Die Gartenlaube (1875)/Heft 33

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1875
Erscheinungsdatum: 1875
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 33.   1875.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennige. – In Heften à 50 Pfennige.


Hund und Katz’.
Eine Geschichte aus dem bairischen Oberlande.
Von Herman Schmid.
(Fortsetzung.)


Es war ein zierliches Schreiben des Geometers, worin derselbe dem Müller mittheilte, daß in der Gesellschaft ein Ball stattfinde, der an Schönheit Alles übertreffen solle und dem nichts mangle, als seine und seiner liebenswürdigen Tochter Gegenwart. Er lud sie daher beide in artigster Weise dazu ein und erwähnte, wie er in der Gesellschaft schon so viel und oft von ihnen erzählt habe, daß Alles begierig sei, ein paar so ausgezeichnete Leute kennen zu lernen. Als unverheirathet, schrieb der Canarienvogel weiter, sei es ihm zwar leider nicht möglich, sie in eigener Behausung zu bewirthen und zu beherbergen, aber eine Schwester seiner verstorbenen Mutter werde sich eine Ehre daraus machen, sie aufzunehmen und vielleicht dem Fräulein behülflich zu sein, wenn am Ballstaate etwas fehlen sollte; es wäre daher sehr ersprießlich, wenn sie schon einen Tag früher einzutreffen vermöchten. „Ich lebe nur in dieser freudigen Erwartung,“ hieß es am Schlusse, „und gebe mich der Zuversicht hin, daß der Siegeswagen meiner Hoffnungen durch keinen ländlichen Stein des Anstoßes aufgehalten wird.“

Knirschend vor Zorn ballte Zachariesel das Blatt zusammen, warf es auf den Boden und sprang es mit beiden Füßen platt; dann rannte er aus der Mühle, wo der Knappe ihm so wenig den Ausgang wehrte, als er den künftigen Herrn des Hauses am Eintritte gehindert hatte. Er blickte nicht mehr zurück und wandte nicht einmal den Kopf, obwohl der Bursche unter die Mühlthür getreten war und, ihm nachsehend, ein Liedchen pfiff, dessen bekannte Reime offenbar auf ihn gemünzt waren. Sie lauteten ungefähr:

„Um und auf, auf und um –
Ich weiß niemal’ warum:
Wenn’s einmal Alle hör’n,
Werd’ ich’s auch schon inne wer’n (werden).“

Er wußte und beachtete nicht, wohin er lief; so gerieth er in die entgegengesetzte Richtung, daß es den Anschein hatte, als wolle er schnurstracks nach München laufen, um die tanzlustige Braut zurückzuholen. Wäre der verdammte Gelbling ihm jetzt begegnet, er wäre diesmal nicht so mit heiler Haut davongekommen, wie im Erlinger Hohlwege. Also bis dahin war es gekommen, daß Mechtild sich nicht einmal mehr mit den Halbstädtern von Weilheim begnügte; ihm zum Trotze und offenbarem Hohne hatte sie, ohne ihn zu fragen, ohne ihn auch nur einer Nachricht zu würdigen, die Einladung des Menschen angenommen, der ihm zuwider war wie kein anderes Geschöpf zwischen Mond und Sonne. Nun gab es aber auch kein Schwanken und kein Besinnen mehr; nun stand sein Entschluß felsenfest wie der Waldberg an seiner Seite, von dessen Höhe der Dom von Andechs thalbeherrschend hernieder sah. Nur über das Eine, wie die Sache angefaßt werden müsse, war er noch etwas im Zweifel, doch stieg es immer klarer in ihm auf, daß Mechel’s Augen gegenüber mit Worten nichts auszurichten sei und daß es das Klügste sei, einen Brief zu schreiben, den weder der Müller noch Mechel an’s Fenster zu stecken Lust haben würde.

Ein plötzlich losbrechender Windstoß rüttelte ihn aus seiner Betäubung auf, indem er ihm einen abgerissenen Baumast vor die Füße warf. Schwül quoll und drang es mit einem Male durch den Wald, als wäre die Thür eines unverwahrten Schmelzofens plötzlich aufgethan; es begann von den übereisten Bäumen zu tropfen, und dazwischen wirbelten in seltsamem Gegensatze dichte sturmgejagte Schneeflocken durcheinander.

Das Wettermannl’ hatte recht gesehen: der braune Höhenrauch war zum Sturme geworden; mit ihm war der warme Wind da und das Thauwetter dazu.

Zachariesel mußte sich nach einer Zuflucht umsehen und fand sie in einer offenen Waldcapelle, deren hölzernes Vordach ihm mindestens für den ersten heftigsten Anprall Schutz verhieß. Gedankenvoll, mit dem Rücken gegen das Innere der Capelle gewendet, ließ er sich auf den Knieschemel einer Betbank nieder und gewahrte nicht, daß vor ihm schon Jemand Anderes in gleicher Absicht die Capelle betreten hatte.

Es rauschte und raschelte mehrmals wie absichtlich hinter ihm, aber er achtete nicht darauf. Jetzt kam es noch näher an ihn, und eine klare Stimme rief seinen Namen.

Was war das? Wer kannte ihn hier? Wer nannte ihn so vertraulich wie ein guter alter Freund bei seinem Namen, und wer sprach diesen unlieben Namen so freundlich und lieb aus, daß man es gar nicht für möglich halten sollte, in den steifen Namen des jüdischen Hohenpriesters so viel Wohlklang hinein zu legen? So hatte er das Wort noch von keinem Menschen sprechen gehört; so war es ihm wenigstens nicht mehr zu Gehör gekommen seit den frühesten Bubentagen, aus denen ihm auch nichts geblieben war, als eine anklingende und verklingende Erinnerung.

[550] Blitzschnell hatte er auf den Ruf sich umgewendet und fand sich einem Mädchen gegenüber, das ihm lächelnd und mit der Zutraulichkeit einer alten Bekannten in’s Gesicht sah. Einen Augenblick starrte er sie unsicher und wie fragend an, dann schoß es auch in ihm wie ein lohender Blitz empor; das war das freundliche Antlitz, das ihm über den Zaun grüßend zugenickt, und ein nicht minder freundliches Lächeln zuckte dem Mädchen auf den Lippen des Burschen entgegen.

Dennoch blieb ein Rest staunender Frage in seinen Augen hangen. „Was schaust’ mich so an?“ sagte das Mädchen mit einer Stimme, welche dem Burschen in’s Ohr tönte wie der Klang von verhallenden Cithersaiten. „Kennst mich etwann nicht mehr? Ich bin ja das Julei.“

„Julei!“ rief Zachariesel wie aus plötzlicher Erstarrung aufschauend. „Du bist es? Du bist noch auf der Welt, und ich hab’ in der ganzen langen, langen Zeit nichts mehr gehört von Dir.“

„Wirst wohl viel gefragt haben um mich!“ entgegnete sie fein. „Bin auch weit herumgekommen derweil und weit weg gewesen, aber ich hab’ Dir doch manchmal nachgefragt und mich immer herzlich gefreut, wenn ich gehört hab’, daß es Dir gut geht, Zachariesel.“

Der Name schmeichelte sich noch weicher und gefälliger an sein Ohr. Er begriff nicht, wie er ihm selbst oder Jemand Anderem jemals unschön geklungen haben konnte; sinnend und wie versunken haftete sein Blick auf dem Mädchen, als ob er nimmer davon loslassen wolle. „Und Du bist nit harb darüber,“ sagte er nach einer Weile, „daß ich Dich nicht gleich wieder erkannt habe?“

„Wie könnt’ ich denn,“ entgegnete sie freundlich, „sind ja doch schon ein fünfzehn Jahr’ vergangen seitdem, und wir sind Kinder gewesen selbiges Mal. Und wie geht’s Deinem lieben Mutterl?“ setzte sie hinzu und senkte die Augen, um den seinigen auszuweichen. „Ist sie wohlauf, und ob sie es wohl gern sehen thät, wenn ich mir’s einmal herausnehmen thät’ und thät’ sie heimsuchen?“

„Gewiß, gewiß!“ rief Zachariesel hastig. „Sie wird sich gewiß gerade so freuen, das Julei wiederzuseh’n, wie ich mich freue, aber es wird ihr geh’n wie mir, sie wird Dich auch nicht wieder kennen. Kann ich’s doch immer noch nicht recht glauben, daß Du das Julei bist, das liebe …“

„Ich bin’s doch schon in Lebensgröß’, sagte sie lächelnd, da er etwas stockte. „Sag’s nur gerade heraus, was Du auf der Zunge gehabt hast – das arme Scheerschleifer-Julei, dem Deine Eltern so viel Liebes und Gutes gethan haben, wie mein Vater so Knall und Fall fort gemußt hat in die Ewigkeit. Ich bin freilich damals noch ein unverständiges Dirnl gewesen, aber die Mutter hat mir’s oft erzählt und hat mir aufgetragen, wann ich je einmal wieder in die Gegend käm’, daß ich Euch aufsuchen und für Alles danken soll, was wir von Euch empfangen, sie und ich.“

„Und wie ist es Dir gegangen in der langen Zeit?“ fragte Zachariesel, der die Augen von ihr nicht loszubringen vermochte und dem dabei ganz wunderbare Gedanken aufstiegen. Er that die Frage eigentlich nur, um sie ungestört beobachten zu können, denn mit einem Male kam sie ihm so bekannt vor, als wenn er sie Tag für Tag gesehen, und dann ging ihm eine Aehnlichkeit auf, so wunderbar, daß er selber nicht begriff, wo er nur die Augen gehabt haben mußte, sie nicht sogleich zu bemerken. Das Julei glich Mechtilden beinahe Zug für Zug, nur war sie etwas kleiner und schmächtiger von Gestalt und machte den Eindruck einer eigenthümlichen Zierlichkeit – auch die Gesichtsfarbe war tiefer gebräunt, und in den schwarzen glänzenden Augen und dem Schwunge der Brauen lag etwas, was auf eine fremdartige Abstammung schließen ließ.

„Wie’s mir gegangen ist?“ fragte Julei entgegen. „Das wird kurz bei einander sein. Wie der Vater todt war, ist’s nichts mehr gewesen mit dem Scheerenschleifen. Die Mutter ist daher nach Ungarn hinunter, wo sie daheim war, und hat gemeint, sie könnt’ dort ein Auskommen finden für sie und mich; die Leut’ sind aber selber arm gewesen, und sie hat’s auch nicht mehr dort ausgehalten und hat sich nach dem Lande zurückgesehnt, wo der Vater begraben liegt. Da hat sie, weil sie eine gar geschickte Näherin war, sich in der Stadt Arbeit gesucht und hat sich durchgebracht, so schlecht und recht, zwischen Kümmerniß und Armuth, bis sie ihre Augen, die oft recht müde und roth waren vom Nähen und Weinen, ganz zugemacht hat. Sie hat auch mich zu der Näherei angehalten, und eine reiche Frau, für die wir gearbeitet haben, hat sich um mich angenommen. Ihr Mann, der ein hoher Herr gewesen ist, hat sich in die Ruh’ zurückgezogen und ist auf’s Land gegangen – da hat sie mir zugeredet, mitzugehen, und hat gemeint, auf dem Lande wär’ man oft froh, eine gute Arbeiterin zu finden, da würde ich vollauf Kundschaft und Verdienst haben – so bin ich denn mitgegangen und bereu’ es nicht. Die gnädige Frau hat ihr Wort gehalten und ist mir überall behülflich gewesen, und so bin ich bald im Dorfe und in der ganzen Gegend bekannt geworden und geh’ von einem Orte an den andern auf der Stöhr’ herum.“

„Aber ich hab’ Dich doch in Erling gesehen,“ rief Zachariesel, „wie Du mit einer Grasburd’ auf dem Kopfe über den Weg gegangen bist. Ich bin im Hohlwege hinter’m Zaune gelegen und hab’ Dich anreden wollen, aber Du bist weggewesen, als wenn Du in den Boden versunken wärst.“

Julei kicherte vor sich hin. „Weiß schon,“ sagte sie, „da hab’ ich für die Bäu’rin, bei der ich gerade war, ein Tuch voll Grünfutter hereingeholt, weil sie selber bresthaft war. Aushelfen kann ich wohl, wenn Noth an Mann geht,“ setzte sie, wie über sich selbst beschämt, hinzu, „aber sonst bin ich für die starke Arbeit zu kleber (mager) und gering. Aber was hast Du selbiges Mal dort auf der Abseiten in dem Hohlwege zu thun gehabt?“

Zachariesel ward blutroth und besann sich auf eine Antwort – was er in Wahrheit dort gewollt, konnte er dem Mädchen doch nicht wohl sagen. Ehe dieselbe gefunden war, begann Julei wieder zu sprechen; sie fühlte wohl, daß sie irgend etwas nicht Angenehmes berührt haben mochte. „Und wo kommst nachher Du jetzt in die öde Gegend da? Gewiß von der Grubenmühl’? – Ich hab’s schon gehört, daß Du dort einheirathest und Grubenmüller wirst. Das ist wohl Dein Schatz gewesen, die Du am Arme geführt hast – selm (selbiges Mal) in Erling?“

Dem Burschen war’s, als ob ihm die Sprache benommen sei; er konnte nur nicken, und das Mädchen mußte abermals den Faden des Gesprächs aufnehmen, wenn es nicht vollends in’s Stocken gerathen sollte. „Und was wird’s nachher mit Deinem Heimathl, mit dem Weindlgute und Deinem guten Mutterl?“

„Das Heimathl,“ sagte er endlich, „das werden wir halt verkaufen, und die Mutter, die geht mit mir.“

„Mit Dir? In die Mühl’?“ rief Julei und ihre Augen blitzten. „Und da lebt Ihr nachher so Alle miteinander in lauter Lieb’ und Gutheit? Das muß schön sein, Zachariesel, aber ich wünsch’ Dir’s und gönn’ Dir’s von Herzen daß es Dir so recht gut geht, und will schon auch beten, daß Dir alle Deine liebsten Wünsche ausgeh’n.“

Der Ton, mit dem sie das sagte, war so unbefangen und doch so herzenswarm, daß Zachariesel wie unwillkürlich ihre beiden Hände faßte, die sie ihm auch in aller Ruhe überließ. „Ich dank’ Dir, Julei, ich dank’ Dir tausendmal; ich werd’s brauchen können,“ rief er feurig, und wäre doch im Augenblicke kaum im Stande gewesen, zu sagen, was denn wohl gerade jetzt seine liebsten Wünsche sein mochten. „Also thät’ Dir das Leben in einer Mühl’ gefallen?“ setzte er dann, sich etwas mäßigend, hinzu.

Sie lachte auf; man hörte dem frischen Tone des Lachens an, daß es aus einem heitern und reinen Gemüthe kam. „Ob mir das gefallen thät?“ rief sie munter. „Die Tag’, wo ich in eine Mühl’ auf die Stöhr’ komm’, die sind nur mir die allerliebsten, als wenn’s lauter Feiertag’ wären … so still, und so heimelig, und so lieb staubig, und hernach das Sausen vom Wasser und das Klappern von den Rädern …“

Sie hielt inne; es wandelte sie an, als habe sie zu viel gesagt; auch Zachariesel schien sich in Gedanken das Mühlenbild besser auszumalen, hielt aber immer noch ihre Hände gefaßt.

