte bei überseeischen Sendungen nicht durchweg bewährt, so daß Arnoldi seit 1860 statt des Porcellans eine feine ‚Papiermachémasse‘ dazu verwendete, die er unter dem Namen ‚Compositionsmasse‘ anfertigen ließ. Die Früchte haben dadurch an ihrer Schönheit und an ihrer Naturtreue durchaus nichts verloren, sind aber haltbarer geworden und bewähren fort und fort ihre naturgemäße Frische. Wenn man sie auch nicht unter Glas und Rahmen schützt, sie bleiben immer dieselben. Sind sie bestäubt, so werden sie mit einem zarten Tuche leicht gesäubert und prangen dann wieder in ihrem ursprünglichen Glanze.

Warum aber das Unternehmen nicht rascher vorschreitet, erklärt sich aus der Schwierigkeit der dabei in Anwendung kommenden Technik. Wer sollte es glauben, daß die Herstellung jeder einzelnen Fruchtsorte mindestens zwei Jahre erfordert? Und doch ist es so. Im ersten Jahre wird die Normalfrucht ausgesucht und die Compositionsmasse darnach ab- und ausgeformt; im zweiten muß man abermals eine solche Normalfrucht beschaffen, um nach dieser Mustervorlage die Decoration des Modells auszuführen. Dies decorirte Modell aber wird, bevor es zur Vervielfältigung gelangt, vom Superintendenten Oberdieck in Jeinsen bei Hannover sowie vom Dr. Ed. Lucas in Reutlingen, als den bewährtesten Obstkennern unserer Zeit, sorgfältig geprüft. Machen diese irgend eine Ausstellung, so müssen andere, nöthigenfalls wiederholte, Probefrüchte angefertigt werden, bis ein in jeder Hinsicht tadelloses Muster vorliegt, nach welchem die eigentliche Fabrikation zur Ausführung kommt, und nur diejenigen Früchte werden in das Cabinet aufgenommen, die mit dem anerkannten Modell vollkommen übereinstimmen, so daß über die Identität der Frucht und über deren künstlerische Vollendung nicht der geringste Zweifel obwalten kann. Fallen ungünstige Obstjahre dazwischen, in welchen tadellose Normalvorlagen nicht zu beschaffen sind, so würde nicht selten zur Herstellung einer bestimmten Obstsorte ein noch längerer Zeitraum erforderlich sein, wenn nicht jede gute Obsternte benutzt würde, um genügende Modelle zu gewinnen, nach denen ungestört fortgearbeitet werden kann.

Aus dieser Manipulation erklärt es sich, warum bis jetzt die Kirschen im Arnoldi’schen Obstcabinet nicht vertreten sind. Die rasche Reife dieser Fruchtgattung gestattet kaum hinreichende Zeit, die Vorarbeiten zu erledigen, die zur Fabrikation erforderlich sind. Indessen sind Vorkehrungen getroffen, auch diesem Mangel abzuhelfen, wenn schon zur Herstellung einzelner Kirschsorten länger als zwei Jahre gebraucht werden sollten, damit man immer neue Früchte als Vorlagen benutzen kann.“

Alle diese Mittheilungen hatten mich für das Arnoldi’sche Obstcabinet dermaßen enthusiasmirt, daß ich meinem Freunde gern das Versprechen gab, die Verbreitung desselben auf alle Weise förderlich zu sein. Wie aber mag dies erfolgreicher geschehen, als dadurch, daß ich – nicht etwa in die Lärmtrompete stoße, sondern einfach erzähle, was in jener Gartenlaube zwischen mir und meinem Freunde erlebt und verhandelt worden?

Dies geschieht hiermit in der großen „Gartenlaube“, in welcher schon so manches industrielle Unternehmen einen Ehrenplatz und so manches verdienstvolle Streben eine energische Fürsprache gefunden.
Sch–dt.




Nur sieben Tage.[2]


Adeline von R. war rechtskräftig zu sieben Tagen Gefängnißstrafe verurtheilt. Ich erhielt die Anweisung, die Verurtheilte zur Strafvollstreckung in das Gefängniß aufzunehmen. Die Dame war mir persönlich nicht bekannt, und ebenso wenig hatte ich über die Strafthat Mittheilung gemacht erhalten; es lag also kein Umstand vor, der mein Interesse hätte besonders rege [282] machen können. Und dennoch konnte ich die Anweisung nicht, wie ich dies gewöhnlich zu thun pflegte, so ohne Weiteres an den dazu bestimmten Ort bringen. Ich mußte sie wiederholt durchlesen, weil eine dunkle Ahnung mir sagte, daß die Ausführung derselben etwas ganz Ungewöhnliches mit sich bringen werde.

Die kurze Dauer der Strafe ließ auf eine Gesetzes-Uebertretung von keiner besondern Bedeutung schließen. Auf der andern Seite dagegen mußte ich mir sagen, daß die Verurtheilung zu einer Freiheitsstrafe bei der gesellschaftlichen Stellung der Dame die Anwendung des Strafgesetzes ohne jede Milderung, also in seiner ganzen Strenge documentirte. Ich mußte unwillkürlich auch noch daran denken, daß Gründe vorliegen müßten, welche den Erlaß der Strafe oder die Umwandlung derselben in eine Geldbuße im Wege der Gnade nicht zugelassen hatten.

Die Angelegenheit wurde jedoch durch andere Vorkommnisse verdrängt und war, da die Dame weder in der ersten, noch in der zweiten Woche nach Empfang der Anweisung sich zum Strafantritt gestellte, bei mir ganz in Vergessenheit gerathen. Erst zu Ende der dritten Woche wurde ich wieder daran erinnert.

Es war bereits spät, ich hatte den Gefangenen schon das Abendessen ausgeben lassen und befand mich in meinem Arbeitszimmer, um die schriftlichen Arbeiten, für deren Besorgung am Tage selten Zeit übrig bleibt, zu erledigen. Ich war damit so eifrig beschäftigt, daß ich auf nichts geachtet, nicht einmal das Oeffnen der Thür gehört hatte; ich fuhr deshalb überrascht ein wenig zusammen, als ich in geringer Entfernung neben mir mit leiser, zitternder Stimme „guten Abend“ sagen hörte. Bei dem Aufsehen bemerkte ich ein junges Mädchen in eleganter Kleidung, das zögernd und mit Unsicherheit bis dicht zu mir herantrat, dann schweigend stehen blieb und hier eine Aufforderung zum Sprechen zu erwarten schien.

Ich hatte Zeit, Beobachtungen anzustellen. Zuerst erregte die Kleidung meine Aufmerksamkeit. Sie war nicht so, wie ich sie bei den Besuchen in meinem Arbeitszimmer zu sehen gewöhnt war. Dann sah ich weiter hinauf und war fast noch mehr überrascht, als ich ein rundes, frisches und lebhaft gefärbtes Gesicht erblickte, welches durch die Regelmäßigkeit seiner Züge für schön gelten mußte. Die Augen waren zu Boden gesenkt, ich konnte nicht in den Spiegel derselben hinabsehen. Allein der Ausdruck des Gesichts und die ganze Haltung des Mädchens drückten Scheu, Angst und Scham aus.

In den Gefängnissen gehören solche Erscheinungen zu den Seltenheiten. Daß das Mädchen gekommen sei, um eine ihr auferlegte Strafe zu verbüßen, mußte ich annehmen, weil dieselbe ein kleines, sorgfältig zusammengelegtes Paket unter dem Arme trug, in welchem ich einige Reserve-Kleidungsstücke vermuthete.

Meine Wahrnehmungen hatten Theilnahme, sogar Mitleid erweckt. Freundlicher, als ich dies wegen der unzeitigen Störung sonst wohl gethan haben würde, forderte ich das Mädchen auf, näher zu kommen. Sie rührte sich aber nicht, der Kopf blieb gesenkt, die Augen von den[WS 3] Lidern bedeckt.

„Wie heißen Sie?“ fragte ich nach einer kleinen Pause.

Auch auf diese Frage erhielt ich keine Antwort. Das Mädchen kämpfte aber mit dem Entschlusse. Ich nahm dies daraus ab, daß die Lippen zuckten und der Mund sich öffnete, als ob Worte daraus hervorkommen sollten. Allein das Alles ging flüchtig vorüber und war kaum bemerkbar.

„Aber, liebes Kind,“ fuhr ich etwas ungeduldiger fort, „Sie müssen mir doch sagen, was Sie wollen, weshalb Sie hierher gekommen sind?“

„Ich will sitzen.“

Das Mädchen sagte das leise, unsicher, stockend. Die Worte wollten nicht über die Lippen hinweg.

Ich sah sie erstaunt an. „Wie viel Strafe haben Sie?“ fragte ich dann.

„Ach Gott! Ach Gott!“

Weiter hörte ich nichts. Das Mädchen zitterte am ganzen Körper, die Brust arbeitete mit einer erstaunlichen Raschheit. Das Alles sollte aber nicht wahrnehmbar sein, die Aufregung unterdrückt werden. Das Weh der Seele war jedoch zu groß, der Kampf zu schwer, die Kräfte reichten nicht aus. Ich suchte einen Ableiter.

„Wie lange wollen Sie denn sitzen?“ fragte ich.

„Sieben Tage.“

Diese beiden Worte wurden herausgepreßt. Mit dem Aussprechen derselben schien indeß das Schwerste gethan zu sein. Denn unmittelbar darauf hörte das Zittern auf, die Brust wurde ruhiger, die Lungen arbeiteten gleichmäßiger, die Bewegung war überwunden, nur der Kopf blieb noch immer zu Boden gesenkt.

