Die Gartenlaube (1877)/Heft 43

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1877
Erscheinungsdatum: 1877
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 43.   1877.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.



Teuerdank's Brautfahrt.
Romantisches Zeitbild aus dem 15. Jahrhundert.
Von Gustav von Meyern.
(Fortsetzung.)


„O, auch mit dem Spuk werde ich aufräumen, aber vor Allem mit dieser satanischen Erfindung der Druckerkunst, die aus hinterlistigem Verstecke ihre vergifteten Bolzen schießt. Wisset Ihr, Ravestein, was eine meiner ersten Regierungshandlungen sein soll? Ein peinliches Verbot gegen den vermaledeiten Bücherdruck! In meinem künftigen Musterstaate darf überhaupt Lesen und Schreiben nur noch vom Junker an aufwärts gelernt werden.“

Ravestein's Züge waren bei dieser Rede sehr ernst geworden. Mochte er auch ein zweideutiger Politiker sein, er stand doch auf der Höhe der Bildung seiner Zeit, und weder sein Muth, noch sein Ehrgeiz ging so weit, sich um der Gnade eines kleinen Despoten willen dem Gelächter der Welt preiszugeben.

„Herr Herzog,“ sagte er, sich ein Herz zu freimüthigem Bekenntniß fassend, „ich bin gern und weit mit Euch gegangen, aber da ... dürften sich unsere Wege doch trennen.“

Cleve sah ihn groß an; dann lächelte er, und seine wasserblauen Augen hatten plötzlich wieder den alten treuherzigen Ausdruck, seine Worte wieder den sonoren, einschmeichelnden Ton.

„Was fällt Euch ein, alter Freund? Könnet Ihr glauben, daß ich jemals ein Tyrann sein werde? Das mißbildete Volk bedarf nur eines Vormundes, und Niemand kann heißer wünschen als ich, ihm im Verein mit Krummstab und Langschwert den Segen wiederzugeben, dessen es, bei Gott, so benöthigt ist.“

Ein feierlicher Augenaufschlag bekräftigte den frommen Wunsch. Aber Ravestein schüttelte den Kopf.

„Ihr kennt nicht unsere Staaten.“

„Aber ich kenne meine Soldaten,“ versetzte kurz und scharf abschneidend der Herzog. „Und wie man mit dem 'gebildeten Bürgerstand' umspringen muß, werde ich Euch alsbald beweisen. Die Stunde naht. Sehet, da kommen sie schon in's Portal, die Herren Abgeordneten Eurer 'Schmähschriften lesenden' Classe! Ich nehme sie auf mich. Empfanget Ihr unterdessen die Herzogin, wenn sie mit meinem Sohne heimkehrt! Es ist mir angenehm, daß Ihr bei meiner Verhandlung außer dem Spiele bleibt. Gottlob“ – und er athmete hoch auf – „auch von Maximilian habe ich nichts mehr zu fürchten, denn wenn Ihr mich wiedersehet, sehet Ihr ... den Regenten.“

Der Kanzler zog sich, so formlos er eingetreten war, so ehrerbietig förmlich durch die Thür zurück.

„Er ist die längste Zeit Kanzler gewesen,“ murmelte Cleve vor sich hin. Dann glättete sich seine Stirn, und die alte Leutseligkeit nahm wieder ihre Stelle ein.

Der „Wekkering“ der Belfriede in Stadt und Schloß kündete sechs Uhr. Die Glocken und Glöcklein im „Beijaard-Toreken“, der Spitze des hohen Belfrieds, ließen ihr „plaisantes und melodieuses Gheclanck“ erschallen. Die vor der Säulenhalle als Ehrenposten stehenden Hellebardiere stießen aus, Verno meldete die Abgeordneten.

In langem Zuge betraten sie die Halle, die aus den angesehensten Bürgern der großen Städte gewählten Vertreter der Intelligenz und der Freiheiten der niederländischen Staaten. Voran schritt der würdige, charakterfeste Vicepräsident mit dem Vicebürgermeister von Gent – denn der im Felde abwesende Präsident war zugleich der Bürgermeister des Vororts – Beide um den Kopf die rothseidene, unter dem Kinn über die Schulter geschlungene Sendelbinde, den schwarzen, auf den Seiten offenen Ueberwurf, am Halse mit Pelz ausgeschlagen, das Haar in der Kolbe geschnitten, den schwarzen Filzhut ehrerbietig in der Hand. Ihnen folgten Gelehrte, kurzhaarig, in langem Talare und hoher Mütze, Kaufherren in den verschiedensten Farben aus dem Norden düsterer, aus den Südstaaten bunter, unter Ersteren Holländer, ganz in Grau oder Schwarz, schweigsame Mynheer's von behäbigem Gleichmuth, unter Letzteren ein junger Papageifarbener aus Welschflandern, der am Federvolke der afrikanischen Küste seinen Farbensinn ausgebildet haben mochte, denn er trug ein grünes Wamms mit gelben Beinkleidern und rother Sendelbinde, auch hier und da ein ehrbarer Handwerksmeister, den das Vertrauen seiner Mitbürger berufen, in Zaddelmütze und bescheidener Tracht. Sie Alle betraten nach einander den Säulengang und entblößten die Häupter, als der Herzog von Cleve jetzt ihre Spitzen begrüßte.

„Ah, willkommen, Herr Vicepräsident der Staaten, willkommen, Herr Bürgermeister!“ redete er dieselben an, Jedem die Hand schüttelnd. „Gute Nachrichten vom Herrn Präsidenten? Noch immer nicht? O, ich hoffe das Beste. Vorzüglicher Feldherr, nach dem was man hört!“ Und ohne sie zu Worte kommen zu lassen, deutete er auf die Sessel am Tische jenseits des Kamins. „Wenn es euch gefällig ist, werthe Herren!“ Dann sich zu den Uebrigen wendend, bewillkommnete er sie mit zuwinkender Handbewegung. „Ihr lieben Freunde, seid gegrüßet und verzeihet, daß ich euch in der Eile keinen würdigeren Raum zum Empfange bieten konnte! Nehmet Platz auf den Sesseln – ich bitt' euch – ganz ohne Ansehen der Person, ohne Rang und Stand; wir sind hier unter Brüdern, ganz unter uns.“

[718] „Ein leutseliger Herr!“ sagte der Papageifarbene geschmeichelt zu seinem Nachbar, einem grauen Holländer, neben dem er Platz nahm.

„Recht niederträchtig,“ antwortete der Holländer einsilbig, indem er das „nieder“ betonte und demnach beistimmte.

Cleve aber begrüßte erst noch am vorderen Tische zwei Notare, die eben Documente vor sich ausbreiteten, und folgte dann Verno, der den Präsidenten geleitet hatte und ihm selbst jetzt ehrerbietig entgegenkam.

„Nehmt zu meiner Linken Platz!“ raunte er ihm zu. Dann trat er vor den mittleren Sessel, links vom Vicepräsidenten und überschaute die Versammlung. Aller Blicke waren erwartungsvoll auf ihn gerichtet. Da ertönte ein summendes Geräusch, wie von nahendem Menschenschwarme, und zog die allgemeine Aufmerksamkeit auf den Schloßhof.

In der That wälzte sich ein Haufe von ein paar Hunderten aus der niedersten Volksclasse daher, verzweifelte Gestalten, wie sie in gährenden Zeiten der Schrecken des Bürgers zu werden pflegen. Voran schritt, ein seltsames Instrument, wie ein Scepter, vor sich tragend, eine baumlange, schwindsüchtig hagere Figur mit schlotternden Gliedmaßen, in rother Gugel, barfüßig und barhaupt, einen spitzen Bocksbart am Kinn, mit langflatterndem, blondem Haar und einem so unstäten Ausdruck des Auges und so unbeschreiblichem Hochmuth in der Haltung des Kopfes, daß man glauben konnte, hier habe der Irrsinn in Gestalt des Größenwahnes seinen Thronsitz aufgeschlagen. Und nicht viel anders war es auch. Das schwindende Hirn Nikol’s, des Basses, war durch seinen jähen Aufschwung vom Flickschneider zum Gebieter des Pöbels und Freunde eines Herzogs bis zum Wahnwitz überreizt. Er hatte die fixe Idee, der erste Würdenträger des künftigen Königs von Burgund zu werden, und sah schon jetzt in seiner klafterlangen, unten keulenartigen, oben spitzen Eisenstange, jener unter dem Namen „Goedentag“ bekannten mörderischen Waffe, nichts Anderes, als seinen künftigen Marschallsstab. Um aber der erstaunten Welt zu zeigen, daß er nach Art großer Männer sich seiner Herkunft nicht schäme, hatte er das obere Ende der Stange mit rothen Streifen zum Ellenmaß umgewandelt.

„Platz da für das Volk von Gent!“ donnerte Nikol’s Stentorstimme, und widerstandslos, wie farbige Muscheln von brandender Fluth, waren die „bunten Krähen“ augenblicklich hinweg geschwemmt; unaufhaltsam hatte in wenigen Minuten der ganze Schwarm den Säulengang besetzt, ja Einzelne drückten sich schon, die Hände mit auffallender Absichtlichkeit hinter sich verbergend, frech neugierig bis in den Saal hinein, als der Herzog seine Rechte erhob.

Nikol, in vorderster Reihe stehend und mit vorgestrecktem Halse jeder Bewegung des Herzogs folgend, erkannte sofort die Bedeutung des Signals und erwiderte dasselbe, indem er sein Eisenscepter hoch hielt. Augenblicklich verstummte der Lärm, die Vorgedrungenen zogen sich in die Reihe zurück, und der Herzog, mit unbeschreiblichem Wohlwollen in den wasserblauen Augen, nahm das Wort:

„Ah, sieh da! Auch das liebe Volk von Gent dränget sich herzu. Wir haben es zwar erst zum Abendschmause geladen, aber – unserer Berathung, ihr werthen Herren, darf Jedermann beiwohnen. Wir haben nicht Augen und Ohren des Volkes zu scheuen. Unser Wahlspruch ist und sei fortan immerdar“ – wieder erhob er die Rechte – „Freiheit und Oeffentlichkeit!“

Nikol schwang sein Scepter und „Freiheit und Oeffentlichkeit! Heil dem Herzog!“ scholl es hundertfältig seinem Donnerrufe nach.

Cleve ließ die Hand sinken, Nikol sein Scepter.

„Still, ihr lieben Brüder, still!“ fuhr der Erstere fort. „Ich danke euch für eure Begrüßung und bitte euch, fortan unsere Berathung nicht zu stören. ... Ihr aber, meine Herren Abgeordneten, vernehmet, was ich euch mitzutheilen habe! – Es ist euch bekannt, daß eure erhabene Gebieterin, den vereinten Bitten ihres Landes nachgebend, sich einen Gemahl erkoren hat. Ihre Wahl ist, dem Wunsche des Volkes gemäß, auf meinen Sohn gefallen. Mich aber hat sie mit dem Auftrage beehrt, in ihrem Namen das Weitere vorzukehren. So habe ich euch denn eingeladen, um nicht nur als Zeugen bei dem feierlichen Verlobungsacte im Thronsaale zu dienen, sondern jetzt schon hier mit mir zu berathen, was weiter zum Heile des Landes ersprießlich sein möchte. Vor Allem werdet ihr, liebe Getreue, eure Gebieterin nicht im Zweifel über eure freudige Zustimmung lassen wollen, und so fordere ich euch auf, ihr, wenn sie in ihre Hofburg heimkehrt, eure Glückwünsche in dem einstimmigen Zurufe darzubringen: 'Heil der Herzogin und dem neuen Herzog!'“

Da Cleve dieses Mal, um der Loyalität der Abgeordneten nicht vorzugreifen, seine Rechte nicht erhob, statt der erwarteten Begeisterung aber nur ein überraschtes Umsichblicken erfolgte, so entstand augenblicklich eine peinliche Pause. Cleve’s Gesicht zuckte, aber es glättete sich sogleich wieder, als der Vicepräsident, sich neben ihm erhebend, das Schweigen brach.

„Heil der Herzogin und ihrem erwählten Gemahl!“ rief er würdig, mit Betonung der wohlerwogenen beiden letzten Worte. Und „Heil, Heil!“ fielen die Abgeordneten ein, und „Heil, Heil!“ pflanzte es sich im Volke fort.

„Ich danke euch, lieber Herr und werthe Freunde,“ fuhr der Herzog mit sichtbarer Zufriedenheit fort. „Mein Sohn wird euren Beifall zu verdienen wissen, denn er ist wohl in der Kriegskunst unterwiesen und wird noch in dieser Nacht zum Heere abgehen, um eurem tapferen Präsidenten Hülfstruppen zuzuführen. Wer aber soll in der Bedrängniß dieser Zeit, und wenn der Feind vor unseren Thoren hält, der jungen Herzogin an seiner Statt als Berather und Beistand zur Seite stehen?“

Wieder erhob sich der Vicepräsident.

„Verzeihet, Herr Herzog! Diese Eigenschaft dürfte wohl erst Eurem Sohne selbst gesetzlich zuzusprechen sein, und dazu bedarf es noch vor dem Verlöbnisse der feierlichen Verbriefung unserer Privilegien von seiner Seite.“

„Sehr richtig bemerkt, Herr Vicepräsident! Umsichtig und pflichttreu, wie es das Volk von Euch gewohnt ist. Wie Ihr aber sehen wollet, so sitzen dort zwei Notare, welche bereits sämmtliche Documente bis zur Unterschrift vorbereitet haben, indeß ich mir vorbehalte, die Ehepacten genau nach den Wünschen der Staaten mit Euch und dem Kanzler zu vereinbaren. Somit dürfte die Frage der Stellvertretung eine wohlberechtigte, ja Angesichts des drohenden Feindes eine Pflicht sein.“

„Euer Gnaden weise Vorsicht ist bekannt,“ antwortete mit höflicher Zähigkeit der Andere, „allein das Wohl der Staaten würde die Vertagung der Frage doch bis dahin verlangen, daß die Befugnisse eines 'Berathers und Beistandes' gesetzlich festgestellt sind.“

„Da hören wir den gewiegten Beamten und den Vertreter des öffentlichen Rechtes,“ lobte Cleve mit verhaltenem Grolle. „Aber scheinet Euch nicht, daß die Worte 'Berather und Beistand' schon so treffend diejenigen Befugnisse ausdrücken, welche nicht überschritten werden dürfen, daß es unnöthig Zeit verlieren hieße, sie noch zu interpretiren? Denn der 'Berather' der Krone hat nicht zu handeln, und ihr 'Beistand' kann ihr nach der Logika nicht mehr Rechte ausüben helfen, als sie selber verfassungsmäßig hat.“

„Nichts Anderes als diese treffliche Auslegung ist es auch,“ nahm gleich verbindlich, wenn auch nicht ohne Ironie, der Vicepräsident das Wort, „was ich Namens der Staaten documentirt sehen möchte.“

„Schreibet es, ihr Herren Notare, schreibet es so, daß keinerlei 'Mißtrauen' aufkommen kann!“ rief fast unwillig der Herzog, indem er seinen Blick im Vorüberschweifen mit vielsagendem Ausdrucke auf Nikol haften ließ.

Ein unwilliges Gemurmel, in leisem Basse beginnend und in verdächtiger Weise sich fortpflanzend, war die Folge dieses Blickes. Dann ertönte grollend das Wort „Mißtrauen!“, und „Mißtrauen!“ rollte es drohend weiter von Mund zu Mund. Ein offener Ausbruch stand bevor. Aber Cleve selbst war es, der ihn hemmte. Seine Loyalität litt keinen Act der Drohung.

„Ruhe, meine Kinder, Ruhe!“ rief er den Murrenden zu. „Der Herr Vicepräsident ist im vollsten Rechte! Selbst übergroße Vorsicht ist besser, als leichtfertige Nachsicht, wo es sich um eure Privilegien handelt, und läge auch eine Kränkung eurer besten Freunde darin. Erst der Staat, dann der Herzog und sein Stellvertreter! Jetzt aber, werthe Herren, nachdem jedes Bedenken beseitigt, dünkt es mich an der Zeit, wenn es euch genehm ist, zur Wahl des Stellvertreters zu schreiten. Gefällt es noch Jemand, darüber zu sprechen?“

Einer der Abgeordneten erhob sich.