Einen Athemzug lang standen sie wortlos vor einander – dann entzog sie ihm ihre Hände und griff nach dem kleinen Bündel, das sie im Capellchen abgelegt hatte, „Aber jetzt ist’s [551] hohe Zeit, daß ich mich wieder auf den Weg mach’,“ sagte sie, „ich hab’ noch eine gute Weil’ zu laufen, bis ich an den Ort komm’, wo ich morgen Stöhr’ habe, und wenn ich nicht vor Nacht da bin, könnten die Leute wohl gar schmälen – also behüt’ Dich Gott, Zachariesel!“

„O, bleib’ nur noch ein wengel (wenig),“ sagte er, „oder laß mich mit Dir gehen!“

„Ich kann nimmer warten,“ erwiderte sie mit leichtem Erröthen, „und das Mitgehen thät’ sich nicht schicken – es ist von wegen der Leut’. Das Wetter hat sich auch aufgehellt, und so find ich meinen Weg schon allein; also nochmal: b’hüt’ Dich Gott, Zachariesel!“

Sie ging, und er machte keinen Versuch, sie zu halten. Sein ganzer Abschied bestand in einem halblauten „B’hüt’ Gott!“ Er sah ihr nach bis an die Wendung des Waldweges, dort wendete sie sich, sah zurück und nickte ihm zu. Es wollte ihm bedünken, als wäre ihr Gesichtchen dabei nicht mehr so freundlich gewesen, wie zuvor oder bei dem Gruße über den Erlingerzaun. Darüber faßte ihn mit einmal eine gewaltige Unruhe; es war ihm, als ob ihn im Augenblicke ein ganz ungeheurer Verlust träfe, als müsse er ihr nach, um sie zurückzuhalten; er bezwang sich aber, setzte sich ruhig auf den Schemel der Betbank nieder und sah starr vor sich hin, in die einbrechende Dämmerung hinein. Wirr jagten seine Gedanken durch einander, wie die feuchten Flocken, welche auf den Waldweg niederfielen.

Und als wäre keimender Frühling um ihn und nicht tödtlicher Winter, so farbig und reich sprossen vor seinen inneren Augen Erinnerungen aus seinen Bubenjahren auf, wie Feldblumen auf einem frischgrünen Rasen. Er sah, als wär’ es gestern gewesen, wie einmal ein Mann mit einem Schleiferkarren spät Abends auf das Gut gekommen, der eine Frau und ein kleines Mädchen bei sich hatte und um Nachtherberge bat, weil er krank und außer Stande war, das nächste Dorf zu erreichen. Der Vater war zwar dagegen gewesen und wollte von solchen Strolchen und Streunern nichts wissen, aber die Mutter redete gut für sie, und während des Gesprächs der Eltern waren die unbefangenen Kinder rasch mit einander bekannt geworden. Am andern Tage aber hatte es großen Jammer gegeben, denn der fremde kranke Mann lag starr und todt auf seinem Strohlager in der Scheune – er hatte sich, ohne daß es die Seinen gemerkt, in aller Stille aus dem Leben fortgeschlichen.

Zachariesel hörte in seinen Ohren noch die Jammertöne, mit welchen die so plötzlich Wittwe gewordene Frau sich über den Leichnam warf, und wie bitterlich das arme Waischen schluchzte und immer wieder den Todten an der starren Hand faßte, als müßte ihn die Berührung des kleinen Julei wecken, das er so lieb gehabt. Er sah das Bild vor sich stehen, wie man den fremden Mann an der Kirchhofmauer eingrub, wie er selbst dabei das Julei an der Hand führte und ihr den Inbegriff seines Bubenglücks, eine Schachtel voll rothröckiger Bleisoldaten versprach, wenn sie zu weinen aufhöre. Er entsann sich, wie dann eines Morgens die Frau mit dem Schleiferkarren fortgezogen sei, das Mädchen aber zurückgelassen habe; sie wollte gehen, um Unterkunft zu suchen, und dann wiederkommen, das Kind abzuholen. So war das Julei geblieben und ihm durch eine lange Reihe glücklicher Kindertage eine Gespielin geworden, die bald, Vater und Mutter beinahe vergessend, in der Fremde eine Heimath gefunden hatte. Lebhaft tauchte im Gemüthe des Sinnenden auch das Schreckbild des Morgens auf, als er beim Erwachen erfuhr, die fremde Frau sei in der Nacht da gewesen und habe ihr Kind mitgenommen – ihn selbst hatte man nicht geweckt, um ihm den Schmerz der Trennung zu ersparen. Was dann geschehen, verschwamm in unklaren Bildern; er war in eine schwere Krankheit verfallen, und als er wieder genesen, war mit der Lebhaftigkeit der Erinnerung auch die Gewalt des Schmerzes gebrochen – neue Gespielen, neue Freuden sproßten um seinen Weg durch das junge Leben, wächst doch auch über Gräbern wieder Gras.

Dennoch begriff er nicht, wie Julei’s Bild ihm so ganz zu entschwinden vermochte, und sein Herz zog sich wie krampfhaft zusammen, wenn er an seine Leidenschaft für Mechel gedachte; es wollte ihm scheinen, als wäre es nur die unerkannte Aehnlichkeit mit Julei gewesen, was ihn an Mechel gezogen und gefesselt, als sei es eigentlich immer nur Julei gewesen, die er in ihr geliebt. Wie um sich selbst zu entfliehen und seinen eigenen Gedanken, sprang er endlich auf und rannte ziellos durch Sturm und feuchtes Schneegestöber davon.

Mehrere Tage hatte das Unwetter fortgestürmt. Der warme Föhn ließ nicht nach, so daß trotz des wolkenbedeckten Himmels der Schnee zerschlich und die Eisdecke des Sees brüchig wurde; von unten stiegen und wallten nach der Ansicht des Landmanns die warmen Grundwasser empor und sprengten den Panzer, wo er noch fest anlag, die Ammer aber goß ihre steigenden Wellen darüber hin und schob manchen Eisblock mit, daß die Schollen sich stauten, an- und übereinander emporstiegen und zu treiben begannen.

Es war ein wilder, hartnäckiger Kampf, den der nicht enden wollende Winter mit den Gewalten kämpfte, die der Frühling plötzlich als Vortrab voraus gesandt hatte – In einer düstern Bauernstube in einem Dorfe an den ersten Abhängen der Berge tobte ein ähnlicher Kampf; ein erlöschendes Leben wehrte und stemmte sich mit den letzten Kräften und Aengsten gegen den Tod, der unerwartet die unerbittliche Hand nach ihm ausstreckte, dem Vogel ähnlich, der vor der Hand, die in den Käfig greift, um ihn zu fassen, erschrickt und scheu hin und wider flattert und sich Kopf und Flügel zerstößt. Die Nachricht, daß es schlimm um Kuni’s Mutterschwester stehe, hatte vollen Grund gehabt, und das Mädchen war der Leidenden zur guten Stunde und wie ein guter Geist gekommen; der Geist, der bis dahin dort gewaltet, war jene Hast und Unruhe gewesen, welcher die Erde als eine große Werkstatt und das Leben als ein Tretrad in derselben erscheint, welche Tag um Tag in der Sorge des Nichtgenügens an der harten bittern Schale der Arbeit nagt, ohne jemals die Süßigkeit ihres Kerns zu genießen.

Kuni hatte die Base kaum gekannt und jedenfalls sehr selten gesehen; sie war eine übellaunige, vergrämte und vergrimmte Frau gewesen, die in reifen Jahren einen viel älteren Mann geheirathet hatte und nach dessen baldigem Tode viele Jahre kinderlos auf dem nicht unansehnlichen Söldengütchen forthauste und von den Verwandten, deren sie nicht bedurfte, ebenso wenig wissen wollte, als von den Bewohnern des von ihrem Hause etwas entfernt liegenden Dörfchens. Da man bei verschiedenen Anlässen ihr abstoßendes Wesen erfahren, hatte man sie gewähren lassen; desto mehr machten ihr die Seitenverwandten ihres Mannes das Leben sauer, die es nicht verwinden konnten, daß ihnen durch sie das Gütchen entzogen war, das er ihr als Wittthum verschrieben hatte. Eine große hagere Gestalt mit ernsthaften, fast männlichen Gesichtszügen, hatte sie dasselbe bewirthschaftet, nicht als Herrin in ruhig thätigem Genusse, sondern im Schweiße ihres Angesichts als ihr eigener erster Dienstbote, hadernd mir ihrer ganzen Umgebung, wie mit sich selbst. Wie sie jeden Umgang und Verkehr mied, wurde sie auch bald gemieden, und grollte doch darüber, daß man es that, wie über ein Unrecht, das ihr widerfahren.

Bei ihrer zähen Körperbeschaffenheit hätte sie wohl das höchste Greisenalter erreichen können, aber ein Fall, den sie in ihrer steten Uebereile gethan, hatte sie am Fuße beschädigt, daß sie nicht mehr gehen konnte und das Lager suchen mußte, um sich nicht wieder von ihm zu erheben. Kuni wußte den Widerspruch des Vaters gegen einen Besuch bei der kranken Base bald zu überwinden und gab ihm insgeheim nicht Unrecht, wenn er ihr vorwarf, daß sie doch nur den Leuten und dem Gerede ausweichen wollte. Sie war seit der Geschichte mit dem Loostanze nur einmal in der Kirche gewesen, und es war ihr nicht entgangen, wie die Burschen gelacht, die Mädchen gezischelt, die Männer und Frauen aber die Köpfe zusammengesteckt hatten. Möglich auch, daß in ihrer Seele der vielleicht nicht ganz klar ausgesprochene Hintergedanke lag, daß sie selbst der Entfernung aus den gewohnten Verhältnissen und der Zurückgezogenheit bedürfe, um mit sich selbst über das Vorgefallene in’s Reine zu kommen, das auf ihr lag wie das Bewußtsein einer Schuld, wie die Erinnerung eines begangenen Unrechts, wenn sie sich auch wieder und wieder vergeblich zersann, worin dasselbe eigentlich bestehen sollte.

Die Base empfing sie mit einem Gemisch von Freundlichkeit und Groll. Es gefiel ihr, daß die Tochter des reichen Bauers kam, sie, die verhältnißmäßig arme Söldnerswittib zu pflegen, und doch konnte sie es nicht unterlassen, auf den muthmaßlichen [552] Grund dieses Kommens anzuspielen, auf die Absicht, sich die Erbschaft zu sichern. Als Kuni das mit allem Ausdruck der unbefangensten Wahrheit verneinte, sah sie dieselbe zweifelnd und mit dem ungläubigen Spottlachen eines Gemüthes an, das sich vereist hat, um überall nur Absicht zu erkennen; als die Sache öfter besprochen wurde und Kuni immer gleich ruhig und gleich entschieden dabei blieb, daß sie von ihr nichts wolle und daß auch der Vater meine, sie solle ihr Vermögen den Verwandten ihres Mannes zuwenden, von dem es doch zumeist herstamme, da verfehlte Kuni’s freundlich friedliches Wesen auch hier seine Wirkung nicht, und mit steigendem Gefallen betrachtete die Alte, wie sie, die Geschäfte in Haus und Wirthschaft besorgend, emsig und doch gelassen aus und ein ging, ihr mit der Sicherheit des Verständnisses darüber berichtete und ohne Widerrede daran ging, ihre Anordnungen auszuführen. Sie sprach nicht darüber, aber sie ward ruhiger und nach einigen Tagen hatte es den Anschein, als ob durch die Ruhe des Gemüths auch die Kraft des Körpers sich wieder zu steigern beginne. Dennoch erwies die Hoffnung sich bald wieder als trügerisch.

Der morsche Bau war zu sehr im Grunde erschüttert und innere Unruhe kehrte wieder. Der Zustand verschlimmerte sich von Tag zu Tage, und schon zwängte sich der Zeuge des Lebens, der Athem, keuchend durch die starren Luftwege, die sich schon für immer zu schließen begannen.

Wohl war nach dem gläubigen Sinne des Landvolkes der Pfarrer gerufen worden, um die letzten Tröstungen zu spenden. Die durch seinen Zuspruch eingetretene Beruhigung währte nicht lange: die erhitzte Einbildungskraft war stärker als der kalt prüfende Gedanke.

Es dunkelte stark in der niedrigen, ganz aus Balken gefügten Stube. Diese Balken waren gleich der Decke vor Alter schwarzbraun geworden und dämpften dadurch das wenige Licht, dem die kleinen Scheiben des kleinen Fensters Eingang gestatteten, vollends zu tiefer Dämmerung ab. Kuni saß am Bette der Kranken, die einen Augenblick in schlummerhafte Betäubung versunken war, aber die Hand ihrer Wärterin gefaßt hatte und fest hielt, wie um sich ihrer Anwesenheit zu versichern. Geräusch von nahenden Tritten und leises Gespräch vor der Thür machten Kuni aufhorchen. Ihre Bewegung weckte auch die Base aus dem Schlafe; auf Kuni’s Ruf öffnete sich die Thür; eine Magd trat ein und brachte die Nachricht, daß ein Mann gekommen, der Botschaft vom Schlösselbauernhofe bringe. Die Kranke ließ Kuni, die sich erheben wollte, nicht los: „Bleib’ bei mir, Kuni!“ sagte sie angstvoll, „ich laß Dich nicht los. Du mußt bei mir bleiben. Ich kann mir’s wohl denken, was es mit der Botschaft ist. Dein Vater wird Dich daheim haben wollen – aber Du darfst nicht fort. Du mußt bei mir bleiben, bis ich wieder gesund bin.“

„Ich bleib’, Bas’l,“ entgegnete das Mädchen, „ängstigt Euch nicht! Ich bleib’ bei Euch, bis Ihr wieder gesund seid … wenn nur dem Vater nichts zugestoßen ist.“

Zur Beruhigung der Kranken mußte der Bote in die Stube treten und berichtete, der Schlösselbauer sei gesund und wohlauf, aber es gebe so viel zu schaffen, daß er die Tochter nicht länger entrathen könne. In drei Tagen werde er daher das Fuhrwerk schicken, um sie abzuholen.

Kuni war kaum im Stande, die Aufregung der Kranken zu beschwichtigen; es gelang nur allmählich, indem sie versprach, gleich am andern Morgen hinwider einen Boten auf den Schlösselhof zu senden, der den Vater beruhige und aufkläre. „Ich selber will Euch nicht verlassen, Bas’l,“ setzte sie herzlich hinzu, „ich will bei Euch bleiben, bis Ihr wieder gesund seid oder bis Ihr mich selber nicht mehr aufhaltet.“

„Bis ich gesund bin, Kuni,“ sagte die Kranke hastig; „hab’ nur noch eine kleine Geduld! Ich werd’ Dir die Zeit nicht gar zu lang’ machen … ich mein’, es geht mir mit Riesenschritten besser; der Fuß thut mir fast gar nicht mehr weh, und auf der Brust ist mir auf einmal völlig leicht. Morgen will ich das Aufstehn probiren, vielleicht fahr’ ich in ein paar Tagen gleich mit Dir zum Schwager.“

„Habt keine Sorg’,“ sagte der Bote leise zu Kuni, die ihn bis an die Thür geleitet hatte, „die fahrt mit Niemand mehr, als mit dem Beiner-Steffel auf den Freithof – die macht’s noch heute Nacht gar.“

Auf’s Tiefste erschüttert, kehrte das Mädchen an’s Lager zurück; sie war in ihrem Leben noch an keinem Sterbebette gestanden. In ihrer jugendlichen Unerfahrenheit hatte sie immer noch ab und zu Hoffnung gefaßt. Die Gewißheit, vor einer Sterbenden zu stehen und dem Tode unmittelbar in’s Angesicht zu schauen, stieg wie Nachtgewölk vor ihr auf und warf einen dunklen Schatten weit voraus in ihr eigenes Leben, das ja auch dem gleichen Ausgange zueilte; sie brach unwillkürlich in Thränen aus. Die Kranke setzte diese Rührung ganz auf Rechnung der Theilnahme, die sie ihr schenkte. Sie faßte wieder ihre Hand, drückte sie und sagte mühsam: „Wein’ nicht so um mich! Ich hab’s gerad’ nit verdient um Dich, aber Du gerathest halt Deiner Mutter selig nach, die ist auch so gut gewesen, hat immer gleich die Augen voll Wasser gehabt und hat keinem Menschen feind sein können, nicht um Alles in der Welt. Ich will Dir’s aber nit vergessen, Kuni. Du sollst Alles haben, was mir gehört; wie ich wieder aufkomme, mach’ ich’s gleich richtig, daß Alles Dir gehört und keinem andern Menschen.“

Kuni senkte den Blick und schwieg eine Weile.