„Und Ihr Name?“

„Ich wurde Adeline von R. gerufen.“

„Ah!“

Ich hatte den Ausruf des Erstaunens nicht zu unterdrücken vermocht, er war mir ganz unwillkürlich entschlüpft und auch kräftiger, als mir lieb war. Adeline von R. schrak zusammen, richtete aber bald darauf den Kopf empor und den Blick fragend auf mich.

Ich sah in zwei große, klare Augen von wunderbarer Schönheit. Der auf mich gerichtete Blick übte eine unwiderstehliche, eine hinreißende Macht. Es lag darin kindliche Unschuld, tiefer Schmerz, peinigende Furcht, und über das Alles hinweg, wie ein Schleier ausgebreitet, muthige Ergebung. Die Augen waren feucht, aber nicht naß, der Schmerz hatte noch keine Thräne erpressen können. Das Mädchen wollte nicht unterliegen, es wollte stark sein und war es vielleicht auch.

Ich befand mich in einer ganz eigenthümlichen Verlegenheit; ich wußte nämlich für den Augenblick nicht, wie ich mit Adelinen von R. verkehren, welchen Ton ich anschlagen sollte. Ihre bevorzugte Stellung in der bürgerlichen Gesellschaft machte eine aufmerksamere Behandlung nothwendig, als ich bis dahin ihr hatte zu Theil werden lassen. Doch wollte ich dies nicht gern zugestehen, noch weniger aber den unabsichtlichen Verstoß durch eine Entschuldigung gut machen. Noch war ich nicht zu einem Entschlusse gekommen, als Adeline von R. die eingetretene Pause unterbrach.

„Herr Inspector,“ sagte sie fest und dreist, „Sie wissen nun, weshalb ich hierher gekommen bin. Ich verlange nicht, daß Sie etwas thun sollen, was sich mit Ihren amtlichen Pflichten nicht verträgt, aber ich bitte Sie dringend, mich nicht strenger zu behandeln, als diese Pflichten es nothwendig machen. Werde ich wohl allein sein können?“

„Wenn Sie das wünschen, ja.“

„Mich wird Niemand sehen dürfen?“

„Nein, nur die Beamten der Anstalt; ein Anderer hat keinen Zutritt.“

„Das ist gut. Ich möchte mich verbergen vor allen Menschen, und auch vor dem lieben Gott! An dem Worte ‚gesessen‘ klebt ja ein unauslöschlicher Makel. Diesen Makel ein ganzes Leben zu tragen, das ist fürchterlich, das ist grauenhaft.“

Adeline von R. schlug beide Hände vor das Gesicht. Das Paket, welches sie bis dahin unter dem Arme festgehalten hatte, fiel zu Boden und blieb hier unbeachtet liegen. Von Zeit zu Zeit übten die Hände einen Druck auf das Gesicht aus. Vielleicht war das unabsichtlich eine Folge der augenblicklichen Erregung; es konnte aber auch der Ausdruck von Furcht sein und der Druck momentan die Schreckbilder verscheuchen sollen, welche die Vorstellung von einer grauenhaften Zukunft in der Seele des Mädchens geschaffen hatte.

„Sie gehen da zu weit,“ sagte ich, um zu trösten. „Der Makel hängt nicht an dem ‚Sitzen‘, sondern an der Handlung, welche durch das Sitzen gesühnt werden soll.“

„Gewiß, so ist es,“ erwiderte sie, indem sie mit einer raschen Bewegung die Hände von dem Gesicht wegriß. „Allein das tröstet nicht, weil nicht alle Menschen so denken, weil selten darnach gefragt wird, ob die Strafe auch verschuldet ist. Das ist herzlos, das ist unchristlich! Wer aber will das ändern? Soll es der thun, der darunter zu leiden hat? Ach, der würde gegen die Menge kämpfen, gegen den Strom schwimmen wollen und müßte untergehen; dem bleibt nur übrig, zu dulden, und sich vor den Menschen zu verbergen, oder dahin zu gehen, wo seine Vergangenheit nicht bekannt ist.“

„Ich meine,“ schaltete ich hier ein, „daß die Menschen weniger zu fürchten sind als das eigene Bewußtsein, oder, wenn Sie wollen, das Gewissen mit seinen quälenden Vorwürfen –“

„Still, still, lieber Herr,“ fiel Adeline von R. mir in’s Wort. „Glauben Sie nicht, daß ich diese Vorwürfe unterschätze. Ich habe unsäglich gekämpft, ehe ich mich entschloß, hierher zu gehen, ich war sogar versucht, nicht –, ach Gott! ich darf nicht daran denken; Sie verstehen mich nicht – ich habe es nicht anders [283] gewollt – ich darf nicht zurückschrecken, auch nicht durch Vorwürfe, die Andere mir machen werden und die ich mir selbst machen muß.“

Adeline von R. nahm, indem sie dies sagte, eine andere Haltung an. Der Kopf richtete sich in die Höhe, der Körper streckte sich gerade, das Auge wurde lebendig, der Blick frei, ruhig, fest. Aus dem scheuen, ängstlich zagenden Mädchen war plötzlich ein ernstes, entschlossenes Weib geworden. Mit ruhiger Sicherheit beugte sie sich zu Boden, hob das Paket auf, trat dicht an meinen Arbeitstisch heran und sagte:

„Herr Inspector, ich will sieben Tage sitzen. Es ist mir gesagt, daß Sie die Anweisung zur Aufnahme bereits erhalten hätten. Hier“ – sie legte ein Papier auf meinen Tisch – „ist die Aufforderung zur Strafverbüßung. Ich denke, das wird genügen. Oder bedürfen Sie sonst noch etwas? Dann bitte ich, mir das mitzutheilen.“

Sie bewahrte hierbei eine eisige Ruhe und ließ eine solche Entschiedenheit durchblicken, daß ich nur noch amtlich mit ihr verkehren durfte und alle Fragen über persönliche und Familienverhältnisse und, was meine Neugierde am meisten beschäftigte, über die Strafthat unterdrücken mußte.

Bei der Einschließung in die Gefängnißzelle blieb die Gefangene vollkommen fest. Sie war weder überrascht, noch zeigte sie Scheu oder Furcht. Sicher und unbefangen trat sie über die Schwelle hinweg in den kleinen, dunkeln Raum hinein. Ich wies ihr das Bett, machte sie noch mit einigen Bestimmungen der Hausordnung, die auch sie beachten mußte, bekannt und ließ sie dann allein. Hiermit war die Einleitung zu einem entsetzlichen Drama vollendet. –

Am andern Morgen wollte ich im Untersuchungsbureau Erkundigung über Adeline von R. einziehen. Man konnte mir dort aber nur wenig mittheilen. Die Strafe war von einem andern und ziemlich entfernt gelegenen Gerichte erkannt, die Verurtheilte früher dort wohnhaft gewesen, aber verzogen, und in der Requisition ausdrücklich bemerkt worden, daß die Verurtheilte es gewünscht habe, die Strafe in der mir untergebenen Anstalt zu verbüßen. Die Strafthat war gar nicht erwähnt, es schien dies durch ein Versehen unterblieben zu sein.

Nichts ist vergänglicher als die Zeit. Adeline von R. hatte bereits sechs Tage Strafe verbüßt. Außer mir war Niemand zu ihr gekommen, nicht einmal der Director, weil dieser zufällig durch Unwohlsein behindert war, die gewöhnlichen Gefängniß-Revisionen vorzunehmen. Ich hatte der Gefangenen alle nur irgend zulässigen Erleichterungen gewährt, und diese ihre Dankbarkeit dadurch bethätigt, daß sie mir niemals eine Ursache zur Klage gab. Ueber ihre Verhältnisse hatte ich indeß nichts erfahren können; sie wußte jeder Frage vorzubeugen oder durch ausweichende Antworten mir fühlbar zu machen, daß ich kein Recht habe, mich in ihre Angelegenheiten zu mischen.

Am Morgen des siebenten Tages sprach Adeline von R. mit wahrer Herzensfreude über die nahe bevorstehende Entlassung und wie sie bis dahin die Stunden zählen werde. Sie erwähnte dabei auch zum ersten Male, daß ihre Rückkehr sehnlichst erwartet werde, sie sagte aber nicht, wer sie erwarte, ob Vater oder Mutter, Bruder oder Schwester, Freund oder Freundin. Ich sollte darüber an einer andern Stelle Aufklärung erhalten.

Wenige Stunden später ließ mir der Untersuchungsrichter sagen, daß ich Adeline von R. sofort zu einem Verhör vorführen lassen sollte. Der Bote, welcher dies bestellte, bemerkte beim Fortgehen, daß der Untersuchungsrichter nicht allein, daß der Staatsanwalt bei ihm sei und daß die Gefangene etwas ganz Besonderes ausgeheckt zu haben scheine, da beide Herren äußerst lebhaft mit einander gesprochen hätten.