[719] „Ah, Riom, der Schreiber, Ihr wollet sprechen? Recht so! Nur ohne Umschweif, ohne Hintergedanken, von der Leber weg!“ – „Der Kerl,“ murrte er, sich setzend, Verno in's Ohr, „hat zwanzig Ducaten von mir in der Tasche.“

Riom, der Schreiber, ein blasses Männchen mit pfiffigem Gesicht und großem Munde, dem das Flachshaar wohlgescheitelt und gewellt um den Nacken hing, räusperte sich und nahm mit einer gewissen Salbung seiner schnarrenden Stimme, daß man nicht wußte, wollte er Befangenheit unterdrücken oder war es sarkastisch gemeint, also das Wort:

„Hochwerthe Herren und fürstliche Gnaden! Wir Schreiber von der Zunft, 'Ghesellen van Rhetorike' und von der edlen Dichtgenossenschaft, schreiben und sprechen, wie ihr Alle wisset, sonder Ansehn der Person nur für den Ruhm der lauteren Wahrheit. Ich, von der Gesellschaft der 'Fonteneisten', der Wohlredenden und Wohlerzogenen, schlage an meine Brust und behaupte kühnlich: wir brauchen einen Regenten, und so dieser im Felde stehet, einen Stellvertreter für ihn, und ich meine, wir haben nicht weit zu suchen nach dem Stellvertreter, wenn ich auch, um nicht als Lobhudler zu erscheinen, seinen Namen jetzt nicht nenne – denn 'nomina sunt odiosa', sagt der Lateiner. ... Ich habe gesprochen.“

Ein Gemurmel des Beifalls lief durch die Reihen, als der kleine Mann, nicht ohne einen selbstbewußten Blick auf den Herzog zu werfen, sich niederließ.

„Gut angelegte Ducaten!“ murmelte Cleve.

„Ein feiner Kopf!“ sagte ein ehrbarer Handwerksmeister bewundernd zu seinem Nachbarn. Der Nachbar nickte.

Cleve war eben im Begriff, sich zu erheben, als ihm der Vicepräsident zuvorkam.

„Mit Verlaub, Herr Herzog,“ nahm er das Wort, „es ist da ein Ausdruck gefallen, den zu gebrauchen Euch selber nicht beliebte, weil Euch ohne Zweifel bekannt ist, daß bei uns kein fremder Herr, und sei es der Gemahl der Herzogin, 'regieren', also auch nicht 'Regent' sein kann.“

Einen so groben Strich durch die Rechnung schien der Herzog nicht erwartet zu haben. Leidenschaftlich schnellte er empor.

„Ein fremder Herr? Und sei es der Gemahl der Herzogin?“ rief er mit zornfunkelndem Blicke. „Ihr meinet also meinen Sohn, meinet mich. Herr Präsident, Ihr beleidiget mich. Machte es mich hier zum Fremden, daß ich ein deutsches Fürstenthum besitze, so müßte es mich auch in Deutschland zum Fremden machen, daß ich Brabanter Bürger bin. Aber gelten Euch denn Dienste und Verdienste nichts? Gilt Euch Aufopferung für das Gemeinwohl minder, als der Wohnort? – Ihr lieben Brüder, theure Freunde – ihr Alle, Abgeordnete, wie Volk von Gent, euch rufe ich an: Ich, euer Mitbürger, euer Freund in der Noth, ich ... euch ein Fremder?“ Und wie den Himmel zum Zeugen solchen Frevels anrufend, hob er die Rechte empor.

„Ein Schuft, ein Lügner, der das sagt!“ dröhnte die Stimme Nikol's, der sein Scepter schwang. Eine unbeschreibliche Scene folgte.

„Schlagt ihn todt! Schlagt ihn todt!“ brüllte das Gesindel, und wie auf Commando starrte der Säulengang plötzlich von Knitteln, Keulen, kurzen Spießen, welche die bisher sorgsam hinter dem Rücken gehaltenen Arme plötzlich in der Luft schwangen. Erschrocken fuhren die nächstsitzenden Abgeordneten von ihren Sesseln zurück. Unwillkürlich rückte der Vicepräsident vor den auf ihn Andrängenden näher an den Herzog.

„Herr Herzog!“ stieß er halb vorwurfsvoll, halb entsetzt heraus. Schützend streckte dieser seine Hand über den Bedrohten, und, wie selbst betroffen über die Wirkung seines Appells, rief er ein lautes:

„Halt, Freunde, halt!“

„Heil dem Herzog von Cleve! Heil dem Regenten!“ brüllte Nikol, sogleich ablenkend, und „Heil dem Herzog, Heil dem Regenten!“ hallte es hundertfach wieder.

„Ein recht leutseliger Herr!“ redete der Holländer kalt ironisch den Papageifarbenen an.

„Recht niederträchtig! gab der Papageifarbene zitternd und mit unzweideutiger Betonung der letzten Sylben zurück.

„Wir sind verrathen und verkauft,“ flüsterte ein Anderer seinem Nachbarn zu.

„Gott schütze Niederland!“ seufzte der Nachbar.

Cleve aber hatte seine ganze Beherrschung wieder gewonnen. Die gewaltsame Machtenfaltung, die er sich für den Augenblick der Noth aufgespart, hatte ihre Wirkung gethan. Jetzt galt es die Einschüchterung der Gemüther ohne Säumen zu benutzen. Er winkte mit der Hand. Stille trat ein.

„Nein, ihr lieben Leute,“ redete er mit den weichsten Tönen seines Organs das Volk an, „so war es nicht gemeinet. Sparet euren tapferen Muth, bis uns wirkliche Feinde bedrohen. – Nur daß ich kein Fremder, solltet ihr mir bezeugen, und ich danke euch für den energischen Protest, den ihr dagegen eingelegt. Was aber das Wort 'Regent' betrifft, so ist es eben nur ein Wort, das nichts zur Sache thut. Denn die Befugnisse sind die Sache, und sie sind dort niedergeschrieben. Schreibet doch auch dieses alsbald hinzu, ihr Herren Notare, damit wir auch den letzten Argwohn zerstreuen mögen – und ihr, werthe Abgeordnete, wollet nunmehr zur Wahl schreiten, nach dem einfachen Modus, den ihr bei den Berathungen über eure Privilegien adoptiret habet! ... Hat Jemand einen Vorschlag zu machen?“

Riom erhob sich.

„In Anbetracht meiner ... rein sachlichen Gründe schlage ich den Herrn Herzog von Cleve zum – zum – mit einem Worte: zum Regenten vor.“

Man hätte ein Sandkorn zur Erde fallen hören können, so tief und peinlich war die Stille.

„Hat Jemand noch einen anderen Vorschlag zu machen?“ fragte Cleve.

Ein verdächtiges Rasseln in den Reihen des Pöbels – sonst tiefe Stille.

„So erübrigt mir nur, über den Antrag des ehrenwerthen Riom nach dem Modus der Staatenkammer abstimmen zu lassen. Wer gegen die Wahl des besagten Herzogs von Cleve zum Regenten stimmt, wolle sich erheben!“

Das Messer war den armen Opfern des von ihnen selbst gegen das Regiment ihrer Herrin erfundenen „Modus“ an die Kehle gesetzt. Mit langen Hälsen starrten vom Säulengange her hundert Späheraugen, Mordlust im Blick, auf jede ihre Bewegungen. Sich erheben, hieß dem Tode in's Auge sehen, sitzen bleiben, sich unter das Joch zu beugen. Aber wie stets die Scheu, etwas zu lassen, überwogen wird von der Scheu, etwas zu thun, so auch hier. Nur der Vicepräsident erhob sich sofort, verließ seinen Sessel und schritt mit Würde, nicht aber ohne die Schritte um ein Merkliches zu verlängern, hinter dem Sessel des Präsidenten herum auf der geschützten Seite den Abgeordneten zu. Der behäbigere Bürgermeister hinter ihm kämpfte noch mit sich, erhob sich, schielte ängstlich zur Seite und entzog sich fluchtartig und nicht ohne Schaden für seine Würde der Gefahr. Auch von den Abgeordneten rückte einer und der andere auf seinem Sessel; zumal der Papageifarbene reckte sich, wie ein halbflügger Vogel über den Rand seines Nestes, flugbereit von seinem Sitze empor, aber drohendes Gemurmel unter den Säulen mit dem Zornruf: „Auf die Plätze! Auf die Plätze!“ genügte, um ihn, wie die Andern auf die Sitze zurückzuschrecken, und als Präsident und Bürgermeister in ihre Nähe kamen, fanden sie Niemanden auf ihrer Seite, als die Holländer, welche, unbeirrt durch Drohung oder Zuruf, ohne eine Miene zu verziehen, mit stoischem Gleichmuth ihre Sessel verlassen hatten. Verächtlich sah ihnen Cleve nach und dann einen triumphirenden Blick über die Versammlung werfend, rief er, die Rechte erhebend:

„Sehet es Alle, und bekundet es, ihr Notare! Die Staaten haben entschieden. Ich bin Regent.“

„Es lebe der Regent!“ erklang die Posaunenstimme Nikol's.

„Es lebe der Regent!“ brüllte der Pöbel ihm nach, daß die Wände zitterten und der Schall, zurückgeworfen, wie Donnerrollen durch den Hofraum wiederhallte.

„Wer rettet uns aus dieser Noth?“ seufzte der Präsident, als er den Holländern die Hände schüttelte.

Dämmerung war angebrochen. Die Notare hatten Mühe, die Beurkundung zu Papier zu bringen. Auf ein Zeichen des Herzogs erhob sich Verno, öffnete die Thür und winkte. Herzogliche Diener, die schon des Zeichens kundig, erschienen, stellten Pechfackeln in die eisernen Ringe an den Pfeilern und zündeten mit brennenden Luntenstäbchen die Ampeln an, so daß in wenig Augenblicken ein Lichtmeer vom düstersten Roth, von [720] Rauch umhüllt, bis zum hellsten Goldschein Saal und Hof durchleuchtete.

Mit den Dienern zugleich aber war eiligen Schrittes Ravestein eingetreten und hatte Cleve über die Schulter zugeflüstert: „Wichtige Neuigkeit, Herr Herzog! Prinz Maximilian ist gefangen. Sie bringen ihn.“

„Gefangen? Er?“ jubelte der Herzog auf. „Zweifaches Glück – denn wisset: ich bin Regent.“

„Ich hörte es noch auf dem Schloßplatze durch die Jubelrufe des Volkes und gratulire.“

„Habt Ihr den Erzherzog gesehen?“

„Nein. Das Gedränge der Tausende, die auf den Plätzen des Signals zum Schmause harren, ist zu groß, als daß man ohne Escorte sich Bahn brechen könnte. Ein Hauptmann meldete mir, man führe den Gefangenen in's Schloß.“

„Hierher? In's Schloß? Das ist gegen meinen Wunsch. Und die Herzogin? ... Mein Gott, Dämmerung ist angebrochen – und mein Sohn noch nicht mit ihr zurück?“

„Zum Glück, Herzog! Denn ... ihren früheren Verlobten dürfte sie doch wohl nicht wiedersehen.“

„Ganz recht, Kanzler, ganz recht! Aber auch ich darf ihn nicht sehen. Alles muß vom Volke gegen ihn ausgegangen scheinen.“

Ravestein horchte auf.

„Höret den Lärm am Portale! Bei Gott, man bringt ihn schon.“

„Dann ist keine Minute zu verlieren – wartet!“

Und wieder vor seinen Sessel tretend, hob der Herzog in der blendenden Lichthelle seine Rechte empor.

„Stille!“ gebot der mächtige Baß Nikol's. Tiefes Schweigen trat ein, aber auf dem Schloßhofe begann es zu wogen, wie wenn sich vom Portal her eine dunkle Masse über Tische und Bänke heranwälze.

„Eine glückliche Nachricht!“ nahm Cleve das Wort. „Man bringt soeben einen hohen Gefangenen ein, einen Prinzen, von welchem Niederland große Gefahr droht. Wohl könnte ich als Regent selbst über ihn beschließen, aber gern beweise ich schon bei diesem ersten Anlaß, daß ich die Vertreter des Staates als die Seele, mich nur als ihren Arm betrachte. Und so lasse ich denn jetzt den hohen Gefangenen für die Staatenkammer in Verwahrung nehmen; sie beschließe –“

„Wer ist es? Wer ist es?“ unterbrachen ihn Rufe von allen Seiten. Aber schon kam das Getöse näher; schon hörte man kaum noch sein eigenes Wort.

„Die Herzogin kehrt zurück. Ich muß ihr entgegen. Das Weitere nachher!“

Trotz seiner mächtigen Stimme konnte Cleve kaum diese Worte noch zur Geltung bringen. Dann wandte er sich an Verno.

„Eilet! Lasset den Prinzen nicht in die Halle! Nehmet ihn draußen in ritterlichen Gewahrsam, nicht in meinem Namen, im Namen der Stadt! Fraget er nach mir, so sagt: ich sei nicht zugegen, sei abgehalten durch den Empfang der Herzogin und ihres Bräutigams, meines Sohnes! Kommt, Ravestein, begleitet mich!“

Und hastig verließ er durch die Thür die Halle. Verno aber eilte durch den Säulengang dem Getöse entgegen.

„Platz da! Platz da!“ rief eben, schon dicht vor der Halle, ein Cleve'scher Hauptmann und bahnte durch die gaffende Rotte Nikol's eine Gasse, während ein Zug Hellebardiere hinter ihm einen Gefangenen umgab. Von rückwärts aber wogte, Tische und Stühle überfluthend, oder auf ebener Erde nachdrängend und schiebend, eine endlose Menge Volkes, zumeist aus der Arbeiterclasse, die, des Schmauses harrend, sich auf dem Schloßplatze neugierig dem Zuge angeschlossen hatte.

„Der Prinz von Deutschland! Der Prinz von Deutschland!“ rief es von allen Seiten und vergebens bemühten sich die auf den Tischen Stehenden, des merkwürdigen, durch die Hellebardiere verdeckten Gefangenen ansichtig zu werden.

Verno nahm schnell den Hauptmann bei Seite, wechselte einige Worte mit ihm, trat in den Zug, der sich vor ihm öffnete, und redete achtungsvoll den Gefangenen an.

„Prinz,“ sagte er, „im Namen der Stadt habe ich Eure Gnaden in ritterlichen Gewahrsam zu nehmen. Wollet mit mir umkehren!“

„Umkehren? Ich? Und Eure Gnaden?“ antwortete dieser mit einem wunderbaren Arbeiten seiner Nasenflügel. „Im Leben nicht! Wer hat Euch Macht über mich gegeben? Sind die Cleve'schen Kaiser oder Könige, daß sie zum Prinzen machen können, wen sie wollen? Sehet mich an! Ich bin Jan der Fiedler, der lustige Fiedler aus Geldern! He, ihr Genter, erkennt ihr mich nicht?“ Und dabei sprang er mit einem Bockssprunge in die Höhe und rückte seinen langen Hals, um beim grellen Scheine der Pechfackeln sein Gesicht erkennen zu lassen.

Ein plötzlicher Ausruf des Erstaunens von einzelnen Stimmen der Arbeiter erscholl.

„Jan, der Fiedler!“ „Bei Gott, der lustige Fiedler!“ „Der Fiedler ein Prinz!“ so schrie es bald durch- und übereinander, von unmäßigem Gelächter begleitet, das sich wellenweise, in Absätzen, je nach Weitererzählung der wunderbaren Begebenheit, über den Hof, den Schloßplatz, ja durch die ganze Stadt fortsetzte, um sich erst an den geschlossenen Thüren zu brechen.

„Ist es möglich?“ wandte sich Verno in peinlicher Verlegenheit an den Hauptmann zurück. „Wie konntet Ihr Euch also täuschen lassen?“

„Er sei vermummt gewesen, wurde mir gemeldet, habe sich versteckt und geschworen, sich nur dem Herzoge ergeben zu können,“ stotterte verwirrt der Hauptmann.

„Ich wäre vermummt gewesen?“ schrie vorspringend Jan, dem kein Wort entgangen war. „Lügen! Lügen! Ein Spaßvogel hatte mir einen Bart angehängt und mir einen garstigen Klecks auf die Nase gesetzt – das ist Alles, und das ist wahr und bei Gott nicht gelogen. Aber protestirt hab' ich, daß ich ein Prinz sei, und wenn ich durchaus einer sein solle, wollte ich zum Herzoge geführt werden. ... Ich bin ein freier Bürger der Staaten. Ausländische haben mich wider das Gesetz in Haft genommen. Der Herzog selber darf es nicht dulden. Helft mir, ihr Bürger!“

Und in zwei Sätzen war er in die Halle gesprungen, mit den Augen vergebens nach dem Herzoge suchend.

„Greift ihn!“ befahl wüthend der Hauptmann. Einige Hellebardiere eilten ihm nach, aber auch eine große Zahl Arbeiter hatte sich inzwischen durch Nikol's Rotte bis zu dem Tische gedrängt, an welchem die Notare, ihre Papiere mit den Händen schützend, saßen. Als dem Fiedler auf seiner Flucht vor den Verfolgern der verlassene zweite Tisch in die Augen fiel, ersah er sich diesen, sprang mit flinkem Satze hinauf, zog seinen Fiedelbogen wie ein Schwert, und in der grellen Beleuchtung mit weithin sichtbarer Grimasse den Bogen schwingend, rief er:

„Wer mich anrührt, ist des Todes.“

Unbändiges Gelächter war die Antwort, und ehe noch die Cleve'schen ihn erreichen konnten, trennte ihn ein Haufe Lachender von denselben.

„Wir spielen eine unwürdige Rolle,“ raunte Verno dem Hauptmanne zu. „Es kann nicht im Sinne des Herzogs liegen, das Volk zu erbittern.“ – Und laut seine Stimme erhebend, rief er: „Lasset ihn! Es war ein Irrthum,“ und verschwand durch die Thür. Der Hauptmann aber zog sich beschämt mit seinen Leuten durch den dunkleren Theil des Laubenganges um den Schloßhof zurück.

