Die Gartenlaube (1877)/Heft 42

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1877
Erscheinungsdatum: 1877
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 42.   1877.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.



Teuerdank's Brautfahrt.
Romantisches Zeitbild aus dem 15. Jahrhundert.
Von Gustav von Meyern.
(Fortsetzung.)


„Wohlan!“ raunte während dessen der Junker seinem Herrn zu. „Nieder mit dem Rebellen! Weg mit dem Rivalen!“

„Rühr' ihn nicht an! Nur zum Schein!“ gebot ihm Maximilian mit strafendem Blick.

„Es gilt die Krone!“ wagte noch einmal der Page ihn anzustacheln.

„Nicht um alle Kronen der Welt!“ rief zürnend, fast feierlich Maximilian. Und eine unnachahmliche Hoheit umgab ihn, als er jetzt mit lauter Stimme fortfuhr: „Nein, kein Blut! Wen ein Kaiserssohn gewürdigt, das Schwert mit ihm zu kreuzen – und wär' es ein Verbrecher am Reich, den hat er begnadigt. Stecket Eure Schwerter ein, meine Getreuen! – Und Ihr, Prinz, nehmet das Eurige zurück! Es ist dort nicht an seinem Platze. Ihr seid ein Tapferer und seid frei.“

Mit einem innigen Blicke auf ihren hochherzigen Geliebten faltete Maria, mit gerührtem Dankesblicke gen Himmel die Aebtissin die Hände. Der Prinz hob beschämt das Schwert vom Boden. Ritter und Junker steckten gehorsam die ihrigen ein. Aber was war das? Hugo von Huy, der mit auffallender Besorgniß den Worten Maximilian's gefolgt war, hatte unbemerkt sein Silberhorn an den Mund gesetzt und stieß in diesem Augenblicke einen langgezogenen seltsam klingenden Ton hinaus.

„Was thut Ihr?“ fragte Maximilian erstaunt und zum ersten Male Huy näher in's Auge fassend.

„Verzeihet, Herr!“ versetzte dieser sich tief verneigend. „Es ist für die persönliche Sicherheit unserer erhabenen Gebieterin.“

„Für die Sicherheit der Herzogin! Ich verstehe,“ sagte Max, den Cavalier mit seltsamem Blicke messend, und wie beschämt, von ihm daran gemahnt zu werden, daß sie in nächster Nähe von Feinden bedroht, aber auch von Freunden umgeben seien. Zugleich aber auch erkennend, daß er in seiner Großmuth zu weit gegangen sei, wandte er sich, wenngleich entschlossen, sein Wort zu halten, so doch nicht gesonnen, eine falsche Deutung desselben zuzulassen, zum Prinzen zurück.

„Allerdings, Prinz, seid Ihr frei, wie ich Euch angekündigt. Aber, wie Ihr selbst mir entgegenhieltet, sind wir hier in fremdem Lande, in fremder Sache, und wenn wir persönlich auch Frieden halten können, so doch nicht die Unserigen. Darum höret einen Vorschlag zur Güte! Gelobet mir für Eure Person Urfehde, wie ich verspreche, sie Euch zu halten. Ich habe Euch ohne fremde Beihülfe außer Gefecht gesetzt. Ihr waret in meiner Hand, und ich kann nicht ritterlicher gegen Euch verfahren.“

„Das ist ehrlich, Herr. Ich schlage ein,“ rief der Prinz und schlug in die dargebotene Rechte.

Plötzlich erdröhnte der Wald von wildem Getümmel. Lauter Aufschrei, Waffengeklirr, Hülferuf und kurzer Siegesjubel, mit Wiehern und Stampfen der Pferde vermischt, wurde von der Lichtung her vernommen. Lautlos horchten Alle auf. Maria schmiegte sich zitternd an Max; Adelheid suchte Schutz bei Huy. Ritter und Junker hielten die Hand am Schwertgriff. Aber nur wenige Minuten, und Alles war wieder still, wie zuvor.

„Verstehe ich recht?“ wandte sich Maximilian an Huy.

„Wir werden es sogleich erfahren, Herr,“ erwiderte dieser, sich nochmals verneigend.

Und es geschah nach seinem Wort. Eilige Schritte kamen von der Lichtung her. Eine seltsame Kriegergestalt, halb einem Waidmann, halb einem Reiterhauptmann ähnlich, betrat den Hofraum. Von oben bis unten in Grau gekleidet, mit langem grauem Bart, trug er einen grünen Zweig an der hohen, helmartigen Filzkappe. Mit auffallender Erregung die Versammlung überfliegend, blieb sein Blick, ohne bei Maria oder Maximilian zu verweilen, auf Hugo haften. Bei dem Anblicke dieses, wie von plötzlicher Freude ergriffen, zuckte er zusammen, hob die Arme, aber – ein strenger Blick aus Hugo's Auge, und ehrerbietig sich neigend, meldete er ihm: „Die Cleve'schen sind entwaffnet, Herr.“

„Kein Mann entkam?“ fragte Hugo kurz.

„Nicht einer, Herr! Sie lagerten noch bei den Pferden, als wir sie von allen Seiten umzingelten.“

Erstaunt hatten die Anwesenden das Benehmen des Hauptmanns gegen Huy gesehen; erstaunt hörten sie seine Meldung. Der Prinz schleuderte einen wüthenden Blick auf Hugo, der mit dem Hauptmanne leise weiter sprach.