Ich wollte die Vorführung einem andern Beamten nicht übertragen und ging daher selbst zu der Gefangenen in das Gefängniß. Als ich bei ihr eintrat, rief sie mir freudig erregt entgegen:

„Herr Inspector, nur noch sechs und eine halbe Stunde, dann bin ich wieder frei, dann athme ich wieder Freiheitsluft! Ach, wonniger Gedanke! Freiheit, wie werde ich dich nun lieben! Aber,“ unterbrach sie sich, „Sie sehen ja so ernst, so finster, so streng, wie –“

„Der Untersuchungsrichter will Sie sprechen,“ fiel ich ein. „Folgen Sie mir.“

„Mich sprechen?“ wiederholte sie. „Mein Gott! ich kenne ja diesen Herrn nicht. Was will er denn von mir?“

„Er wird Ihnen das selbst sagen, ich kann Ihnen darüber keine Mittheilung machen. Beeilen Sie sich, Sie werden erwartet.“

„Nur einen Augenblick, ich bin bald fertig.“

Adeline von R. schien unschuldig zu sein. Sie war allerdings überrascht, ihr Verhalten verrieth aber mehr Ungeduld und Neugierde, als Schreck oder Furcht. Die großen schönen Augen trübten sich nicht ein Mal, sie lachten nur nicht mehr, sie blickten suchend in dem kleinen Raume umher und blieben zuletzt auf einem Tuche ruhen, das über die Lehne eines Stuhles gelegt war. Mit einer reizenden Gewandtheit nahm sie das Tuch fort und warf es sich über. Dann trat sie dicht vor mich hin.

„Herr Inspector,“ sagte sie hastig, „meine Toilette ist beendigt. Der Herr Untersuchungsrichter wird Nachricht haben; ich kann ja hier nicht mehr bieten.“

Sie lachte wieder, aber unschuldig wie ein Kind, wenn diesem irgend ein Wunsch befriedigt ist. Auch auf dem Wege nach dem Verhörzimmer blieb sie in dieser heitern, lachenden Stimmung. Das Herz schien nicht schneller zu klopfen, das Gemüth völlig beruhigt zu sein. Hatte sie wirklich nichts zu fürchten, keine weitere Schuld auf sich geladen? Ich wünschte das.

Der Untersuchungsrichter war nicht allein. Außer dem Staatsanwalt war noch ein Herr anwesend, den ich nicht kannte. Es war eine große, starke Figur, entweder ein Militär oder, was mir wahrscheinlicher zu sein schien, ein activer Polizeibeamter in Civilkleidung. Ich ahnte, daß dieser bei der folgenden Scene eine Hauptrolle spielen werde. Daher war meine Aufmerksamkeit ausschließlich diesem Herrn zugewendet.

Bei unserm Eintreten bemerkte ich, daß er Adeline von R. scharf fixirte. Unmittelbar darauf verzog sich sein scharf markirtes Gesicht zu einem Lächeln. Dies Lächeln war ungeheuer vielsagend. Es lag darin die Bestätigung für meine Vermuthung, daß ich einen Polizeibeamten vor mir hatte, und dann auch die Gewißheit, daß meine Gefangene als eine Schuldige erkannt war. Allein das beschäftigte mich für den Augenblick weniger, ich ärgerte mich vielmehr darüber, daß der Mann überhaupt lachen konnte.

Das Aufsuchen eines Beschuldigten ist unter allen Umständen ein sehr ernstes Geschäft. Die Erfüllung ernster Pflichten erfordert den vollen Ernst des Beamten. Diesen Ernst zu verleugnen oder, was mir noch viel schlimmer schien, gar nicht zu empfinden, das wollte mir nicht gefallen. Der Mann mußte kein Herz im Leibe haben und ohne Gefühl sein.

„Nun?“ fragte der Untersuchungsrichter.

„Es ist so, wie ich Ihnen sagte, Herr Rath,“ versetzte der Polizeibeamte.

„Herr Inspector,“ wendete der Erstere sich an mich, „Sie haben angezeigt, daß Adeline von R. sieben Tage Strafe verbüße.“

„Ja.“

„Die Anzeige ist falsch.“

„Herr Rath –“

„Die Anzeige ist falsch,“ wiederholte er stärker, „ist Ihnen Adeline von R. persönlich bekannt?“

„Nein.“

„Die Person da hat Sie belogen. Sie hat sich Ihnen gegenüber einen Namen zugelegt, der ihr nicht zukommt. Wie ist Ihr Name?“ fragte er ernst die Gefangene.

Ich hatte diese, seit wir das Zimmer betreten, gar nicht wieder angesehen. Erst bei dieser Frage sah ich mich nach ihr um. Sie war in der Nähe der Thür stehen geblieben, leichenblaß, zitternd, stumm, den Kopf tief gesenkt. Die Antwort blieb aus. Vielleicht war die Frage ganz überhört. Der Untersuchungsrichter trat dicht vor sie.

„Ich habe Sie gefragt,“ schrie er aufgeregt, „wie Ihr Name ist. Wollen Sie antworten!“

Die Gefangene schreckte zusammen, sie wankte und würde zu Boden gefallen sein, wenn ich nicht schnell zugesprungen wäre und sie aufrecht erhalten hätte. Der Staatsanwalt brachte einen Stuhl herbei, ich ließ die Gefangene darauf nieder und blieb ihr zur Seite stehen. Alle Bemühungen, die nach einander von dem Untersuchungsrichter, dem Staatsanwalt und mir gemacht wurden, um das Mädchen zum Sprechen zu veranlassen, erwiesen sich als erfolglos, sie blieb stumm und starrte regungslos vor sich nieder, scheinbar auf nichts achtend, was in ihrer Nähe sich zutrug. Und doch war sie nicht ohne Theilnahme. Denn als der Untersuchungsrichter nach einer kurzen, leise geführten Unterredung mit dem [284] Staatsanwalt laut erklärte: „Die Person bleibt in Haft; sie wird nicht entlassen!“ sprang sie, noch ehe das letzte Wort ausgesprochen war, vom Stuhle auf, dann wendete sie rasch den schönen Kopf nach jeder einzelnen der im Zimmer anwesenden Personen, zuletzt nach der Seite hin, wo der Untersuchungsrichter stand, und sagte, während sie den Blick fest auf diesem ruhen ließ, vollkommen ruhig:

„Ich habe nur sieben Tage Strafe zu verbüßen gehabt. Heute Abend sieben ein halb Uhr geht der siebente Tag zu Ende. Sie dürfen mich nicht länger zurückhalten; Sie haben kein Recht dazu.“

„Darüber haben Sie nicht zu entscheiden,“ versetzte der Untersuchungsrichter.

„Aber bedenken Sie,“ entgegnete die Gefangene dringender, „daß ich nichts verschuldet habe und daß ich und mit mir

Benito Juarez.

noch zwei andere Menschen grenzenlos unglücklich werden, wenn Sie mich zurückhalten.“

Das arme Kind zitterte vor innerer Erregung. Die Angst sprach aus jedem Worte, aus jeder Bewegung, aus jeder unwillkürlichen Zuckung.

„Antworten Sie mir,“ sagte der Untersuchungsrichter milder, als ich erwartet hatte, „sind Sie die Adeline von R., welche durch das Kreisgericht zu B. zu sieben Tage Strafe verurtheilt ist?“

„Nein, ich bin nicht verurtheilt. Aber was schadet das?“ fragte sie naiv.

„O, sehr viel,“ versetzte der Untersuchungsrichter ernst. „Das Strafgesetzbuch bedroht denjenigen mit Zuchthausstrafe bis zu zehn Jahren und außerdem noch mit Geldbuße von ein Hundert bis zwei Tausend Thalern, wer in der Absicht, sich oder Andern Gewinn zu verschaffen, bewirkt, daß Thatsachen, welche für Rechte oder Rechtsverhältnisse von Erheblichkeit sind, in öffentlichen Urkunden, Büchern oder Registern als geschehen beurkundet werden, während sie gar nicht oder in anderer Weise geschehen sind. Diese Strafe haben Sie verwirkt, denn Sie haben das hier vorgezeichnete Verbrechen verübt, und die öffentliche Sicherheit gebietet es, Sie bis zur Entscheidung in Gewahrsam zu behalten.“

„Mein Gott! mein Gott!“ schrie die Gefangene entsetzt, „ich verstehe, ich fasse das nicht; ich habe ja nichts Böses gewollt.“

„Das macht Sie nicht frei, selbst wenn es wahr wäre. Sie haben einer Andern Gewinn verschaffen wollen.“

„Nein! nein!“ fiel sie hastig ein und legte betheuernd die Hand auf die Brust.

„Sie haben gewollt,“ fuhr der Untersuchungsrichter ruhig fort, „daß eine Schuldige der gerechten Strafe entzogen wird.“

„Daran habe ich nicht gedacht, ich habe nur eine Unglückliche vor Verzweiflung retten wollen. Und wissen Sie, weshalb ich das gethan habe? Ich war stärker und muthiger als sie. Glauben Sie meiner Versicherung: das zarte, sanfte Mädchen wäre schon auf dem Wege zu diesem Hause zusammengebrochen, sie wäre lebend gar nicht hierher gekommen. Und wenn auch das, es würde ihr Tod gewesen sein, Sie hätten eine Leiche hinaustragen müssen.“

„Auch das berechtigte Sie nicht zu der Täuschung und befreit Sie nicht von der Strafe,“ bemerkte der Staatsanwalt.