„Ich hab’s Euch schon oft gesagt, Bas’l,“ erwiderte sie dann, „daß ich nichts davon annehm’. Ich thät’ mir Sünden fürchten dabei, und wenn Ihr sagt, daß meine Mutter so gut war und Niemand hat feind sein können, so seid Ihr ja ihre Schwester und werdet doch auch etwas haben von der guten Art. Vermacht Eure Sach’ den Gefreundeten von Eurem Mann! Die sind arm und haben’s nöthiger als ich. Gebt die Feindschaft auf und macht Euch das Herz leichter – ich mein’, Ihr müßtet dann gleich noch einmal so leicht schnaufen. Thut’s mir zu lieb, Bas’l!“

„Leichter schnaufen?“ sagte die Kranke vergnügt. „Ja, wenn ich das wüßte, da könnt’ ich’s wohl versuchen. Und Du willst wirklich nichts davon? Willst Alles aufgeben, nur nur meinetwegen, damit es mir besser geh’n soll? Dafür soll’s Dir auch gut geh’n Dein Leben lang und soll Dir Glück bringen, wenn Du einmal Hochzeit machst. Brauchst Dich deswegen nicht zu scheuen,“ setzte sie hinzu, da sie Kuni’s warme, lebensvolle Hand in ihrer erstarrenden, kalten, erzittern fühlte, „ich wünsch’ Dir den besten Mann, einen Mann so brav wie Du selber bist und an den Du vielleicht just in dem Augenblick denkst.“

Rasch erhob sich Kuni und eilte der Thür zu; die Dunkelheit barg das Erröthen, das ihr die Wangen überflog.

„Was ist’s?“ fragte die Alte. „Wo willst hin?“

„Hinaus,“ war die Antwort, „will zum Vorsteher hinüberschicken, daß er es gleich festmacht mit der Vermächtniß.“

„Meinst, es wär’ so eilig?“ rief die Kranke und sah ihr erschrocken mit weitgeöffneten Augen nach. „Aber wie Du’s meinst, Kuni. Dir zu lieb will ich’s thun.“

Bald war der Gemeindevorsteher mit Zeugen erschienen und die letzte Willensmeinung schlicht und bündig niedergelegt. Die Männer waren voll Freude über den Entschluß der Kranken, auf diese Weise einer alten vielverzweigten Verfeindung ein Ende zu machen, und die von ihrem Lobe erfreute Alte fühlte noch einmal eine rasche wärmere Blutwelle vom Herzen strömen und wie neu belebend sich in die Adern ergießen. Sie athmete eine Zeit lang wirklich freier, als wäre ihr eine schwere Last von der Brust gewälzt; nach kurzer Erleichterung aber rollte dieselbe mit doppelter Wucht auf sie zurück. Von Beklemmungen gequält, fuhr sie empor, schwer nach Luft ringend, und die unsteten Augen verriethen, daß der Geist wieder beginne in der Irre zu schweifen. „Da fängt es schon wieder zu drücken an und will mich ersticken. Ich komm’ nimmer auf, Kuni – Du wirst es seh’n, daß ich nimmer aufkomm’, und ich kann ja noch nicht fort, ich hab’ ja noch so viel zu verrichten vor mir.“ Sie sank in die Kissen zurück. Es war, als wollte der Körper sich in die Nothwendigkeit der Auflösung ergeben, aber die erschreckte Seele klammerte sich noch immer an das zertrümmerte Werkzeug: es war, als sei etwas in ihr, was sie nicht leben und nicht sterben ließ.

„Was ist für ein Tag heute?“ fuhr sie plötzlich auf. Kuni nahm den Kalender von der Wand, um nachzusehen, und nannte den Namen des Tagesheiligen. Flüsternd wiederholte ihn die Kranke. „Da jährt sich’s,“ murmelte sie in steigernder Unruhe, „da jährt sich’s bald wieder.“

„Was jährt sich, Bas’l?“ fragte Kuni und neigte sich theilnehmend auf die Stöhnende herab, die sich angstvoll näher an

[553]

Ernst von Bandel auf dem Wege zum Teutberge.
Für die Gartenlaube im Herbste 1874 nach der Natur aufgenommen C. Grote in Hannover.

[554] sie drückte, aber nichts erwiderte. „Was jährt sich?“ fragte sie abermals ergriffen und in eindringlichem Tone. „Bas’l, mir kommt’s vor, Ihr habt noch was auf dem Herzen, was Euch drückt. Habt Ihr noch was auf dem Gewissen? Soll ich nach dem Pfarrer schicken?“

„Ich hab’ nichts auf dem Gewissen,“ sagte die Leidende, „und doch verlaßt mich der Gedanke nicht; ich hab’ gemeint, ich wollt’ es mit hinunternehmen in die Gruben, aber Du, Kuni, Du sollst Alles wissen. Es jährt sich wieder um die Zeit,“ begann sie, mit Anstrengung athmend, „da bin ich ein junges frisches Ding gewesen, schneidig und übermüthig, das gemeint hat, die ganze Welt gehört ihm und was ich wollt’, das müßt’ nach meinem Kopf geh’n. Deine Mutter ist jünger gewesen als ich und war damals noch ein kleines, halb aufgeschossenes Dirnl’. Du weißt, daß wir nit da heraußen daheim waren, sondern drinnen in den Bergen, wo’s Ammergau zugeht. Da ist ein junger Bursch gewesen im Dorf, der hat mir gefallen, und den hab’ ich mir eingebild’t und mich in ihn verliebt, daß ich von ihm nie hätt’ lassen können und wenn man mich mit Haken von ihm gerissen hätt’. Es hat aber das nicht nothwendig gehabt, denn wenn er mir auch zuerst schön gethan und das Blaue vom Himmel herunter versprochen hat, bald ist er wie umgewend’t gewesen und hat nichts von mir wissen wollen. Eine Bauerndirn’, ein arm’s Madl, das nichts gehabt hat, als wie sie ’gangen und g’standen ist, ist ihm lieber gewesen, als die reiche Bauerntochter. Da bin ich ihm feind geworden, spinnfeind, und auf der ganzen Welt ist mir kein Mensch so verhaßt gewesen, wie er. Er hat sich aber um meinen Haß so wenig gekümmert, als zuerst um meine Lieb’, und statt mit mir ein Bauer, ist er lieber mit seiner Dirn’ ein Holzknecht ’worden und hat sich in einer Klamm’ eine elende Hütten gebaut. Dabei hat er aber neben dem Beil alleweil eine Büchs’ zum Abschrauben in seinem Rucksack getragen und ist dem Wildbrätschießen nachgegangen, die Jäger aber sind alle ’Bot hinter ihm her und kreuzfuchtig gewesen, daß sie ihn nie haben erwischen können, ich selber aber bin seit der Zeit verdrossen herumgegangen und hab’ allen Zorn und alle Gall’ in mich hineingeschluckt, und am liebsten ist es mir gewesen zu der Almzeit, wo ich oft gleich wochenlang kein Menschen zu Gesicht ’kriegt hab’. Und einmal …“

Sie schwieg, als ginge ihr der Athem aus oder als müsse sie sich zusammennehmen, über das, was folgen sollte, hinwegzukommen; auch Kuni lauschte so regungslos, daß man die Fliegen summen hörte.

„Einmal,“ fuhr die Erzählerin fort, „einmal, es ist schon auswärts gegangen, da bin ich hinaus gen Alm und wollt’ in unserem Kaser nachsehn, ob nichts zu richten wär’, weil doch die Zeit, wo man das Vieh auftreibt, nimmer weit war.“

(Fortsetzung folgt.)




Der Schöpfer eines National-Denkmals.

Am Vorabend des Hermann-Festes.

Mit Abbildung.

Durch den Herbstwald nach dem Teutberge schreitend, so hat unser Künstler den Mann, den wir heute feiern wollen, gesehen und die Gelegenheit benutzt, den Schöpfer des Hermann-Denkmals für unser Blatt auf das Papier zu zaubern – den Mann, in dessen Auge man jetzt nicht ohne den Gedanken schauen kann: „Wie bist Du glücklich!“

Ja, er gehört zu den Glücklichen dieser Welt, zu den wenigen Glücklichen, die am Abend ihres Lebens ein Werk vollendet sehen, das sie am Morgen begonnen haben, und ein Werk, dessen Dauer für das, was wir Sterblichen die Ewigkeit nennen, berechnet ist.

Deutschland ist längst nicht mehr arm an öffentlichen Denkmälern, so wenig wie es je arm an denkmalwürdigen Menschen und Thaten war. Hatten aber die herrschenden Dynastien zu allen Zeiten die Kunst zur Verherrlichung ihrer Mitglieder und der Thaten ihrer Kriegs- und Staatsmänner an sich gezogen und Residenzen, Schlösser, Kirchen und Plätze mit Werken der Bildhauerei und Malerei ausgestattet – so währte es um so längere Zeit, bis das deutsche Volk sich zu der Anschauung erhob, daß auch seine Männer, seine treuen geistigen Kämpfer, Förderer und Wohlthäter dieselben öffentlichen Ehren verdient hätten, wie die Fürsten und deren Getreue. Familien, Freunde, Genossen und Zünfte waren wohl immer bedacht gewesen, auch dem Andenken der Ihrigen Monumente zu errichten, nur wagte man mit denselben sich lange nicht aus Kirchen und Friedhöfen hinaus: das Grabdenkmal blieb die letzte Ehre unserer großen Todten, wie es ja immer leidige Sitte des Volkes war, seine verdienten Männer erst nach ihrem Tode gerecht zu würdigen und zu verherrlichen.

Es mußte im deutschen Volke erst Das wieder geweckt werden, was ihm unter dem Druck der jämmerlichen politischen Zustände Deutschlands vom dreißigjährigen bis zum Befreiungskriege nahezu erstickt worden war: der Vaterlandsgedanke, das Nationalgefühl. Erst als es wieder warm in deutschen Herzen wurde, als die edelste und muthigste deutsche Jugend es wagte, dem fremden, von feindseligster Hand zur Zerreißung und Schwächung der alten Reichskraft den deutschen Fürsten erteilten Danaergeschenk der Einzelsouveränetät zum Trotze, ein Banner des deutschen Geistes in der schwarzrothgoldenen Fahne zu erheben, und als, alle Verfolgungen überdauernd, dieses Zeichen zu dem des ganzen Volkes sich aufgeschwungen hatte, erst da brach die Zeit der Denkmäler für des Volkes große Männer an. Seit den dreißiger Jahren sahen wir endlich neben den ehernen und marmornen Bildsäulen der Gefeierten der Throne, des Staats und des Kriegs auch die Gestalten der Männer, die bisher in ihren Werken der Künste, Wissenschaften und Industrien der Stolz der Nation waren, auf hohen Postamenten in Erz und Marmor vor dem dankbaren Volke aufragen.

Nur eine Idealgestalt blieb noch der Huldigung entzogen, weil sie den Souveränetäten zuwider war. Siegesgöttinnen, die ebenso gut als „Borussia“, „Hassia“, „Hannovera“ etc. gelten konnten, waren aufgestellt; eine „Bavaria“ sollte alle überragen, nur für eine „Germania“ war nirgends ein Platz in Deutschland, und darum konnte auch das Denkmal eines an des Reiches Einheit mahnenden deutschen Nationalhelden in jener Zeit kein erfreuliches Loos haben.

Ebenso war aber auch das deutsche Volk zur Einigkeit in der That, sobald sie größere Opfer erforderte, noch immer nicht reif, und nur die großen Mittel in einer Hand vermochten auch in der Denkmalkunst wahrhaft Großes auszuführen. Eines der gefeiertsten von uns soeben genannten Werke deutscher Kunst liefert uns hierfür das Beispiel. Zwei Jahre nach dem ersten Auftreten Joseph Ernst’s von Bandel für den Nationalgedanken eines Denkmals für Armin, den Befreier im Teutoburger Wald, sprach der Baiernkönig Ludwig der Erste den Wunsch aus, vor der baierischen Ruhmeshalle auf der Theresienwiese Münchens eine riesige „Bavaria“ aufzustellen. Im Jahre 1838 begann Ludwig von Schwanthaler seine Arbeit an diesem unvergänglichsten Werke seiner Unsterblichkeit, ein mit Recht beneideter Meister, denn ihm stand Alles zu Gebote, was äußerlich zur Förderung seiner Kunstschöpfung von ihm gewünscht werden konnte. Dagegen war es Bandel’s erste Aufgabe, die Mittel zur Ausführung der seinen, die an Großartigkeit jener gleich stehen sollte, aus den Beisteuern patriotischer Geber aufzubringen. Die Zeit war ihm anfangs günstig. Ein Aufruf, mit welchem eine lithographische Abbildung des von ihm schon 1834 in Berlin vollendeten Gipsmodells des Denkmals verbreitet wurde, fand Anklang und regte werkthätige Theilnahme an; ja diese wurde bedeutend erhöht, als sich mit dem Jahre 1840 der deutsche Patriotismus plötzlich durch die Kriegsdrohungen Frankreichs frisch entflammte. als Becker’s Rheinlied deutsches Nationallied wurde und der Thronwechsel in Preußen auch im übrigen Deutschland neue Hoffnungen auf das längst ersehnte Ende der Bundestagswirthschaft erweckte. Die Gaben flossen reichlich, und schon 1841 konnte der Grundstein zum Unterbau des Denkmals auf dem Teutberge oder der sogenannten Grotenburg bei Detmold gelegt

[555] werden und Bandel an die Ausführung seiner Statue selbst gehen.

So ward denn nun gleichzeitig in München und im Teutoburger Wald an zwei verschiedenen und doch so nah verwandten Denkmälern gearbeitet. Während aber die Münchener Meister, Schwanthaler und auch Ferdinand von Miller, der nun von 1845 an, wo das Modell der „Bavaria“ vollendet war, den Guß der Riesenjungfrau mit dem Kopf derselben begann, keine andere Sorge und keinen andern Widerstand kannten, als welche die zu bewältigenden Elemente ihnen bereiteten, während also jene Meister sich einer kunstwürdigen Stellung erfreuten, blieb Bandel von dem Schwellen und Schwanken der öffentlichen Meinung und Stimmung abhängig. Der politische Aufschwung von 1840 ging in Preußen mit der Ernüchterung aus dem Hoffnungstraume und im übrigen Deutschland mit dem Verschwinden der Gefahr am Rheine vorüber, – und die nachfolgende Verbitterung im Volke mußte auch das Denkmal des Nationalhelden entgelten. Dennoch war es möglich geworden, 1846 den Unterbau zum Denkmal, die Tempelhalle, auf deren Kuppel der Held der ersten deutschen Befreiung stehen und sein Schwert erheben sollte, zu vollenden.