„Der Verräther!“ knirschte er für sich.

Adelheid aber schien sich während dessen in einer besonders anmuthigen Stellung zu gefallen. Sie hatte ihren rechten Fuß über den linken geschlagen, so daß die Spitze des ersteren kaum den Boden berührte, und – mochte es nun die natürliche Folge dieser graziösen Haltung sein, oder nicht – mit Kopf und Oberkörper neigte sich auch ihr linkes Ohr auffallend zu Hugo hinüber. Vielleicht daß sie es selbst nicht wußte, aber zu ihrem Nachtheil ließ die Höhe ihres Zuckerhutes à la hénin nach geometrischen Grundsätzen die Neigung ihres Kopfes zur Seite um so größer erscheinen, als ein verlängerter Radius von einem größeren Kreisbogen [702] umschrieben wird. Auch Maximilian schien diese Bemerkung gemacht zu haben, denn Maria lächelte, als er, auf Adelheid deutend, ihr einige leise Worte zuflüsterte.

„Sie ist neugierig von Natur,“ gab Maria zurück, „aber in diesem Falle hat sie Grund, es zu sein, wie wir Alle. Wer ist der graue Kriegsmann?“

„Einer der Hauptleute meines Geleites, die sich in Deinem Namen vorstellten. Geldern’sche Hülfstruppen gegen die Franzosen sind es.“

„Geldern’sche? Immer räthselhafter! Also deshalb verschwunden!“ sann Maria.

„Sie Alle reizen meine Neugier nicht, meine Liebe – sie sind nur Werkzeuge. Offenbar ist es der junge Cavalier, der hier gebietet. Wie heißt er?“

„Hugo von Huy.“

„Seine Macht erscheint so wunderbar, wie sein Wesen ungewöhnlich. Mir ist, als hätte ich diese Züge schon gesehen. Und doch wieder nicht – irgend eine Ähnlichkeit wird mich täuschen.“

„Er ist mein Ehrencavalier. Aber freilich, seit heute weiß ich nicht mehr, was ich von ihm halten soll, denn sicher steht er in Verbindung mit meinem geheimen Beschützer.“

„Huy?“ sann Maximilian. „Nein, nein, mir unbekannt! Und doch – dieser schöne Kopf ... Stelle ihn mir vor! Eben verläßt ihn der Hauptmann.“

„Ritter Huy,“ rief Maria, Hugo herbeiwinkend, und stellte ihn Maximilian vor.

„Ihr scheinet Zauberei zu üben, Ritter,“ redete dieser ihn verbindlich an.

„Im Gegentheil, gnädiger Herr, ich stehe selbst unter einem Zauber und diene ihm,“ gab der Cavalier mit leichter Neigung gegen Maria zurück.

„Fürwahr, Ihr verstehet das Wort im Munde zu drehen, wie mir“ – und geflissentlich erhob er die Stimme zu Adelheid – „das Fräulein dort bezeugen wird.“

„O, an ihr habe ich meinen Meister gefunden, Herr, und sie kennt kein Mitleid gegen mich,“ lächelte Hugo mit einem Blicke auf die Hinzutretende.

„Vielleicht, weil sie dessen zu viel gegen Andere empfindet?“ scherzte Maximilian.

„Wenn sie das Unglück haben, Glücklicheren gegenüber zu stehen, hoher Herr,“ verbesserte das Hoffräulein.

„Hört doch, Ritter! Erkennet Ihr den Doppelsinn?“

„O Herr, wer möchte da trauen!“ erwiderte der Angeredete. „Das ewige Fächerspiel verdirbt das Gemüth.“

„Saget selbst, Herr,“ schloß Adelheid das Gefecht, „erkennt Ihr nicht meine eigene Münze wieder, mit der er mich bezahlt?“

Maximilian erinnerte sich dessen, was er erlauscht hatte, und lachte. Maria, ohne den Schlüssel zu dem launigen Spiel zu haben, lachte mit. Aber die Lage war zu ernst, um auch der heitersten Unterbrechung länger als für Augenblicke Raum zu gestatten. Als Maria um sich blickte, und auf der einen Seite das finster vor sich hinstarrende Gesicht des Prinzen, auf der anderen das sorglich spähende Auge des alten Ritters wahrnahm, bahnte sich, was vor Allem ihre Seele beschäftigte, den Weg über ihre Lippen.

„Ihr allein, Ritter,“ wandte sie sich an Hugo, „könnt Auskunft darüber geben, wie sich alles dieses zugetragen und wohin es führen soll – werdet Ihr uns endlich das Räthsel erklären?“

„Ein Räthsel will erst gelöst sein, ehe denn man es erklärt, gnädiges Fräulein,“ erwiderte Hugo ehrerbietig. „Und es ist hohe Zeit, damit zu beginnen, denn noch steht das Schwierigste bevor. Erlaubt daher zuvörderst, daß ich in Eurem Auftrage zu diesem edlen Prinzen spreche.“ Und ohne die Bejahung abzuwarten, vielmehr die stumme Verwunderung der Herzogin als solche annehmend, redete er den Prinzen mit ernstem, aber theilnahmsvollem Tone an. „Prinz, der Pflichten gegen Euren Herrn Vater hat Euch das Geschick überhoben. Die Herzogin von Burgund ist aus unwürdiger Ueberwachung befreit; ihre Getreuen haben Eure Leute entwaffnet und führen sie eben auf eine Zeitlang an einen sicheren Ort. Sollte man, wie ich besorge, auch Euern Rapphengst mitgenommen haben, so bleibt Euch mein Schimmel, Euer wohlerworbenes Eigenthum. Diesen nehmet und jaget auf ihm den tausend Reitern nach, die Euer Herr Vater des Weges gen Brüssel geschickt hat! Denn Ihr werdet begreifen, daß Ihr in Gent nicht mehr an Eurem Platze seid, nachdem Ihr diesem hohen Ritter“ – er deutete auf Maximilian – „nicht nur versprochen, seinen Namen zu verschweigen, sondern auch Urfehde gelobt habt.“

„Gut,“ sprach finster der Prinz.