„Was soll ich denn noch sagen,“ murmelte die Gefangene dumpf, „um diese harten Herzen zu erweichen! Fragen Sie den Menschen da,“ fügte sie laut hinzu, indem sie die eine Hand nach dem Polizeibeamten ausstreckte, „der wird Ihnen bestätigen, was ich von meiner Freundin gesagt habe. Er kennt sie ja. Es ist mir wahrhaftig nicht leicht geworden, hierher zu gehen; ich habe, ehe ich das that, unbeschreiblich gelitten. Noch vor dem Hause habe ich umkehren wollen, weil meine Kraft aufgezehrt, mein Muth gebrochen war. Aber als ich mich zurückwandte, als ich den Fuß schon zum Fortgehen aufgehoben hatte, da stand im Geiste meine Freundin vor mir, wie ich sie verlassen hatte, die Hände ringend, weinend, jammernd, trostlos und aufgelöst in Schmerz. Das machte mich wieder stark; ich schritt vorwärts, über die Schwelle dieses Hauses hinweg, in das Gefängniß hinein. Und wenn ich hier schwach werden wollte, so rief ich mir dies Bild vor die Seele und – ich harrte aus.“

„Sagen Sie das Alles Ihren künftigen Richtern. Bei Abmessung der Strafe wird darauf Rücksicht genommen werden. Man wird Sie mit zwei Jahren und einhundert Thalern durchlassen. Mich geht das nichts an,“ bemerkte der Staatsanwalt.

„Ja, ja,“ entgegnete die Gefangene, welche nur den ersten Theil dieser Bemerkung aufgefaßt zu haben schien, „ich will das thun, ich will Alles thun, was Sie wollen. Aber, nicht wahr, Sie halten mich nicht zurück, Sie lassen mich heute Abend gehen?“ fügte sie bittend hinzu.

„Nein!“ versetzte der Staatsanwalt kurz.

„Muß ich Ihnen noch einmal wiederholen, daß ich zu Grunde gehe? Meine Freundin erwartet mich. Sie zählt die Stunden bis zu meiner Rückkehr; sie vergeht in Sorge und Angst.“

„Ihre Freundin hat als Theilnehmerin an Ihrer Strafthat dieselbe Strafe zu gewärtigen.“

Das Mädchen fuhr erschrocken zusammen. „Was sagen Sie da, mein Herr; Theilnehmerin soll meine Freundin sein?“ rief sie. „Sie weiß ja gar nicht, daß ich hier bin; sie würde nimmermehr zugegeben haben, daß ich hierher gehe. Ich sagte ihr, daß ich Schritte thun wollte, um sie frei zu machen von der Strafe. Sie glaubt, daß ich an einen andern Ort gegangen bin, daß ich Gnade für sie zu erlangen suche.“

„Die Untersuchung mag dies herausstellen,“ bemerkte der Untersuchungsrichter.

„Die Untersuchung –“ wiederholte die Gefangene tonlos; nach einer kleinen Pause fuhr sie fort: „mir ist so sonderbar – so voll und doch so leer – ich höre, fasse aber nicht – ich soll hier bleiben – das kann ja nicht sein – ich habe nur falsch verstanden – nicht wahr, Herr Inspector, Sie entlassen mich heute Abend?“

„Ich darf nicht,“ versetzte ich weich, aber fest.

„Nicht?!“ schrie die Gefangene kreischend. Dies eine Wort schnürte mir die Brust zu. Es war ein Schmerzensschrei, wie ich in meinem Leben noch nicht gehört hatte.

Einige Augenblicke war Alles still, nur das tiefe und schnelle Athemholen der Gefangenen war hörbar.

Der Untersuchungsrichter mochte annehmen, daß diese sich in [285] ihr Schicksal füge; er veranlaßte mich durch einen Wink, die Gefangene fortzuführen. Ich forderte sie auf, mir zu folgen. Allein sie hörte oder beachtete das nicht. Ich erfaßte ihre Hand und bat sie, mit mir zu gehen. Sie erwiderte nichts, ließ es aber ohne Widerstreben, ganz willenlos, geschehen, daß ich sie fortführte, aus dem Zimmer hinaus bis in das Gefängniß. Kein Wort, kein Laut kam über ihre Lippen. Auch in dem Gefängnisse war sie still. Ich blieb noch einige Zeit bei ihr, aber sie beachtete mich gar nicht. Ihre Augen waren trocken und starr, die Hände gefaltet, die Finger in ununterbrochener, spielender Bewegung.

Diese Wahrnehmung machte mich besorgt.

Der Druck, der auf das Gemüth des jungen Mädchens geübt, war zu groß, die Täuschung zu hart. Sechs Tage hatte sie den Augenblick ersehnt, in welchem sie vor die Freundin treten und ihr sagen wollte: „Du bist frei.“ Vor ihrer Seele stand das Bild der jammernden Freundin. Sie sah aber auch das Glück, welches ihr ungeheueres Opfer hätte schaffen müssen, wenn die Verletzung des Strafgesetzes unentdeckt geblieben wäre. An diesem Tage hatte sie vielleicht weiter gar nichts vor Augen gehabt, als die Vorstellung, daß sie Menschen, die ihr lieb waren, unaussprechlich glücklich hatte machen können. Und das Alles mit Einem Schlage vernichtet und ein entehrtes Leben vor sich!

Ich kehrte zu dem Untersuchungsrichter zurück und machte ihm von meiner Wahrnehmung Mittheilung. Er wollte aber meine Besorgnisse nicht theilen und meinte, der Mensch gewöhne sich an Alles; die Gefangene werde schon wieder zur Besinnung kommen und sich in ihr Schicksal fügen.

Der Zustand der Gefangenen blieb jedoch unverändert derselbe. Ich war noch unzählige Male bei ihr. Sie war gleichmäßig ohne Theilnahme, gab weder auf mein Kommen und Gehen, noch auf das Acht, was ich ihr sagte, um ihre Aufmerksamkeit rege zu machen. Selbst Essen und Trinken ließ sie unangerührt stehen. Die Augen blieben trocken und starr und stierten meist zu Boden. Wenn sie aber sich erhoben, so sprang der Blick hastig von einem Gegenstand zum andern. Es war, als ob etwas gesucht würde und nicht gefunden werden könne. Erst wenn er sich wieder zu Boden richtete, zeigte sich Ruhe und Stätigkeit. In dieser Ruhe lag aber eine entsetzliche Sprache. Es war der Ausdruck des tiefsten Seelenschmerzes, ach, noch mehr, es war die Sprache eines getrübten Geistes, einer zerrissenen Seele.

Das junge Mädchen hatte den Muth eines Mannes gezeigt, denn sie hatte mehr als das nackte Leben auf das Spiel gesetzt, als sie das Gefängniß betrat. Daß sie die Folgen nicht kannte, welche die Entdeckung des Betrugs nothwendig nach sich ziehen mußte, mindert nichts an der Großartigkeit ihres Unternehmens. Sie wollte für sich keinen Vortheil, sie wollte auch kein Wagniß bestehen, sie dachte auch nicht daran, daß sie etwas Unerlaubtes ausführe: sie wollte nur mit ihrer Person ein Opfer bringen, um Menschen zu beglücken.

Mir blutete das Herz, wenn ich zu dem Mädchen ging und kein Besserwerden ihres Zustandes, keine Rückkehr des Bewußtseins wahrnahm. Nach acht Tagen erklärte der Arzt, daß er die fernere Behandlung der Kranken ablehnen müsse. Hierauf wurde dieselbe in die Irrenheilanstalt der Provinz abgeliefert, wo sie zwei Jahre später durch den Tod von ihren Leiden befreit wurde.

Zur Ausfüllung der Lücken, welche meine eigenen Wahrnehmungen offen lassen mußten, habe ich noch einige Bemerkungen nachzutragen, weil diese für das Gesellschaftsleben nicht ganz ohne Interesse sein dürften.

Die Strafe gegen Adeline von R. war in einem Injurienprocesse erkannt. Der Beleidigte war derselbe Polizei-Beamte, der die Entdeckung des Betrugs herbeiführte. Die Beleidigung war dem Beamten nur als Privatperson und nicht direct zugefügt; Adeline von R. hatte in einer Kaffeegesellschaft, unter guten Freunden, eine Mittheilung, die ihr kurz vorher durch eine Nähterin gemacht sein sollte, als eine pikante Neuigkeit wiedererzählt. Diese Mittheilung enthielt eine Beschuldigung, welche ich hier in ihren Einzelnheiten nicht wiedergeben kann, die aber, wenn sie wahr gewesen wäre, den Beamten in der öffentlichen Meinung der Verachtung aussetzen mußte, also eine Verleumdung. Durch die guten Freunde war dieselbe in kurzer Zeit weiter verbreitet worden und zuletzt auch dem Beamten zu Ohren gekommen. Seinen Bemühungen gelang es bald, in jener Kaffeegesellschaft nicht nur die Pflanzschule für die Verbreitung, sondern auch in Adeline von R. diejenige Person zu ermitteln, welche Urheberin des Gerüchts zu sein schien, da sie für den Empfang der Mittheilung durch die Nähterin keinen Beweis beibringen konnte und diese jede Wissenschaft in Abrede stellte. Das erkennende Gericht hatte mit Rücksicht auf die Schwere der Beschuldigung, und weil die Art und Weise der Mittheilung frivol gefunden wurde, jeden Milderungsgrund ausgeschlossen und deshalb auf Freiheitsstrafe erkannt.

Die Entdeckung war dadurch herbeigeführt, daß der Beleidigte durch einen Beamten des Gerichts ganz zufällig von dem Strafantritt Nachricht erhalten hatte und daß wenige Stunden später Adeline von R., die Verurtheilte, sich persönlich bei ihm einfand, um wiederholt seine Verzeihung nachzusuchen.

Das unglückliche Mädchen, welches ihr Unternehmen so grauenhaft büßen mußte, war die Nichte der Verurtheilten und führte mit dieser gleichen Tauf- und Zunamen.

Die Verurtheilte selbst habe ich persönlich nicht kennen lernen; ich bin aber überzeugt, daß die beklagenswerthen Folgen einer gewiß nur leichtfertigen Unterhaltung über ihr ganzes Leben einen trüben Schatten geworfen haben.
J. J. Engelberg.