Der politische Volksfrühling, in welchem man im größten Theile von Deutschland schon im Jahre 1847 aufathmete, kam auch dem Arminsdenkmale zu Gute; desto schlimmer wurden die Folgen des großen Sturmjahres durch die gehässige und häßliche Reaction, die sich nach demselben austobte und namentlich das Jahr 1850 (nach dem von 1819!) zu einem zweiten „tollen Jahre“ unserer deutschen Geschichte machte. Das ist auch ein fünfundzwanzigjähriges Jubiläum! Wer gedächte nicht heute noch mit Schaudern und Abscheu jener Tage der Strafbaiern in Hessen, der Vorgänge in Schleswig-Holstein, der Schlacht bei Bronzell und des preußischen Canossa-Gangs nach Olmütz? Wohl hätte in dem Pfuhle von Schmach die alte deutsche Ehre um so glänzender leuchten müssen, aber Schmerz und Groll fesselten die Patrioten so sehr an die Gegenwart, daß sie keinen Blick für die so weit entfernte Vergangenheit hatten. Bandel opferte sein eigenes Vermögen, um sein Lebenswerk zu retten, – und doch blieb es Stückwerk und zog kaum noch die Beachtung der Menschen auf sich – in derselben Zeit, zu welcher Schwanthaler’s „Bavaria“, das Hätschelkind der Wittelsbacher Souveränetät, vor Tausenden staunender Augen ihre Enthüllung feierte. Wohl war es dem edlen Schwanthaler nicht vergönnt gewesen, sein Werk noch mit eigenen Augen zu schauen, ihm hatte schon der Herbst jenes Sturmjahres die Blätter der Münchener Friedhofbäume auf das Grab geweht; er war in höchster Manneskraft gestorben kaum ein Vierteljahr älter, als Friedrich Schiller geworden war und dennoch – wie oft mag damals Bandel vor den Fragmenten seines Armin den gefeierten Todten als den Glücklicheren beneidet haben! –

In der ferneren Geschichte dieses Denkmals spiegelte sich die des deutschen Volks wider von der tiefsten Erniedrigung bis zum höchsten Triumphe, und seltsamer Weise liefert unsere „Gartenlaube“ in den fünf Artikeln, die sie (bis zu diesem sechsten) dem Gegenstande weihte, dazu die Belege. Gleich im ersten Jahrgange derselben, lesen wir „Das Hermanns-Denkmal bei Detmold wird aller Wahrscheinlichkeit nach für immer unvollendet bleiben.“ Man hatte damals von den fertigen Theilen desselben den Arm mit dem Schilde gestohlen; aber anstatt Entrüstung weckte die damalige jämmerliche Aehnlichkeit Deutschlands mit diesem arm- und schildlosen Armin vielmehr den Galgenhumor in dem verbitterten Volke auf. Sieben Jahre später mußte ein mit der Abbildung des Armins-Denkmals geschmückter Artikel noch die Ueberschrift führen: „Ein vergessenes deutsches Denkmal.“

Zehn Jahre lastete der politische Alpdruck auf den „Unterthanen“ des wieder mit aller diplomatische Kunst bestens zerrissenen Bundesdeutschlands, – da bildete sich, eben als in Preußen mit der Prinz-Regentschaft die „neue Aera“ begann, eine Art Männer-Burschenschaft in dem „deutschen Nationalverein“. – Das kräftig wieder erwachende politische Leben lenkte wohl auch die öffentliche Theilnahme wieder jenen Siege in der Vergangenheit zu; das Denkmal auf dem Teutberge ward wenigstens nicht ganz vernachlässigt; die Presse nahm sich seiner mehr an, und die Zeiten der großen Nationalfeste halfen ein wenig mit, aber der rechte Zug, den eine nationale Ehrensache von selbst bewirkt, fehlte doch, und dies und der neue Aerger über das Vorgehen der beiden deutschen Großmächte in Schleswig-Holstein 1864 regte den Zorn eines unserer Poeten so auf, daß er ein Gedicht, welches er sogar als „seinen Beitrag zum Hermannsdenkmale“ bezeichnete, mit den bösen Worten schloß:

„Auf, schmeißt den Hermann in den Tiegel
Und gießet euch Kanonen draus!“

Das geschah zwar nicht; aber warten mußten Bandel und sein Armin auf ihre Erlösung, bis das deutsche Volk mit seinen Fürsten durch die harte Schule politischen Kampfs und blutigen Kriegs bis zu dem Thore des Siegs vordrang, dessen Ueberschrift heißt: „Deutsche Nationalpolitik“ und „Kaiser und Reich“. – Dazu konnten die zwanzigtausend Männer des Nationalvereins nicht allein führen; der Geist vom Jahre Dreizehn mußte wieder geweckt werden; er führte Deutschlands Völker und Fürsten in den Krieg von Siebenzig, und das siegreiche Vaterland erhob nun auch Armin, den Befreier, auf die fast dreißig Jahre hoffnungslos verödete Kuppel seines Tempels. Schon 1872 konnten wir unseren Lesern „in der Geburtsstätte des Hermanns-Denkmals“ den Meister Bandel in voller Arbeit an seinem Werke zeigen, und mit solchem Eifer und Erfolg ward dieselbe nun mit der Unterstützung von Kaiser und Reich gefördert, daß wir vor wenigen Wochen in Nr. 21, das vollendete Denkmal, wie es heute seine Weihe auf dem Teutberge feiert, im Bilde vorführen konnten.

Heute, an seinem höchsten Ehrenfeste, steht Ernst von Bandel selbst vor uns, der Fünfundsiebenzigjährige, der als Vierunddreißigjähriger sein Armin-Modell zum ersten Mal an die Oeffentlichkeit gebracht hatte. Wie viel glücklicher ist nun er vor dem einst so gerecht beneideten Schwanthaler! Aber ewig werden ihre Namen beisammen stehen als die der großen, kühnen deutschen Meister, welche die zwei riesigsten Denksäulen edelster Kunst nicht blos in Europa, sondern auf der ganzen bekannten Erde geschaffen haben.

„Was hat das Denkmal gekostet?“ das ist eine nicht zu umgehende Frage, die man nicht auf Antwort warten lassen darf. Der Hermanns-Verein in Detmold berichtete am 8. September 1860 über eine Denkmal-Beitragsumme von 46,493 Thalern; beim Denkmal-Verein in Hannover waren vom 10. Mai 1862 bis dahin 1867 noch 6913 Thaler eingegangen. Rechnet man dazu die 10,000 Thaler Reichs- und noch etwa 10,000 Thaler nachträgliche Spenden, so stellt sich in runder Zahl eine Gesammtbausumme von 73,500 Thalern heraus. Davon waren bis zum 7. Juni 1846, an welchem Tage der letzte Stein in den Unterbau eingefügt wurde, verausgabt worden: für den Unterbau 37,768 Thaler, für die Grundsteinlegung 248 Thaler, für das Standbild selbst 6206 Thaler, also im Ganzen 44,222 Thaler. Hierzu kommen nun noch die Kosten der Vollendung, Befestigung und Aufstellung des Standbildes, die man auf etwa 34,280 Thaler schätzt. Die Gesammtkostensumme von 78,500 Thaler würde demnach noch eine Nachhülfe von 5000 Thalern zur Deckung des Ganzen beanspruchen. Der Meister des Werkes macht alle seine Kunst und Arbeit daran dem Denkmale zum Geschenke. Nehmen wir also die Gesammtsumme zu 84,000 Thaler an, so sind dies 147,000 Gulden; der Kostenaufwand für die „Bavaria“ wird zu 233,000 Gulden angegeben.

Die Beiträge vertheilen sich auf folgende Beitraggeber: das österreichische Kaiserhaus 1082 Thaler, die deutschen Fürstenhäuser 13,500 Thaler, das Ausland 1500 Thaler, das deutsche Volk 37,500 Thaler, der deutsche Kaiser 10,000 Thaler, das Reich 10,000 Thaler.

Das Standbild erforderte als Material 21,176 Pfund Kupfer; das nöthige Schmiedeeisen beträgt 126,153 Pfund, das Gußeisen 5873 Pfund und das Gewicht der ganzen Figur somit 153,202 Pfund.

Die Denkmalfeier selbst findet in der persönlichen Theilnahme des deutschen Kaisers, durch dessen sieggekrönte Reichs-Einigung endlich Deutschlands erster Befreier auf seinen Ruhmesthron erhoben wurde, die würdigste Verherrlichung. Die „Gartenlaube“ wird diesem Nationalfeste eine ausführliche Beschreibung mit einer Illustration nach Ekwall’s gewandtem Stifte widmen.

Fr. Hfm.
[556]
Plaudereien aus Rom.
Von Hermann Oelschläger.
IV.
Der römische Carneval. – Goethe als Unheilstifter. – Unvermeidliche Citate. – Römische Masken. – Brutalitäten. – Confettischlachten.

Die Gelegenheit scheint zu verführerisch, um hier nicht ein kurzes Wort über den römischen Carneval einzuwerfen, obgleich er im Augenblicke, da ich diese Zeilen schreibe, schon längst zu den Todten dieses Jahres gehört. Viele, und namentlich viele Fremde – sind der Meinung, daß derselbe überhaupt für immer, für die Ewigkeit zu den Todten zähle, aber ich will das nicht glauben. Das heurige Jahr scheint lediglich als eine „Krisis“ für den römischen Carneval angesehen werden zu dürfen, und nachdem er diese glücklich überstanden hat, wie die zwei letzten Tage seines kurzen Daseins bewiesen, so ist zu hoffen, daß er von Neuem einer frohen Entwickelung und Verjüngung entgegengehe, wenn sich die ehrsamen und würdigen Väter der Stadt seiner auch nur ein wenig annehmen wollen. Und das möchte er denn doch verdienen.

Der Deutsche vor Allem freilich fühlt sich, wenn er den römischen Carneval, den Carneval von heute ansieht, auf’s Bitterste enttäuscht. Ihm vor Allem schwirrt noch die bekannte Goethe’sche Schilderung des römischen Carnevals durch den Kopf, die er schon als Kind gelesen und die ihm schon damals eine unbezwingliche Sehnsucht nach dem schönen Italien, nach dem ewigen Rom eingepflanzt hat, und nun, da er die phantastische Herrlichkeit endlich mit angesehen, da er endlich mit erleben durfte, was zu sehen ja lange das heißeste Ziel seiner Wünsche gewesen war, nun fühlt er sich auf das Empfindlichste getäuscht, und seine Unlust über diese Enttäuschung ist um so größer, macht sich um so lauter, um so unverhohlener Luft, je größer die Erwartungen, je höher gespannt die Ansprüche waren, mit denen er seiner Zeit dem endlichen Beginne des Carnevals entgegengesehen hatte.

Und dabei kommt, wie ich oft erfahren mußte, der arme Goethe noch am allerschlechtesten weg, und am Ende hat er allein das ganze Unglück verschuldet. Denn daß zwar der römische Carneval sich seit Goethe’s Aufenthalt in Rom bedeutend verändert hat, und nicht zum Besseren, das giebt Jedermann gern zu; daß er viel von seinem Reize, seiner Pracht, seiner Eigenthümlichkeit verloren, auch das wird ohne Weiteres eingeräumt – aber, wird dann weiter calculirt, der Grund, die Basis ist doch noch da; die Masken sind noch da; die Confetti (ach, wie hatte man sich in Deutschland gerade auf die Confetti so sehr gefreut!), diese abscheulichen confetti sind noch da; die Blumensträuße sind da; die Wagen sind noch da – wie hat Goethe, gerade Goethe mit seinem vornehmen, aristokratischen Sinne an diesem wilden Treiben so viel Geschmack, so viel Freude, so viel Gefallen finden können! Das ist ja, lautet der regelmäßige Schluß dieser oft gehörten Apostrophe, gar nicht zu begreifen, und da sieht man wieder einmal, wie wenig den Dichtern zu trauen und zu glauben ist, namentlich aber wenn sie aus Italien kommen. Denn überhaupt –

Bei diesem verhängnißvollen „denn überhaupt“, das eine durch Nichts mehr einzudämmende Sturmfluth polemischer Reden verheißt, ist es höchste Zeit, der erregten Apostrophe ein Ende zu machen.

„Meine Gnädige,“ falle ich darum schüchtern ein, „Sie haben gewiß in vielen Dingen Recht, wie immer. Aber diesmal dürften Sie Goethe doch zu streng beurtheilen, und wenn es nicht unartig wäre, möchte ich fast der Meinung sein, daß Sie sein römisches Tagebuch doch nicht genau und aufmerksam genug gelesen haben.“

„Wie können Sie das behaupten, mein Herr? Noch kurz vor dem Carneval habe ich mir bei Spithöver auf der Piazza di Spagna Goethe’s römische Reise gekauft.“

„In schönem römischem Einbande?“

„Gewiß, obwohl ich zu Hause selbstverständlich Goethe’s sämmtliche Werke –“

„Im Schranke stehen habe.“

„Jawohl, und habe noch mit allem Fleiße die Schilderung des Carnevals durchgelesen, um ja Alles zu beachten und mir Nichts entgehen zu lassen.“

„Und Sie wissen trotzdem nicht, daß Goethe eigentlich am römischen Carneval durchaus kein Gefallen fand, daß er von dem ganzen breitspurigen Treiben der Narrheit nichts weniger als angenehm berührt war, daß es seinem fein und vornehm organisirten Sinne durchaus widerstrebte, und daß er die beiden Male, da er Augenzeuge davon war, herzlich froh war, wenn es endlich beschlossen, beendigt war, und daß er förmlich aufathmete, sich nun wieder ganz den Freuden der Kunst, der Natur und seines kleinen, sorgsam ausgewählten Freundeskreises hingeben zu können?“

„Das erste Wort, das ich höre!“

Und so bleibt mir denn nichts übrig, als meine Behauptung, an der im Grunde nichts Anderes überraschend ist, als daß sie überraschend ist, durch die einschlägigen Stellen zu bekräftigen und zu erhärten. Am Aschermittwoch 1787 schreibt Goethe: „Nun ist der Narrheit ein Ende! Die unzähligen Lichter gestern Abend waren noch ein toller Spectakel. Das Carneval in Rom muß man gesehen haben, um den Wunsch völlig loszuwerden, es je wiederzusehen; zu schreiben ist davon gar nichts, bei einer mündlichen Darstellung möchte es allenfalls unterhaltend sein. Was man dabei unangenehm empfindet, ist, daß die innere Fröhlichkeit den Menschen fehlt und es ihnen an Geld mangelt, das Bischen Lust, das sie noch haben mögen, auszulassen. Die Großen sind ökonomisch und halten zurück, der Mittelmann unvermögend, das Volk lahm. An den letzten Tagen war ein unglaublicher Lärm, aber keine Herzensfreude. Der Himmel, so unendlich rein und schön, blickte so edel und unschuldig auf diese Possen.“

Bei seinem zweiten Aufenthalte in Rom aber klagte Goethe in einem vom 1. Februar datirten Briefe: „Wie froh will ich sein, wenn die Narren künftigen Dinstag Abend zur Ruhe gebracht werden! Es ist eine entsetzliche Seccatur, andere toll zu sehen, wenn man nicht selbst angesteckt ist.“ Und am nächstfolgenden Tage schrieb er noch: „Die Narren haben noch Montag und Dinstag was Rechts gelärmt. Besonders Dinstag Abends, wo die Raserei mit den Moccoli in völligem Flor war. Mittwochs dankte man Gott und der Kirche für die Fasten.“

Noch schärfer und bestimmter äußert sich Goethe in der Einleitung zu seiner eigenen Beschreibung, indem er „zugestehen muß, daß das römische Carneval einem fremden Zuschauer, der es zum ersten Male sieht und nur sehen will und kann, weder einen ganzen, noch einen erfreulichen Eindruck gebe, weder das Auge sonderlich ergötze, noch das Gemüth befriedige.“

Davon aber, wie er trotzdem dazu gekommen sei, dem Carneval eine so eingehende, lebhafte und farbenfrische Schilderung zu widmen, giebt er gleichfalls Rechenschaft, indem er auf die bei seinem zweiten Aufenthalte gemachte Beobachtung hinweist, „daß dieses Volksfest, wie ein anderes wiederkehrendes Leben und Weben, seinen entschiedenen Verlauf hatte. Dadurch ward ich nun mit dem Getümmel versöhnt, ich sah es an als ein anderes bedeutendes Naturerzeugniß und Nationalereigniß, ich interessirte mich dafür in diesem Sinne, bemerkte genau den Gang der Thorheiten und wie das alles doch in einer gewissen Form und Schicklichkeit ablief. Hierauf notirte ich mir die einzelnen Vorkommnisse der Reihe nach“ etc.