Jan hatte gesiegt. Mit gekreuzten Armen stand er da, wie ein Triumphator, und sah ihnen lächelnd nach.

„Ha, da schleichen sie hinweg. In den dunkelsten Gang mit ihren bunten Federn!“ „Lacht sie aus, Bürger, lacht sie aus, die Cleve'schen!“

Jetzt erst ging Nikol ein volles Licht auf.

„Nichts auf die Cleve'schen. Du Lump!“ brüllte er. „Heil dem Herzog von Cleve! Heil dem König von Burgund!“ Und er erhob seine Signalstange.

„Heil, Heil!“ hallte es wieder.

Aber der Fiedler ließ sich nicht einschüchtern.

„So? Den laßt ihr hoch leben?“ spottete er. „Wünsche euch viel Glück mit ihm! Wenn nur die Herrlichkeit lange dauert! Ich bringe da eine verfluchte Neuigkeit. – Wollt ihr sie hören?

„Nichts da!“ schrie Nikol. „Stopft dem Rebellen den Mund!“

Aber Andere waren anderer Meinung.

„Hört ihn! Hört ihn! Her mit Deiner Neuigkeit, Fiedler!“

(Fortsetzung folgt.)
[721]

Die Czerna Zid, die wilde Mauer, in Montenegro.
Nach der Natur aufgenommen von Professor Franz Zverina.

[722]

Ein Bild von Montenegros Bergen.
(Mit Abbildung.)


Seit einer Reihe von Jahren sind die Blicke der europäischen Welt mit gesteigertem Interesse dem kleinen Volke der Montenegriner zugewendet, die ihre Unabhängigkeit in stets erneuten Kämpfen siegreich gegen die türkische Uebermacht vertheidigt und erst in der jüngsten Vergangenheit ihre Bedränger mit blutigen Köpfen heimgeschickt haben.

Diese Erfolge verdanken die Montenegriner aber nicht nur ihrer zähen Tapferkeit und – der heimlichen russischen Unterstützung, sondern auch und zwar vorzugsweise der einem Vertheidigungskriege höchst günstigen territorialen Beschaffenheit ihres Vaterländchens, durch welche Uebermacht, Tapferkeit und Kriegskunst der Türken vielfach aufgewogen wurden.

Wie wir wissen, ist Montenegro ausschließlich Gebirgsland; seine fünfundsiebenzig[WS 1] Quadratmeilen Flächengehalt bestehen aus einem selbstständigen Gebirgsstock, der sich in der Schöpfungsperiode gewissermaßen als Verbindungsknoten zwischen den Dalmatinischen und den eigentlichen Dinarischen Alpen gebildet hat. Das vorherrschende Gestein ist ein schwärzlich-grauer Kalkstein (sogenannter Alpenkalk), dessen Farbe das Ländchen seinen Namen Montenegro oder auch „Schwarze Berge“, Czerna Gora, verdankt. Nach allen Seiten schroff wie eine von Titanen gebaute Felsenmauer aufsteigend, bildet das Gebirge ein von tief eingerissenen, wilden, oft geradezu schrecklichen Schluchten und Höhlungen zerklüftetes Hochplateau, auf dem sich isolirte Dolomitkegel, wie z. B. der Dormitor im Flußgebiet der Drina (zweitausendvierhundertundvierzig Meter Höhe), der Kom (zweitausendsechshundert Meter Höhe) erheben.

Obwohl die Verwitterungsproducte des Kalksteins eine der Vegetation sehr günstige fruchtbare Erde liefern, so ist trotzdem das Land im Allgemeinen unfruchtbar, sodass von eigentlichem Ackerbau keine Rede sein kann. Diese Erscheinung muß der schlechten Wirthschaft früherer Zeiten zur Last gelegt werden, die nicht nur dies, sondern noch viel mehr verschuldet hat.

Noch zu Plinius’ (des Jüngeren) Zeiten waren die Gebirge Montenegros und der Nachbarländer von reichen Waldungen bedeckt, aber die sich mehr und mehr entwickelnde Schifffahrt sowohl der Römer selbst, wie auch der nachher an ihre Stelle getretenen Nationen, welche ihren Bedarf an Schiffsbauholz ohne rationelle Rücksicht auf die Zukunft befriedigten, der Vandalismus der Slaven und Türken verwüsteten den Waldbestand und reducirten ihn bis auf das heutige Minimum. Unausbleibliche Folge war, daß das bloßgelegte Erdreich unter den atmosphärischen Einflüssen verschwand und die fruchtbaren Niederungen durch nicht mehr gehemmte Ströme Regenwassers von oben herab mit Gerölle überschüttet wurden. Auf solche Weise ist Montenegro allmählich zur Stein- und Felsenwüste geworden, in welcher sich nur noch einige fruchtbare Oasen finden.

Rauh und wild, wie das Land, ist auch der Charakter des Volkes; an Entbehrungen gewöhnt und abgehärtet, mit allen Schlupfwinkeln seines Felsenlabyrinthes vertraut, von glühendem Patriotismus beseelt, hat es sich den Nimbus der Unnahbarkeit bewahrt und sein Vaterland zur unbezwinglichen Festung umgeschaffen. Die meistens von Norden nach Süden verlaufenden Gebirgsschluchten dienen einestheils als Ausfallsthore, in welche ein Feind deshalb nicht leicht eindringen kann, weil sie überall von unangreifbaren Positionen aus mit geringen Kräften erfolgreich vertheidigt werden können, anderntheils, je nach Umständen, als Fallthüren für den verwegenen Feind, dessen Verderben besiegelt ist, wenn er sich zum Einmarsch hat verlocken lassen.

Vorzugsweise gilt dies von der südlichen Gebirgswand, der Czerna Zid (das ist: schwarze oder wilde Mauer), welche, das Meeresniveau um 1143 Meter überragend, von der Thalsohle aus mindestens 570 Meter hoch senkrecht emporsteigt. Sie beherrscht die Höhen des angrenzenden Albaniens und gestattet einen wechselvollen Ueberblick über die Umgebungen von Scutari, während von Südwesten her das Adriatische Meer seine Silberblicke herübersendet.

Der freundliche Eindruck dieser Fernsichten wird aber verdüstert durch den außerordentlich wilden Charakter der Czerna Zid selbst und ihres nächsten Bereiches, zu dem unter anderen auch das durch mörderische Kämpfe bekannt gewordene Zetathal gehört. Ist es doch, als hätten an dieser Gebirgsmauer infernalische Gewalten gearbeitet und dann die kaum zusammengefügten Werksteine schadenfroh wieder eingerissen und durcheinander geworfen, um dem Menschengeschlechte die Lust zum Eindringen in ihre Baustätte zu verleiden: so furchtbar wild, zerrissen und zerklüftet sieht sie aus. Und was die unterirdischen Gewalten stehen gelassen, das zerstören die meteorischen Kräfte, besonders die Wirkungen des in die Felsenspalten eindringenden Regenwassers, welches entweder die Felsen allmählich unterwühlt, oder sie bei seinem Gefrieren auseinander sprengt; daher die zahlreichen Felsstürze.

Eine häufig vorkommende Eigenthümlichkeit der montenegrinischen Gebirgsformation besteht darin, daß der obere Theil der Felswände etagenartig zurücktritt und so oft stundenweit nur einen freilich äußerst schmalen Pfad (Chozke planinske) für Menschen und Thiere übrig läßt, die jedoch montenegrinisches Blut in den Adern haben müssen, wenn ihnen die Passage gelingen soll. Die Czerna Zid aber, getreu ihrem Charakter, verkümmert dem Wanderer selbst diese Wohlthat, indem der an ihr hinziehende leistenartige und nur für Menschen brauchbare Pfad an einer Stelle durch plötzliches Vortreten der oberen senkrechten Felswand unterbrochen und hierdurch der Passant genöthigt ist, sich mit einem ebenso kühnen wie kräftigen Schwung über den gähnenden Abgrund um den säulenartigen Vorsprung herum zu schwingen. Wer diese – Hexensprung, Muri Skok genannte – Stelle auf Umwegen umgeht, wird als Schwächling verachtet. Genug, dieser Erdwinkel ist so unwirthlich wie möglich und ohne Zweifel sicher vor „Alpenclubs“: denn was ein Montenegriner zu leisten vermag, gehört für Fremde zu den absoluten Unmöglichkeiten.

Die eben erwähnten Leistenpfade werden überdies zur Anlage von Steinbatterien benutzt, wie unsere Abbildung zeigt. Diese bestehen in Haufen von Felsblöcken, die durch untergelegte Hebebäume auf den in der Tiefe hinziehenden Feind gestürzt werden können und ganze Truppenabtheilungen, buchstäblich genommen, zerstücken.

In allen Unabhängigkeitskämpfen der Montenegriner seit Eroberung der Balkanhalbinsel durch die Türken, wo es diesen gelungen war, in die Schluchten der Czerna Zid einzudringen, haben jene Steinbatterien wahrhaft diabolisch gewirkt, und wer vom Felsenhagel nicht erschlagen worden, fiel unter dem Mordstahl der Montenegriner.

Als einer der blutigsten Kämpfe dieser Art gilt unstreitig die neuntägige Schlacht im Zetathal. Am 17. Juni dieses Jahres war nämlich Suleiman Pascha mit 40 Bataillonen, 5000 Pferden und 30 Geschützen von Niksic aufgebrochen und bei Ostrog über die nördliche Grenze Montenegros eingedrungen. Vor seiner mehr als vierfachen Uebermacht hatten zwar die Montenegriner den Rückzug angetreten, dabei aber so geschickt manövrirt, daß das türkische Heer sich ohne Möglichkeit des Rückzuges in das Zetathal gedrängt sah. Hier begann nun das althistorische Morden. Von allen Seiten umzingelt, wurden die Türken nach gräßlichen Kämpfen und Verlusten schließlich unter die Felswände der Czerna Zid geworfen und hier durch die unerbittlich arbeitenden Steinbatterien vollends geschwächt. Mit 12,000 Mann Verlust entkamen sie auf albanesisches Gebiet.

Von manchen Zeitungen ist dieser Türkenzug durch Montenegro hindurch als ein Siegeszug bezeichnet, jedoch nicht bedacht worden, daß Suleiman Pascha nur das Schicksal seiner Vorgänger erlitt, als er, einmal über die Grenze gelassen, unaufhaltsam den Mordgründen der Czerna Zid entgegen gedrängt wurde, um allda die Schädel seiner Soldaten den Montenegrinern zum Bau ihrer Siegespyramiden überlassen zu müssen.

Und so wird sich’s in der Zukunft wiederholen. Dank seinen Bergen wird Montenegro stets eine Türkenfalle bleiben.



[723]

Die „discreten Privatleute“.
Ein Krebsschaden des Officier- und Beamtenstandes.


Wer den Inseratentheilen des „Kladderadatsch“, der „Vossischen Zeitung“ und einiger anderer bedeutenderer Blätter einiges Interesse zuwendet, der wird neben anderen zahlreichen zwei oder vielmehr eindeutigen Annoncen die bekannten stehenden Anzeigen „reeller Geschäftsleute“ finden, welche Beamten, insbesondere aber Officieren jeder Charge „Geld!! bis zu beliebiger Höhe“ offeriren.

Wie oft nun auch diese heikle Frage berührt, wie viel darüber in jeder Form geschrieben worden ist, zu Nutz und Frommen aller Leichtgläubigen und Leichtsinnigen, so ist dieses Thema doch noch nicht so erschöpft und klargelegt worden, daß man sich ein orientirendes Bild über das Unwesen dieser „discreten Privatleute“ zu entwerfen im Stande ist. Gestützt auf ausgedehnte Recherchen und mannigfache Bekenntnisse von Geschädigten, auf polizeiliche Quellen und kriegsgerichtliche Untersuchungen, haben wir versucht, das Treiben dieser Herren „Cravattenfabrikanten“, ihre Beziehungen zu einander und ihren schädlichen Einfluß auf das Wohl und Wehe eines ganzen Standes in etwas anschaulicherer Weise zu schildern, als dies bisher geschehen. Wir wollen dabei die Versicherung nicht unterlassen, daß alle angeführten Thatsachen auf strengster Wahrheit beruhen und daß wir in der Redaction dieses Blattes das Verzeichniß der vollen Namen der „Geschäftsleute“ niedergelegt haben, die wir aus naheliegenden Gründen hier nur mit Anfangsbuchstaben anführen.

In Berlin hat sich in jüngster Zeit eine Sorte von Gesindel, die man im Allgemeinen unter dem Gesammtnamen „Bauernfänger“ zusammenfaßt, auf eine erschreckende Weise vermehrt. Den ersten Rang unter ihnen nimmt unstreitig die zahlreich verbreitete Clique der Wucherer und ihrer Geschöpfe ein. Wie der Geier seine Kreise um das erkorene Opfer zieht, langsam, aber enger und immer enger, wie die Schlange ihren Fraß mit tückischem Raffinement ködert und lockt, so legen die Wucherer dem Officiercorps und der kleinen Beamtenwelt des deutschen Reiches ihre Schlingen und ziehen Tausende in den Abgrund hinab. Es ist ein trauriges Zeichen der Zeit, daß diesem eiternden, das Wohl und Wehe eines ganzen Standes gefährdenden socialen Krebsschaden bisher keine Schranken gesetzt werden konnten, daß er immer weiter um sich frißt und die deutsche Armee, auf die das Land so stolz sein kann, in ihren Grundprincipien wankend macht. Wir sprechen die Officiere, die dem Wucher zum Opfer gefallen, durchaus nicht frei von Schuld, aber wir behaupten, daß die große Zahl der jährlich wegen Schulden den Dienst des Kaisers verlassenden Officiere wohl gemindert werden könnte, wenn energische Mittel zur Bekämpfung des Wuchers von Seiten der Regierung ergriffen würden.

Der Grund des Schuldenmachens liegt übrigens oft tiefer, als in bloßem Leichtsinn und in dem Hang zum Wohlleben. Das Cadettencorps liefert nach genauen statistischen Nachforschungen den größten Procentsatz der alljährlich den Dienst quittirenden Officiere. Der Grund liegt auf der Hand. Das Cadettencorps enthält meistens Söhne alter Militärs, die zum größten Theil auf Kosten des Staates zu Soldaten herangebildet werden. Im Cadettencorps erhält der junge Officiersaspirant also Alles, ohne daß er sich darum zu kümmern braucht, ohne daß er eine Ahnung von Einnahme und Ausgabe hat. Das traurige Ergebnis, wenn er das Corps verläßt und in die Armee tritt, ist, daß er sich blindlings in das Leben hineinstürzt und, wenn sein Geld nicht mehr ausreicht – borgt. Einmal erst in den Händen der Wucherer, die Hunderten das Pistol vor die Stirn gedrückt, Hunderte über das Meer gejagt, unzählige Familien ruinirt und Glieder des alten Adels unseres Landes in den Staub gezogen haben, ist er unrettbar verloren. Man beschuldige uns nicht der Uebertreibung! Was wir sagen und noch sagen werden, ist das Resultat monatelanger Untersuchungen, monatelangen eigenen Verkehrs mit dem Schwindel in seiner raffinirtesten Gestalt. Wir ergreifen hier das Wort, weil es eine Pflicht der Journalistik ist, der Gemeinheit, dem Schwindel die Larve vom Gesicht zu reißen.

Berlin ist gewissermaßen der Central- und Sammelpunkt der Halsabschneider, obwohl die Wucherblume weit über die Grenzen der Hauptstadt hinausreicht und die meisten größeren Städte unsicher macht. Viele der Herren „Geschäftsleute“ haben sich bereits ein hübsches Vermögen erworben, leben in den vornehmsten Stadttheilen in höchst eleganten Wohnungen und halten sich Equipagen und prachtvolle Reitpferde, mit denen sie den Tattersall unsicher machen. Diese Herren – „Geldmänner“ ist der technische Ausdruck – befassen sich nicht mehr mit kleineren Geschäften; solche überlassen sie ihren Agenten, den sogenannten „Schleppern“, die für sie „anständige Opfer“ ködern müssen. Jene spielen die großen Herren, schwärmen für Sport und kleine, verschwiegene Soupers mit vollblütigen Ballerinen, besuchen den Rennplatz und Circus, sind stets in den Foyers der Theater zu sehen – Alles auf Kosten der Armen, die sie mit Wechseln und Ehrenscheinen ausgeplündert haben. Die Herren Agenten aber treiben sich an allen anderen Orten der Hauptstadt, welche von der jungen Herrenwelt frequentirt werden, herum und suchen sich als Männer der guten Gesellschaft zu geriren. Wer Gelegenheit gehabt hat, längere Zeit in Berlin zu leben und öfters die Passage, die Wiener Cafés, den Scating-Rink und die Nachtlocale besseren Genres zu besuchen, dem werden dort stets Gestalten begegnet sein, welche durch ihr eigenthümliches Aeußere Jedem auffallen müssen. Es ist dies eine Classe von Menschen, die sich durch ihren gewählten Anzug und eine geschmackvolle Nonchalance im Auftreten ein gewisses vornehmes Ansehen zu geben wissen, denen indeß für ein geübtes Auge der Stempel der Raffinirtheit und Gemeinheit auf’s Gesicht gedrückt ist. Diese „Schlepper“, diese Strichvögel der Gesellschaft, findet man überall. Sie sind mit Argusaugen bewaffnet, wenn es gilt ein Wild zu belauern, und feig wie ein Hase, wenn das Auge des Gesetzes ihnen auf den Fersen ist.