Photographien aus dem Reichstag.
V.


Auf den erhöhten Stühlen der Bundescommissare sitzt oder saß vielmehr im Reichstage der Mann, auf welchen in diesem Augenblick nicht nur Preußen und Deutschland, sondern ganz Europa mit größter Spannung und lebhaftestem Interesse sieht. Wie König Saul in Israel ragt er um eine Kopfeslänge körperlich und geistig über seine Collegen hervor, eine imposante, ritterliche Erscheinung, in kleidsamer Kuirassieruniform, die Energie des Militärs mit der Elasticität und Geschmeidigkeit des Staatsmanns vereinend. Der wohlgeformte, kahle Vorderkopf, nur spärlich von blondem Haar umgeben, die stark gewölbte Stirn verkündigen eine überwiegende Entwicklung der großen Gehirnlappen, die bekanntlich der Sitz der Intelligenz und des menschlichen Verstandes sind. Das Gesicht zeigt eine auffallende Blässe, wodurch jedoch der geistige Ausdruck der Physiognomie eher gesteigert, als vermindert wird. Die Züge, mehr interessant als schön, erscheinen in der Ruhe schlaff und abgespannt, gewinnen aber in der Bewegung und beim Sprechen eine fesselnde Lebendigkeit. Die wasserhellen, blauen Augen blicken klar und durchdringend, die kräftige Oberlippe, vom blonden Schnurrbart beschattet, verräth durch ihr zuckendes Muskelspiel eine gewisse nervöse Reizbarkeit; zuweilen heiter lächelnd, öfter aber ironisch verzogen. Dagegen läßt das fest geschlossene Kinn eine eherne Willenskraft erkennen. Auch das Leben mit seinen Anfechtungen hat seine Signatur auf die Tafel dieses Gesichts deutlich eingeschrieben und manche stürmische Leidenschaft ihre Spuren und Furchen aufgeprägt. Das ganze Aussehen dieses Mannes zeugt von einer ungewöhnlichen Natur, von angeborener Kraft und hoher Begabung, von rastloser Thätigkeit, aufreibender Arbeit bis zur Erschöpfung und krankhafter Abmattung.

Gewöhnlich sitzt er anscheinend ruhig und theilnahmlos, oder er beschäftigt sich während der Debatte mit den vor ihm liegenden Schriften, lesend und eine flüchtige Bemerkung mit der Feder auf das Papier verzeichnend. Dennoch entgeht ihm kein Wort, keine Aeußerung bei den Verhandlungen, wie man leicht an seinen ausdrucksvollen Mienen bemerken kann, indem er durch ein leises Schütteln des Kopfes, durch ein Runzeln der Stirn und Augenbrauen seine Aufmerksamkeit zu erkennen giebt. Jetzt erhebt er sich, um auf einen Angriff zu antworten, und an Angriffen fehlt es ihm wahrlich nicht. Die eintretende Stille der Versammlung, die Erwartung auf den Tribünen, die Spannung der Zeitungs-Reporters, welche ihre Federn in Bereitschaft halten, bürgen für die Bedeutung seiner Worte: Anfänglich fühlt man sich jedoch unwillkürlich [286] enttäuscht, da Graf Bismarck, dessen Bild wir hier wiederzugeben versuchen, kein Redner ist, der durch rhetorisches Talent, strömende Fülle des Ausdrucks, brillante Wendungen und treffende Gleichnisse, oder durch schlagenden Witz und Gedankenblitze die Seele des Zuhörers fortreißt und mit Bewunderung erfüllt. Sein Organ ist zwar klar und verständlich, aber trocken und wenig sympathisch, der Klang monoton, die Sprache stockend, zuweilen sogar stammelnd, als wollte die widerstrebende Zunge nicht gehorchen, als müßte er erst mühsam nach dem passenden Ausdruck der Gedanken suchen. Auch die schwankende, halb wiegende, nonchalante Haltung ist durchaus nicht angethan, für den Sprecher einzunehmen, der mit keiner angemessenen Bewegung seine Worte unterstützt. Aber nach und nach überwindet er alle diese Schwierigkeiten, gewinnt er mit der Herrschaft über das widerspenstige Organ eine größere Sicherheit, eine zunehmende Kühnheit, die sich nicht selten bis zu verletzender Schärfe steigert. Gleich einem geschickten Fechter auf der Mensur – und er hat als Student oft auf ihr gestanden – geht er von der Vertheidigung bald zum Angriff über, rückt dem Gegner immer heftiger auf den Leib und führt mit sicherer und fester Hand Stoß auf Stoß, bis er seine ganze Kraft zu einem Meisterstreich zusammennimmt und den Kampf meist zu seinen Gunsten dadurch beendet, daß er schonungslos die Blößen des Feindes trifft und ihn tief verwundet.

Was den Inhalt seiner Reden angeht, so besitzen sie vor Allem den großen Vorzug, daß sie sich frei von allem Phrasenwesen halten. Er weiß stets, was er will und worauf es ankommt, deshalb geht er gewöhnlich ohne Umschweife auf sein Ziel los, öfters mit einer Offenheit, welche aus dem Munde eines Staatsmanns doppelt überraschen muß. Sein Ausdruck ist ungesucht und natürlich, mitunter geradezu formlos, ungenirt und herausfordernd, obgleich er meist, wie man zu sagen pflegt, den Nagel auf den Kopf trifft. Nicht selten überrascht er durch die Originalität seiner Worte, die zum Theil in den Mund des Volkes übergegangen sind, wie die bekannten Redensarten „Blut und Eisen“, die berüchtigten „catilinarischen Existenzen“ etc. Leicht läßt er sich in der Hitze der Debatte durch sein sanguinisches Temperament und durch eine nervöse Reizbarkeit zu verletzenden Aeußerungen, zu beißenden Repliquen, selbst zu persönlichen Beleidigungen hinreißen, und diese hauptsächlich waren es, die ihm besonders in früherer Zeit den Vorwurf der Rücksichtslosigkeit zuzogen und viele Gegner schufen.

Man würde jedoch Unrecht thun, wenn man den Grafen Bismarck nach den vorübergehenden Ausbrüchen von Heftigkeit beurtheilen wollte. Ebenso irrt man, wenn man ihn für einen einseitigen Verstandesmenschen hält und ihm Gemüth und Phantasie abspricht. Er besitzt beide und zwar in einem hohen Grade, woraus sich so manche Widersprüche und unbegreifliche Gegensätze dieses eigenthümlichen Charakters allein erklären lassen. Mit der größten Berechnung und staatsmännischen Besonnenheit verbindet er eine bewunderungswürdige Aufrichtigkeit, eine keineswegs diplomatische Hingebung, indem er keinen Anstand nimmt, seine geheimsten Gedanken und weit aussehenden Pläne offen auszusprechen, wobei er sich von seiner lebhaften Phantasie unbewußt hinreißen und beherrschen läßt. Trotz seines klaren Verstandes ist er nicht frei von einem gewissen Fatalismus; er glaubt an seine Mission und nimmt keinen Anstand, seine Ueberzeugung kund zu thun. „In vier Wochen,“ sagte er vor dem letzten Kriege, „werde ich der populärste Mann in Preußen sein“ – und seine Prophezeiung ist auch wörtlich eingetroffen. Seine näheren Bekannten rühmen seine persönliche Liebenswürdigkeit und eine große Gutmüthigkeit, seine treue Anhänglichkeit an die alten Freunde und seine Dankbarkeit für einmal geleistete Dienste. Seine Ritterlichkeit selbst principiellen Gegnern gegenüber ist bekannt und auch Ihre Gartenlaube hat dies erfahren. Ursprünglich in den Vorurtheilen seines Standes aufgewachsen, weiß er dieselben seinen höheren Zwecken unterzuordnen, den gegebenen Verhältnissen anzupassen und ohne seinem Principe untreu zu werden, nimmt er keinen Anstand, mit den Traditionen seiner Vergangenheit zu brechen, wenn sie sich überlebt haben und ihm hemmend in den Weg treten. Er ist vor Allem der Sohn seiner Zeit, und der Augenblick mit seinen Forderungen findet ihn stets gerüstet. Im Gegensatz zu der conservativen, starren Einseitigkeit, dem Festhalten an den alten Institutionen, zeigt er eine ungewöhnliche Beweglichkeit und Verwandlungsfähigkeit, wodurch er sich nicht selten selbst von Seiten seiner politischen Freunde den Vorwurf der Inconsequenz, sogar der Verleugnung der conservativen Grundsätze zugezogen hat. Sein Bruch mit Oesterreich, sein Bündniß mit Victor Emanuel und mit Garibaldi, die Einführung des allgemeinen und directen Wahlrechts für den Reichstag erbitterten die eigentliche Junkerpartei und die Feudalen, welche den Grafen Bismarck nicht mehr als den Ihren anerkennen wollen. Er wird sich darüber nicht sehr grämen und einfach auf seine Erfolge hinweisen. Und wie selbst seine früheren Gegner jetzt den Schöpfer der deutschen Einheit anerkennen und an seiner Seite stehen würden, wenn es gälte den französischen Hochmuth zu demüthigen, so würde, wie ein Abgeordneter der Linken sehr richtig bemerkte, der Graf eine Bürgerkrone verdienen, wie sie reicher und verdienter nie dagewesen, wenn er den freiheitlichen Ausbau Deutschlands in derselben Weise fördern wollte, wie er es jetzt mit dem einheitlichen gethan.