„He, meine Stute für den Prinzen von Cleve!“ rief Hugo der Lichtung zu.

Sofort tauchten zu beiden Seiten des Fußpfades graue Gestalten hervor und verschwanden hinter der Krümmung des Weges.

„Sie steht bereit, Prinz,“ meldete Hugo. „Hat Euer Gnaden sonst noch etwas zu befehlen?“

„Ihr glaubet meiner spotten zu können,“ grollte mit einem drohenden Blick seines sonst so treuherzigen Auges der Prinz, „aber hütet Euch! Ihr irret und sollt bald anders von mir denken – ich kenne Euch jetzt.“

„Längst hättet Ihr mich kennen sollen, Prinz,“ erwiderte Hugo, seine Worte nachdrücklich betonend, „denn Ihr wußtet, daß ich der Diener unseres Fräuleins von Burgund und nicht der Eures Herrn Vaters, noch der Eurige bin. Aber dennoch sage ich Euch: Ihr kennet mich nicht, Prinz.“

„Und Euch sage ich: Ihr werdet mich kennen lernen, Ritter,“ versetzte dieser, kehrte ihm den Rücken und richtete mit finsterer Miene das Wort an Maximilian und Maria:

„Euer Gnaden wünsche ich ehrlich Glück und Segen – und Euch dazu, gnädiges Fräulein, so arge Kriegslist Ihr auch gegen mich üben ließet. Daß ich Euer nicht würdig bin, dessen war ich mir bei Gott bewußt. Mein Herr Vater ist ein kluger Mann, aber seinen Sohn kannte er schlecht, als er ihn zu Euch erheben wollte. Ich gehe. Habt Ihr auch gegen mich das Spiel gewonnen, so doch nicht in Gent gegen die Staaten und meinen Herrn Vater. Mögen die Würfel rollen! Ihr werdet noch von mir hören.“

Nach dieser Rede stürzte er ohne Gruß über den Hofraum davon dem Fußpfade zu, auf den scheinbar absichtslos Adelheid hinausgetreten war.

Nicht ohne Theilnahme blickte ihm Maria nach.

„Der Aermste!“ sagte sie zu Maximilian. „Er ist tief gekränkt und hält mich für schuldig an seinem Unglück. ... Sei es drum! Einmal mußte es ja doch mit ihm zum Bruche kommen.“

„Das Unglück,“ tröstete die Aebtissin, „wird ihm eine Wohlthat sein, wie so Vielen. Es wird ihn erziehen. Sein Gemüth ist gut.“

„Aber seine letzten Worte klangen wie Drohung,“ fiel der alte Ritter ein, indem er Maximilian warnend anblickte.

„Soll ich ihm nach, Herr?“ rief der Junker, die Hand am Schwerte.

„Nein, nein!“ gebot kurz abweisend Maximilian. „Ich kann es und mag es nicht glauben. Lasset ihn, und berathen wir, was zu thun!“

Dann Maria und Herberstein auf die Seite nehmend, pflog er mit ihnen Rathes.

Der Prinz aber war schon bei Adelheid vorüber gestürzt gewesen, als er, sei es daß er einen leisen Ruf vernommen zu haben glaubte, sei es daß er es nicht über’s Herz bringen konnte, ohne Gruß von ihr zu gehen, sich noch einmal zu ihr umwandte.

„Lebt wohl, Fräulein!“ sagte er traurig, ihr die Hand bietend.

Mitleidsvoll blickte ihm Adelheid in’s Auge.

„Nun ist ja Euer Wunsch erfüllt, Prinz,“ sagte sie theilnehmend, „und Ihr seid des Sturmes überhoben, der Euch so zuwider war.“

„Ja, Gottlob!“ stieß er mit Galgenhumor heraus. „Die 'Weiberschanzen' habe ich kennen gelernt. – Aber noch ist nicht Alles zu Ende; noch habe ich nicht ausgespielt.“ Und dann, mit einer fast rührenden Naivetät, brach er ab: „Nur Eines wird mir schwer, Fräulein – von Euch zu scheiden, denn Ihr allein von Allen habt – mich niemals zum Besten gehalten.“

Noch ein kräftiger Händedruck, daß Adelheid zwischen den Tatzen fast aufgeschrieen hätte, und er riß sich gewaltsam von ihr los.

[703] „Ihr allein habt mich niemals zum Besten gehalten,“ murmelte sie vor sich hin. Ihr Auge trübte sich; aber dennoch konnte man hindurchsehen und auf dem Grunde ihrer Seele etwas für die Naturgeschichte höchst Merkwürdiges wahrnehmen – die Libelle fühlte Gewissensbisse.