Wenn auch Alle mit zwei oder drei falschen Namen ausgestattet, sind sie doch unter ihrem richtigen Namen der Criminalpolizei genau bekannt und durch diese den oberen Militärbehörden zur weiteren Mittheilung an die Officiercorps theils durch Photographien, theils durch genaue Charakteristik und Wohnungsangabe überliefert worden. Trotzdem gelingt es ihnen immer noch, fast täglich einen oder den anderen Unerfahrenen, leider ungestraft, einzufangen.

Sie manipuliren etwa folgendermaßen: Sobald das Militär-Wochenblatt die Neuernennungen von Officieren veröffentlicht hat, gelangen an fast alle Neubeförderten der deutschen Armee Anzeigen ungefähr des Inhalts:

„Euer Hochwohlgeboren zeige ergebenst an, daß zur Zeit einige tausend Mark an Officiere zu vergeben habe. Falls reflectirend, bitte ergebenst, mich alsbald wissen zu lassen.

Hochachtungsvoll
gez. C . . . . . i
N. K – gasse Nr. l.
1 bis 3. 5 bis 6 Uhr.“

Dies ist die wörtliche Wiedergabe einer Zuschrift, welche wir der Redaction dieses Blattes zur Ansicht übersandt haben.

Aber nicht nur die jungen Officiere, sondern auch ältere, deren augenblickliche Geldverlegenheit den sauberen Geschäftsleuten durch Helfershelfer bekannt geworden ist, werden von Zeit zu Zeit mit solchen Einladungen bedacht. Denn diese Herren, welche wie die Spinnen ihr Opfer umklammern, um ihm das Blut auszusaugen, sind über die finanziellen Verhältnisse der Officiere viel besser orientirt, als die eigenen Angehörigen oder die Commandeure der Betreffenden.

Gedrängt durch die Verhältnisse, angelockt durch falsche Versprechungen und günstig erscheinende Conjuncturen, setzt sich das Opfer mit dem betreffenden Gauner in Verbindung und – unterschreibt schon mit dem ersten Worte sein Todesurtheil.

Mit umgehender Post erhält der betreffende Officier ein Schreiben, daß Absender leider augenblicklich nicht in der Lage, das Geld zu zahlen, indeß gern bereit sei, dasselbe von einem Bekannten gegen mäßige Provision zu beschaffen. Im Bejahungsfalle möge der Herr Lieutenant gütigst die beiliegenden bereits ausgefüllten Scheine durch Namensunterschrift vollziehen und umgehend „eingeschrieben“ zurücksenden. Was diese Scheine bedeuten, [724] kann in seinem ganzen Umfange nur der beurtheilen, der selbst diesen Hyänen des Capitals in die Hände fiel.

Nun vergehen einige Tage, die das betreffende Opferlamm auf die Folter spannen. Am dritten etwa geht ein Brief ein, in welchem sich der betreffende Gauner, der sich in seinem ersten Briefe beispielsweise René, Mank, Stein oder Fliedner nannte, unter seinem wahren Namen vielleicht als einer der vier Herren von A– entpuppt, dieser heruntergekommenen Sprossen einer altehrwürdigen preußischen Adelsfamilie, deren Vorfahren sich bereits in den Kreuzzügen ausgezeichnet und deren jetzt lebende Namensverwandte in den letzten glorreichen Kriegen frischen Lorbeer um den deutschen Adler gewunden haben.

Herr von A– theilt nun dem Helden unserer kleinen Tragödie mit, daß ein gewisser Herr K., –straße Nr. x, bereit sei, das Geld vorzuschießen, und läßt in einem Postscriptum seines Briefes nebenbei einfließen, daß es dringend erwünscht sei, persönlich und zwar in Uniform zu erscheinen. Dieses Manöver wird von fast allen der Herren Gauner mit besonderer Gewandtheit executirt. Dem bereits moralisch Zugrundegerichteten bleibt kein anderer Ausweg, wenn er überhaupt in den Besitz des Geldes kommen will, als sich, wie gewünscht, persönlich zu dem verabredeten Rendez-vous zu begeben. Meistens findet dieses in der Wohnung des „Geldmannes“ statt. Von dem „Schlepper“ im Salon des großen Mannes empfangen, wird der Officier nach einem kurzen, aber erschöpfenden Examen über seine intimsten Privatverhältnisse – über welche der Gauner natürlich bereits längst orientirt ist – durch den wie von ungefähr aus dem Nebenzimmer eintretenden Herrn K., der von seinem Versteck aus die gepflogene Unterhaltung Wort für Wort mit angehört hat, auf das Förmlichste begrüßt.

Nach einigen trivialen Redensarten geht Herr K. mittelst einer geschickten Wendung auf die Hauptsache über. Wechsel und Ehrenschein liegen auf dem Tische ausgebreitet. Der Wechsel wird beispielsweise, da der reiche Mann wegen augenblicklich eingetretener Verhältnisse nicht ganz eintausend Mark aufbringen kann, über siebenhundert Mark auf drei Monate nach dato acceptirt. Der Officier erhält nach Abzug der landesüblichen mäßigen Vierteljahreszinsen von zweihundert Mark fünfhundert Mark baar ausgezahlt und dankt seinem Schöpfer mit einem Stoßgebet, sobald er, aus dieser Höllenkammer befreit, wieder in Gottes freier Natur ist. Unten angekommen, notificirt ihm der Herr v. A– , der ihm auf dem Fuße gefolgt ist, daß er für seine Bemühungen noch fünfzehn bis zwanzig Mark bekomme. Auch diese reißt sich der Officier, wenn er thöricht genug ist, noch von der Seele und behält schließlich von den in drei Monaten zurückzuzahlenden siebenhundert Mark nur vierhundertfünfundachtzig Mark übrig. – Die drei Monate verstreichen. Etwa drei Tage vor dem Verfalltage des Wechsels erhält der Officier meist von unbekannter Hand einen Brief, in welchem ihm mitgetheilt wird, daß er binnen drei Tagen bei Gefahr der Protestirung des Wechsels siebenhundert Mark zu zahlen habe. Der Wechsel befindet sich also bereits in dritter Hand, wenn auch nur als Schreckmittel, natürlich im Besitz eines Mitgauners.

Der Officier kann nicht zahlen. Der Wechselinhaber läßt sich nach langem Hin- und Herreden endlich erweichen, gegen Zahlung der reglementsmäßigen Zinsen von neuen zweihundert Mark auf fernere drei Monate den Wechsel zu prolongiren. Auch die Zinsen vermag der Arme nicht zu zahlen. Es wird also ein neuer Wechsel, und zwar unter Anrechnung der Zinsen über neunhundert Mark ausgestellt. Nach ferneren drei Monaten sind im Falle der Insolvenz des Ausstellers aus den fünfhundert factisch gezahlten elfhundert und nach Jahresfrist fünfzehnhundert zu zahlende Mark geworden. Dabei ruht der Ehrenschein wie eine stets bereite Schlinge, dem Opfer den Hals zuzuschnüren, im feuerfesten Geldschrank des Wucherers.

Lawinenartig wächst die Summe an, bis nach wenigen Jahren jede Aussicht auf Rettung schwindet und der völlig in die Enge Getriebene den Dienst quittirt. So sind schon unendlich viele Officiere einer verhältnißmäßig geringen Summe, die sie aus den Händen solcher Ehrenmänner empfingen, schließlich elend zum Opfer gefallen.

Wie vorsichtig aber auch die Herren vom Wucherfache zu Werke gehen, wie geschickt sie auch in die geheimsten Familienverhältnisse einzudringen und sich über dieselben zu orientiren verstehen, so kommt es doch auch vor, daß ihnen das so schlau umgarnte Opfer entschlüpft. – Wie ein Donnerschlag trifft die Betreffenden die Annonce des Militär-Wochenblattes, daß einer ihrer „Pflegebefohlenen“ behufs Auswanderung den Abschied genommen. Dann giebt es ein Laufen, Rennen, Jagen, ein Schreiben und Telegraphiren von einer Gaunerbörse zur andern, um vor allen Dingen den Aufenthalt des Echappirten zu ermitteln. Ist der Betreffende noch nicht transatlantisch geworden und haben die Spürnasen der Gauner seinen Aufenthalt entdeckt, so werden sämmtliche Winkelconsulenten des Reiches aufgeboten, um durch raffinirte Verclausulirungen und Einschüchterungsversuche dem durch ihre Machinationen bereits vollkommen Ruinirten noch das letzte Hemd vom Leibe zu reißen.

In Verbindung mit den im Vorstehenden Gekennzeichneten steht eine zweite Kategorie von Wucherern, dem Officiere beinahe noch gefährlicher, als die eben Geschilderten: die der gewerbsmäßigen Hazardspieler. Sie haben außer in Berlin ihren Hauptsammelplatz in Hamburg. Aehnlich wie die Agenten der „Geldmänner“ sind sie an allen fashionablen, viel besuchten Orten, vor Allem aber stets auf den Rennplätzen, zu finden. Dort begrüßen sie in der chevalereskesten Art auf dem Sattelplatze, besonders in der Nähe des Totalisators, wo sie ihre Opfer wittern, die ihnen von früher her bekannten Officiere, knüpfen neue Bekanntschaften an, bitten um die Erlaubniß, Diesem oder Jenem ihre Aufwartung machen zu dürfen, und verabreden schließlich für einen oder mehrere Abende ein Rendesvous zu einem kleinen Spiel. In den Salons der besseren Hôtels, für welche die Bauernfänger immense Miethe bezahlen müssen, wird das Jeu ausgeführt. Aus einer kunstvoll zusammengelegten Reisedecke entpuppt sich der Ueberzug eines Roulettetisches, aus einem zierlichen, unschuldig aussehenden Musterkästchen entsteigt ein raffinirt gearbeitetes Roulette. Batterien von Sectflaschen, das Haupthülfsmittel der professionirten Bankhalter, umrahmen den bereits besetzten Tisch. „Messieurs, faites votre jeu! Rien ne va plus.“ Das Spiel beginnt. Aus mäßigen Ziffern werden Summen, und binnen Kurzem ist das Baargeld der Spieler vor dem Bankhalter aufgethürmt. Abgesehen von den überaus günstigen Chancen des Croupiers, weiß er durch einen geschickten Druck an eine kunstvoll gearbeitete mechanische Vorrichtung des Roulettes jeden besonders hohen Satz in seine Hände zu bringen. Denn wie uns aus eigener Anschauung bekannt und von authentischer Seite bestätigt wird, führen die meisten dieser gewerbsmäßigen Spieler falsche Roulettes, falsche Karten, falsche Würfel und verstehen bei Benutzung echter durch kühne Manipulationen besser als die geübtesten Taschenspieler, das Glück an ihre Seite zu fesseln – das Geld ist verloren. In liebenswürdiger Weise sind die Herren Bankhalter bereit, Vorschuß zu geben, der wie das Uebrige in kürzester Zeit dahin ist. Der Vorschuß ist zu bedeutender Höhe gestiegen. Die Grenze der von den Gaunern vorher genau taxirten Zahlungsfähigkeit jedes Einzelnen ist überschritten und der erste Croupier, ein Herr F… oder R…, Ersterer aus Hamburg, Letzterer aus Berlin, legt ein Veto gegen ein weiteres unbaares Spiel ein.

Jetzt beginnt die eigentliche Gewerbsthätigkeit der Wucherer, das völlige Abschlachten der bereits Halbtodten. Die Portefeuilles der Bankhalter speien ein Meer von Wechselblanquets aus. Summen von beispielsweise tausend Mark werden auf drei bis vier Wechsel vertheilt und auf drei Monate acceptirt. Es ist dies ein wohlüberlegtes Manöver, weil so die Officierwechsel am leichtesten und bequemsten unterzubringen sind. Nach wenigen Tagen befinden sich sämmtliche Wechsel in den Händen der oben geschilderten Wucherer, denen das Eintreiben derselben überlassen wird. So spielen sich die Gaunerclassen gegenseitig in die Hände.

Gleichfalls im Sold der Halsabschneider stehen die Gauner des Pferdehandels, ferner zahlreiche Geschöpfe der Halb- oder Dreiviertels-Welt, Jaguaritas, die es verstehen, ihre Opfer zu zerreißen und sie dem Wucher in die Polypenarme zu treiben. Und der Zweck aller dieser Creaturen? Geld zu verdienen, zusammenzuraffen und zusammenzuschachern – auf Kosten der Armee, der sie eine junge Kraft nach der anderen rauben. Allwöchentlich und öfter bringen die Zeitungen Nachrichten über [725] das Treiben der Wucherbande, aber kein rettendes Gesetz, keine Maßregeln von Seiten des Reichstages steuern dem Unwesen.

In Oesterreich – wenn wir nicht irren – existirt ein Armee-Fond, wie er in Preußen bei vielen Regimentern auch bereits angebahnt worden ist, aus dem Officieren zu fünf Procent Zinsen Vorschüsse bis zu einigen hundert Mark, welche in Ratenzahlungen innerhalb eines Jahres zurückzuerstatten sind, gewährt werden. Wir halten diese Maßregel für entschieden nutzenbringend und nachahmungswerth, weil fast sämmtliche Fallissements von Officieren aus kleinen Anfängen herrühren, welche durch Prolongationen lawinenartig anwachsen. – Besser noch wäre es freilich das Uebel mit der Wurzel auszurotten und dem immer größere Dimensionen annehmenden Schwindel durch ein Gesetz den Weg zu verlegen.
A. v. Z.




Aus der guten alten Zeit.
Zur Geschichte eines Märtyrers der guten Sache.[1]
I.

Wenn wir es versuchen, unsere Leser in eine Zeit voll Schmach und Jammer, voll unsäglicher Kämpfe und Opfer zurück zu versetzen, so können, wir dies nicht wirksamer bewerkstelligen, als indem wir Bilder aus dem Leben eines der vielen Märtyrer entrollen, welche damals so ergreifend tief in die Geschicke Deutschlands verwickelt waren.

Die Zeiten haben sich seitdem so völlig geändert, daß Gesinnungen, welche früher demagogisch und hochverräterisch genannt wurden, zu den alltäglichen und gesunden gestempelt worden sind, ja daß die Epoche der jammervollsten Justiz und des geheimen Inquisitionsverfahrens viel weiter hinter uns zu liegen scheint, als dies in der That der Fall ist.

Von dem gerichtlichen Verfahren von damals – wir meinen: in der vormärzlichen Zeit – kann freilich die heutige Generation selbst aus den Geschichtswerken über jene Zeit schwerlich sich ein richtiges Bild machen, und eben darum ist es doppelt nothwendig, solche Zeitbilder aus dem Leben eines unserer edelsten und gequältesten politischen Kämpfer mitzutheilen, ihrem Andenken zu Ehren und zur mahnenden Belehrung für die Gegenwart. Extreme Maßregeln haben stets extreme Richtungen hervorgerufen, und als die Reaction ihre höchste Blüthe erreicht hatte, da war es auch, wo sich aus der einen Seite das Herz und das Handeln der Ehrenmänner am gewaltigsten bäumte und auf der anderen der Servilismus bis zum Abscheu hervortrat. Gedenken wir der schmachvollen Processe am Anfang der dreißiger Jahre, der Processe eines Behr, Eisenmann und Wirth in Baiern, eines E. E. Hoffmann in Darmstadt – welche Männer! Und wie wurde ihre schönste und edelste Wirksamkeit gehemmt, ihre Kraft gebrochen! In Allem jedoch, was es Erbärmliches an willkürlichem Gerichtsverfahren in damaliger Zeit gegeben, that die kurhessische Justiz sich am glänzendsten hervor. Mit blutigen Lettern steht diese Zeit in Hessens Geschichte verzeichnet, dessen Justiz nicht nur einzelne, zum Glück berechtigte Menschenleben schmachvoll geknickt, sondern so dunkle Schatten über die ganze Zeit geworfen, daß man sie nicht oft genug der Gegenwart vor Augen führen kann.

Die Verhältnisse in Kurhessen, Ende der zwanziger Jahre, als die Reichenbach ihre Herrschaft im Lande geltend machte und nur der Stellung und Ansehen erringen konnte, der elend genug war, ihr zu huldigen, sind wohl noch heute unvergessen. – Die edle Kurfürstin hatte, unfähig ein solches Leid länger zu tragen, schon im Mai 1826 Kassel verlassen. Das Volk wagte, im wahren Sinne des Wortes, kaum zu athmen; die Lasten des Staates erdrückten es. Das Losungswort war und blieb: Geld! Geld für den Kurfürsten und für den unglaublichen Luxus der Gräfin Reichenbach. Man griff willkürlich das Eigenthum des Volkes an; kein Recht war mehr heilig.