Von dem Vorwurfe also, daß Goethe eine übertriebene Erwartung vom römischen Carneval in dem deutschen Leser anrege, ist er gewiß freizusprechen; wer sich aber von der genialen Darstellung des Dichters allzu rasch hat begeistern und hinreißen lassen, der mag denn am Ende in Rom wirklich zu bereuen haben, daß er die reichlichen „Wenn“ und „Aber“, mit denen Goethe selbst den Verlauf des Carnevals begleitet, im leichtfertigen Hinlesen unbeachtet gelassen hat.

Nun aber hat überdies, wie schon gesagt, der römische Carneval seit Goethe seine Physiognomie total verändert, und man kann nicht behaupten, daß das Gesicht, das er nun zeigt, gewonnen habe und schöner geworden sei. Die festlichen Aufzüge des Gouverneurs und des Senators, mit denen sonst alljährlich der Carneval eröffnet wurde, sind verschwunden; die vornehme römische Welt in ihrer allgemeinen Unzufriedenheit mit den [557] gegenwärtigen Zuständen hält sich zu Hause und entzieht den vielbewunderten Anblick ihrer prächtig ausgeschmückten Karossen und ihrer luxuriösen Costüme grollend der Menge; die Stühle auf den Trottoirs und auf den Plätzen, von wo aus früher die schönen römischen Frauen, gleichfalls in Masken oder doch festlich geschmückt, dem närrischen Treiben zusahen, sind bis auf spärliche Ausnahmen gleichfalls unsichtbar geworden; die berühmten Pferderennen, die einst jeden Tag des Carnevals beschlossen, sind verboten, und so groß und ungewohnt auch für einen Fremden die Zahl der Masken ist, die sich auf dem Corso und den benachbarten Plätzen umhertreiben, so ist doch das charakteristische Element aus ihnen fast vollständig verschwunden und der leicht zu beschaffende Matrosenanzug, wie der Domino in allen Farben, behaupten das Feld. Neben ihnen sind vielleicht noch am häufigsten die malerischen römischen Landestrachten vertreten.

Viele Mädchen beschränken sich sogar darauf, nur im einfachen schwarzen Hauskleide mit weißer Schürze, weißer Haube und einer Gesichtsmaske zu erscheinen; aber das gewährt wenigstens einen reizenden Anblick, wenn sie, meist in größerer Zahl vereinigt, durch die Straße dahinschwärmen, lachend, neckend, die Begegnenden umkreisend, sie wieder freigebend und, zuletzt selbst um ihre Freiheit besorgt; laut schreiend nach allen Richtungen aus einander stieben. So reich oder einfach aber auch ein Costüm sei, ein Merkmal haben sie alle: das der größten Reinlichkeit, Sauberkeit und Nettigkeit. Die schmutzigen, garstigen Maskenfetzen, mit denen man sich bei solchen Gelegenheiten in Deutschland schmückt, kennt man in Rom nicht; alle Costüme scheinen eben erst aus der Hand des Schneiders gekommen zu sein, und dieser Umstand trägt nicht wenig dazu bei, selbst dem anspruchlosesten und harmlosesten Gewande immer noch einen gewissen Reiz und eine gewisse Berechtigung zu geben. Der Sinn für das Schöne, der den Römer und die Römerin überall begleitet, wo er mit dem öffentlichen Leben in Berührung kommt, schlägt auch hier durch und zeigt sich dabei von seiner besten Seite.

In den ersten Tagen seines kurzen Daseins zeigte der diesjährige Carneval eine solche Lahmheit und gähnende Langeweile, daß es wahrhaftig zum Bedauern war. Die meisten Logen blieben leer; von Wagen war fast gar nichts, von Masken äußerst wenig zu sehen, und durch den Corso flanirten nur die Fremden, die um jeden Preis etwas vom vielgepriesenen römischen Carneval zu sehen begehrten und beim besten Willen Nichts zu sehen bekamen. Dann und wann, da und dort entspann sich ein kleines Confettigefecht, schlief aber wegen mangelnder Theilnahme und Ausdauer bald wieder ein.

Die nächsten Tage sollten mehr als vollen Ersatz bringen. Der Corso füllte sich mit Wagen, Masken, Neugierigen; die Fenster und Logen waren dicht besetzt, und die Confettischlacht war fürchterlich. Vom Standpunkte der Rohheit und Brutalität aus blieb fast Nichts mehr zu wünschen übrig: Die Römer selbst haben dies am meisten bedauert; sie sahen ganz richtig in dieser pöbelhaften Ausgelassenheit den Ruin ihres Carnevals und machten dafür den „Forestiere“, den Fremden, verantwortlich, der zuerst die Ausartung dessen herbeigeführt und veranlaßt habe, was früher nur scherzhaft und muthwillig anzusehen gewesen sei. Sie, die Römer, wollten für sich dabei durchaus nur die Rolle des Verführten gelten lassen. Namentlich auf die Engländer und Amerikaner waren sie darum schlecht zu sprechen; ihnen – ich weiß nicht, mit welchem Rechte – schrieben sie die Erfindung jener abscheulichen, ungeheuren Blechschaufeln zu, die man mit vielen Hunderten von Confetti füllt, um diese dann mit Einem Male vom Fenster aus dem Vorübergehenden nachdrücklichst auf den Kopf zu schleudern. Die Confetti aber sind, wie allgemein bekannt, Kügelchen aus Gyps oder Porcellanerde, und da ist denn über die eindringliche Wirkung, die sie auf den so schmählich Betroffenen üben, kein Wort weiter zu sagen. Bald ist das Pflaster der Straße wie mit Schnee bedeckt; zuletzt ist auch der Gassenjunge bei solchem guten Beispiele, das man ihm giebt, nicht müßig, hebt die daliegende Munition ohne Besinnen vom Boden und wirft sie dem Nächsten Besten sammt dem Straßenschmutze, den er mit aufgelesen, in’s Gesicht.

In nächster Nähe meines Fensters, von dem aus ich ziemlich mißvergnügt das Treiben mit ansah, beobachtete ich auf einem Balcon eine junge Römerin von auffallender Schönheit und im geschmackvollen Costüme einer Griechin. Ich war erstaunt über die Leidenschaftlichkeit, mit welcher dieses Mädchen dem Confettiwerfen oblag; unermüdet schwang sie ihre Blechschaufel; Ladung um Ladung schleuderte sie voll und kräftig in das Gedränge da unten, und ich habe nicht einmal eine Ahnung, wie viel Munition dieses holde Geschöpf im Laufe eines Nachmittags verschossen haben mag, die ein Diener in kleinen Kisten immer neu herbeischleppte. Zuletzt entdeckte sie in der Parterreloge des gegenüberliegenden Hauses eine kleine Gesellschaft von Masken, die sich dort gleichfalls auf ihre Art amüsirte. Flugs hatte meine kleine Griechin ihre Begleitung, mehrere Herren und Damen, darauf aufmerksam gemacht, und mit deren thätiger Mithülfe begann nun ein so gewaltiges, andauerndes und nachdrückliches Bombardement der Loge da unten, daß deren Inhaber, über und über beschüttet, nach einer halben Stunde das Feld gänzlich räumen mußten. Die Luft war mit Wolken weißen Staubes erfüllt, und bis in die Höhe des ersten Stockes herauf hatten die Angegriffenen nicht zu antworten vermocht.

Wie hier, so mochte wohl der Carneval überall auf dem langgestreckten Corso seinen Verlauf haben, daß denn den Wagen nichts übrig blieb, als dem Beispiele der Masken zu folgen und sich in die benachbarte Via di Ripetta zu retten, wo die Fahrt eine gemüthlichere und gefahrlosere gewesen sein soll. Dem Eifer der jungen Griechin freilich setzte auch diese allgemeine Fahnenflucht noch immer keine Grenzen. Mit derselben Verschwendung wie früher warf sie ihre Confetti nun den Soldaten, alten Weibern und Gassenjungen an den Kopf, die sich allein noch über die Straße wagten – seltsames Vergnügen!

(Schluß folgt.)




Durch Chloroform in’s Irrenhaus.


Die hohe Stellung, welche die Medicin im Kreise der exacten Wissenschaften erlangt hat, verdankt dieselbe nicht allein dem forschenden Auge des Mikroskopikers und dem eindringenden Messer des Anatomen, sondern vornehmlich sind es neben der Physik die Errungenschaften der Chemie, welche die moderne Heilkunde zu dem heutigen Standpunkte geführt haben. Mit dem theoretischen Erforschen des menschlichen Körperbaues im gesunden und kranken Zustande allein ist der leidenden Menschheit wenig genützt, wenn nicht der Wissenschaft des Erkennens die Kunst des Heilens auf dem Fuße folgt. Die erste Klage, welche dem Arzte zu Ohren kommt, ist nie objectiv; sie bezieht sich gewöhnlich nicht auf das Leiden des Patienten, sondern vornehmlich auf den Schmerz, der in den meisten Fällen durch das Leiden bedingt wird. Aber selbst der Schmerz, jener empfindliche Beweis der Unvollkommenheit unseres Daseins, jenes unangenehme Wahrzeichen unserer irdischen Existenz, hat sich in erfreulich vielen Fällen vor den Errungenschaften der Neuzeit, vor der Macht des menschlichen Geistes beugen müssen. Mannigfache Mittel, den Schmerz zu bannen, sind in dem Arzneischatze der neueren Heilmittellehre aufgenommen und durch die wunderbarsten Erfolge zu einem vor dreißig Jahren noch ungeahnten Glücke für die leidende Menschheit geworden. Aber die fast augenblicklich erzielte Empfindungslosigkeit mittelst der Methode der örtlichen Anwendung des verdunstenden Schwefeläthers, die allgemeine Ruhe, welche selbst nach den rasendsten Schmerzen durch das sogenannte subcutane Einspritzen einer Morphiumlösung unter die Haut erfolgt, der behagliche Schlaf, welcher auf den Genuß des in den jüngsten Jahren entdeckten Chloralhydrates erfolgt – die Bedeutung aller dieser Wirkungen wird in hohem Grade verdunkelt durch die Erfolge der Einführung des Chloroforms in die ärztliche und chirurgische Praxis.

Während jene Medicamente den vorhandenen Schmerz zu bannen vermögen, ist in dem Chloroform ein Zaubermittel gegen erst zu erwartende Leiden gefunden worden. Die Furcht vor den Schmerzen einer bevorstehenden Operation nahm in früheren Zeiten manchem Unglücklichen die letzten Lebenskräfte. [558] Jetzt wird der zu Operirende durch Einathmung der Chloroformdämpfe dem tragischen Acte auf kurze Zeit entrückt, und es wird die Aufhebung des Schmerzes nicht nur zu einer augenblicklichen Wohlthat für den Patienten, sondern ganz vorzüglich zu einem großen Gewinn für den operirenden Arzt. War die subjective Berücksichtigung des zu Operirenden sonst die erste Pflicht für den Chirurgen, so ist demselben jetzt durch die objective Ruhe, mit welcher er an sein heilspendendes Werk herantreten kann, ein auch für den Kranken unberechenbarer Vortheil geboten.

Laut- und empfindungslos liegt der freiwillig aus dem Kreise der Empfindenden Herausgetretene mit geschlossenen Augen vor dem Arzte da; ruhig und gemessen vollendet dieser seine verantwortungsvolle Thätigkeit. Analog den Wirkungen des Chloroform und die Einflüsse des eingeathmeten Schwefeläthers auf den menschlichen Organismus. Der berühmte Chirurg Dieffenbach, welcher die von ihm zu Operirenden mit Aetherdünsten betäubte, beschreibt diesen Rausch ganz ähnlich, wie heute der Chloroformrausch geschildert wird: „Während mancher Aetherisirte wie ein sanft Schlummernder hinsinkt und sein in rasche Schwingungen versetztes Gehirnleben sich in mannigfaltigen Phantasien abspiegelt, gerathen Andere in excentrische Aufregungen; dabei entströmen Worte des Entzückens ihrem Munde, in grellem Contraste zu dem Messer, das in ihr Fleisch sich einsenkt und zur Säge, die ihre Knochen durchknarrt. Jene Excentrizität äußert sich bei Manchen in so wilder Weise, daß sie, die sonst im Leben sanft und mild, plötzlich unter der Wirkung des Chloroforms wie Rasende sich benehmen. Im Zustande einer solchen Aufregung wähnt sich ein solcher unter Räubern und Mördern; seinem Munde entströmen die bittersten Verwünschungen; er schmettert mit Faustschlägen Alles zu Boden. Andere geberden sich wie vollkommene Narren. Derselbe Mensch, den wir mit tief ergebenem Ausdrucke seinem ernsten Geschicke entgegengehen sahen, wird in einigen Minuten zum Possenreißer umgeschaffen, grinst, lacht und treibt seine Narrenstückchen, bis er in das Stadium der Betäubung zurücksinkt.“

Das Chloroform wird gewöhnlich auf ein Tuch oder ein umsponnenes halbkugelförmiges Drahtnetz gegossen und in der Nähe von Mund und Nase dem Patienten zur Einathmung dargereicht; es ist dafür Sorge zu tragen, daß eine gehörige Menge atmosphärischer Luft, zur ungestörten Function der Lungen, den Chloroformdämpfen beigemengt sei. Die Gefahren bei Anwendung des Chloroforms bestehen vornehmlich in dem ungenügenden Zutritte des Sauerstoffgases, weshalb das Mittel in der Hand Ungeübter zu dem gefährlichsten Gift werden kann. Schon das Einathmen von vierzig bis fünfzig Tropfen reicht manchmal hin, einen Erwachsenen in wenigen Minuten völlig empfindungs- und bewußtlos zu machen. Unmittelbar nach den ersten Athemzügen stellt sich ein leichter Hustenreiz ein, welcher durch die Willenskraft leicht besiegt wird und bei fortgesetztem Einathmen von selbst aufhört. Alsbald erschlaffen sämmtliche äußeren Muskeln; der Kopf sinkt auf die Brust; die Arme fallen herab; die Beine gleiten vorwärts; das Athmen ist tief und ruhig, der Herzschlag oft kaum fühlbar. Mit Zunahme der Betäubung schwindet ein Sinn nach dem anderen. Das Gefühl hört zuerst auf, während alle übrigen Sinne noch thätig sind. Dann erlischt der Geschmack – man empfindet und unterscheidet die Geschmackseindrücke nicht mehr –, dann das Gesicht und darauf der Geruch, während das Gehör noch thätig ist. Endlich schwindet auch dieser Sinn, bis völlige Betäubung eintritt. Mit dem Nachlaß der Chloroformwirkung nach Verlauf mehrerer Minuten, oder in einer unverhältnißmäßig langen Zeit, kehren die Sinne in umgekehrter Reihe einer nach dem andern zurück. „Kindern erschienen die liebenden Eltern als verklärte Gestalten, liebende Mütter sahen das Gewand ihrer Kinder in blendender Weiße prangen. Selbst der Unkundige in der Musik wird in wonnigem Selbstgefühl zum Componisten, der Furchtsame zum Helden, der Diener zum großen Herrn.“ Der Chloroformrausch hat eine merkwürdige Aehnlichkeit mit dem Zustande der Opium- und Haschischbetäubung. Wie jene Gewohnheitsathmer des Orients sich in ihrem Wahne auf Adlerschwingen zu einem schimmernden Goldmeere erheben und gewichtslos in einem weiten Raume sich schwebend fühlen, ähnlich schwelgt der Chloroformirte in den Genüssen höherer Sphären.

Das Chloroform war im Jahre 1831 von Soubeiran zum ersten Male dargestellt worden; es entsteht häufig bei der Einwirkung des Chlorgases auf organische Körper, bei der Destillation des Weingeistes, sowie anderer organischer Stoffe mit Chlorkalk. In reichlicher Menge erhält man das angenehm riechende, süß schmeckende Medicament durch Destillation von vier Theilen Weingeist, drei Theilen Wasser und einem Theile Chlorkalk, wobei mit den sich entwickelnden Wasserdämpfen eine schwere Flüssigkeit übergeht, die, mit concentrirter Schwefelsäure gereinigt, das Chloroform darstellt.