Leider wurde sie in dieser sehr nützlichen Selbsterkenntniß unterbrochen. Ritter Huy hatte sich ihr genähert, und er kam ihr gerade gelegen, um einen Theil dessen, was sie drückte, auf ihn abzuladen.

„Der arme Prinz!“ seufzte sie, ihn vorwurfsvoll anblickend. „Ihr habt ihm übel mitgespielt.“

„Und Ihr habt dabei 'mitgespielt',“ gab er lächelnd zurück.

„Gott sei's geklagt! Ihr waret der Versucher.“

„Als Euch um Euren Kopf bangte. ... Ein günstiger Augenblick!“

„Jetzt bangt mir um meine Seele.“

„Schrecklich! So bin ich Euch wirklich der – Böse?“

„Aus Geldern,“ ergänzte sie schlau lächelnd.

Hugo stutzte.

„Woher glaubt Ihr?“

Mit geheimnißvoller Miene neigte sich Adelheid zu seinem Ohre.

„Ihr sprachet mit dem Hauptmann leise, aber ich verstand dennoch jedes Wort, denn ... ich kenne die Geldernsche Mundart.“

„Und das ist Alles?“ lachte, als ob er sich erleichtert fühle, der Cavalier.

Aber die Hofgewandte kannte nur zu gut solche Finten, und sich selbst nach alter Hofregel den Anschein gebend, als wisse sie noch viel mehr, als sie wußte, drohte sie:

„O, wenn es Euch unverfänglich dünkt, so will ich sogleich der Herzogin melden, was ihr sicher von Werth –“

Sie brach ab und machte Miene zu gehen. Hugo erschrak. Schnell vertrat er ihr den Weg.

„Pst! Halt! Ihr werdet mich nicht verrathen wollen.“

„Was hindert mich?“

„Ich wäre verloren, und Ihr mit mir.“

„Bah, die alten Schreckmittel!“

„Was muß ich thun, daß Ihr schweigt? Nur bis diesen Abend? Adelheid!“

Wieder erbebte ihr Herz bei dem Namen; wieder trat das wunderbare Leuchten in ihr Auge. Jetzt oder nie,“ sagte sie sich, und ihm mit tiefem Blicke in's Auge sehend, sprach sie, jedes Wort betonend:

„Ihr müßt überzeugt sein, Ritter, daß ich bin, wofür Ihr mich haltet.“

„Ich will's,“ rief Hugo in der ersten Aufwallung des Entzückens, aber selbst jetzt noch hatte er genug Gewalt über sich, um leicht hinzuzufügen: „... versuchen.“

„Er ist Dein,“ jubelte ihr Herz dem Davoneilenden nach, denn der Page war gekommen, ihn zu rufen; Maximilian hatte ihn zu sich entbieten lassen.

„Nachdem ich jetzt die Lage übersehe,“ begann Maximilian, als er auch Huy seinem Kriegsrath zugesellt sah, „so finde ich keinen Grund, noch zu schwanken. Die Aussichten Cleve's auf seinen Sohn sind glücklich vereitelt. Wir reiten nach Gent.“

„Um Gott, Maximilian!“ fiel ihm Maria bestürzt in's Wort. „Bedenke, die Thore sind von den Cleveschen besetzt. Und kämen wir auch hindurch, wie wolltest Du Dich der Tausende des Pöbels erwehren, die dem Herzoge anhängen? Stelle Dir vor, auf den Straßen Gents woget es so dicht vom Gedränge des Volkes, daß die Mütter am Feierabend ihre Kinder heraufrufen, damit sie nicht erdrückt werden. Und gar heute, wo Alles zum Feste geladen ist! Nein, nein, Du kennst Cleve nicht; er wird das Mißgeschick seines Sohnes an Dir rächen; Dein Leben wäre in Gefahr.“

„Wolle doch nicht von mir sprechen, Maria!“ entgegnete Maximilian fast unwillig. „Dir Deinen Thron wieder zu erobern, bin ich gekommen. Und so Jemand zu diesem Ziele einen besseren Weg weiß, möge er reden.“

„Könnten wir uns, wenn Gent also feindlich ist, nicht lieber nach Lüttich werfen?“ meinte Herberstein. „Dort, nahe der deutschen Grenze, sammeln wir leicht ein Heer aus dem Reich, und Kaisers Majestät wird es an Beistand nicht fehlen lassen.“

„Oh bella!“ murmelte abseits halblaut der Junker. „Verkehrt, den Schwanz statt des Zaumes in der Hand.“

„Wir hätten die Fürstin mit uns, hätten die Krone,“ ergänzte der Alte mit zornigem Seitenblick.

„Nein, Alter,“ fiel Maximilian ein, „Deine Sorge um mich trübet Dir den Blick. Nicht zu gedenken, daß der Bischof von Lüttich zu Frankreich hält – sollte ich mit der Herrin dieser Lande vor dem Clever fliehen? Wirst Du den Adler kriechen lehren? Nein, Ehrenhold, wer aus einem Geschlecht entsprossen, das seine Ahnen bis Noah hinaufleitet, den gelüstet es wohl, des Weges zurückzublicken, aber er gehet ihn nicht.“

„Und Ihr thut wohl daran, Herr,“ fiel Hugo ein. „Das eine Wort: 'die Herzogin geflüchtet' gälte in Gent gleich ihrer Abdankung. Burgund ginge an Frankreich; die Vierstaaten gingen an Aufrührer verloren. Nein, Herr, in Gent ist der Thron, und Gents Thore stehen Euch offen.“

„Offen?“ rief Maria.