Graf Bismarck ist ohne Widerrede ein Revolutionär der modernen und neuesten Schule, aus der Männer wie Napoleon der Dritte und Cavour hervorgegangen sind; ein politischer „Faust“, der für die Herrschaft seine Seele hingiebt und die Hölle beschwört. Sein Wahlspruch lautet nach seinem eigenen Geständniß: „Flectere si nequeo superos, Acheronta movebo.“ (Kann ich den Himmel nicht beugen, so werde ich die Unterwelt erschüttern.) Er schreckt nicht so leicht vor einem Weg zurück, wenn er ihn zum Ziele führt, und greift stets zu den kräftigsten Mitteln, um den Zweck zu erreichen. Seit dem Jahre 1847 hat er so manche Metamorphose durchgemacht, obgleich er im Grunde stets derselbe geblieben ist. Damals kämpfte er an der Spitze der Feudalen gegen die liberale Opposition, deren Hauptvertreter derselbe Herr von Vincke war, mit dem er jetzt Hand in Hand auf dem Reichstage gegen die Fortschrittspartei kämpfte. Damals griff er das Recht auf die durch das königliche Versprechen vom Jahre 1815 garantirte Verfassung an, das Herr von der Heydt vertheidigte, derselbe Herr von der Heydt, der jetzt an seiner Seite als Finanzminister und Bundescommissär sitzt.

Nach der Märzrevolution gefiel er sich in kühnen Herausforderungen und galt als das Haupt der damaligen Junkerpartei, ein unerbittlicher Gegner der Volkssouverainetät, der unermüdliche Vertheidiger des Königthums von Gottes Gnaden, der Heißsporn seiner Partei, der sich durch seine spöttischen Angriffe auf die gegebene Verfassung wiederholt den Ordnungsruf des Präsidenten, Grafen von Schwerin, zuzog, ohne sich denselben besonders zu Herzen zu nehmen. Seine damalige Haltung und sein anerkanntes Talent erwarben ihm die Gunst und Beachtung Friedrich Wilhelm des Vierten. Er wurde zum Geheimen Legationsrath und bald darauf zum Gesandten bei dem wiederhergestellten Bundestag in Frankfurt am Main ernannt. Hier an der Quelle fand er hinlängliche Gelegenheit, den Fluch der deutschen Kleinstaaterei, die Erbärmlichkeit der Zustände, die Ueberhebung Oesterreichs und dessen schädlichen Einfluß kennen zu lernen. Daneben fehlte es nicht an persönlichen Reibungen mit dem damaligen österreichischen Gesandten und Bundestagspräsidenten, Grafen Rechberg. Wie das Glas Wasser der Herzogin von Marlborough, wie der Paletot des Grafen Menschikoff, so war der Schlafrock des Grafen Rechberg vielleicht die kleine Ursache großer Begebenheiten. Als der österreichische Gesandte eines Tages seinen preußischen Collegen in dieser mehr bequemen als anständigen Kleidung empfing, zog Herr von Bismarck ruhig seine Cigarrentasche hervor, steckte sich eine Havannah an und präsentirte seinem Nachbar eine andere. Es war keine Friedenspfeife, die hier geraucht wurde, obgleich Graf Rechberg den gegebenen Wink verstand.

Seine mit der Muttermilch eingesogene Verehrung für Oesterreich hatte einen bedeutenden Stoß erhalten und seitdem in ihm ein entgegengesetztes Gefühl in dem Grade hervorgerufen, daß sich der König veranlaßt fand, ihn von Frankfurt abzurufen und als Gesandter an den Petersburger Hof zu schicken, wo er für seine Pläne ein geeignetes Feld fand. Schon in jener Zeit verfolgte er den Gedanken, durch die Demüthigung Oesterreichs die preußische Macht zu heben, wofür es nicht an Beweisen fehlt, obgleich die angesponnenen Fäden durch seine Versetzung nach Paris wieder abgebrochen wurden. So kurze Zeit er auch am Hofe Napoleon’s verweilte, so benutzte er dieselbe doch auf das Beste, um seine Kenntnisse der politischen Verhältnisse zu erweitern und seine staatsmännischen Studien zu vollenden. Er war ein gelehriger Schüler, [287] der seinem Meister manches Geheimniß seiner Regierungskunst ablauschte und mit bestem Nutzen in das Deutsche übersetzte. Im September 1862 wurde Graf Bismarck, nachdem das Ministerium Hohenzollern-Schwerin abgedankt, zum Ministerpräsidenten ernannt und seitdem gehört sein Thun und Wirken der Geschichte an, die einst über ihn ein gerechteres Urtheil fällen wird als seine von Haß oder Bewunderung verblendeten Zeitgenossen.

Nächst dem Grafen Bismarck macht sich durch seine Bedeutung zunächst der Kriegsminister Herr von Roon bemerkbar, eine kräftig männliche Soldatengestalt, der Typus des höheren preußischen Militärs, fest, gedrungen, straff, obgleich im Ganzen weniger steif und zugeknöpft als die Mehrzahl seiner Collegen. Die schöne, breite Stirn und die dunklen, lebhaften Augen verrathen einen hohen Grad von Intelligenz, während das scharf geschnittene Gesicht mit dem braunen Schnurrbart einen energischen Willen, große Beharrlichkeit und zähe Ausdauer erkennen läßt. Keiner der gegenwärtigen Minister hat sich so schnell in die parlamentarischen Formen gefunden und als Redner so bedeutende Fortschritte in kürzester Zeit gemacht wie Herr von Roon. Mit einem kräftigen sonoren Organ verbindet derselbe eine große Klarheit und soldatische Frische, wodurch er manchen gelehrten Professor beschämt. Man sieht seinen Reden an, daß sie nicht an der Studirlampe ausgeklügelt, sondern aus dem praktischen Leben geschöpft worden sind. Von ihnen gilt der Goethe’sche Ausspruch: „Es trägt Verstand und guter Sinn mit wenig Kraft sich selber vor.“ Er hält mit seinen Gedanken eine gute Mannszucht und sein Geist übt eine scharfe Disciplin, so daß er stets zur Sache spricht und sein Pulver nicht unnütz verschießt. Auch die Waffen des Humors und der Ironie stehen ihm zu Gebote, obgleich er von ihnen einen selteneren Gebrauch macht als Graf Bismarck und durch eine gewisse Gemüthlichkeit den verletzenden Eindruck mildert. Bei aller soldatischen Offenheit fehlt es ihm nicht an diplomatischer Gewandtheit, oder vielmehr an jener Husarenlist, welche den Gegner unvermuthet überrascht und dessen Schwächen geschickt benutzt, wie im Reichstage Professor Gneist zu seinem Schaden erfahren hat. –

Eine mehr bureaukratische Erscheinung bietet der Minister des Innern Graf Eulenburg, ein noch jugendlicher Herr, mit kurz geschorenen Haaren und dunklem, vollem Bart, der das feine, nicht uninteressante Gesicht umgiebt. Er spricht im ostpreußischen Dialect fließend und gewandt mit einer gewissen Aufrichtigkeit, die jedoch durch den scharfen Ton einen[WS 4] beißenden Beigeschmack erhält und öfters in der Versammlung eine entsprechende Kritik hervorruft. Seine Worte gleichen prickelnden Stecknadelstichen und verwunden darum oft mehr als die scharfen und geschickt geführten Stöße des Ministerpräsidenten, dem man seine geistige Ueberlegenheit eher verzeiht, als die kühlen Angriffe des Grafen Eulenburg, der in seiner neulichen Reichstagsrede eine überraschende Schlagfertigkeit entwickelte. – In seiner Nähe befindet sich der Finanzminister von der Heydt, der kluge Rechenmeister, welcher seit dem Jahre 1847 sich mit bewundernswürdiger Elasticität den Verhältnissen anzupassen und sich unentbehrlich zu machen wußte. Die behagliche Banquiersfigur, das freundlich lächelnde Gesicht, die kleinen schlauen Augen, eine angenommene oder vielleicht auch natürliche Bonhomie machen einen durchaus bürgerlichen, soliden Eindruck. Dieses Element finden wir auch in seinen Reden wieder, die sich von allem geistigen Luxus, von unnöthiger Bilderverschwendung, eleganten Wendungen, witzigen Schlagwörtern fern halten, dagegen durch sachgemäße Klarheit, verständige Ansichten und thatsächliche Angaben ihre beabsichtigte Wirkung nicht verfehlen. Er spricht ohne jeden rhetorischen Aufwand, einfach, etwas monoton, aber leicht und fließend, wie ein ruhiger Geschäftsmann, der weder herausfordern, noch hinreißen, sondern vor Allem durch seine Worte ein bestimmtes Ziel erreichen will. Es kommt ihm dabei nicht auf Principien, auf politische Parteifragen, sondern, wie es in der Natur der Sache und in seiner Stellung liegt, hauptsächlich auf – Bewilligung der Gelder an. Wird er im Verlaufe der Debatte angegriffen, so erhitzt er sich nicht, sondern antwortet mit der Miene der gekränkten Unschuld, mit christlicher Geduld, ohne seinem Gegner Gleiches mit Gleichem zu vergelten, da er kein Freund von parlamentarischen Streitigkeiten ist. Obgleich in Geldsachen die Gemüthlichkeit aufhört, ist der Grundzug des Finanzministers die größte Gemüthlichkeit im Leben wie in der Politik. Gemüthlich sind seine parlamentarischen Diners in der schönen Villa von der Heydt, wo er auch die Mitglieder der Opposition einladet; gemüthlich drückt er dem und jenem Abgeordneten im Reichstage, vor Allen Herrn von Rothschild, die Hand; gemüthlich spielt er in den Mußestunden die Orgel, da er ein großer Musikfreund ist, und gemüthlich sitzt er an dem Ministertisch, an dem er sich nach zwanzigjähriger Gewohnheit natürlich wie zu Hause befindet.