So waren die Zustände in Kurhessen, als am Vormittag des 15. September im Jahre 1830 der Kurfürst, von einer unabsehbaren Menschenmenge vor seinem Schlosse gedrängt, den Forderungen des Volkes nachgab. Der Landtag wurde einberufen. Die Hochschule in Marburg wählte den Professer Sylvester Jordan zu ihrem Vertreter.

Trotz aller Versuche des landesherrlichen Commissars von Porbed und Eggena’s, des gewandten Gehülfen desselben, und trotz aller glänzenden Versprechungen, mit welchen man Jordan zu bewegen suchte, für den von der Regierung vorgelegten Verfassungsentwurf von 1816 zu stimmen, erklärte er denselben für gänzlich ungenügend und trat denjenigen Ausschußmitgliedern, welche dafür stimmten, weil sie fürchteten, die Unterhandlung würde sich sonst zerschlagen, mit aller Entschiedenheit entgegen.

Wenn nun auch manche Paragraphen der zum größten Theil von Jordan ausgearbeiteten neuen Verfassung Kurhessens beseitigt oder gemildert werden mußten, so setzte der Landtag doch diesmal seine Beschlüsse durch, und der Kurfürst mußte wohl oder übel am 5. Januar 1831 diese Verfassung unterzeichnen.

Am 11. April desselben Jahres wurde darauf der erste verfassungsmäßige Landtag einberufen. Jordan erschien abermals als Abgeordneter der Universität und setzte bei den wichtigsten Verhandlungen über Preßgesetz, Ablösung der Grundlasten etc. die ganze Kraft seiner Kenntnisse, seiner festen Gesinnung und seiner überzeugenden Redekunst ein.

Unterdessen hatte sich in Kassel und in der kurfürstlichen Familie Manches verändert. Der Kronprinz-Mitregent hatte sich, zu dem größten Leidwesen seiner Mutter, mit einer von ihrem Gatten erst losgekauften Frau vermählt, und das führte zu einem Zerwürfnisse zwischen Mutter und Sohn. Während das ganze Volk noch unter der Herrschaft der Reichenbach’schen Partei seufzte, kam jene berüchtigte Metternich’sche Partei an das Staatsruder, welche bis vor nicht allzu langer Zeit in Deutschland allmächtig war. Unter ihren Hauptführern that sich der 1832 als Vorstand des Ministeriums des Innern nach Kassel berufene Hans Daniel Hassenpflug bald genug hervor. Im Juni 1832 erschienen dann, um das Maß voll zu machen, die „Beschlüsse des deutschen Bundes“, welche die Steuerverweigerung für Aufruhr erklärten und sowohl die Gesetzgebung der Einzelstaaten wie die Landstände selbst der Bundespolizei unterordneten.

Da war es für freidenkende Männer an der Zeit, die Rechte des Volkes zu wahren, und da war es, wo Jordan, entrüstet über die Bundesbeschlüsse, den Antrag stellte: „Die Regierung zu ersuchen, die gedruckten Verhandlungen des Bundestags sich zu erbitten und das Ministerium der auswärtigen Angelegenheiten für die dem kurhessischen Bundestagsgesandten ertheilte Instruction verantwortlich zu machen.“ Die Mehrzahl der Abgeordneten erhob Jordan’s Antrag zum Beschluß, aber das Ministerium des Innern (an der Spitze Hassenpflug) verschanzte sich hinter die Bundesacte und nannte das Vorgehen des Landtags „einen Eingriff in die Souveränetätsrechte“. Die Regierung hatte genug gesehen – einige Tage später wurde auf höchsten Befehl der Landtag aufgelöst.

Mit dieser Zeit beginnt die dornenvolle Laufbahn Jordan’s, die er mit dem Mannesmuthe der Ueberzeugung und dem reinen Herzen voll selbstloser Liebe für das Volk betrat.

Und das Volk fühlte diese Liebe und erwiderte sie. Es erwiderte sie mit all dem Jubel und der Wonne, welche nur die Herzen zu empfinden verstehen, die, gefoltert und gequält, endlich von einer barmherzigen Menschenhand sich den Weg vorgezeichnet sehen, der zu ihrer Erlösung führen könnte. Als Jordan im September 1832 mit seiner zweiten Gattin, nachdem ihm die erste in kummervoller Zeit gestorben war, in Marburg einzog, da gab sich diese Liebe kund, und kein angebeteter Fürst konnte ehrenvoller und herzlicher empfangen werden, als er es wurde.

In Schönstädt (Dorf und Schloß, etwa drei Stunden von Marburg entfernt) empfing ihn die reitende Bürgergarde; in Kölbe wurde er von einer Deputation der Stadt Wetter eingeholt und in einem wahren Triumphe nach Marburg geleitet. Am Elisabethenthore daselbst stand ein dreifacher Triumphbogen [726] aus Tannenbäumen und Eichenlaubguirlanden; der Magistrat und eine Deputation der Studenten empfingen ihn mit Anreden, und über hundert weißgekleidete Jungfrauen überreichten ihm als dem Verfassungssieger einen Lorbeerkranz mit Gedicht. Der Zug bewegte sich unter fortwährendem lauten Hochrufen in die Stadt; die Bürger mit den Stadtfahnen, die Bürgergarde und die weißgekleideten Jungfrauen gingen voran und viele Wagen folgten ihm bis zu seiner Wohnung. Abends war die Stadt erleuchtet und ein Festball zu Ehren der Neuvermählten gehalten. Die Fenster waren, als sich der Zug langsam durch die engen Straßen von Marburg bewegte, bis zum Erdrücken angefüllt – überall liebevolle Blicke, überall Grüße mit Blumen.

Daß diese Huldigung des Volkes, die zugleich eine Verdammung der Gegner der Verfassung und Jordan’s war, das Maß darbot für die Größe der längst beschlossene „Strafe“ des Gefeierten, hat der damals so Glückliche dies geahnt, als er der vor Freude weinenden Gattin tiefergriffen die Hand drückte?

Die Universität hatte ihn zwei Tage vorher wieder zu ihrem Deputirten gewählt, was einen wahrhaft enthusiastischen Jubel in der Stadt hervorrief. Jordan selbst schrieb darüber am 26. September an seinen Schwiegervater und Freund, den Geschichtsforscher Dr. Paul Wigand, die ahnungsvollen Worte:

„Mit vollem Herzen werde ich alle meine Kräfte dem Volke weihen, das mich so lieb hat, ob aber meine Wirksamkeit von Erfolg sein wird, das steht allein bei Gott. – – Meine Erklärung wurde dem akademischen Senat zur Aeußerung mitgetheilt, die leider noch nicht erfolgt ist. Unter solchen Umständen bin ich zu keiner ernsten wissenschaftlichen Arbeit aufgelegt; eine politische zu liefern, verbietet mir die Klugheit, indem man jeden Schein gern dazu benutzen würde, um wenigstes eine Untersuchung gegen mich zu veranlassen und so meinen Eintritt in die Kammer zu verhindern. Darum beschäftige ich mich in größter Zurückgezogenheit blos mit Lectüre, die Entwickelungen der Weltbegebenheiten betrachtend und erwartend.“

Indessen verlebte Jordan ein paar stille und freundliche Wochen im Kreise seiner Familie. Er hatte ja wieder ein glückliches, friedevolles Heim gefunden, und die Liebe, mit welcher die Kinder die junge, neue Mutter in ihren Herzen aufnahmen, machte ihn so froh, wie er schon lange nicht mehr gewesen war. Während der schönen Herbstferien unternahm er mit seiner jungen Frau weite Spaziergänge in der wundervollen Umgebung Marburgs, durchstreifte die dichten Wälder und war unermüdlich, die Seinigen aufmerksam zu machen auf Alles, was einen Einklang bieten konnte mit der Natur und der Menschenseele. Hatte er doch in einer einsamen und freudeleeren Kindheit zwischen den zerklüfteten Tirolerbergen[2] ihre Sprache verstehen gelernt, und mit wunderbar feinem Empfinden konnte sich seine Seele in ihre Schönheiten versenken und Kraft und Friede schöpfen für seine eigene Brust. In seinem innigen Verkehr mit der Natur, in seiner fast an Schwärmerei grenzenden Liebe für Alles, was sie bot, hatte er wohl die Keime genährt zu jener wunderbaren, fast unbegreiflichen Selbstlosigkeit und Ausdauer, mit welcher wir ihn seine späteren Leiden ertragen sahen.

Im Januar 1833 wurde der Landtag einberufen. Jordan fühlte an der Luft, welche im Ministerium in Kassel wehte, daß sich da keine Pflanze entwickeln konnte, welche Freiheit, Recht und Menschenliebe predigte. Ihn selbst erwartete nichts Gutes. Er hatte als Abgeordneter der Universität jetzt eben so wenig wie das erste Mal um die Genehmigung seiner Wahl gebeten, da nach § 71 der Verf.-Urk. die für Staatsdiener vorgeschriebene Genehmigung sich nicht auf Universitäts-Abgeordnete bezog. Trotzdem erhielt er einige Tage nach seiner Ankunft vom Ministerium den Befehl, bei zwanzig Thaler Strafe Kassel zu verlassen, sich auf seinen Posten zurückzubegeben und den Ständesaal nicht früher zu betreten, als bis er die Genehmigung zur Annahme der Wahl erhalten habe. Jordan – schon um den Rechten der Universität nichts zu vergeben – kam nicht um Genehmigung ein, sondern rief die Hülfe des Ausschusses an und verklagte das Ministerium wegen verfassungswidriger Handlungsweise bei dem Kasseler Obergericht. Dasselbe erkannte dahin, daß das Ministerium bei fünfzig Thaler Strafe jenen Beschluß, wonach Jordan Kassel verlassen sollte, sofort zurückzunehmen und nachzuweisen habe, wie dies geschehen sei; auch wurde dargethan, daß Jordan keiner Genehmigung bedürfe. In Folge dieses Beschlusses wurde der Landtag wieder aufgelöst. Hassenpflug wand fortan das Seil, welches unsern Jordan erwürgen sollte, mit geübter und geschickter Hand; wir könnten Bogen füllen, wollten wir alle Intriguen, welche hier mitspielten, flüchtig erwähnen. Man quälte und chicanirte ihn, wo man konnte – man verweigerte ihm die Gehaltszulage, deren Anweisung zur Unterschrift bei der Regierung lag, sowie die Auszahlung der Diäten, und als die Bürger von Kassel ihm das Ehrenbürgerrecht schenken wollten, verweigerte die Regierung ihre Genehmigung. In einer Unterredung, welche er vor seiner Abreise mit Hassenpflug pflog, erklärte ihm dieser, daß seine Wirksamkeit am Landtage verderblich sei, daß er ihn für ein Hinderniß des guten Einvernehmens zwischen Staatsregierung und Landständen halte und daß man es für eine patriotische Handlung von seiner Seite ansehen würde, wenn er auf ferneren Eintritt verzichte.[3]

Man kann sich denken, mit welchen Empfindungen Jordan damals Kassel verließ! Mit geschwächter Gesundheit und geknickten Hoffnungen kehrte er nach Marburg in den Schooß seiner Familie zurück. Wie sehr er auch hier ein ungetrübtes Glück fand, so litt er doch bei allen den kleinlichen Intriguen, welche nicht aufhörten, ihn zu verfolgen, namenlos. Dazu kam seine bedrängte pecuniäre Lage – denn die Hoffnung auf Gehaltserhöhung mußte er unter obwaltenden Verhältnissen ganz aufgeben; er mußte vielmehr neben seinen akademischen Vorlesungen überangestrengt arbeiten. Indessen hatte Jordan einen von Natur elastischen, heiteren Sinn. Die frische Alpenluft hatte ihn stark an Körper und Geist gemacht und in allen den furchtbar schweren Lebensstunden, welche sein Dasein in der Folge zu einer Marter gestalteten, hat er seine Familie getröstet und aufgerichtet und immer mit wahrhaftem Heldenmuth das Joch allein zu tragen versucht, welches wohl oder übel seine Familie mit treffen mußte und, wie wir bald genug fühlen sollten, so furchtbar mittraf.

Im November 1834 schrieb er an seinen Schwiegervater: „Wahrlich es thut noth, sich ein eigenes Leben zu bilden, um das wirkliche zu vergessen, und auf den Fels seiner eigenen Persönlichkeit eine Burg zu gründen, um sich vor den Fluthen der Zeit zu sichern. Diese Fluthen sind zwar seicht, allein auch seichte Fluthungen lockern den Boden auf – untergraben die Feste. – – Das Verhängte muß geschehen. Ich gehöre der Universität als Corporation ohnehin kaum mehr an – meine Stimme gleicht der des Johannes in der Wüste. Als Lehrer wirke ich fort. Hassenpflug war als Minister hier. Das Laufen, das Kriechen wie in einem Ameisenhaufen – oder als wenn der Herr ein gutes Stück Fleisch hungerigen Hundert vorhält! Daß ich zu Hause blieb, versteht sich von selbst – mich selbst werde ich nie verlieren.

Zu meiner momentanen Verstimmung trägt hauptsächlich der immer kläglicher werdende Zustand unserer Universität bei, deren Frequenz der theuren (freilich nur theuren) Berufungen ungeachtet von Semester zu Semester abnimmt, deren Geist des Zwistes und des frömmelnden Unsinns hingegen immer mehr um sich greift. Immer enger werden die Bande zusammengezogen, und die guten deutschen Fürsten sehen nicht ein, daß jeder Schritt, den der Bund in seinem System vorwärts thut, ihre souveräne Macht, die ohnehin längst nicht mehr besteht, beengt und ihr Ansehen bei den Völkern mindert. Die Armen! Um Schutz gegen ihre mißverstandenen Völker (die nur die Arme ausstrecken, um sie in Liebe zu umarmen, nicht aber, wie sie wähnen, um sie von ihren Thronen herabzustürzen) zu erlangen, entkleiden sie sich selbst ihrer Macht und betrachten die Fesseln, die ihnen angelegt werden, als hehren Schmuck. – Mittermaier, mein alter Lehrer [727] und Freund, schreibt mir, daß er in den Entscheidungsgründen eines deutschen Gerichtshofes gelesen habe: ‚In Erwägung, daß die Gemäßigten weit gefährlicher sind – weil sie ihren Plan besonnener anlegen etc. etc.‘ Siehst Du, wie weit es bereits gediehen ist, daß man sogar die Gemäßigten als Feinde fürchtet und nur unbedingt Kriecher und Knechte haben will.“

Noch zweimal versuchten es die Einwohner des Kreises Ziegenhain, Jordan zum Abgeordneten zu wählen; das erste Mal erhielt er von der Regierung keine Genehmigung, und das zweite Mal lehnte er, um alle Unannehmlichkeiten mit der Regierung zu vermeiden, die Wahl ab.

Er wirkte nun still als Lehrer in seinem akademischen Beruf, arbeitete viel, theils in gerichtlichen Gutachten und Processen, theils schrieb er wissenschaftliche Aufsätze, wie: „Die Jesuiten und der Jesuitismus“. In dieser Zeit hat er viel und genau die Geschichte Deutschlands studirt, und wer damals näher mit ihm verkehrte, erinnert sich gewiß, mit welchem Scharfsinn und welcher durchdachten Ahnung er die Dinge sich so gestalten sah, wie sie später wurden. Er schrieb darüber am 22. März 1837 an Wigand: „Das muß man den Preußen lassen, sie reformiren mit mehr Geschick und mehr praktischem Tact als anderwärts. Daß ich Recht habe, oder wenn Du willst, recht voraussehe, wird die Zukunft lehren.“

Wie sehr drückte ihn der träge, apathische Geist der damals Studirenden, dieses schlaffe Sichgehenlassen der Jugend, die weder sittliche Kraft noch Energie besaß, um sich aufzubäumen unter dem Druck der Zeit! „Es ist fast Alles nur Mechanik,“ schrieb er, „Mechanik des sauern Muß. So will man aber jetzt die Leute haben. Maschinen lassen sich leichter dirigiren als selbstständige Geister; der blinde Glaube ist beliebter als gründliches Denken. Die kleinen Universitäten hat Gott in seinem Zorn errichten lassen, zumal in Ländchen, wo man die Kartoffelblüthe höher hält als die Blüthe der Künste und Wissenschaften, und die Ignoranz sich dick und träge frißt an den materiellen Interessen und dummstolz das wahre Wissen als ein Ding belächelt, das man weder essen noch trinken kann.“

Was konnte man von einer Zeit erwarten, in welcher ein Referendar Kassel verlassen mußte, weil er am Geburtstage des Mitregenten mit einer schwarzen Halsbinde in’s Theater ging? Jordan fühlte, wie scharf der Wind war, welcher ihn von der Regierung her anwehte. Er hatte das bestimmte Gefühl, daß man in ihm das Princip verfolge und auf Mittel und Wege sann, einen Mann bei Seite zu schaffen, welcher es wagte, unverhohlen seine Meinung auszusprechen, sowohl auf dem Katheder, wie in den juristischen Aufsätzen, welche von ihm damals erschienen.