„Vergaßet Ihr, gnädiges Fräulein, daß auf Euren Befehl die Rüststücke und Abzeichen der entwaffneten Cleve'schen an die gleiche Zahl der Geldern'schen abgegeben wurden?“

Mit großen Augen sahen Alle von Hugo auf Maria und von Maria wieder auf Hugo, der ihr das einfachste aller Zaubermittel mit einer Natürlichkeit zugeschoben hatte, die kaum an der Wahrheit zweifeln ließ.

„Laß Dich umarmen, Maria!“ rief entzückt Maximilian. „O wie Du Dich verstellen konntest! Ich wußte es ja: Alles, Alles kommt von Dir. Der geheime Schutzgeist bist Du selber.“

„Nicht doch, nicht doch!“ wehrte Maria. Und wie selbst über etwas Unmögliches noch nachsinnend, fuhr sie mit der Hand über die Stirn:

„Auf meinen Befehl, sagt Ihr, Ritter?“

„So meldete mir der Hauptmann,“ versicherte Hugo.

„Dann kommt's vom 'Hugh',“ flüsterte sie der Aebtissin zu, und entsetzt schlug die fromme Frau ein Kreuz.

Maximilian aber deutete auf die sich röthenden Wolken im Westen.

„Komme es von wem es wolle,“ rief er, „sehet da den letzten Sonnenstrahl! Jede Minute ist kostbar. Lasset uns eilen! Mein Herz ist voll Siegeszuversicht.“

Und schon rüsteten sich Alle zum Aufbruch und selbst Maria's banges Herz fühlte sich durch den frischen Zuspruch zu froher Hoffnung gehoben – da, als solle des Wechsels an diesem Tage kein Ende sein, kam ein zweiter Hauptmann eilig daher gestürzt.

„Habt Acht, Ihr Herren, habt Acht!“ rief er schon vom Fußpfade aus. „Die Cleve'schen Reiter auf der Straße gen Brüssel sind plötzlich umgekehrt. Schon sind sie nahe der Abtei. Der Rothbärtige ist an ihrer Spitze, und Allen vorauf reitet der Prinz im vollen Jagen auf Gent.“

„Verrath!“ schrie Herberstein.

„Verrath!“ wiederholten Alle.

„Also doch!“ rief Max, krampfhaft die Faust ballend, mit der Bitterkeit schmählich getäuschten Vertrauens. „Ich hätte mein Leben für ihn verwettet. Aber sei es drum! Wohlan denn, zu Pferde, und braucht Eure Sporen! Es gilt den Wettritt um die Krone! Und sagt das Sprüchwort wahr: 'Gott verläßt keinen Deutschen', so verläßt er auch keinen deutschen Kaiserssohn.“

Nicht zwei Minuten, und die Pferde waren auf den Verbindungsweg geführt. Von den Segenswünschen der Aebtissin begleitet, saß der Trupp auf und sprengte bald in rasendem Galopp die Heerstraße nach Gent zu. Dämmerung war angebrochen; schon konnte das Auge nichts mehr erkennen, aber dicht hinter ihnen scholl es wie von Hufschlägen der Cleve'schen Reiter.




5. Der „Hugh“.

Im Hofraume des Fürstenhofes zu Gent lag auf der dem Portale gegenüberliegenden Seite ein Erdsaal, die im alten Stile erhaltene Trinkhalle der früheren Grafen von Flandern. Eine doppelte Galerie gedrungener romanischer Pfeiler zwischen Rundbogengewölben, welche laubenartig rings den weiten Hof einfaßten, vertiefte sich hier zu einer länglichen Halle, die, auf drei Seiten geschlossen, das Licht durch den offenen Säulengang erhielt. Ihre Decke bestand aus einem Kreuzbogengewölbe, das nach der Hofseite zu auf den thierkopfverzierten Würfelcapitälen [704] der Pfeiler mit viereckiger Deckplatte ruhte, um sich von dort in kürzeren Bogen zur äußeren Pfeilerreihe des Laubenganges fortzusetzen. Auf den inneren Seiten aber wurde es von gleichen, halb aus der Wand hervorragenden Pfeilern getragen und bildete Rundbogennischen, in welchen sich alle Arten von Jagdtrophäen, wie Bären- und Wolfsfelle, riesige Hirschgeweihe und Büffelhörner wirksam von dem lichtgrauen Grunde abhoben. Von den Knotenpunkten des Kreuzgewölbes hingen künstlich verschlungene Damwildschaufeln nieder, welche auf gekreuzten Eberhauern ampelförmige Lämpchen trugen, und die Ecken der Wände waren mit künstlich geschnitzten Holzgestellen ausgefüllt, aus denen Speere und Jagdgeräthe der verschiedensten Gattung emporstiegen. Rechts und links aber an den schmaleren Seiten des Saales hatte man die Mittelnischen, die eine zu einem staffelförmigen Schenktische mit Krügen und Trinkgefäßen aller Zeiten, die andere durch einen pyramidenförmigen Vorbau von grauem Marmor mit Thierkopfverzierung zu einem riesigen Kamine umgewandelt, der im Laufe der Jahrhunderte schon mancher heimkehrenden Jagdgesellschaft die Füße gewärmt haben mochte.