Unter den Commissarien der übrigen Bundesregierungen haben nur wenige die Gelegenheit benutzt, sich in einer oder der anderen Weise bemerkbar zu machen, obgleich sich in ihrer Mitte namhafte Staatsmänner befinden, von denen jedoch nur der sächsische Staatsminister von Friesen, der großherzoglich oldenburgische Commissar von Rössing, der Geheime Legationsrath Hoffmann für das Großherzogthum Hessen, der Commissar für Mecklenburg-Schwerin und Lippe-Detmold an passender Stelle das Wort ergriffen, während ihre sonstige Wirksamkeit außer ihrer Anwesenheit bei den Verhandlungen sich der Beurtheilung natürlicher Weise entzieht.




Blätter und Blüthen.


Das Ferngefühl der Blinden. Von einem Blinden. Mit diesem Namen bezeichnet Verfasser die schwache Wahrnehmung entfernter Gegenstände, welche bei gehöriger Aufmerksamkeit auch ohne Schall, Licht und Wärmeausstrahlung von Blinden nur im Gesicht bemerkt werden kann. – Am deutlichsten zeigt sich das Ferngefühl in Ohr- und Augengegend, schwächer an den Schläfen und an der Stirn, noch weniger an den Wangen und fast gar nicht an den Lippen. – Die Substanz des Objectes ist dabei ganz gleichgültig. So macht z. B. bei gleicher Entfernung, Lage und Größe der dem Beobachter zugekehrten Fläche aufgehängte Wäsche denselben Eindruck wie Holz, Stein oder Eisen. Ob nahe große tropfbarflüssige Körper, wie Meereswogen oder starke Wassersäulen ebenso wirken können, ist dem Verfasser unbekannt, doch hält er es für wahrscheinlich. – Ein Spalier wirkt in eigenthümlicher Weise matt und undeutlich. – Bei der Annäherung an den hohen Viaduct bei Waldheim hat Verfasser auf der von jenem überbrückten Straße schon über hundert Schritt weit, besonders an der Stirn, öfters einen Eindruck wie von einem hauptsächlich aus der Höhe wirkenden Gegenstande verspürt und zwar in anderer Weise als bei einer zusammenhängenden Mauer. – Die gewöhnlichen Bäume an einer Chaussee kann Verfasser höchstens acht Fuß weit fühlen; eine flache Hand nur etwa drei Zoll weit.

Genau taxiren lassen sich die Dimensionen eines Körpers beim Verharren auf einer Stelle durch das Ferngefühl selbst dann nicht, wenn die Entfernung dabei als bekannte Größe mit in Rechnung gebracht werden kann. Deshalb läßt sich auch durch dieses Gefühl die Größe geschlossener Räume (zumal bei völliger Stille) nur ganz oberflächlich beurtheilen, und niemals die Form, sondern immer nur das Vorhandensein von Gegenständen gewahren.

Wenn die Aufmerksamkeit durch etwas Anderes lebhaft beschäftigt wird, zeigt sich das Ferngefühl in der Regel gar nicht. Dasselbe ist auch bei einer halbwegs raschen Annäherung des Bemerkenden oder des Bemerkten der Fall. Durch eine recht langsame Annäherung wird das Gefühl etwas erhöht; durch das Licht wird es geschwächt, gewissermaßen verworren, aber nur wenn das Licht durch einen wahrzunehmenden durchsichtigen Gegenstand von vorn das Auge des Untersuchenden trifft und empfunden werden kann. – Das beste Verstärkungsmittel für das Ferngefühl ist der Schall, durch welchen auch außerhalb seines gewöhnlichen Bereiches befindliche Körper fühlbar werden können, weshalb der Blinde, wenn er sich an einem Orte orientiren will, auch in der Regel ein Geräusch zu Hülfe nimmt. Ein starker Schall nützt aber hierbei nicht mehr als ein schwacher; ein sehr starker und voller stört sogar den Eindruck.

Täuschungen giebt es natürlich in diesem Gebiete der Wahrnehmung ebenfalls. So scheint z. B. oft eine drei bis vier Fuß hohe Körpermasse die Gesichtshöhe zu haben. Auch ist Verfasser mehrmals vor einer scheinbar dicht vor ihm stehenden, aber im nächsten Momente schon wieder verschwundenen Säule oder Gestalt zurückgeprallt, besonders beim raschen Umbiegen um eine Hausecke.

Benutzt wird das Ferngefühl von Blinden besonders zur Erkennung offener oder doch vertiefter Thüren, überhaupt zur Orientirung in Beziehung auf Oertlichkeiten und Gegenstände und zur Vermeidung des Anstoßens. Jedoch gehört es jedenfalls bei den meisten Blinden zu den Erscheinungen, die ihrer Alltäglichkeit wegen hinsichtlich ihrer Eigenthümlichkeiten und Ursachen gewöhnlich ganz unbeachtet gelassen werden. Deshalb gebrauchen es auch die meisten fast unbewußt, und zwar so lange, bis Sehende, welchen die Fähigkeit der Blinden, Körper ohne Berührung wahrzunehmen, auffällt, sie darauf aufmerksam machen. Nicht selten wird auch geglaubt, daß ein solcher Blinder durch das Gehör oder das Gesicht noch wahrnehme. Allein auch bei Ruhe und Dunkelheit und auch bei Solchen, die gar keine Augäpfel haben, wirkt das Ferngefühl. – Schließlich stellt nun Verfasser an die Physiologie die Frage: wie entsteht dieses Gefühl?

Richard Ernst Sergel in Waldheim.

[288] Praktische Verwendung der Elektricität. Die neuerdings entdeckte und mehrfach angewandte Uebersetzbarkeit mechanischer Kraft in Wärme, Elektricität, Magnetismus und Licht oder überhaupt der einen Erscheinungsform in die andere wird sich wahrscheinlich noch auf mancherlei Weise praktisch verwenden und verwerthen lassen. In England hat man schon den Anfang damit gemacht. Professor Wheatstone und C. W. Siemens zeigten neulich in der königlichen Gesellschaft zu London jeder eine von ihm erfundene neue Elektrisirmaschine, durch welche die Verwandelbarkeit mechanischer Kraft in Elektricität auf überraschende Weise zur Anschauung kam. Diese Maschinen bestehen zunächst aus einer Barre weichen Eisens, das der Länge nach mit Kupferdraht umwickelt ist; dann aus zwei anderen befestigten Barren, zwischen welchen erstere gedreht wird. Je schneller diese Drehung vor sich geht, desto rascher und rauschender springen Ströme von Elektricität heraus, die, wohlfeiler als auf jede andere Weise gewonnen, sich vielfach auf chemische und mechanische Weise anwenden lassen. Siemens hat auch bereits eine solche höchst wichtige Verwendung gefunden, nämlich zur Erleuchtung von Warnungstonnen und Leuchtthürmen in großen Entfernungen vom Lande und zwar in jedem Wind und Wetter, welches die Annäherung von Menschen oft gefährlich, ja unmöglich macht. Man kann durch seine Maschine die gewonnene Elektricität vermittelst eines submarinen Kabels hinübersenden und die Tonnen und Thürme, welche vor gefährlichen Stellen warnen sollen, weithin strahlend erleuchten. Die Commissionäre der nordischen Leuchtthürme haben seine Erfindung bereits angenommen, um alle die unzähligen Warnungstonnen und Leuchtthürme auf den gefährlichen Stellen und um die Küsten Schottlands herum damit vom Lande aus zu erleuchten.

Ein wahres Ungeheuer von Elektrisirmaschine hat ein Mr. Wilde in Manchester aufgebaut. Sie wiegt neunzig Centner und enthält nicht weniger als zwanzig Centner Kupferdraht. Sie wird durch eine Dampfmaschine von acht Pferdekraft bewegt und giebt dann elektrisches Feuer in furchtbaren, mächtigen Strömen, welche, zum Lichte beruhigt, mit der vollständigsten Sonnenkraft leuchten. Man kann dabei Tag und Nacht photographiren und es auch in großen Fabriken und in Leuchtthürmen besser und billiger, als jedes andere Beleuchtungsmaterial anwenden. Eine französische Compagnie hat bereits das Gebrauchsrecht dieser Maschine gekauft und will sie zur Erleuchtung von Cap Grisnez verwenden, um damit nicht nur den ganzen Canal zwischen England und Frankreich, sondern auch einen Theil der südlichen Gegenden von England besser zu beleuchten, als es mit Tausenden von Gasflammen möglich ist. Außer zur Erzeugung mächtigen Lichtes dient die Maschine auch für wichtige Fabrikzwecke. So hat z. B. eine große Firma in Birmingham die Einrichtung getroffen, sie statt galvanischer Batterien für Ueberkupferung metallischer Artikel mit großem Vortheil zu gebrauchen, da die Elektricität, welche hier die Stelle der Säuren und des Zinks vertritt, viel billiger ist und schneller arbeitet. In einer anderen Anstalt gebraucht man sie zur Erzeugung des elektrischen oder activen Sauerstoffs Ozon, mit welchem man schneller und billiger bleichen kann, als auf jede andere bisher bekannte Weise. Weitere Verwendungen und Verwerthungen werden sich wahrscheinlich bald finden lassen.