Aber bei allen diesen äußeren Unannehmlichkeiten, welche ihn unaufhörlich quälten, fand er Erholung und Trost im Kreise seiner Familie. Er verstand es mit seinem Empfinden aus jedem Lächeln seiner Kinder eine Quelle von Glück zu schöpfen, und wer ihn in dem Zimmer seiner Frau, auf ihrem grünen Leidenssopha (wie er es später so oft genannt) den Arm um sie geschlungen, sein jüngstes Töchterchen auf den Knieen, sitzen sah, der mußte sagen: „Jordan ist trotz Allem ein glücklicher Mensch.“ Nichts, was sich hier zutrug, war für ihn zu klein und unbedeutend; keine Arbeit der älteren Söhne ging achtlos an seinen Augen vorüber; kein Classenlob blieb ohne Echo im Herzen des Vaters. Sein ganzes Sein war ein Meer von unergründlicher Menschenliebe, welches seine stärksten und besten Fluthen auf die Glücklichen ausströmte, welche ihn ihr Eigen nannten. In den Pfingstferien 1839 machte er mit seiner Familie eine Erholungsreise zu seinem Schwiegervater, welcher indessen als Gerichtsdirector von Höxter nach Wetzlar übergesiedelt war.

Er wollte einmal den akademischen Staub von sich abschütteln und im Kreise aller seiner Lieben in der wunderbaren romantischen Umgebung Wetzlars glücklich sein. Hatte er doch kurz vorher noch die unangenehmsten Briefe von Herrn von Itzstein aus Karlsruhe erhalten, welche sich auf actenmäßige Darstellung der demagogischen Umtriebe in Württemberg bezogen, in welchen, für ihn unbegreiflicher Weise, von Itzstein, von Rotteck und er selbst als Betheiligte genannt worden sein sollten.

Diese Reise hatte alle seine Nerven erfrischt, und noch lange nachher sprachen seine Freunde dort von seiner anregenden Unterhaltungsgabe, seinem frischen Humor. Jetzt, nachdem er wieder daheim war, entluden sich endlich die Gewitterwolken, welche schon so lange über seinem Haupte geschwebt hatten. Kurz nach seiner Rückkehr wurde sein Haus von Polizei umstellt, von der Polizeidirection eine Haussuchung vorgenommen und ihm eine Verfügung des Ministeriums eingehändigt, welche seine vorläufige Amtsenthebung aussprach. Die Anklage gegen ihn lautete auf „Versuchten Hochverrath durch Theilnahme an einer hochverrätherischen Verschwörung und auf Beihülfe zum versuchten Hochverrath durch Nichtverhinderung hochverräterischer Unternehmungen.“ Die Haussuchung ging vor sich; alle Briefe und verdächtig scheinenden Papiere wurden confiscirt und Jordan’s Schreibtisch, Secretär, Kommode etc. versiegelt.

Das war eine Verwirrung im Hause – ein Donnerschlag, wie er grausamer und raffinirter nicht ausgesonnen sein konnte. Seine ohnehin leidende Frau war fassungslos; die älteren Kinder bebten vor Entrüstung und Angst, und die Kleinen weinten, weil sie instinctiv fühlten, daß sich hier etwas Schreckliches ereignen müßte. Nur Jordan selbst blieb ruhig; unerschütterlich fest fügte er sich der Gewalt. Mit Sanftmuth und Geduld tröstete er die Seinen, mit immer gleicher Liebe – welche ihn nie verließ – bis zu seiner Todesstunde. Damals ahnte er freilich noch nicht, wie weit man gehen werde. Aber was brachte nicht diese gerichtliche Inquisition damals fertig!

Das Schrecklichste sollte noch kommen, und kein Glied unserer gefolterten Familie wird jemals die Stunde vergessen, in welcher der von Allen so Heißgeliebte vergebens aus dem Verhör zurück erwartet wurde.

Es war Mittagszeit; der Tisch war gedeckt. Man wartete eine schwere, unendlich lange Stunde. Die Kleinen klammerten sich verständnißlos an das Kleid der Mutter; sie verlangten nach dem Vater und nach dem – Essen. Die Größeren standen stumm und sahen scheu und angstvoll in das bleiche Antlitz Derjenigen, welche wohl allein das Verhängniß ahnen mochte, welches über diesem unglücklichen Hause schwebte. Da endlich hörte man das laute Schellen der Hausglocke. Starr und bebend horchte Jedes. Das war nicht des geliebten Vaters Schritt, der sich immer so freudig und schnell über die Treppen schwang. – Ein leises Klopfen, und den Hut in der Hand, das Gesicht voll unverkennbarer Schadenfreude (die er während der ganzen Untersuchungszeit gezeigt) zu einem höflichen Lächeln verzerrt, trat der Untersuchungsrichter Wangemann in das Zimmer. „Der Herr Professor wird heute nicht zu Tisch kommen – er ist verhaftet worden.“

Ein herzzerreißender Angstruf aus der Brust der gequälten Frau unterbrach seine weitere Erörterung, die er sich nicht hatte nehmen lassen, selbst in höchsteigener Person zu überbringen. Der sechszehnjährige älteste Sohn Jordan’s sah bittend in sein Gesicht, indem er scheu auf die Mutter zeigte, und besänftigend fragte: „Das kann doch nur auf einem Irrthum beruhen? Die Sache wird sich gewiß in einigen Tagen aufklären.“

Noch einmal ertönte die Stimme des Richters, welche, hart und unnahbar, alle Dissonanzen der Herzlosigkeit für die Jordan’sche Familie in ihrem Tone trug: „Die Sache kann voraussichtlich sehr lange währen.“ Und mit einem teuflischen Lächeln im Gesichte verbeugte er sich und verschwand.

Also verhaftet! Er, der nur das Beste gewollt, das Edelste erstrebt auf dem Wege des Rechts – er, der seiner Familie Schutz und Schirm war, die einzige Stütze einer leidenden Frau – er saß jetzt allein und verlassen da oben im Zwinger zwischen Mördern und Räubern, allein mit seiner Qual und seinem Weh.

Als einige Wochen später seine Frau verstört und ruhelos in frühester Morgenstunde hinausflüchtete auf den Schloßberg und jammernd an der Mauer lehnte, von welcher sie den Thurm sehen konnte, wo Jordan saß – da schaute ein bleiches Antlitz hinter dem Gitter hernieder; zwei große, heiße Menschenaugen schweiften über die fernen Thäler, und eine zitternde Hand schrieb Zeilen voll erschütternder Klagen auf ein Blatt Papier, welches in dem überreichen Schatz des Jammers unserer Familie als eine Perle bewahrt wird.



[728]
Junker Paul.
Erzählung von Hans Warring.
(Fortsetzung.)
7.

Tante Sidonie hatte ihre gewöhnliche Taktik befolgt: sie hatte sich nach vorausgegangenem heftigem Sträuben dem Willen ihrer Nichte unterworfen. Der häusliche Zwist war auch heute so verlaufen, wie es stets geschah. Nachdem er mit einiger Heftigkeit auf beiden Seiten begonnen hatte, endete er mit einem muthwilligen Lachen der Nichte und mit thränenreicher Unterwerfung der Tante.

So kam es, daß nach Verlauf einer halben Stunde im Frühstückszimmer zu Fleurmont der Tisch den Anordnungen der jungen Besitzerin gemäß servirt war und daß Tante Sidonie im Spitzenhäubchen mit blauen Bändern und einer über ihr dunkeles Seidenkleid gebundenen weiten Wirthschaftsschürze unter Assistenz eines alten Dieners damit beschäftigt war, die letzte Hand an die Vorbereitungen zu legen, die man zu Ehren des erwarteten Gastes getroffen hatte. Sie hätte dies um so lieber gethan, wenn sie gewußt hätte, daß derselbe nicht der verhaßte neue Nachbar, sondern der alte Freund des Hauses und Vormund der jungen Erbin, Herr Kayser, war. Paula hatte ihm bereits ihre Rückkehr gemeldet. Sie wußte wohl, daß ihr eine Strafpredigt über die eigenmächtige Veränderung der getroffenen Dispositionen nicht geschenkt werden würde. Herr Kayser pflegte stets pünktlich zu sein, und war es bei einer derartigen Gelegenheit noch mehr als je. Denn der Krieg mit einer hübschen Mündel amüsirte ihn, und obgleich er nie verfehlte, über ihre Eigenmächtigkeit und ihren Trotz bittere Klage zu führen, so ließ er doch nicht leicht eine Gelegenheit vorübergehen, sie zu einem Wortgefecht zu reizen.

Es war daher lediglich eine Bestätigung von Paula’s Erwartung, als ihre Excursionen mit Tristan durch die Meldung unterbrochen wurden, daß ihr Vormund angelangt sei und daß man sie zum Frühstück erwarte. Es lag jedoch nicht in der Gewohnheit der verwöhnten jungen Erbin, einem Rufe schnell Folge zu leisten. Als sie daher nach Verlauf einiger Zeit langsam schlendernd den Gang herabkam, der zu der Balcontreppe führte, in ihrem emporgezogenen Kleide einen Haufen frisch gepflückter Blumen tragend, nahm es sie nicht Wunder, Herrn Kayser bereits im Gartensaale zu erblicken. Er saß behaglich auf ihrem kleinen Sessel neben dem Teleskop, hatte die Hände, seiner Gewohnheit gemäß, über dem goldenen Knauf seines Stockes gekreuzt und blickte ihr mit bitterem Lächeln entgegen.

„Da hätten wir also die junge Dame, welche ihren Tanten davongelaufen und auf eigene Hand drei Wochen lang im Lande herumgefahren ist,“ sagte er, indem er aufstand, um ihr entgegenzugehen. „Sie machen mir gute Streiche, Junker Paul; man hat bittere Klage über Sie geführt. Was haben Sie zu Ihrer Rechtfertigung zu sagen?“

Die also Angeredete war, ein muthwilliges Lächeln auf den frischen Lippen, eingetreten und eben im Begriffe, ihrem Vormunde in gleicher Weise zu antworten, als sie plötzlich überrascht stehen blieb. Von dem kleinen Ecksopha, auf dem sie neben Tante Sidonie gesessen hatte, war eine junge Dame aufgestanden und ihr ein paar Schritte entgegengekommen. Es lag in der Erscheinung derselben etwas, das Jeden überraschen mußte, der sie zum ersten Male erblickte, nicht nur denjenigen, für welchen ihre Gegenwart etwas Unerwartetes, Unvorhergesehenes war.

„Meine Nichte Hanna – Junker Paul de Contagne, Rittergutsbesitzer und Erbherr aus Fleurmont, unser gastfreundlicher Wirth und mein hoffnungsvolles Mündel,“ stellte Kayser vor.

Die jungen Mädchen schüttelten sich die Hände und sprachen sich die üblichen Versicherungen gegenseitiger Freude über ihre Bekanntschaft aus.

„Junker Paul bringt Ihnen seine Huldigung dar, Fräulein Kayser,“ sagte Tante Sidonie.

Lächelnd blickte die Angeredete zu ihrer Wirthin empor, die wirklich in der Haltung eines galanten jungen Cavaliers vor ihr stand. Auf ihrem ausdrucksvollen Gesichte lag eine so offenkundige, naive Bewunderung, der seitwärts geneigte, etwas vorgebeugte Kopf und die auf dem Rücken gekreuzten Hände erinnerten so lebhaft an die anbetende Huldigung eines Liebhabers, daß das Antlitz des jungen Mädchens von leiser Röthe überzogen wurde.

Sie war noch sehr jung und augenscheinlich nicht daran gewöhnt Huldigungen zu empfangen. Es war heute zum zweiten Male in ihrem Leben, daß sie ihr zu Theil wurden, und heute wie damals kam eine Ahnung über sie von der Macht, die ihr gegeben war über die Herzen der Menschen. In der That, wenn Schönheit, Jugend und Lieblichkeit eine Macht sind, so besaß Hanna Kayser dieselbe in hohem Grade. Ihr zartes, feingeschnittenes Gesicht, auf welchem das Lächeln kam und ging wie Wolkenschatten auf einer Sommerlandschaft, war anziehend durch den Ausdruck lieblicher Sorglosigkeit und heiterer Güte. Die klare Stirn mit den dunklen Brauen, die sanften, schöngeschwungenen Linien des Mundes, das ernste, tiefe Auge, das unter der dunklen Wimper hervorschaute, und das glänzende braune Haar, das in seidener Fülle das zierliche Oval des Kopfes umgab, bildeten ein Ganzes, welches im Beschauer den Wunsch erregen mußte, es möge soviel Schönheit und Anmuth minder vergänglich sein, als es auf dieser Welt des Kummers und der Sorge zu sein pflegt.

„Nun, Junker Paul, Sie sind mir die Antwort schuldig geblieben,“ sagte Kayser, der sich trotz der Verachtung, die er für Frauenschönheit stets an den Tag gelegt, dennoch geschmeichelt fühlte durch den Eindruck, den seine schöne Nichte hervorgebracht hatte.

„Was ich zu meiner Rechtfertigung zu sagen habe, fragen Sie? – Gar nichts! Denn Rechtfertigung genug liegt in der Thatsache, daß es fürchterlich langweilig war. Ich habe es Ihnen ja vorher gesagt, daß ich mit Tante Clemence nicht lange zusammenleben kann, und als die Ankunft ihres Sohnes, meines theueren Vetters, die Langeweile bis zur Unerträglichkeit steigerte, da machte ich mich davon und habe mich drei Wochen lang himmlisch amüsirt.“

„Daran zweifle ich nicht, aber Ihre Tante schreibt –“

„Bitte,“ unterbrach sie ihn ungeduldig, „begnügen Sie sich, mir mitzutheilen, was Sie selbst zu sagen haben! Dann werde ich mich bemühen, Ihnen ruhig zuzuhören.“

„Wirklich? Nun, das ist eine Concession, mit welcher ein Vormund zufrieden sein kann. Ich möchte aber wissen, Junker Paul, womit Sie sich amüsirt haben?“

„Womit? O, das Haus meiner Freundin ist das angenehmste der ganzen Gegend. Braunbach’s haben stets viel Besuch; ich habe eine Menge angenehmer Leute kennen gelernt. Jeden Tag hatten wir etwas vor, Ruderfahrten, Fahr- und Reitpartien, Pikniks und die hübschesten Sommerbälle von der Welt. Fräulein Kayser, haben Sie schon einen Ball mitgemacht? Nein? Nun, dann muß Ihr Oheim einen veranstalten, damit Sie das kennen lernen. Wir hatten sehr hübsche, elegante Tänzer – Officiere die Fülle!“

„Da kommen wir zu dem richtigen Punkte, Ihre Tante schreibt –“

„Lassen Sie mich mit meiner Tante in Ruhe! Weshalb wollen wir uns den Appetit zum Frühstücke verderben?“

„Ihre deutschen Sympathien müßten jeden guten Patrioten scandalisiren; sie sei indignirt über Ihre ‚Intrigues amoureuses‘ mit diesen ‚Prussiens‘ –“

„Intrigues amoureuses! Und Sie haben es ruhig geschehen lassen, daß man Ihre Mündel beleidigt? Sind Sie ein Mann?“

„Junker Paul, Junker Paul, eine kleine Schwäche für diese Preußen können Sie angesichts dieses Corpus Delicti nicht leugnen,“ sagte Kayser, lachend nach dem Teleskop hinzeigend.

„Ich leugne sie nicht, aber auch ohnedies: wäre es mir zu verdenken, daß ich von Zeit zu Zeit mein Auge erfreuen will an dem Anblicke des einzigen Mannes, den wir im Umkreise vieler Meilen haben?“

„Sehr gut, sehr gut!“ lachte Kayser und zeigte dabei seine weißen Zähne. „Also dieses langbeinige nicht uniformirte Exemplar der Gattung gefällt Ihnen auch? Der Bursche hat eine

[729]

Schmuggler im bairischen Gebirge.
Illustrationsprobe aus dem Kröner’schen Prachtwerke „Unser Vaterland“.


Eroberung per Distance gemacht. Wenn Sie ihn etwas näher in Augenschein nehmen wollen, so geben Sie mir ein gutes Wort! Ich bringe ihn Ihnen.“

„Unnöthig, geehrter Herr! Wir haben schon Bekanntschaft gemacht, und ich müßte mich sehr irren, wenn wir nicht Beide beabsichtigten, sie fortzusetzen. Ein aufrichtiger Wunsch wenigstens ist es.“

„Nun, das ist schnell genug gegangen. Er hat keine Zeit verloren, der Duckmäuser. Und was soll ich der gnädigen Frau Tante schreiben?“

[730] „Daß sie sich in das Unvermeidliche fügen soll.“

„Sie werden Ihren beiden Tanten, der verwittweten sowohl wie der jungfräulichen, das Herz brechen.“

„Für Tante Siddy stehe ich ein; die gehört zu den Bekehrten. Schüttle nicht den Kopf, Tantchen! – Nun aber habe ich mein letztes Wort in dieser Angelegenheit gesprochen. Ich habe meinen Willen kund gethan, und es wird Euch Beiden bekannt sein, daß es nicht leicht ist, ihn zu durchkreuzen.“

„Ich gedenke es auch durchaus nicht zu thun,“ sagte Kayser, „und Tante Sidonie wird meinem Beispiele folgen, wenn ich ihr sage, daß ihr in der Person des langen Preußen ein Rächer auferstanden zu sein scheint. Es wird eine interessante Sache sein, die Ehe der Beiden aus sicherer Ferne zu beobachten. Wenn die beiden Eisenköpfe an einander rennen, wird’s Funken geben.“

„Und die werden das Haus in Brand stecken,“ ergänzte Tante Sidonie.