Zunächst diesem Kamine endlich, und zwar vom Hofe aus jenseits desselben, war eine Thür, die einzige Verbindung des Erdsaals mit den übrigen Räumen des Schlosses, durch welche einstmals die Grafen von Flandern eingetreten waren, wenn sie mit ihrem Jagdgefolge einen frischen Trunk theilen und die Erlebnisse des Tages im fröhlichen Kreise austauschen wollten.

Heute aber erschien unter ihrem Rundbogen um jene späte Nachmittagsstunde, in welcher der Hof schon in Schatten lag, während durch das Portal gegenüber noch sonnige Streifen den Schloßplatz beleuchteten, mit musterndem Blicke aus den wasserblauen Augen der Herzog von Cleve.

Er nickte zufrieden vor sich hin, als er die Halle vollständig ausgeräumt und nur vor dem Schenktische drei Reihen Sessel und rechts und links von dem Kamine zwei Tische mit je vier dem Saale zugewandten, ledergepolsterten Lehnstühlen sah.

„Ist sonst Alles vorgekehrt, Verno?“ fragte er eintretend einen ihm folgenden Rittersmann in mittleren Jahren, der anscheinend sein dienstthuender Begleiter war.

„Alles, gnädiger Herr,“ erwiderte Ritter Verno. „Der Vicepräsident der Staaten, der Bürgermeister und die übrigen Abgeordneten wollen pünktlich um sechs Uhr erscheinen, die Notare desgleichen. Kaum noch eine Viertelstunde ist bis dahin.“

„Gut. Und die Vorrichtungen zum Schmause?“

„Sehet dort, gnädiger Herr!“ Und Verno zeigte auf den Schloßhof, der mit roh gezimmerten Tafeln und Bänken übersäet war. „Auf dem Schloßplatze und auf allen Plätzen der Stadt haben die Zimmerleute Gleiches verrichtet, und Metzger- und Bäckerzünfte beginnen schon alle Vorräthe Gents zusammenzuschleppen.“

„Und Meth und Wein?“

„Die Fuhrwerke der ganzen Stadt sind in Bewegung, um die Fässer aus Schloß- und Stadtkellern und allen verkäuflichen Vorrath an gemeinem Trunke auf die Plätze zu fahren. Es wird kosten, Herr.“

„Bah, die Krone von Burgund und Niederland wird es bezahlen.“

„Die Krone ist in Gefahr, Herr!“ fiel plötzlich eine Stimme hinter ihm ein. Es war der Kanzler Ravestein, der unbemerkt eingetreten war. „Schlechte Nachrichten, Herzog!“ fuhr er fort, als Verno unter den Säulengang getreten war, um jede Störung fern zu halten. „Ein reitender Bote bringt eben Depeschen. Der junge Präsident hat sich noch vor Ablauf des Waffenstillstandes aus Verzweiflung über die Lage, in die er Heer und Land gebracht, das Leben genommen.“

„Ist es nur das?“ athmete Cleve auf. „Ich glaubte wahrlich, Maximilian sei da. ... Der Präsident! ... So, so ... der Präsident! Haha, das kommt davon, wenn der Bürger zu allem Anderen auch noch Feldherr spielen will! Schuster, bleib' bei Deinem Leisten!“

„Der Bote will aber auch im Heimreiten den Himmel hinter sich voll Rauch gesehen haben, als ob die Franzosen schon wieder angefangen hätten zu sengen und zu brennen. Und da die Gesandtschaft seit zwei Stunden bei ihrer Vorhut angelangt sein kann, so ist es nur zu wahrscheinlich, daß sie uns noch diese Nacht Mord und Brand vor die Thore tragen.“

„Laßt sie sengen und brennen! Gent ist bereit, sie zu empfangen, und das Staatenheer bedroht ihnen immer noch Rücken und Flanke.“

„Die Ansicht scheint der Präsident nicht getheilt zu haben, Herzog.“

„Lasset das meine Sache sein, Ravestein, und sorget nur, daß man von alledem in den nächsten Stunden noch nichts erfährt! Die französische Partei könnte Oberwasser bekommen, und ich darf mir um Alles in der Welt nicht Verlöbniß und Regentschaftserklärung stören lassen. Ihr habt Euch doch des Boten versichert?“

„Ich ließ ihn sogleich in strengen Gewahrsam nehmen.“

„Sehr umsichtig, sehr löblich.“

„Und was gedenkt Ihr ferner zu thun?“

„Ihr fraget? Ei, Ravestein, lasset mich die Gewalt haben, und ich rühre noch heute Abend die Trommeln, rufe das Volk zur Vertheidigung der Stadt unter die Waffen und schicke meinen Sohn mit Gepränge zum Heere, um die von allen Seiten aufgebotenen Verstärkungen an sich zu ziehen. – Was aber in der Nacht geschieht ... das ... gebe ich meinem klugen Freunde, dem neubestätigten Kanzler und baldigen 'Ritter des goldenen Vlieses'“ – er betonte lächelnd diese höchste Ehre – „zu rathen auf.“

„Wie sollte ich ahnen? Ihr wollet doch nicht etwa ...?“ fragte, sich dankbar neigend, mit kaum verhehlter Freude der Kanzler.