Graf von Bismarck als Auscultator. Graf von Bismarck, so erzählte mir im vorigen Herbst auf der Thüringer Eisenbahn ein Reisegefährte, war nach beendigten Universitätsstudien eine Zeitlang Auscultator in einer Kreisstadt der Mittelmark. Eines Tages saß er mit seinem Kreisrichter zusammen in der Gerichtsstube. Der Kreisrichter war in einer Ecke des Zimmers mit Actenlesen beschäftigt, während der Auscultator die für den Tag Vorgeladenen vernahm und die Gerichtsangelegenheiten schlichtete. Jeder der Vorgeladenen hatte seine bestimmte Nummer und wurde nach dieser Reihenfolge hereingerufen. Als die Mittagsstunde herannahte, drängte sich ungerufen ein Bäuerlein herein und stellte dem Herrn Auscultator in ziemlich barscher Weise vor, daß er von einer der entferntesten Gegenden des Kreises komme und daher verlangen müsse, daß seine Angelegenheit sofort in Angriff genommen werde, weil er sonst nicht mehr in die Heimath zurückkehren könne und kein Geld habe, um das kostspielige Nachtquartier zu bezahlen. Bismarck bedeutete ihn in aller Ruhe, daß jede der vorgeladenen Parteien ihre Nummer habe und daß er, sobald seine Nummer an die Reihe käme, ihn sogleich vorbescheiden und so rasch als möglich abfertigen werde. Das Bäuerlein aber bestand darauf, es müsse sofort vorgenommen werden. Da es dabei immer heftiger und unartiger in seinen Ausdrücken wurde, so riß endlich dem Auscultator der Geduldsfaden und er erklärte dem Unbescheidenen, daß er, falls er nicht ruhig sei, sich genöthigt sehe, ihn von dem Gerichtsdiener aus der Gerichtsstube hinauswerfen zu lassen. – Jetzt erhob sich der Kreisrichter, der seinen Stolz darein setzte, den Geist der größten Humanität überall blicken zu lassen, mit den Worten: „Ich will Sie, Herr Auscultator, darauf aufmerksam machen, daß hier Niemand Jemanden hinauswerfen lassen darf, als ich.“ Bismarck verneigte sich schweigend vor dem Chef; das Bäuerlein aber wurde, als es sich unerwartet durch einen mächtigen Bundesgenossen verstärkt sah, immer gröber und ungezogener. – Da sprang endlich Bismarck auf, öffnete die Thüre und rief dem Uebermüthigen zu: „Jetzt packt Ihr Euch den Augenblick, oder ich lasse Euch durch den Herrn Kreisrichter ‘nausschmeißen!“
A. W. M.




Zwei Bitten an die Gartenlaube. Zunächst geht uns eine Bitte aus Marmaros Sziget im nordöstlichen Ungarn zu, die ein so ehrendes Vertrauen auf die Gartenlaube voraussetzt, daß wir demselben, besonders in einem so schmerzlich ergreifenden Falle, nach Möglichkeit entsprechen müssen. Im vorjährigen „deutschen Krieg“ wurde ein Unterjäger des vierzehnten österreichischen Jägerbataillons, Johann Eichler, im Gefechte bei Wysokow (Nachod in Böhmen) am 27. Juni nach vollständiger Erschöpfung in Folge eines heldenmüthigen Sturmangriffs, angelehnt an einen Baum, von einem preußischen Trompeter gefangen genommen. So lauten die übereinstimmenden Aussagen seiner Cameraden, wie auch der amtliche Bericht des Bataillons-Commandos. Nach dem Friedensschluß kehrten die österreichischen Gefangenen aus den preußischen Festungen, wie die transportablen Verwundeten aus den deutschen Lazarethen in die Heimath zurück. Nur auf den tapfern Jäger Johann Eichler warten die trauernden Eltern in Prag und der Bruder in Sziget bis heute vergebens. Anfangs gab ihnen die Vermuthung noch einigen Trost, daß der Vermißte in der Gefangenschaft erkrankt sei und später zurückkehren werde. Aber alle Nachricht über ihn blieb aus, jede Nachforschung über sein Schicksal war vergeblich. Beweinen nunmehr seine Lieben ihn auch als einen Verlorenen, einen Todten, so macht doch die Ungewißheit über sein Schicksal den tiefen Schmerz nur noch peinlicher. Darum senden sie durch die Gartenlaube die Bitte in die Oeffentlichkeit um eine Kunde über den Vermißten, sollte es auch die traurigste, die Bestätigung seines Todes sein.

Wir machen diese Bitte zu der unsrigen und ersuchen diejenigen unserer Leser, welche in der Lage sind, den bekümmerten Verwandten den Trost einer sichern Nachricht zu geben, dieselbe an uns richten zu wollen. –




Sodann ersucht uns als die Redaction des „weitest verbreiteten deutschen Blattes“ ein Herr Dr. Kemmel in Melbourne in Australien um die Veröffentlichung des nachstehenden Aufrufes:

„Am 11. Mai 1864 starb hier in Melbourne Karl Wienhart aus Mitau in Kurland und hinterließ ein Vermögen von etwa siebenhundert Pfund Sterling. Obgleich von der Regierung in Australien nach der Heimath des Verstorbenen geschrieben wurde, um allfällige Erben desselben auszumitteln, erfolgte doch keine Antwort. Es ergeht daher jetzt durch die Gartenlaube die erneute Aufforderung an Erbberechtigte, ihre gerichtlich beglaubigten Ansprüche bei dem Gouvernement in Melbourne erheben zu wollen. Dabei sei bemerkt, daß noch ein Bruder Wienhart’s am Leben sein soll, der, um nicht Soldat zu werden, aus Rußland desertirte, auf den Walfischfang zog und dann nach Amerika ging. Der deutsche Turnverein in Melbourne wird gern alle etwaigen An- und Nachfragen beantworten.“ Auch diese Bitte befürwortet die Gartenlaube auf das Wärmste.




Karl Otto, der Maler unseres gemüthvollen Hans-Sachs-Bildes, ein geborener Hannoveraner zählt zu den tüchtigsten Schülern Prof. Piloty’s in München, des Hauptvertreters der neueren dortigen Kunstrichtung. Der verstorbene König Maximilian der Zweite von Baiern, der seine neuen Prachtbauten mit Fresken schmücken ließ, ehrte auch Otto mit Aufträgen, von denen mehrere in bedeutenden Dimensionen ausgeführt sind. Der Künstler, der seine Studien später in Paris und Antwerpen fortsetzte, befindet sich jetzt wieder in München, und dieser neuesten Periode gehört sein Hans Sachs an.




Noch einmal der „Lincoln Mexicos“. (S. S. 284.) Das mexicanische Kaiserzwischenspiel naht sich seinem Ende; nach anderen Nachrichten ist es bereits ausgespielt und Maximilian schon als Kriegsgefangener in den Händen der Republikaner. Die Zügel der Regierung wird nun wieder jener ausgezeichnete Indianer ergreifen, der „Lincoln Mexicos“, dessen Charakteristik neulich die Gartenlaube einer sachkundigen Feder verdankte; wir glauben daher keinen geeigneteren Moment wählen zu können, um, wie wir versprochen, unsere Leser auch mit den zwar nicht eben schönen, doch ausdrucksvollen Gesichtszügen Juarez’s bekannt zu machen, welche uns aus der zweiten Illustration unserer heutigen Nummer entgegentreten.




Im Verlag von Ernst Keil in Leipzig ist erschienen:

Dr. Otto Ule,
Populäre Naturlehre (Physik)

oder die
Lehre von den Bewegungen in der Natur und von den Naturkräften im Dienste des Menschen.
Für Jedermann faßlich dargestellt.
Mit zahlreichen Holzschnitten. Eleg. brosch. Preis 2 Thlr.




Inhalt: Die Herrin von Dernot. Novelle von Edmund Hoefer. (Fortsetzung.) – Ein deutscher Handwerksmann. Von Louise Otto-Peters, Mit Illustration. – Immerfrisches Obst. – Nur sieben Tage. Von J. J. Engelberg. – Photographien aus dem Reichstag. V. – Blätter und Blüthen: Das Ferngefühl der Blinden. – Praktische Verwendung der Elektricität. – Graf von Bismarck als Auscultator. – Zwei Bitten an die Gartenlaube. – Karl Otto. – Noch einmal der „Lincoln Mexicos“. Mit Portrait.




Die Deutschen Blätter, Literarisch-politische Feuilleton-Beilage zur Gartenlaube, Nr. 17 enthalten: Eine Engländerin über die deutschen Frauen. – Umschau: Eine Ursache der Verarmung. – Pfingstversammlungen in Leipzig. – Das elektrische Clavier. – Was hat Deutschland jetzt zu thun? – Brehm’s neuer Wirkungskreis. – Ein deutscher Nationalschatz. – Poetischer Ostergebrauch. – Arnold Ruge als Roman- und Jugendschriftsteller. – Ein Charakter.




Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Wir dürfen hier wohl an ein ähnliches Unternehmen auf dem Felde der „Schwammkunde“ erinnern, an die von Professor Büchner in Hildburghausen begründete plastische Sammlung aller eßbaren und giftigen Schwämme Deutschlands.
    D. Red.
  2. Der oben erzählte Fall hat vor einigen Jahren vielfaches Aufsehen erregt und ist neuerdings durch den erfolgten Tod des armen Mädchens wieder in die Erinnerung gerufen worden.
    D. Red.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: bickte
  2. Vorlage: Porlellanmasse
  3. Vorlage: der
  4. Vorlage: eine