„Sorgt Euch nicht, Kinderchen!“ lachte die junge Erbin. „Mit dem Gatten meiner Wahl werde ich schon zurecht kommen. Und sollte es hin und wieder in unserer Ehe auch ein Bischen stürmen – das wird unserem Glücke keinen Eintrag thun.“

„Sie sind im Irrthum, Junker Paul. Der läßt sich nichts abtrotzen. Der hält die Zügel so fest in der Hand, daß dagegen kein Schütteln und Ausschlagen helfen wird. Ich prophezeie Ihnen, daß Sie nach Verlauf weniger Wochen fromm wie ein Lamm im Geschirr gehen.“

„Es soll Ihnen nicht gelingen, mir meinen Nachbar zu verleiden, selbst durch Ihre abscheulichen Vergleiche nicht. Ich habe so lange ein unumschränktes Regiment geführt, daß ich mich ordentlich danach sehne, meine Herrschaft niederzulegen. Allerdings kommt es sehr darauf an, welchen Händen ich sie übergebe. Wenn es eine feste, starke Hand ist, dann werde ich die Erste sein, die sich ihrer Autorität beugt.“

„Zwei harte Steine mahlen nicht gut – das ist ein altes wahres Wort,“ sagte Tante Siddy warnend.

„Tantchen, verzeih’ – aber Du verstehst wirklich von der Sache nichts; wenigstens hast Du schon vergessen, wie Du ehemals darüber gedacht hast. Wäre dies nicht der Fall, dann müßtest Du wissen, daß wir Frauen eigentlich nichts Besseres erlangen, als uns zu fügen. Was meinen Sie, Fräulein Hanna? Würde es Ihnen schwer werden, sich einem fremden Willen zu unterwerfen?“

„Wenn der Wille ein guter und gerechter ist, nein.“

Paula hatte während dieses Gespräches von den mitgebrachten Blumen die schönsten ausgewählt und einen großen Strauß daraus gewunden. Sie legte ihn jetzt auf Hanna’s Schooß und blieb, sie betrachtend, vor ihr stehen.“

„Sie sieht blaß aus, Herr Kayser,“ sagte sie. „Ich hoffe, Sie sorgen gut für sie. Essen und Trinken allein thut’s nicht; es gehört auch Abwechselung und Zerstreuung und vor allen Dingen Bewegung in der frischen Luft dazu. Wenn Sie ein Reitpferd wünschen, so sagen Sie es mir, Fräulein Hanna; ich werde dafür sorgen, daß Ihr Oheim Ihnen eins kauft.“

„Das würde mir nichts helfen; ich verstehe nicht zu reiten,“ antwortete Hanna.

„Das läßt sich lernen – ich werde Ihr Lehrer sein. Wir wollen gute Cameradschaft halten und zusammen durch Felder und Wälder streifen. Würden Sie sich ängstigen, mit mir im Ponywagen zu fahren?“

„Durchaus nicht; ich thäte es sehr gern.“

„Das freut mich. Wir wollen hübsche Exkursionen unternehmen. Vielleicht gelingt es mir, aus der zarten kleinen Prinzessin Hanna einen flotten Junker Hans zu machen.“

„Dagegen lege ich mein Veto ein,“ sagte Kayser. „Wir haben an einem Exemplar dieser Species völlig genug.“

„Und außerdem hat unser neuer Herr Nachbar dafür gesorgt, daß von einem Herumstreifen durch Flur und Wald gar nicht die Rede sein kann,“ fügte Tante Sidonie hinzu. „Er hat durch seine Maßregeln die ganze Gegend so in Aufruhr gebracht, daß man im eigenen Hause seines Lebens kaum mehr sicher ist.“

„Welche Beschuldigung, Tante! Du gehst mit Gerechtigkeit und Wahrheit nicht sehr gewissenhaft um, wenn es darauf ankommt, einem ‚verhaßten Prüssien‘ eine Schuld aufzubürden. Seine Maßregeln sollen den Aufruhr und die Widersetzlichkeit veranlaßt haben? Ich denke, wir Alle wissen, daß Widersetzlichkeit und Unzufriedenheit schon da waren, ehe Herr Reinhard, um sich zu schützen, zu gewissen Maßregeln seine Zuflucht nehmen mußte. Man hat ihm seine Maschinen zertrümmert – sollte er vielleicht ruhig abwarten, bis man ihm auch Haus und Fabrik zerstört?“

„Wie Du gleich auffährst! Ein Wort gegen diese Eindringlinge ist genug, Dich in Harnisch zu bringen.“

„Jede Ungerechtigkeit erregt meinen Zorn. – Du wählst gerade das rechte Mittel, Tante, mich zu doppelter Freundlichkeit gegen Herrn Reinhard zu veranlassen. Ich werde mich genöthigt sehen, ihn für Deine Ungerechtigkeit zu entschädigen.“

„So ist’s recht, Junker Paul,“ sagte Kayser, der mit sichtlichem Behagen dem Wortwechsel zugehört hatte, „so ist’s recht. Für seine Freunde muß man, wenn es noth thut, auch eine Lanze brechen können. Im Uebrigen hat Tante Sidonie so unrecht nicht. Der eisenköpfige Bursche hätte durch ein wenig Nachgiebigkeit den ganzen Streit beilegen können.“

„Ich glaube es nicht. Denn die wahre Ursache sind nicht die niedrigen Löhne – sie sind nicht niedriger, als sie früher gewesen sind – sondern der Mann selbst. Man will ihn beseitigen – das muß jeder Unparteiische einsehen. Ich würde ihn weniger achten, wenn er anders gehandelt hätte. Jeder gewissenhafte, gerechte Mann müßte ihn unterstützen, leider aber giebt es deren wenig genug. Jedenfalls soll er an mir eine treue Nachbarin finden, die ihm jeden Beistand leistet, der in ihren Kräften steht.“

Sie hatte lebhaft und mit blitzenden Augen gesprochen und nicht wahrgenommen, daß der alte Diener eingetreten war, um ihr eine Karte zu überreichen. Ueber ihr Gesicht ergoß sich eine tiefe Röthe, als sie den Namen darauf las.

„Herr Reinhard,“ sagte sie, während eine Verwirrung, die ihrem sicheren, selbstbewußten Wesen sonst fremd war, sich ihrer bemächtigte. „Wir werden ihn natürlich empfangen. – Jean, er wird uns sehr angenehm sein.“

Paula’s Gemüthsbewegung war weder ihrem Vormunde, noch ihrer Tante entgangen. Wenn sie aber Ersteren mit Genugthuung erfüllte als Zeichen eines tieferen Interesses, welches ihm eine Erfüllung seines Wunsches in Aussicht zu stellen schien, so raubte sie der armen Tante Sidonie beinahe die Fassung.

„Das ist zu arg, Paula, wirklich zu arg. Erst gestern bist Du nach Hause gekommen, und schon im Einverständniß mit diesem Manne! Ohne Aufmunterung von Deiner Seite hätte er diesen Schritt nicht gewagt.“

„Ich verschmähe es, auf Deine unwürdige Beschuldigung zu antworten,“ entgegnete das junge Mädchen, das jetzt seine Fassung wieder erlangt hatte, „aber ich erlaube mir, Dich zu erinnern, daß ich für Herrn Reinhard – möge Deine Ansicht von ihm sein, wie sie wolle! – in meinem Hause einen höflichen und rücksichtsvollen Empfang erwarte.“

Noch während sie sprach, hörte man die Schritte des Gastes im Nebenzimmer. Dann öffnete Jean die Thür, und der Erwartete trat über die Schwelle.




8.

Selbst Tante Sidonie mußte sich widerwillig gestehen, daß sein Eintritt in durchaus gentlemanischer Weise geschah. In Max Reinhard’s Erscheinung lag ein Etwas, das ihm alle Frauen geneigt machte. Es war dies nicht die Folge seines hübschen, männlichen Gesichts und seiner hohen ebenmäßigen Gestalt, wenigstens war es dies nicht allein. Es lag auch in seinem Auftreten eine so ernste, ruhige Würde und in seinem Lächeln soviel freundliche Milde, daß man einen ganzen und rechten Mann in ihm erkannte, stark genug, die Schwächen anderer Leute mit Nachsicht zu tragen. Man ahnte, daß hinter der feinen, weltmännischen Höflichkeit, die er den Frauen widmete, sich ein Gefühl wirklicher Achtung barg, die ihn stets die richtige Mitte treffen ließ zwischen frivoler Galanterie und brutaler Vernachlässigung. Auch Tante Sidonie mußte dies erkannt haben; denn als er vor ihr stand, mit dem Hute in der Hand, das edle, ernste Haupt achtungsvoll gebeugt, da verlor ihr Gesicht den Ausdruck gezwungener Höflichkeit und nahm den einer aufrichtigen Freundlichkeit an. Freilich ging dieser durch die sieghafte [731] Persönlichkeit des neuen Nachbars errungene Vortheil durch das unkluge und, wie sie es nannte, unweibliche Betragen der Nichte fast wieder verloren. In der That zeigte Paula so keck und offen ihr Wohlgefallen an dem Gaste, daß er dadurch hätte eitel gemacht werden können, wenn er hierzu mehr beanlagt gewesen wäre. Als sie ihn begrüßte, hätte man fast glauben sollen, sie reiche einem alten, lang ersehnten Freunde, nicht einem beinahe Unbekannten, die Hand, und als sie lächelnd und mit warmer Röthe auf den Wangen den Kopf hob und ihm in’s Gesicht schaute, da ruhte ihr sprechendes Auge mit so unverkennbarer Freude auf seinen Zügen, daß Tante Sidonie sich nicht enthalten konnte, durch ein Kopfschütteln ihren Unwillen über diesen Mangel an Zurückhaltung an den Tag zu legen.

„Verzeihen Sie, mein gnädiges Fräulein,“ sagte Max, sich mit seiner Anrede mehr an die ältere, als an die jüngere Dame des Hauses wendend, „wenn ich störend in Ihren Kreis trete! Ich hatte bereits bei Herrn Kayser vorgesprochen, um Ihnen eine Nachricht durch seine freundliche Vermittlung zugehen zu lassen, welche ich für dringend halte. Und da ich erfuhr, daß er nicht zu Hause war, habe ich mich selbst, auf die Gefahr hin, Sie zu stören, entschlossen, meine Botschaft Ihnen persönlich zu überbringen.“

Während er sprach, war Kayser zu ihm getreten und hatte ihn durch einen Händedruck begrüßt. Tante Sidonie lud zum Sitzen ein und bezeichnete einen Sessel dem kleinen Ecksopha gegenüber, auf welchem sie neben Hanna saß. Es war keinem der Anwesenden aufgefallen, daß seit Maxens Eintritt die Farbe auf dem Antlitze des jungen Mädchens in schnellem Wechsel gekommen und gegangen war. Auch auf dem Gesichte des Mannes erschien plötzlich der Ausdruck freudiger Ueberraschung, als er, seinen Blick erhebend, das zarte, erröthende Mädchengesicht sich gegenüber sah.

„Herr Max Reinhard – Fräulein Kayser,“ stellte Tante Sidonie vor.

„Wir sind bereits mit einander bekannt,“ sagte Hanna lächelnd in lieblicher Verwirrung.

„Ja, ich hatte in diesem Frühjahre das Glück, mit Fräulein Kayser von Bonn aus rheinaufwärts zu fahren,“ erklärte Max. „Zwar dauerte unsere gemeinschaftliche Fahrt nur einige Stunden, aber dennoch freute ich mich aufrichtig über die Nachricht, daß wir Sie für einige Zeit zur Nachbarin erhalten würden.“

„Und weshalb haben Sie mir nicht von diesem Zusammentreffen erzählt?“ fragte Kayser.

„Weil ich nur hoffte, aber keine Sicherheit dafür besaß, daß meine liebenswürdige Bekannte, deren Namen ich zufällig erfuhr, mit Ihrer erwarteten Nichte identisch sei.“

Während dieser Erklärung hatte Paula seitwärts gestanden und mit einem Lächeln auf den Lippen die Beiden scharf beobachtet. Ihr Blick ruhte noch auf Hanna’s Antlitz, als Max sich wieder in ruhiger, geschäftsmäßiger Weise an Tante Sidonie wandte. Er erklärte ihr in wenig Worten den Zweck seines Kommens. Die Polizeibehörde von Elmsleben hatte bei den Nachforschungen, welche sie auf seine Anzeige von der Zertrümmerung seiner Maschinen angestellt, in Erfahrung gebracht, daß der Haupträdelsführer des ganzen Tumultes, um sich den Folgen seiner That zu entziehen, eine Zufluchtsstätte bei seinem Bruder, einem der Arbeiter auf dem Gute Fleurmont, gesucht und gefunden hätte. Man hatte ihn von diesem Umstande benachrichtigt, und er war den Gensd’armen, welche mit der Verhaftung des Schuldigen beauftragt waren, vorausgeeilt, um ihr Erscheinen auf dem Gute der Besitzerin zu erklären.

„Ich erlaube mir zugleich,“ schloß er seine Rede, „Ihnen mein Bedauern darüber auszusprechen, daß auf diese Weise auch Ihnen Unannehmlichkeiten aus dem Conflicte erwachsen, unter welchem ich augenblicklich leide. Doch habe ich Sorge getragen, daß die Verhaftung so leise und schonend wie möglich vor sich gehe. Auch ist ein Wagen bereit, um den Verbrecher schnell und ohne Aufsehen nach Elmsleben überzuführen.“

Nach dieser Auseinandersetzung schien er die Aufgabe seines Besuches für beendigt zu halten. Er wollte sich erheben, wurde indessen durch einen unvorhergesehenen Zwischenfall daran verhindert. Paula’s großer Leonberger Hund, der bis zu Maxens Eintritt ruhig an der Gartenthür im Sonnenschein gelegen, hatte sich, während Jener sprach, erhoben und war langsam näher gekommen. Es schien zwischen dem Geschmacke des Thieres und dem seiner Herrin eine merkwürdige Uebereinstimmung zu herrschen, denn mit allen Zeichen einer lebhaften Freude umkreiste es den Gast, bis es endlich sich neben ihn setzte, seinen Kopf auf sein Knie legte und mit klugem Auge zu ihm aufschaute.

„Das ist ein gutes Omen – das bedeutet gute und treue Nachbarschaft,“ sagte Paula mit glücklichem Lächeln zu Max, der mit sichtlichem Wohlgefallen das schöne Thier liebkoste. „Ich gebe viel auf die Sympathien meines Tristan. Er ist ein feiner Menschenkenner; sein Urtheil hat sich fast immer als richtig bewährt.“

„Diese Zuneigung des Hundes ist in der That wunderbar,“ meinte Tante Sidonie. „Er pflegt sonst gegen Fremde sehr unfreundlich zu sein, gegen Sie benimmt er sich aber, als ob er Sie seit lange kenne. Ich weiß wohl, daß dies nicht der Fall sein kann, denn Paula liebt das Thier sehr und trennt sich darum nie von ihm. Es hat sie auch auf allen ihren Reisen begleitet. Hast Du jemals gesehen, Kind,“ wandte sie sich an ihre Nichte, „daß es sich gegen einen Fremden so unterwürfig und zuthulich gezeigt hat?“

„O doch,“ sagte Paula lächelnd, „auch unter den Gästen, welche im Braunbach’schen Hause aus und ein gingen, hatte es einen bevorzugten Liebling. Ich habe oft den Vorwurf hören müssen, daß ich meine Sympathien mir von Tristan dictiren laste.“

„Wenn Sie es dieses Mal thun, so habe ich Nichts dagegen,“ sagte Kayser, sich in’s Gespräch mischend. „Ich freue mich überhaupt, daß diese unangenehme Geschichte wenigstens die eine gute Folge gehabt hat, Ihre Bekanntschaft mit Herrn Reinhard zu vermitteln.“

„Das war nicht mehr nöthig, Herr Kayser,“ entgegnete Paula. „Ich sagte Ihnen schon, daß Herr Reinhard uns gestern bei einem sehr unangenehmen Vorfalle ritterlich zu Hülfe gekommen ist.“

„Den Du durch Deine Liebhaberei, die kühne Rosselenkerin zu spielen, selbst herbeigeführt hattest,“ sagte die Tante.

„Ich bitte um Verzeihung, Tante, so verhielt es sich nicht ganz. Die Sache war die: unsere Pferde gingen durch, ehe ich noch die Zügel in der Hand hatte. Willst Du also Jemand einen Vorwurf machen, so trifft derselbe unsern Kutscher, nicht mich. Es hätte uns übrigens recht schlimm gehen können, wenn Herr Reinhard unsere Pferde nicht noch rechtzeitig zum Stehen gebracht hätte.“

(Fortsetzung folgt.)