Sechzehn Jahre vergingen, bis der berühmte Chirurg Professor Simpson die Wirkung des Chloroforms auf den Menschen entdeckte und der medicinisch-chirurgischen Gesellschaft zu Edinburg mittheilte, daß das genannte Mittel, durch die Lungen eingeathmet, eine jeder Schmerzempfindung bare Bewußtlosigkeit zu erzeugen im Stande sei. Dieses Schwinden des Bewußtseins beruht auf einer Lahmlegung gewisser zentraler Nervenorgane in unserem Gehirne, welche im normalen Zustande die Lebensthätigkeiten des Empfindens einerseits und der Bewegung andererseits vermitteln. Durch die Lungen werden die Chloroformdämpfe eingeathmet und in den feinen Lungenbläschen, welche von Tausenden mikroskopisch kleiner, fabelhaft dünnwandiger Blutäderchen umsponnen sind, direct dem Blute zugeführt; das auf diesem Wege mit Chloroform durchsetzte Blut gelangt von den Lungen in das Herz und wird mit jedem Herzstoß von hier aus in die entlegensten Theile des menschlichen Körpers übergeführt.

Wie die feinsten Blutaderströmchen die Lungenbläschen umspülen, ebenso umgeben sie im Gehirne die feinsten Empfindungsorgane, die sogenannten Ganglienzellen, mikroskopisch rundliche Gebilde, welche mit je drei bis fünf feinen fädigen Ausläufern mit den Gehirnnervenfasern und durch diese wiederum mit den Körpernerven zusammenhängen. Millionen solcher dem unbewaffneten Auge unsichtbarer Gewebe sind im Gehirne in verschiedenartigster Anordnung angesammelt; sie sind die eigentlichen Träger und Regenten des menschlichen Lebens, von ihnen geht durch die telegraphendrahtartige Vermittelung des Nervensystems jede Thätigkeit der körperlichen und geistigen Bewegung aus, zu ihnen wird auf demselben Wege jeglicher Eindruck von außen zurückgeleitet, jedes Gefühl von Freude, jede Empfindung von Schmerz. Werden nun diese Organe von dem sie ernährenden Blutstrome, der Chloroform enthält, berührt, so erliegen sie, so lange das Chloroform auf sie wirkt, das heißt so lange durch die Lungen genügende Mengen dem Blute zugeführt werden, den betäubenden Wirkungen dieses Mittels, und da von jenen winzigen Organen alle willkürlichen Lebensthätigkeiten und Empfindungen des menschlichen Körpers abhängen, so hört auch indirect die Thätigkeit aller dieser Organe während jener betäubenden Wirksamkeit auf.

Wir sagten soeben: alle willkürlichen Lebens- und Empfindungsorgane. Das hat seinen triftigen Grund. Es giebt bekanntlich im menschlichen Körper Bewegungen, die wir unwillkürlich nennen, so z. B. die Athmung, den Herzschlag, die zur Verdauung nöthigen Bewegungen des Magens und Darmcanals etc. Diese Thätigkeiten werden von einer Reihe von centralen Gangliensystemen in unserem Gehirne regiert, welche der Wirkung des Chloroforms länger widerstehen, als die oben angeführten Bewegungs- und Empfindungsganglien. Man weiß durch Versuche an Thieren, sowie durch die Erfahrung an chloroformirten Menschen, daß die den unwillkürlichen Bewegungen des Organismus vorstehenden Gangliengruppen von allen Betäubungsmitteln sehr wenig und erst sehr spät beeinflußt werden, und daß demzufolge die Bewegungen der Athmungsorgane, des Herzens und der übrigen Eingeweide auch in tiefer Chloroformnarkose normal von Statten gehen können; sollte in der Athmung und dem Herzschlage eine merkliche plötzliche Verlangsamung beobachtet werden, so ist sofort mit dem Chloroformiren auszusetzen und im Nothfalle die künstliche Athmung einzuleiten. Bei gewissenhafter Beobachtung des Pulsschlages und der Athembewegungen gehören indeß Gefahren bei Anwendung des Chloroforms zu den größten Seltenheiten, und der Chloroformtod ist trotz der hunderttausendfachen Anwendung des Mittels seit 1847 vornehmlich bei Personen, welche an organischen Herzfehlern oder sonstigen die normale Blutcirculation hindernden Uebeln gelitten haben, beobachtet worden. Ungefähr zweihundertfünfzig derartige Todesfälle sind in der

[559] ganzen medicinischen Literatur seit dem Jahre 1847 aufgeführt. Nach zuverlässigen Zusammenstellungen sind auf französischer Seite im orientalischen Kriege unter achtzehn- bis neunzehntausend in der Narkoseoperation nur zwei an den Folgen derselben gestorben. Bei den Engländern ist in demselben Kriege nur ein Todesfall, und in dem schleswig-holsteinischen Kriege auch nur einer bekannt geworden, während die bezügliche Statistik des amerikanischen Rebellionskrieges bei achtzigtausend Narkotisirungen nur sieben Todesfälle aufzuweisen hat. Durchschnittlich kann man nach den bis jetzt besonders in England ziemlich genau angestellten Beobachtungen die Sterblichkeit unter viertausendfünfhundert Chloroformirten auf einen Todten bestimmen, und ist das günstige Zahlenverhältniß aus dem amerikanischen Kriege dem Umstande zuzuschreiben, daß die Chloroformirten wohl alle gesunde Leute gewesen sind.

Man wird nun fragen: was bedeutet die Ueberschrift, die diesen Mittheilungen vorangestellt ist, „Durch Chloroform in’s Irrenhaus“? Wie jegliches Heilmittel seine Lichtseite hat und in dem mäßigen Gebrauche der ärztlichen Verordnung das Heil für den Patienten liegt, ebenso finden sich, besonders bei übermäßigem Gebrauche mancher Heilmittel, Schattenseiten ein, von denen selbst mit den Wirkungen sonst vertraute Berufsmänner keine Ahnung hatten.

Der wunderbare Rausch und die entzückende Traumwelt, die sich dem Betäubten erschließt, haben etwas Verführerisches für einen empfindsamen Zuschauer und manche Fälle sind bekannt, in welchen vornehmlich Studirende der Medicin durch Chloroformeinathmungen in den oben geschilderten Sinnentaumel sich freiwillig gestürzt haben. Welch schlimme Folgen der übermäßige Gebrauch des Chloroforms nach sich ziehen kann, möge folgende aus dem Leben gegriffene tragische Geschichte beweisen.

Es war an einem heißen Julinachmittage des Jahres 1874, als ein fremder Herr mir gemeldet wurde, der behauptete, ein intimer Freund meines Hauses zu sein. Ich begab mich auf den Corridor meiner Wohnung, wo mir ein untersetzter Mann, die Hand freudig ausstreckend, entgegen trat. Mit dem Ausrufe: „Alter Freund, kennst Du mich nicht mehr?“ machte er den Versuch, mich zärtlich zu umarmen. Ich trat einige Schritte zurück, musterte im Flug den Mann vom Kopf bis zur Zehe und konnte mich in keinerlei Weise dieses „alten Bekannten“ entsinnen. Die Kleidung des Fremden, sowie dessen Linnenzeug hatten sicher bessere Zeiten gesehen. Er trug einen grauen abgetragenen Sommerrock, welcher am Ellenbogen seinem Hemde gestattete, einen kecken Blick in die Welt zu thun; eine schmutzig-blaue, breite seidene Halsbinde bedeckte einen Theil des zerknitterten Vorhemdes; die schwarze Weste hing schlotterig um die Brust, und eine angerostete stählerne Uhrkette, die das abgetragene Kleidungsstück herunterzog, vervollständigte die Erscheinung dieses Jammerbildes.

Auf die Bemerkung, daß ich mich seiner zu meinem großen Bedauern nicht erinnern könne, lächelte er verschmitzt, klopfte mir vertraulich auf die Schulter, meinte, ich spaße, und stellte sich mir als meinen alten Heidelberger Studiengenossen K… vor. Wenn auch das Bild jenes blühenden Jünglings aus der alten Heidelberger Zeit mir in das Gedächtniß zurückkehrte, so kostete es mich doch einige Mühe, die Züge des vor mir stehenden Fremden mit jenem in meiner Erinnerung befindlichen Jugendbilde in Einklang zu bringen. Bei scharfer Musterung entdeckte ich die Aehnlichkeit, welche mich veranlaßte, seinen Worten Glauben zu schenken.

Ich konnte es mir nicht versagen, ihn sofort zum Mittagsmahle einzuladen, was er auch mit freudiger Miene annahm. Bei Tische erzählte er mir, er sei Assistent bei dem berühmten Professor B… gewesen, der damals in X…, jetzt in Wien, durch seine epochemachenden Vorträge seine Zuhörer entzückt und in die Lethargie, welche sich in den jüngsten Jahren der einst so berühmt gewesene Wiener medicinischen Schule bemächtigte, neues Leben gebracht hat.

Wir sprachen über die Leistungen dieses trefflichen Mannes, und eben hatten wir das Schlürfen der würzigen Suppe beendigt – wir sind bei dieser Thätigkeit auch rasch im Herzen recht warm geworden – als ich ganz harmlos meinen Freund fragte: „Sag’ einmal, Alter, wo kommst Du denn eigentlich in diesem Aufzuge her?“ Er beugte sich gemüthlich zu mir herüber und bemerkte, als ob das ganz selbstverständlich wäre, in ruhigem, gemessenem Tone: „Ich bin vor drei Wochen aus dem Irrenhause entsprungen.“ Kaum war dieses Wort seinen Lippen entschlüpft, als meine sonst sehr herzhafte Ehehälfte mit einem Rufe des Entsetzens von ihrem Stuhle sich erhob und mit Blitzesschnelle in das entlegenste Zimmer der Wohnung enteilte. Ich selbst war im ersten Momente wie versteinert und fixirte mit scharfem Blicke meinen Gast, aus dessen Pupille nicht Verwunderung und Aufregung, sondern Ruhe und Milde meinem Auge begegneten. Mit spöttischem Lächeln mir auf die Schulter klopfend, bemerkte er: „Freundchen, glaube nicht, daß, wenn ich auch aus dem Irrenhause entsprungen, ich wahnsinnig gewesen sei; ich werde Dir mit Ruhe meine Geschichte erzählen und den Knoten der Verwickelungen, welche mich in das Irrenhaus gebracht haben, vor Dir entwirren. Bei den vielen chirurgischen Operationen, die Professor B. unter meiner Assistenz ausführte, hatte ich fast täglich Gelegenheit, die Wirkungen der Chloroform-Narkose aus nächster Nähe zu beobachten. Die Bereitwilligkeit und die Hast, mit welcher alle Leidenden ohne Ausnahme das süße Gift fortathmen, sobald sie den ersten Zug in ihre Lungen aufgenommen, der wunderbare Taumel, in welchen sie weltvergessend dahinsinken, boten mir Veranlassung auch mich den Einwirkungen der Chloroform-Narkose mit Eifer hinzugeben. Da ich aus allen meinen bezüglichen Beobachtungen geschlossen hatte, daß das höher gestimmte Gehirnleben, insoweit es die Quelle unseres Seelenlebens ist, sich in den mannigfaltigsten Nüancen in Gedanke und Wort, in Phantasie und Empfindung abspiegelt, wollte ich an mir selbst Studien machen, und ich habe mit glänzendem Erfolge das mir gesteckte Ziel erreicht und den höchsten Zweck, den Genuß des Lebens in höheren Regionen gefunden.“ –

Mit gespannter Aufmerksamkeit hörte ich dieser merkwürdigen Erzählung meines Gastes zu und ermunterte ihn zur Fortsetzung seiner Mittheilungen, obgleich ich in der Art, wie er schon bei Beginn der Erzählung sich ereiferte und seinen Gegenstand in eigenthümlich verzückter Weise verfolgte, einen Grund hätte finden sollen, ihn auf ein anderes Thema zu bringen. Allein ich hoffte, allmählich einen tieferen Einblick in sein Seelenleben zu gewinnen. Er fuhr nun in seiner Schilderung eifrig fort, indem er mir erzählte, daß die Wirkung der eingeathmeten Dämpfe in einer Reihe der wunderbarsten Erscheinungen gipfelte.

„Gewöhnlich wurden mir,“ so erzählte er weiter, „anfangs die Augenlider schwer, und ich fühlte das Bedürfniß, zu schlafen. Wenn ich erwachte, so blieb mir das Gefühl einer unendlich lang durchlebten Zeit zurück, und da ich vergeblich in Gedanken nach der vergangenen Traumwelt, die mir den reichsten Quell des Lebens zu umfassen schien, haschte, so versuchte ich stets von Neuem durch wiederholte Einathmung mich in die früheren Visionen zu versenken. Mein inneres Auge erblickte die glänzendste Farbenpracht, und bei dem äußeren Schlafe des Ohrs schwelgte ich in den entzückendsten Tönen; es störte kein verworrenes Bild mich Glücklichen. Im Gefühle des gänzlichen Entkörpertseins wähnte ich mich in himmlischer Unendlichkeit. Es wurde mir klar, was mir in meiner beruflichen Thätigkeit die Chloroformirten verschiedener Charaktere und Temperamente von ihrem Chloroformrausche in so entzückender Weise erzählt hatten. Mir erschien der Chloroformrausch stets in der Gestalt des Todes. Der Mensch fürchtet den Tod nur des Sterbens wegen als etwas Entsetzliches, als etwas Qualvolles; allein die Chloroformbetäubung gab mir hierüber herrliche Aufschlüsse. Sie ist ein Sterben mit Rückkehr zu diesem Leben. In meinem Chloroformrausche spiegelten sich die verschiedenen Formen des Sterbens ab, vom sanften Einschlummern bis zum Ausdrucke des wildesten Widerstrebens, und dieses wilde Widerstreben hatte mich in’s Irrenhaus gebracht. Die Bilder des Sterbens verfolgten mich oft auch im wachen Zustande, und so trat denn schließlich die Katastrophe ein, daß ich in meiner Ueberreizung eines Tages meiner Umgebung in einer Art Wuthanfall zurief: ‚Ihr Verfluchten, Ihr Henker, Ihr Mörder!‘ In diesen Ausdrücken sah man nicht die Folge des sich von Tag zu Tage wiederholenden Chloroformrausches, sondern Wahnsinn. Man veranlaßte daher, daß mir das Recht der Praxis entzogen wurde, und das Ende davon war meine Verbringung in das Irrenhaus.“

[560] „Hier saß ich,“ fuhr er nach einer Pause fort, „einige Jahre, ohne den Gedanken meiner Befreiung, den ich schon im Momente des Eintritts gefaßt hatte, eine Minute aufgegeben zu haben. Durch den Umstand, daß mir in keinerlei Weise irgend ein sinnloses Wort oder irgend eine unverantwortliche Thätlichkeit nachgewiesen werden konnte, bekam ich innerhalb der Grenzen der Anstalt vollkommene persönliche Freiheit. Bald lernte man meine chirurgischen Fähigkeiten kennen, und ich durfte bei Gelegenheit vorkommender Operationen anfangs assistiren, später solche im Auftrage und Beisein des Directors und der



Die drei Echsen in den Vogesen.
„Zeichnung von R. Püttner. Aus der Kröner’schen „Rheinfahrt“.