„Ahnet nur! Ja, ich will. ...“ nickte lachend der Herzog. „Noch heute Nacht schicke ich Euch selbst in das französische Lager, um Ludwig den Frieden anzubieten.“

„Mich selbst?“ rief in schon weit bedenklicherem Tone Ravestein.

„Ich kenne keinen besseren Vermittler,“ lachte sarkastisch der Herzog. „Zu solchen heiklen Sendungen nimmt man nur eine 'persona grata'. O, ich kenne Euch besser, Ravestein, als Ihr vielleicht meinet, aber sorget nicht! Ich theile Eure Politik. Zwischen zwei Nachbarn, von denen der eine schwerfällig und ungefährlich, der andere raublustig und arglistig ist, giebt es für mich keine Wahl. Man muß dem Gefährlichen den Mund stopfen und ihn sich zum guten Freunde machen.“

„O Herzog, Ihr aber habt ihm einen schimpflichen Backenstreich gegeben.“

„Geben lassen, Ravestein. Und das büße, wer's gethan – das Volk! Wir haben ihn gegen dasselbe geschützt. Ludwig mag zürnen, mag mir grollen, daß ich ihm mit meinem Sohne den fetten Bissen weggeschnappt, allein wenn er bedenkt, daß sich sein Heer in der keineswegs beneidenswerthen Lage zwischen einer uneinnehmbaren Stadt mit fünfzigtausend bewaffneten Bürgern und dem verstärkten Staatenheere befindet, so wird er nicht spröde sein, sich mit einem guten Handel abfinden zu lassen. Hochburgund, Artois, Picardie sind ein annehmbarer Brocken, und was liegt mir an einem Fetzen Land mehr?“

„Um Gotteswillen, gnädigster Herr, sehet Euch vor!“ rief erschrocken der Kanzler. „Fremde Federn sind leicht verschenkt, aber das flandrische Volk verträgt nicht Alles. Wie sollte ich solche Sendung überleben? Denket an Hugonet und Imbercourt!“

„Bah, sie waren keine Kriegsleute, waren ohne Truppen, ohne Macht. Lasset mich nur erst Regent sein!“

„Aber auch das seid Ihr noch nicht, Herzog, und glaubet mir, Ihr werdet es nie, so man nur ahnet, was Ihr denkt! Der gebildete Bürgerstand ist Euch schon jetzt minder hold, als der niedere. Wisset Ihr, daß schon Schmähschriften gegen Euch im Umlauf sind?“

„Gedruckte?“ fuhr Cleve auf, als ob ihn eine Tarantel gestochen hätte.

„Gedruckte, Herr!“

„Ha, französisches Gold!“ rief der Herzog, erbittert mit dem Fuße stampfend.

„Ich bin einer anderen Fährte auf der Spur – dem 'Hugh'.“

(Fortsetzung folgt.)



[705]

Hinaus gestoßen und – geborgen.
Originalzeichnung von J. Munsch in München.

[706]

Ein Hühnerbrutofen in Gizeh bei Kairo.
Von Adolf Ebeling.


Für denjenigen, der sich längere Zeit in Aegypten aufhält, fleißig und aufmerksam beobachtet und sich auch mit den früheren Schriften über das merkwürdige Land bekannt gemacht hat, ist es sehr interessant, einen Vergleich zwischen Jetzt und Einst anzustellen, und zwar hauptsächlich aus dem Grunde, weil in so vieler Hinsicht die heutige Gegenwart noch völlig und ganz der fernen Vergangenheit gleicht, und doch liegen zwischen den Sitten und Gebräuchen, Einrichtungen und Moden der Aegypter von Sonst und Heute oft mehrere Jahrtausende.

Man braucht nur im Herodot, dem „Vater der Geschichtsschreiber“, der sich bekanntlich in Aegypten einige Jahre (um 462 bis 460 vor Christi Geburt) aufhielt, nachzulesen, um dies fast auf jeder Seite und manchmal in geradezu staunenswerther Weise bestätigt zu finden. Auf diesen griechischen Historiker folgt der römische Diodor (von Sicilien), ein Zeitgenosse des Cäsar und des Augustus, der gleichfalls in Aegypten war und eingehende Schilderungen des Landes und seiner Bewohner hinterlassen hat. Und speciell Diodor ist es, der in seinem Geschichtswerke über Aegypten die dortigen Hühnerbrutöfen beschreibt, die sich bis auf den heutigen Tag genau so erhalten haben, wie er sie damals, also vor bald zweitausend Jahren gesehen. Auch der römische Kaiser Hadrian, der ungefähr hundert Jahre später Aegypten bereiste, wo er seinen Liebling Antinous verlor, schildert diese Brutöfen sehr umständlich und zwar als eine der originellsten Einrichtungen des Landes.

Für uns war dies begreiflicher Weise ein hinreichender Grund, uns näher danach zu erkundigen, und wir erfuhren auch bald, daß diese Anstalten noch überall in Aegypten existiren, die meisten allerdings in Mittel- und Ober-Aegypten, aber doch auch ganz in der Nähe von Kairo und zwar in dem Dorfe Gizeh, das schon seiner Pyramiden wegen so berühmt ist. Alsbald wurde eine Tour dahin beschlossen, die nöthigen Reitesel bestellt und auch ein ortskundiger Führer engagirt. Dieser versicherte uns, daß wir gerade zur günstigsten Zeit kämen (zu Anfang des Juni), wo die erste Brut ausschlüpft, die auch die beträchtlichste ist; die zweite, zu Anfang des Septembers, ist gewöhnlich weniger bedeutend.