Blätter und Blüthen.


Die Blindenanstalt in Steglitz, von welcher wir in unserer Nr. 21 schon einen längeren Bericht brachten, hatte am 28. September zum ersten Male die Vertreter der Behörden, Angehörige der Zöglinge, Freunde und Gönner des Instituts zu einer „musikalischen Unterhaltung“ eingeladen. Bei der tiefen Bedeutung, welche der Musikunterricht für Geist, Gemüth und Erziehung der Blinden hat, und im Hinblick auf die dabei zu überwindenden Schwierigkeiten war es erklärlich, daß die zahlreich erschienenen Zuhörer den im Programm angekündigten dreizehn Nummern mit einer gewissen Beklommenheit entgegen sahen, um so mehr, als wohl die meisten der Anwesenden noch nie einem von Blinden gegebenen Concerte beigewohnt hatten. Das Mitleid, welches bei dem Erscheinen der jugendlichen Künstler, Sänger und Sängerinnen in der hellerleuchteten Aula rege geworden war, wich indeß sehr bald einem freudigen Gefühl, als die ernsten und feierlichen Klänge des Bach’schen Orgel-Präludiums und Fuge C-moll, vorgetragen von einem der talentvollsten Schüler, den Saal durchbrausten. Hieran schlossen sich in buntem Wechsel Clavier-Soli: Lieder ohne Worte von Mendelssohn, Beethoven’sche Sonaten, Compositionen von Schumann und Chopin, Cello- und Violinvorträge, die durchweg mit feinem Verständniß, sauberer Technik und großer Sicherheit zu Gehör gebracht wurden. Wenn diese Einzelleistungen schon das ganze Interesse des Auditoriums fesselten, so geschah dies in erhöhtem Maße durch den Chorgesang, an welchem sich fast alle Zöglinge der Anstalt betheiligten. Die dreistimmig a capella ausgeführten Lieder entzückten das lauschende Publicum sowohl durch ihre Reinheit und deutliche Aussprache, wie auch durch den höchst eigenartigen Schmelz und zarten Wohllaut. Statt der frischen und hellen Töne, wie sie wohl sonst in der Schule [732] gehört werden, erklangen hier Gesänge, die, vielleicht unbewußt, all das Weh ausathmeten, welches mit dem Verlust des Augenlichts doch nun einmal unzertrennlich ist. Welche Bilder mochten wohl in der Seele der Kinder vorüberziehen bei Liedern, wie: „Drunten im Unterland“, „Wie ist die Luft so klar!“ oder „Nun fangen die Weiden zu blühen an“. Wie gerne würden sie das Abt’sche „Wanderlied“ auf sonniger Landstraße marschirend singen, wie fern ist ihnen die Verwirklichung des Silcher’schen „Morgen müssen wir verreisen“ mit der Strophe „Kommen wir zu jenen Bergen, schauen wir zurück in’s Thal“! – Das Publicum belohnte die jugendlichen Concertgeber mit reichem Beifall und bereitete ihnen dadurch eine sichtliche Freude. – Im Hinblick auf den Vortrag contrapunktischer Compositionen, wie Bach’scher Fugen etc., dürften einige Andeutungen über die Methode des Unterrichts und die betreffenden Lehrmittel nicht ohne Interesse sein. Die Darstellung der Töne wird vermittelt durch drei Momente: das musikalische Gehör, Theorie und Notenschrift. Letztere lehnt sich an das Buchstabensystem des französischen Blindenlehrers Braille an und wird mit den Fingerspitzen gelesen.

Beispielsweise werden die sieben Töne der diatonischen Tonleiter durch folgende (erhabene) Punkte dargestellt:



In dieser Schrift sind bereits die meisten classischen Compositionen gedruckt worden, der Director der königlichen Blindenanstalt, Herr Rösner, hat indeß die Absicht, eine Erweiterung respective Verbesserung des Systems herbeizuführen, zu welchem Zwecke bereits eine Einigung mit den Blindeninstituten in Kopenhagen und Wien erzielt worden ist. – Wir fügen hieran die manchem Blinden vielleicht nicht unwillkommene Notiz, daß der genannte Director Rösner eine Anthologie aus Schiller’s Werken und einen Atlas für Blinde vorbereitet, welche im Verlage der Steglitzer Anstalt erscheinen werden.

     Berlin, im October 1877.
Gustav Schubert.




Eine deutsche Revue. Das diesjährige Octoberheft der in Berlin (bei Karl Habel das.) erscheinenden Zeitschrift „Deutsche Revue“ bringt einen sehr beachtenswerthen Mahnruf von Prof. Schenkel in Heidelberg über die nationale Bedeutung der religiösen Frage. Einen Mahnruf nennen wir diesen warm und glänzend geschriebenen Artikel des berühmten liberalen Theologen, weil er sein Thema nicht blos zu wissenschaftlichem Zwecke erörtert, sondern mit der Kraft und Klarheit seiner Beweisführungen an das Bewußtsein der Nation sich wendet, ihr Gewissen und ihre Thatkraft schärfen, ihr politisches Pflichtgefühl beleben will. Bei der Verschiedenheit unserer Parteistandpunkte wird man ja von dieser und jener Seite her manche Auffassung und Folgerung Schenkel’s nicht gelten lassen. Von einer argen Unwissenheit jedoch oder von einem hohen Grade beschränkten und blinden Parteieigensinnes würde es zeugen, wenn Jemand der Einsicht sich verschließen wollte, daß die religiöse Frage kein unwirkliches Phantasiespiel, sondern eine weltgeschichtliche Thatsache, eine unabweisbare lebendige Realität ist und daß sie namentlich seit den Zeiten der Reformation bis zu diesem Augenblicke als eine vorwiegend bestimmende und treibende Macht in allen Kämpfen und Krisen, allen Wendungen und Entscheidungen unserer deutsch-nationalen Geschicke sich erwiesen hat. Unzählige ahnen, fühlen und sagen das, aber der von tiefem und überzeugungsvollem Patriotismus beseelte Aufsatz Schenkel’s zeigt uns den rothen und schwarzen Faden in dem Verlaufe aller historischen Ent- und Verwicklungen so deutlich und mit so eindringlicher Consequenz, daß es nicht als ein luftiges Raisonnement, sondern als ein Ergebniß positiven Wissens erscheint, wenn der Verfasser mit der Warnung schließt: „Unsere nationalen Erfolge sind nur dann gesichert, wenn wir den uns aufgedrungenen Kampf gegen die clericalen Ein- und Uebergriffe (nach römischer wie protestantischer Seite) fest und beharrlich, ohne jedes Zurückweichen, jedes Wanken und Schwanken zu Ende führen. Mögen die Gleichgültigen zu der Einsicht gelangen, daß sich gegenwärtig in diesem Kampfe eine geschichtliche Nothwendigkeit vollzieht, daß im deutschen Reiche in ungeschmälerter Freiheit Raum für Alle, aber kein Platz mehr ist für theokratische und clericale Herrschaftsgelüste!“

Die „Deutsche Revue über das gesammte nationale Leben der Gegenwart“, welche unter Anderm diese klärende Aeußerung aus bewährter Feder bietet, dürfte wohl Vielen unserer Leser noch nicht in die Hand gekommen sein. Wir glauben uns daher Dank zu verdienen, wenn wir hier die Aufmerksamkeit auf diese seit Jahresfrist von Richard Fleischer herausgegebene Monatsschrift zu lenken suchen. Dieselbe darf sich den Namen einer „Revue“ (es ist wohl nicht ohne Absicht diese französische Bezeichnung gewählt) mit vollem Rechte beilegen. Denn unter den zwei Hauptrubriken „Oeffentliches Leben“ und „Wissenschaft, Kunst und Literatur“ bietet jedes der bisher erschienenen Hefte eine planmäßig, nach bestimmten Zweigen und Fächern geordnete Rückschau auf hervorragende Fragen und Bewegungen, Erscheinungen und Ereignisse unseres laufenden Culturlebens. Denke man dabei aber nicht an jene chronikartigen Uebersichten, wie sie in mehr oder weniger trockener Herzählung von Jahrbüchern und Kalendern angestrebt werden. Jeder der oben bezeichneten Beiträge giebt sich vielmehr als ein sogenannter freier Essay, als ein schildernder und kritischer Bericht über einen wichtigen Punkt aus dem Bereiche des betreffenden Gebietes. Zur Abfassung dieser fortlaufenden Berichte sind anerkannte Fachautoritäten als ständige Mitarbeiter gewonnen, und es mögen aus der beträchtlichen Reihe derselben hier nur die Namen Bluntschli und von Schulte, Laspeyres, Birnbaum, Gareis, Kirchhoff, Carriere, Seitz, Schasler, Neumann und Strodtmann genannt werden. Der Gedanke des Unternehmens ist ein neuer und glücklicher; bei tüchtiger Ausführung ihres Programms wird sich die „Deutsche Revue“ eine dauernde Theilnahme gebildeter, patriotischer und freisinniger Leserkreise erwerben.




Singende Flammen. Im vorigen Jahrhundert machte ein Chemiker die Entdeckung, daß eine in einer längeren Glasröhre brennende Gasflamme einen musikalischen Ton erzeugt, dessen Höhe hauptsächlich von der Länge der Röhre abhängt. Man nannte dieses Experiment ziemlich unpassend die chemische Harmonika, und ein französischer Physiker hat aus derartigen musicirenden Gasflammen sogar ein Feuerclavier oder Pyrophon construirt, welches sich auf der Wiener Weltausstellung sehen und hören ließ. Aber mehr als die musikalischen Leistungen dieser „feurigen Zungen“ hat eine andere Eigenthümlichkeit derselben das Interesse der Physiker erregt, nämlich ihre merkwürdige Empfindlichkeit gegen von außen auf sie eindringende Luftschwingungen. Man kann es leicht durch Verschiebung des Rohres und durch Regulirung der Gasausströmung dahin bringen, daß eine singende Flamme in Stillschweigen versinkt, aber fast macht es den Eindruck, als ob sie dabei horche, denn sobald in einer Entfernung, die ziemlich bedeutend sein kann, ein bestimmter, ihr sympathischer Ton mit der Stimmgabel angeschlagen oder gesungen wird, beginnt sie sogleich einzustimmen. Umgekehrt kann die musicirende Flamme durch einen solchen Ton schon aus der Ferne zum Schweigen, ja zum plötzlichen Erlöschen gebracht werden, und da sich leicht bewerkstelligen läßt, daß das nunmehr unverbrannt ausströmende Gas sich am andern Ende der Röhre entzündet, so kann man auch durch Anspielen oder Singen eines Tones aus der Ferne ein Licht anzünden und andere Wirkungen vollbringen. Das merkwürdigste dieser namentlich von dem Grafen Schaffgotsch ins Unendliche abgeänderten Experimente mit den sensiblen Flammen ist kürzlich von dem englischen Physiker W. F. Barret angestellt worden. Derselbe neckte seine empfindlichen Flammen nämlich mit Tönen, die er und andere Leute gar nicht hören konnten, die aber vielleicht von manchen Thieren vernommen werden und jedenfalls sehr auffallend auf die empfindlichen Flammen wirkten. Ebenso wie es unsichtbare Lichtstrahlen giebt, welche, weil zu schnell schwingend, unsere Netzhaut nicht mehr erregen, welche aber auf die präparirte Platte des Photographen gerade am stärksten einwirken, so giebt es auch Töne, von denen wir sagen müssen: sie sind zu hoch für unser Fassungsvermögen. Viele, namentlich ältere Personen hören schon das Zirpen der Grillen und Heimchen nicht mehr, und ihr Concert, das anderen Personen vielleicht unerträglich dünkt, ist für sie gar nicht vorhanden.

Der englische Physiker Galton hat eine Pfeife erfunden, mit welcher man die Höhe des Tones stufenweise bis schließlich über die Grenzen des menschlichen Ohres hinaus steigern kann. Es lassen sich mit derselben merkwürdige Versuche anstellen, wenn man in einer Gesellschaft namentlich älterer Personen allmählich immer höhere Töne erzeugt. Während die Einen sich dann über das unerklärliche Gellen der Töne beschweren, herrscht für Andere bereits vollkommene Ruhe. Wird nun die Tonhöhe immer noch weiter gesteigert, so fallen, um mich eines populären Ausdruckes aus der Trinkstube zu bedienen, immer mehr Personen ab, und der Triumph der Hochhörigsten ist auch nur von kurzer Dauer: endlich hört Niemand mehr das Geringste, und die Behauptung, daß noch eine Art Geistermusik die Luft des Zimmers in Schwingungen versetzt, erregt allgemeines Kopfschütteln. Aber wie nach dem Glauben der alten Griechen und Germanen Hunde durch Gekläff und Pferde durch Ohrenspitzen dem Menschen das Vorüberwallen überirdischer Wesen verrathen, so genügt eine empfindliche Flamme, um zu zeigen, daß die Pfeife in der That immer noch Tonschwingungen aussendet. Herrn W. F. Barret gelang es, eine zwei Fuß hohe Gasflamme zu erzeugen, die so empfindlich war, daß sie bei dem bloßen Zusammenklingen zweier Silbermünzen wie vor Schreck auf sieben Zoll zusammenknickte. Diese Flamme vernahm denn auch die den Menschen unhörbaren Töne der Pfeife aus Entfernungen von zwanzig bis fünfundzwanzig Fuß. Sie sank, sobald der unhörbare Pfiff durch die Lüfte zitterte, sofort auf sechszehn Zoll zusammen, verlor ihre Helligkeit und accompagnirte die stille Musik mit einem vernehmlichen Rauschen. In einem schnellgedrehten Spiegel läßt sich erkennen, daß sie dabei lebhaftest zittert und flackert.




Zur Beachtung. Unserer verehrten Mitarbeiterin E. Marlitt sowie uns selbst sind wiederholt Zuschriften geworden, welche die Behauptung aufstellen, die gefeierte Autorin habe ihre Mitarbeiterschaft an unserem Blatte aufgegeben und ihre Feder überhaupt niedergelegt. Dieser Hellseherei der Ungeduld und des Neides gegenüber sind wir in der Lage erklären zu können, daß E. Marlitt im nächsten Jahrgange unserer Zeitschrift durch Veröffentlichung einer neuen Erzählung schwarz auf weiß documentiren wird, daß sie unsere Leser wie uns selbst nach wie vor mit den Schöpfungen ihres glänzenden Talents erfreuen wird.
D. Red.




Berichtigung. In den Artikel „Das treue deutsche Herz“ (in unserer Nr. 34), zu dem, wie wir nachträglich bemerken, die Illustration nach einem Portrait aus dem photographischen Atelier des Herrn C. Götze in Dresden angefertigt wurde, hat sich leider die irrthümliche Angabe eingeschlichen daß Julius Otto, der jüngst verstorbene Liedercomponist und Musikdirector in Dresden, auf der Festung Königstein geboren worden. Derselbe hat aber vielmehr in der Stadt Königstein, und zwar in dem dortigen Apothekergebäude, das Licht der Welt erblickt. Bei dieser Gelegenheit wollen wir nicht unerwähnt lassen, daß sich sowohl in Dresden wie in Königstein ein Comité zur Errichtung eines Julius-Otto-Denkmals gebildet hat und daß somit, wenn die Gaben reichlich fließen, der Sänger des „treuen deutschen Herzens“ in zwei Städten seiner sächsischen Heimath im steinernen Bilde fortleben wird.



Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Die vorstehenden Mittheilungen verdanken wir einem Familiengliede des Jordan 'schen Hauses; sie ergänzen die Schicksalstragödie des hessischen Märtyrers durch interessante Züge, die sich bisher der Oeffentlichkeit entzogen haben, und gewähren uns einen Einblick in die traurigste deutsche Vergangenheit.
    D. Red.
  2. Sylvester Jordan ist in dem kleinen Weiler Omes bei Innsbruck (am 30. December 1792) geboren, wo sein Vater ein armer Schuhmacher war.
  3. Derselbe Hassenpflug hatte vorher versucht, dem gefürchteten Volksvertreter „hinterrücks beizukommen“, ihn moralisch unmöglich zu machen. Zu diesem Behufe mußten feile Dirnen zu Hülfe genommen werden, von denen eine einen Landtagsdeputirten, der „mit Jordan identisch“ sein sollte, als gute Kundschaft angab. Darauf hin ließ der Herr Minister durch dritte Hand Jordan warnen, zum Landtage nach Kassel zu kommen weil sonst „die Staatsregierung sein sittliches Betragen dem Publicum bloß stellen würde“. Jordan würdigte den Brief keiner andern Beachtung, als daß derselbe ihn erst recht bestimmte, die Wahl zum Landtag anzunehmen. – Solche Thaten verdienten es, daß ihr Urheber, als das damalige preußische Reactions-Ministerium ihn in seinen Dienst berief, vom ganzen Volk zurückgewiesen wurde als „der Hessen Haß und Fluch“.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: fünfundzwanzig, vergl. Berichtigung in Heft 47