Assistenten eigenhändig ausführen. Die Gelegenheit, ärztlich thätig zu sein, brachte mich im Laufe der Jahre häufig in die Anstaltsapotheke. Daselbst war es mir möglich, allmählich unbemerkt kleine Quantitäten Morphium zu erhalten, die ich in meinem Zimmer sorgfältig verwahrte und nach und nach zu nicht unbedeutenden Quantitäten anwachsen ließ. Ich gewöhnte mich nun, weil ich leider mein geliebtes Chloroform nicht zu erlangen vermochte, an Morphiumgenuß und brachte es mit der Zeit dahin, daß ich ziemlich ansehnliche Dosen, welche andere Personen gewiß in tiefen Schlaf versetzt hätten, ohne jeglichen Einfluß auf meinen Organismus und ohne alle Betäubung zu mir nehmen konnte. Heute vor drei Wochen war mein Geburtstag. Ich lud den Oberwärter, unter dem Vorgeben, mein Wiegenfest mit ihm zu feiern, zu einer Flasche Bordeaux auf mein Zimmer ein. Es war dies nichts Auffälliges, da mir öfters vom Hause Wein geschickt wurde und man es mir überhaupt weder an guter Verpflegung noch an Geld fehlen ließ. In die Flasche, aus welcher ich meinem Gaste und mir das Glas füllte, hatte ich vorher etwas ziemlich concentrirte Morphiumlösung gethan. Wir stießen an, und in einem Zuge waren die Gläser geleert. Mein Freund Wärter fand den Wein etwas stark und bitter, allein ich versicherte ihm, daß das die Eigenschaft des echten Bordeaux sei und ein zweites Glas ihm gewiß besser schmecken würde. Wir leerten allmählich die Flasche, und taumelnd sank mein Kumpan in einen tiefen, festen Schlaf. Es war Nachmittags vier Uhr; ich bemächtigte mich seiner Schlüssel und entfloh aus meinem dreijährigen Gefängnisse – es sind jetzt drei Wochen – und hier bin ich.“

Die ganze Erzählung meines Universitätsfreundes war in einer solchen Klarheit und Schärfe der Beurtheilung wiedergegeben, daß ich an seinem angeblichen Irrsinn selbst zu zweifeln begann. Ich fragte ihn, was ihn denn eigentlich zu mir und in unsere Gegend führe, und er theilte mir bei dieser Gelegenheit mit, daß er im Jahre 1870 bei Orleans ein kleines Feldlazareth als freiwilliger Arzt mit Anerkennung dirigirt habe und jetzt sich auf dem Wege nach Berlin befinde, um

[561]

Auf einem Rheindampfer.0 Zeichnung von B. Vautier.0 Aus der Kröner’schen „Rheinfahrt“.

[562] unter Berufung auf diese kriegerische Vergangenheit durch dortigen Einfluß wieder zu einer ärztlichen Stellung in seiner Heimath zu gelangen. Da ihm aber in seinem Heimathsorte die Praxis entzogen sei, so müsse er das große Staatsexamen nochmals machen, was er durch Empfehlung aus Berlin zu erlangen hoffe. Ich muß gestehen, ich habe keine Spur von Irrsinn an dem Unglücklichen bemerkt. Mit dem Nachtzuge reiste er nach Berlin weiter. Ich hielt es für meine Pflicht, an den Director jener Irrenanstalt um bezügliche Aufklärung zu schreiben, und erhielt alsbald die Antwort, daß K… in Folge seines früheren übermäßigen Chloroformgenusses, der seine Gehirnnerven tief afficirt habe, allerdings an einer unheilbaren Geisteszerrüttung leide, derart jedoch, daß oft Wochen, ja Monate lang die Störung verborgen bliebe, dann aber wieder in unbändiger Tollwuth erschreckend genug hervortrete. Später nun brachte ich in Erfahrung, daß K… sein Vorhaben durchgesetzt, das große Staatsexamen nach halbjähriger Prüfung zum zweiten Male mit glänzendem Erfolge bestanden und in einem kleinen Orte ein sehr gesuchter und beliebter Arzt geworden sei.

Heute, ein Jahr nach dem oben geschilderten Besuche, sitzt der Unglückliche wieder fest in einem Irrenhause seines Heimathlandes. Einige Monate, nachdem er sowohl durch das abgelegte Examen, wie durch seine ärztlichen Leistungen, sich in seiner Stellung gesichert fühlte, schrieb er an den Director des Irrenhauses, er würde die nächste Gelegenheit benutzen, die ihm eine Reise nach dort böte, um ihn zum Lohn für die damalige Gefangenhaltung durch einen Revolverschuß aus der Welt zu schaffen. Uebergabe des Briefes an die Behörde, Verhaftung des Armen und Zurückwanderung desselben in sein unerbetenes Asyl waren die Folgen jener wiederholten Geistesverirrung. –

Aus diesem gegebenen Beispiele geht hervor, daß, ebenso wie bei übertriebenem Wein- und Spirituosengenuß, ein an und für sich segenbringendes Mittel zum Unheile werden kann. Uebrigens dürfen wir der Wissenschaft unseren Dank nicht versagen, daß sie uns mit dem Chloroform eine so herrliche Gelegenheit zur Erleichterung menschlicher Leiden gegeben hat. Es ist die Anwendung dieses Medicaments als eine der bedeutendsten Errungenschaften der neueren Medicin zu betrachten und wird der Menschheit, trotz kleiner Schattenseiten, immer mehr zum Heile gereichen.

     Frankfurt am Main.
Dr. med. S. Th. Stein.




Das Geständniß einer Frau.


Es ist am 6. August 1871, dem ersten Jahrestage der Schlacht bei Spichern. Schon seit Sonnenaufgang sind Hunderte aus St. Johann und Saarbrücken dem Mockerthale zugewandert, welches der Volksmund längst zum „Ehrenthale“ umgetauft hat. Niemand weiß, wann und wie der schöne Name entstand, wer ihn zuerst gefunden, wiederholt und weiter getragen hat. Auf einmal war er da, von Tausenden zugleich genannt, anerkannt für alle Zeiten.

Seit dem gestrigen Abende sind liebende und ehrende Hände nicht müde geworden, die Grabstätten der gefallenen Helden mit frischem Blumenschmucke zu zieren. Die Mutter, Wittwe oder Waise, welche dem Orte, wo ihr ein geliebtes Herz verstaubt, auch noch so ferne lebt, darf sicher sein, daß der Hügel, nach dem sie sich heute doppelt schmerzlich sehnt, wenigstens nicht ungeschmückt bleiben wird. Dieselben Samariterinnen, welche in jener unvergeßlichen Zeit der einzigen auf deutscher Feldmark ausgefochtenen Schlacht des glorreichen Krieges Tag und Nacht die Verwundeten beherbergt und gepflegt haben, bringen sowohl Denen, die sie nicht genesen sehen durften, wie Jenen, deren Blut sofort den Boden gedüngt hatte, welchen sie vertheidigten, unermüdlich den freundlichen Zoll der Liebe. Die langen Reihen der Grabhügel, die noch vereinzelten Kreuze sind verschwenderisch mit Blumen und Laubwerk bedeckt.

Jetzt ist es später Abend. Die bis nach Sonnenuntergang mit immer neuen Menschengruppen angefüllte Gräberstätte ruht schweigend und einsam unter dem sommerlichen Nachthimmel, aus dem bereits einzelne Sterne steigen. Die Schritte der Traurigen wie der Müßigen sind verhallt; kein Laut ist mehr zu vernehmen, als das leise Rauschen, womit der Abendwind hin und wieder durch die Laubgänge streift – es klingt fast wie ein schwaches Echo des Chorals, welchen heute die Bergknappen hier angestimmt hatten: „Wie sie so sanft ruhn“ – Alles ringsum ist in das weiche Grau des Spätabends gehüllt, aus dem nur hin und wieder die goldene Inschrift eines der Kreuze, oder eine weiße Atlasschleife hervorblickt, die sich schwach am dunkeln Lorbeerkranze bewegt.

So lautlos die Landschaft, ist sie doch nicht völlig menschenverlassen. Auf der angrenzenden, nach Forbach führenden Fahrstraße hält ein Wagen, und zwischen den Gräbern des weiten Friedhofes weilen zwei vereinzelte Frauen. Die eine derselben sitzt mit ineinander gefalteten Händen ganz still auf einer rohgezimmerten Bank, welche das Bedürfniß längeren Verweilens hier hatte entstehen lassen; ihre Augen haften auf der zweiten, jugendlichen Gestalt, die in geringer Entfernung über die Böschung eines gleich einem grünen Acker lang hingestreckten, berasten Hügels niedergeworfen liegt, beide Arme um den Fuß eines einfachen Marmorkreuzes geschlungen, das aus einem Meere von Blüthen aufragt.

Minute auf Minute verrinnt. Der Himmel bedeckt sich weithin mit Sternen; die Luft wird kühler. Nun erhebt sich die Sitzende und nähert sich mit leisem, raschem Tritte der Knieenden, welche ihren gegen den Schaft des Kreuzes gestützten Kopf nicht wendet, als die Andere bereits dicht neben ihr steht. Als sie ihre Schulter berührt fühlt, zuckt sie heftig zusammen.

„Linda!“

Die Arme des jungen Mädchens lassen vom Kreuze ab; im nächsten Augenblicke steht sie, gleichsam mechanisch aufgerichtet, auf ihren Füßen und wendet ihrer Gefährtin ein Gesicht zu, das kalt, weiß und schimmernd ist, wie eine Schneeflocke.

„Du willst gehen?“ sagt sie ausdruckslos.

„Es ist spät; es wird kalt.“

Das scheint auch Linda momentan zu empfinden. Sie schauert, hüllt sich fest in ihr Mäntelchen und thut einige Schritte vorwärts. Vielleicht ist es der leise, kaum hörbare Seufzer der Erleichterung, welcher der Anderen entschlüpft, der sie aus ihrer Starrheit zur Besinnung weckt; sie macht sich plötzlich von dem Arme los, den Jene in den ihrigen geschoben, ist mit zwei Schritten zurück an der eben verlassenen Stätte, und beugt sich, eine Ranke Immergrün zu pflücken. Ihre kalten Lippen pressen sich fest, minutenlang auf die Initialen, welche dem Marmor eingegraben sind, ein kurzes, abgebrochenes Stöhnen durchschneidet einen Augenblick die Todtenstille, dann folgt sie der Vorausgeschrittenen zum Wagen. In der nächsten Minute rollen dessen Räder der Hügelkette entlang, deren Umrisse sich kaum gegen den Horizont abheben, über den Exercirplatz, durch die ruhige Stadt, über die neue Brücke hinweg nach der Vorstadt Sanct Johann. Dort hält der Wagen vor einem ansehnlichen Hôtel in der Nähe des Bahnhofes.

Es ist eine Stunde später. Mutter und Tochter haben sich mit Thee erwärmt, der keinen Schimmer von Farbe auf die Wangen des jungen Mädchens gebracht hat; selbst ihre Lippen sind blaß, und sie ruht schlaff und ohne jede Elasticität der Bewegung auf dem Sopha. So man aber auch die ganze Erscheinung, würde sie doch Niemand als welk bezeichnen. Der warme, unbesiegbare Hauch der Jugend liegt auf ihr und verleiht ihrer Blässe zarten Schmelz, gleich dem einer weißen Camellie.

Zart und noch jugendlich ist auch die Erscheinung der Mutter; wie aber die Züge Beider im Schnitte nicht die geringste Aehnlichkeit verrathen, so gilt dies noch weit mehr für die Seele, welche sich in diesen Zügen ausdrückt.

Frau Delbring blickt zuweilen in ein Buch, das aufgeschlagen vor ihr liegt, öfter über den Tisch hinweg auf Linda. Endlich bricht sie das Schweigen: „Willst Du nicht zur Ruhe gehen, liebes Kind?“

Das junge Mädchen fährt mit plötzlicher, unvermittelter [563] Heftigkeit aus dem scheinbaren Halbschlummer in die Höhe, preßt beide Hände leidenschaftlich vor das Gesicht und ruft in bitterem Tone: „Zur Ruhe – zur Ruhe, Mama? Wie käme mir Ruhe, wenn es nicht die wäre, die ich täglich erbettele, die nicht kommen will, die mich mit ihm vereint?“

Die Mutter kniet neben ihr nieder und legt leise den Arm um sie. „Linda! als ich Deinem Wunsche nachgab, hoffte ich Anderes. Kind, liebes Kind! nicht so darf man des Lebens Schmerzen tragen. Ich meinte, die Thränen an dem Grabe vergossen, nach dem Du Dich so heiß sehntest, würden Dir Augen und Herz erlösen, damit Du endlich wieder Himmel und Erde erkennst.“

„Der Himmel, Mama? Der ist so fern! Und die Erde? Was gäbe es dort noch für mich?“

„Vielleicht keine Freuden, jedenfalls Aufgaben,“ sagte die Mutter sanft. „Du hast Dein Glück, Deine Zukunftshoffnung verloren – das ist hart, mit dem Geliebtesten darf und soll aber nicht auch das eigene Leben begraben werden. Das ist weder Gottes Wille, noch des Menschen würdig. Deinem bittern Schmerze ward Zeit gegönnt, und daß er in Dir so feste Wurzeln geschlagen, ehrt Dich vor mir. Was aber Wurzel schlug, darf kein öder Dornstrauch sein und bleiben: es muß grünen, muß Blüthe und Frucht tragen, und das, Linda, fordere ich jetzt von Dir. Was Du so ganz besessen, bleibt Dir unverloren, wenn Du dem Leben, den Deinen giebst, was nicht Dir allein gehört.“

Ein schwaches Roth huschte über des Mädchens Wange. „Du bist strenge mit mir, Mama, vielleicht hast Du Recht, wenn Du forderst, daß ich – daß ich über mich hinaus denken und etwas leisten soll. In Einem aber kannst Du mich nicht beurtheilen, weil Du mich hierin nie verstehen kannst.“

„Und was wäre dies, Linda?“

„Eben noch sagst Du: ‚Was Du so ganz besessen, bleibt Dir unverloren.‘ Und was habe ich denn besessen? Ich war Braut, glückliche Braut – auf Stunden, auf Tage drängt sich alles arme Glück zusammen, das mir geworden, das mein Leben, mein ganzes, langes Leben mit so viel tausend Stunden und Tagen hätte ausfüllen sollen. Ich durfte nicht besitzen, was mein war. Was weißt Du hiervon, Mama? Du hast meinen Vater geliebt, ja, und hast ihn verloren, aber lange Jahre glückseliger Vereinigung sind Dir zuvor geworden. Du kannst wohl sprechen: ‚Was man ganz besessen, bleibt unverloren.‘ Hättest Du Deines Herzens Liebe, Deiner einzigen, nie zu verschmerzenden Liebe entsagen müssen, ohne solch’ vereintes Leben – dann, Mama, könntest Du mich verstehen.“

Frau Delbring antwortete nicht. Sie erhob sich schweigend, und ging mit gesenktem Haupte im Zimmer auf und nieder. Ein eigenthümliches Leuchten war in ihr mildes Auge getreten; ihre Lippen bewegten sich unhörbar. Nach einigen Minuten sagte sie in ruhigem Tone: „Ich will Dir etwas erzählen, Linda, was ich nie einem Menschen zu erzählen dachte – am wenigsten Dir.“

Sie zog einen Schemel neben das Sopha und setzte sich dem jungen Mädchen zu Häupten, etwas in den Schatten. Linda erhob einen Augenblick den Kopf, welchen sie nach ihrem leidenschaftlichen Ausbruche tief in das Kissen geborgen, und blickte ihre Mutter an; das feine, klare Gesicht sah etwas blasser aus, als gewöhnlich. „Erzähle, Mama!“ sagte sie.

„Zuvor eine Frage. Du warst kaum erwachsen, als wir Deinen lieben Vater verloren, aber nach Deiner ganzen Art einsichtig genug, um mir antworten zu können. Glaubst Du – glaubst Du, daß Dein Vater glücklich gewesen ist?“

Linda stützte den rasch erhobenen Kopf mit den Armen. Ihr Blick belebte sich: „Wie so?“

„Glücklich durch mich?“ Ein leises Roth, das die zartgeschnittenen Züge der Mutter sehr verschönte, überhauchte ihr Gesicht.

„Wer könnte hierüber in Zweifel sein, Mama? War ich nicht überdies zugegen, als Dir Papa in seiner letzten Stunde für all das Glück dankte, das Du ihm stets gegeben? Ich war noch jung, als er uns verließ, aber ich war kein Kind mehr. Und ist es nicht gerade die Erinnerung an Euer harmonisches Leben, die mich so heiß empfinden läßt, was ich – verlieren mußte?“ Ihr Kopf sank schwer auf die Polster zurück.

„So laß Dir erzählen! – Du weißt, daß sich Dein Vater seine beiden Frauen aus Baiern geholt hat, und ich beklagte oft, daß Zufälligkeiten mir stets den Wunsch vereitelt, Dich nochmals in meine Heimath zu führen, welche Du nur als Kind einmal mit mir besucht hast. Ja, mein Baiern ist reich an Schönheit – wohin Du auch wandern magst, überall tritt Dir neuer Reiz entgegen, gartengleiche Landschaften, wunderbar lockendes Gebirge, blaue, lachende Seen. Ich liebte von Kind auf die Natur mit einer Innigkeit, deren Wärme manchmal belächelt wurde, wenn Preis und Lob all des Schönen, das mein Herz entzückte, gar kein Ende nehmen wollte. Und weil ich es so liebte, im Freien zu genießen, und nichts mich sicherer von trüben Gedanken befreien konnte, als ein neuer Eindruck dieser Art, schlug meine Mutter, unmittelbar nach der Hochzeit meiner einzigen Schwester, einen Ausflug nach dem Salzkammergute vor.

Ich war damals sehr niederschlagen. Das Haus und die ganze Welt erschienen mir wie ausgestorben, nachdem Dein Vater unsere geliebte Aelteste entführt hatte. Du konntest kaum eine Erinnerung an Deine wirkliche Mutter behalten, Linda – sie ging so früh von Dir, so früh, daß Du mir ihren Namen gabst, ohne Dir des Wechsels bewußt zu werden, aber Du hast von ihr erfahren; Du kennst ihr Bild und kannst Dir eine Vorstellung davon machen, welche Leere sie zurückließ. Sie war die Schönste, Wärmste, Lachendste, der ich je auf Erden begegnete; wo sie gewesen war und verschwand, schien das Sonnenlicht nicht mehr so hell zu sein, wie zuvor. Ich hatte sie über Alles geliebt und vermißte sie nun über Alles. Das Haus, welches ihre heitere Gegenwart erfüllt hatte, machte mir bange; die Alles beseelende Stimme tönte uns nicht mehr; ich durchirrte die verlassenen Räume wie ein ruheloser Geist. Deshalb machte sich meine gute Mutter mit mir auf den Weg, sobald die gewohnte häusliche Ordnung wieder hergestellt war, ohne über Zeit und Ziel unserer Reise etwas festzustellen. Es wartete ja zu Hause Niemand unserer Heimkehr, und da ich gern nach der Natur zeichnete, lockte mich hier und dort ein schöner Punkt zum Verweilen. So ließen wir uns denn auch schon am zweiten Tage unserer Tour zu einem Abstecher nach dem Chiemsee anregen, fuhren nach Prien, und wanderten dem Seeufer zu, um uns auf die Inseln hinübersetzen zu lassen.

Es war in den letzten Tagen des Mai – in einem jener seltenen Jahre, wo dieser Monat wirklich zum Wonnemond geworden. Fast ohne Unterbrechung stieg Tag um Tag eine goldene Sonne am klar blauen Himmel auf, die kein sengendes Feuer, nur segenspendende Wärme niedersandte, und eine Fülle des Werdens, Schaffens und Blühens erzeugte, wie ich mich nie erinnere, sie ähnlich geschaut zu haben. Der Flieder namentlich hing allerwärts in so schweren Trauben und Dolden und strömte so alles durchdringende Düfte aus, daß ich seine Blüthezeit seither nicht mehr von der Erinnerung an jene Tage trennen kann. Es war noch in den frühen Morgenstunden, als wir unseren Spaziergang durch frisches Grün, jung belaubte Bäume und blumengestickte Wiesen unternahmen – verzeih’, wenn ich von alledem ausführlicher spreche, als Dir wohl nöthig erscheint! Du wirst aber bald verstehen, welche Bedeutung dieser Tag für mein Leben gewann, und die heitere, freie Stimmung, in welche mich jener kurze Weg versetzte, war gleichsam die Saat alles dessen, was später aufgehen sollte.

Nachdem wir einen Schiffer gefunden, der uns zur Herreninsel bringen konnte, stießen wir fröhlich vom Ufer. Auf dem lichtgrünen See dahin zu schwimmen, die sonnenbeglänzte, von frischem Schnee leuchtende Kompenwand, das lachende Ufer mit seinen freundlichen Häusern vor dem Auge, einen vollen Tag auf den grünen Inseln in Aussicht – das erschien mir wie ein Fest. Schlief auch meine Sehnsucht nicht ein, war doch alle Traurigkeit gewichen.

Unser Schiffer hatte erst wenige Ruderschläge gethan, als wir durch einen Zuruf vom Ufer her veranlaßt wurden, dorthin zurückzublicken und einen jungen Mann eiligen Schrittes näher kommen sahen. In seiner erhobenen Hand flatterte ein Taschentuch; daß er sich mit uns in Beziehung zu setzen versuchte, war unverkennbar. Im ersten Augenblick glaubten wir einen Bekannten vermuthen zu dürfen, als er aber den Uferrand erreicht hatte, sahen wir, daß wir uns hierin getäuscht. Diese schlanke Gestalt, die den Kopf mit besonders freier Haltung trug, war uns [564] völlig fremd. Ohne anzufragen, hatte unser Schiffer den Kahn ruhen lassen, und die Worte des Fremden drangen sonor durch die stille Morgenluft: ‚Gestatten mir die Damen Mitbenutzung des Bootes? Es ist kein zweites zu haben.‘

Wir wußten das, und da meine Mutter sofort ein bejahendes Zeichen gab, brachte der Schiffer mit ein paar Ruderstößen den Kahn an das Land. Im Momente, als der junge Mann im Begriffe war, hineinzuspringen, gab ein plötzlicher leichter Windstoß dem Boote unerwartet einen Ruck, der es wohl eine Elle weit in den See zurückgleiten ließ. Unwillkürlich entfuhr mir ein leiser Schreckenslaut, der jedoch ungerechtfertigt war, denn der Fremde schwang sich mit gewandter Geistesgegenwart so glücklich vorwärts, daß er im Nachen auf seine Füße zu stehen kam, wenn auch er selbst und das leichte Schiff dabei in’s Schwanken geriethen. Er grüßte artig, fuhr sich, ehe er den Hut wieder auf das dunkle Haar drückte, mit einer ihm eigenthümlichen Bewegung flüchtig über die Stirn und sagte, während er Platz nahm, lächelnd zum Schiffer:

‚Bei einem Haar läge ich jetzt im See.‘

Der Schiffer schmunzelte behaglich. ‚Das hätte uns auch nichts geschadet,‘ sagte er.

‚So? Wenn Sie hineingefallen wären, dann hätte mir das freilich auch nicht geschadet.‘

Die Munterkeit, womit diese raschen Worte getauscht wurden, theilte sich uns blitzartig mit. Wir mußten lachen, und wenn auch die Ueberfahrt ohne eigentliches Gespräch zwischen der kleinen Zufallsgesellschaft von Statten ging, war doch von der ersten Secunde eine stumme Beziehung hergestellt, die sich in den Mienen verrieth, welche, hier wie dort, das Geplauder zwischen Mutter und Tochter, wie zwischen dem Reisegefährten und dem landeskundigen, mit frischem Mutterwitze begabten Schiffer bald mit einem Lächeln, bald mit einem Blicke begleitete. Wie freudig, wie vogelleicht fühlte ich mich schon auf dieser Fahrt!

Wir landeten. Jeder ging seine eigenen stillen Wege. Der unserige wendete sich nach dem Hochwalde, der uns mit seinem jungen Frühlingsschmucke und würzigen Dufte weit länger gefesselt haben würde, hätten wir nicht über unsere sehr karg zugemessene Zeit bereits andere nicht mehr rückgängig zu machende Verfügungen getroffen. Während wir zuletzt dem stattlichen Benedictinerkloster entlang durch die Gartenanlagen wanderten, lockte mich ein umlaubter Sitz, der den Blick auf See und Gebirge frei läßt; ich ließ meine Mutter nach dem Baumrondell vor dem Wirthshause vorausgehen und versank in eine jener Träumereien, die ich mir immer nur verstohlener Weise gönnte, da sie mir als ‚Verzückung‘ schon so manches spöttelnde Wort zugezogen.

Als ich mich losriß und langsam vorwärts schlenderte, sah ich schon von Weitem unsern Gefährten im Gespräche mit meiner Mutter und erfuhr, nachdem ich mich Beiden zugesellt, daß er Erlaubniß erbeten und erhalten, sich auch unserer Fahrt nach Frauenwörth anzuschließen. Natürlich blieb er von nun an in unserer Gesellschaft. Ich sah auf dem Tische, vor welchem meine Mutter stand, neben dem Plaid des Fremden ein Skizzenbuch aufgeschlagen, und spähte hinein. Als er meine verstohlenen Blicke bemerkte, reichte er es mir gefällig herüber. Das offene Blatt zeigte eine flüchtige, mit großer Wahrheit ausgeführte Skizze von Frauenwörth, das so ruhig schlummernd inmitten des Wassers vor uns lag, wie ein Kind in der Wiege. Still und weltverloren grüßte mich das kleine grüne Eiland mit seinem altersgrauen Kloster, rings von der Sonne umglänzt – stiller und weltverlorener noch das mit großer Einfachheit und Innigkeit wiedergegebene Abbild, von dem ich den Blick nicht losreißen mochte, denn hier fand ich, was mir selbst nie gelungen war zu erreichen. Es schien mir unmöglich, mich darüber zu äußern; ich sah nur meine Mutter an, die über meine Schulter in das Buch blickte. Unsere Augen begegneten sich und sprachen: ‚Ein Künstler!‘ – Dann schifften wir Alle hinüber zu derselben Fraueninsel und saßen dort unter den alten Linden –“

Die Erzählerin brach ab. Ihre grauen Augen blickten mit sanftem Leuchten wie in weite Ferne. Schon lange schien sie mehr an lang versäumten Erinnerungen fortzuspinnen, als des Ohres zu gedenken, das sie aufgefordert hatte, ihr zuzuhören. Deshalb wandte sie wohl auch so befangen den Kopf und erröthete leicht, als Linda das kurze Schweigen unterbrach. „Und dann, Mama?“

Frau Therese strich sich über die Stirn. „Du hast oft gehört, daß Deine Großmutter eine vielseitig gebildete Frau war, Linda. Während wir im Freien tafelten, einzige Gäste der köstlichen Einsamkeit, unterhielt sie sich lebhaft mit unserem Genossen. Beide sprachen viel über die Schätze der Münchner Kunstsammlungen, und der junge Mann, der sich uns inzwischen unter dem Namen ‚Rainer‘ vorgestellt hatte, erwies sich darin so heimisch, daß sich unsere Ueberzeugung befestigte, in ihm selbst einen Künstler zu sehen.

Nach Tische überfiel meine Mutter plötzliche Müdigkeit; sie lehnte ihren Kopf an den Stamm, der uns beschattete, und überließ es uns jungen Leuten, weiter zu plaudern. Ich weiß nicht, wie lange sie ihre Augen geschlossen hielt, auch nicht, ob sie wirklich schlief, oder nur ruhte, ich weiß nur, daß diese Stunde unter den schwankenden Linden, im Glanze des Sees und der Alpen, mit den einzelnen leisen Vogeltönen zu Häupten, von mir nie vergessen worden ist. Wir sprachen von Allem, was es zwischen Himmel und Erde giebt; wenigstens schien es mir so. Wenn ich mich später auf diese Stunde besann, mußte ich staunen, denn ich war ziemlich schüchtern, Fremden gegenüber beinahe scheu, und doch wußte dieser kaum Gekannte mein Innerstes aus mir hervorzulocken, ohne daß mir nur in den Sinn kam, es vor ihm zurückzuhalten. Wir erfuhren von einander, wie wir über alles dachten, was das Leben lebenswerth macht. Er ließ mich auch von meiner Heimath, vom Verluste des Vaters durch den Tod, von dem der Schwester durch das Leben erzählen, und ich erzählte ihm willig. Er selbst sprach nichts über seine äußeren Verhältnisse.“

(Schluß folgt.)




Blätter und Blüthen.

„Rheinfahrt“. (Mit Abbildungen, S. 560 und 561.) Der Rhein, der besuchteste aller europäischen Ströme, ist ohne Frage zugleich der am meisten verherrlichte: Alle Künste haben seinen Ruhm verkündet, und die Poesie hat ihn in allen Zungen verewigt als den imposantesten und naturschönsten, als den sagen- und geschichtereichsten unter den Flüssen der alten Welt. Was die deutsche Natur Schönes und Anmuthiges, was die deutsche Geschichte Großes und Ruhmreiches aufzuweisen hat, das steht in der engsten Beziehung zum sagengeschmückten „Vater Rhein“. Dennoch mangelte uns bisjetzt ein Werk, welches den deutschen Strom in seinem Reichthum an Natur und Kunst, an Geschichte und Sage erschöpfend darstellt. Endlich tritt nun unter dem Titel „Rheinfahrt“ ein Unternehmen in’s Leben, das in künstlerischer Weise alle Schönheiten unseres Flusses zur Anschauung bringen wird. Schon vor mehreren Jahren hatte Wolfgang Müller von Königswinter, der verdiente Rheinpoet, den Plan zu diesem Werke, welches den Rhein von seinen Quellen bis zum Meere in Bild und Wort darstellen soll, eifrig in Erwägung gezogen, mußte aber, vom Tode überrascht, die schriftstellerische Ausführung desselben den reisekundigen Federn Karl Stieler’s, Hans Wachenhusen’s und F. W. Hackländer’s überlassen, die denn auch diese Arbeit übernommen haben.

Wenn zu einer guten Illustration nicht nur ein strenges Abschreiben der Natur gehört, sondern bei aller Genauigkeit der Aufnahme eine poetische, künstlerische Auffassung, in der sich Anmuth der Form, Duft der Stimmung und technische Fertigkeit vereinigen, so stehen wir nicht an, zu behaupten, daß in den landschaftlichen Darstellungen Püttner’s das Vollkommenste geleistet worden ist, was uns bisher im Bereich der xylographischen Kunst zu Gesicht gekommen ist. Püttner’s Rheinwaldgletscher, Zillis, Dorf Hinterrhein, Dorf Splügen, Toma-See, Verlorenes Loch, Rhäzüns, Hohen-Trüns, Ilanz, Pfäffers, Ragaz und vor Allem seine Via mala treten uns mit der Kraft und dem Schmelz der lebendigen Farbe entgegen. Wie gesagt, das landschaftliche Bild hat unseres Wissens noch keine gelungenere Behandlung gefunden, als hier durch den genannten Meister, der sich in den letzten zwei Jahren überraschend schnell entwickelt hat. Wie sehr sich die Verlagshandlung A. Kröner in Stuttgart bemüht hat, dem Werke künstlerische Bedeutung zu geben, geht aus dem Verzeichniß der artistischen Mitarbeiter hervor, unter welchen wir nur A. Baur, E. F. Deiker, J. Franz, F. Keller, L. Knaus etc. nennen. Auch B. Vautier ist durch zwei vorzügliche Bilder, die „Weinprobe“ und „Auf einem Rheindampfer“ im ersten Hefte des Werks vertreten; letzteres, ein reiches Figurenbild, führt unser Blatt in seiner heutigen Nummer nebst einem bisher noch nicht erschienenen Bilde von Püttner im Abdruck den Lesern vor. Den vielen Besuchern des Rheins wird dieses Prachtalbum in den düstern Tagen des Winters manche liebe, farbenreiche Erinnerung an die prächtigen Landschaftbilder wachrufen, welche ihnen der Sommer geboten.



Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.