So trabten wir denn eines Nachmittags auf unseren flinken Eseln wohlgemuth durch die Muskih und durch die schönen Alleen von Ismaïlia, jenem neuen, ganz im europäischen Geschmacke angelegten Stadttheile, der dem Khedive so viel Geld gekostet hat und so wenig einbringt, bis hin zur Nilbrücke und über dieselbe hinüber, denn das Dorf Gizeh liegt jenseits des Flusses.

Kaum waren wir am anderen Ufer angelangt (die ungeheure Brücke ist gegen tausend Fuß lang), so tauchten auch schon vor uns in der Ferne die Pyramiden auf, scharfgezeichnete Riesendreiecke, jetzt lichtweiß in der glühenden Nachmittagssonne erglänzend; Abends beim Sonnenuntergang färben sie sich alsdann purpurroth und später dunkelblau, bis sie der Vollmond wieder mit Silberglanz übergießt – ein von uns schon so oft wahrgenommener und bewunderter Anblick, den man aber immer wieder von Neuem beschreiben möchte. Diesmal schlugen wir aber den Weg zur Linken ein, also nilaufwärts am linken Ufer des Flusses. Die Landschaft ist hier einförmig und mit Ausnahme einiger Palmengruppen fast kahl, um so schöner ist dafür aber der Blick auf das jenseitige Ufer, wo sich die ganze Khalifenstadt unermeßlich ausdehnt. Von ihr selbst sieht man freilich nur im Hintergrunde die höheren Gebäude und unzähligen Minarets; den Vordergrund bildet Ismaïlia mit seinen blühenden Gärten und dicht am Ufer zieht sich eine Reihe von Palästen entlang, deren schönster, fast eine kleine Stadt für sich, von der Mutter des Vicekönigs bewohnt wird. Alles überragt alsdann auf der Höhe der Mokkatamfelsen die Citadelle mit der prächtigen Moschee Mohammed Ali’s, deren zwei schlanke Minarets wie hohe Schiffsmasten gen Himmel ragen, so zugespitzt dünn und fein, daß man meint, ein starker Wind müsse sie umwerfen. Weiter hinauf erscheint dann die Insel Rhoda, die den Fluß in zwei Arme theilt, die Insel selbst ein einziger Blumengarten, voll der seltensten Bäume und Gewächse und von Ibrahim Pascha, dem Vater des jetzigen Khedive, angelegt, aber leider, wie alle Schöpfungen der früheren Vicekönige, vernachlässigt, und das dortige Marmorpalais halb zerfallen. Auf der Insel Rhoda befindet sich der uralte Nilmesser, und gläubige Herzen finden dort auch den Baum, unter welchem das Moseskind ausgesetzt wurde.

Rechts von uns wird es nun auf einmal lebendig: hunderte, ja tausende von Arbeitern – Männer, Frauen und Kinder, meist dunkelbraune Araber, echte Fellachen und äußerst dürftig gekleidet, viele nur von schmutzigen Lumpen umhüllt – tragen in großen und kleinen Körben Erde vom unteren Ufer über den Damm hinüber weiter nach oben, wo künstliche Hügel angelegt werden; es sind dies die sogenannten Arbeiten von Gizeh, wo der Khedive schon aus früherer Zeit ein Schloß mit Haremsgebäuden, Park und Gärten besitzt, seit einigen Jahren aber Alles auf das Großartigste erweitern und verschönern läßt. Viele hundert Morgen Landes sind neu hinzugezogen worden; das ganze unermeßliche Terrain ist bereits von einer hohen Mauer umgeben, die allein, wie man uns versicherte, über eine Million Franken gekostet hat, was wir gern glauben, denn sie ist nach allen Richtungen buchstäblich unabsehbar. Von Zeit zu Zeit ist die Mauer durchbrochen, und hohe vergoldete Eisengitter gestatten einen Blick in das Innere. Auch dort wimmelte es von Arbeitern, denn daselbst werden zwei neue Paläste aufgeführt, größer und prächtiger als alle, welche der Khedive bis jetzt hat bauen lassen, und Gott weiß, wie viele er deren schon besitzt. Ein riesenhaftes Gebäude für die Dampfmaschinen der Wasserkünste war bereits vollendet. Ueberall standen Aufseher, an ihrem weißen Turban und dunkelblauen Kaftan kenntlich und mit dem langen Palmenstock in der Rechten, um die Lässigen anzutreiben. So mag es bei den Pyramidenbauten unter den Pharaonen ausgesehen haben. Bei der trostlosen Finanzlage des Landes, wo der Khedive schon beinahe mit all seinem Hab und Gut seinen Gläubigern verfallen ist, machen diese gigantischen Arbeiten, die, ohne den geringsten Nutzen für das Volk, nur der Laune und dem Luxus eines Einzigen dienen, weit eher einen betrübenden als einen erfreulichen Eindruck, und wir erwähnen derselben auch nur einestheils zur Charakteristik der ägyptischen Verhältnisse, die eben orientalischer Natur sind, und anderntheils, weil uns der Contrast dieser Prachtbauten mit dem armseligen Dorfe Gizeh, das dicht daran stößt und in das wir jetzt hineinritten, so überaus schmerzlich berührte.

Die bettelnde Jugend des Dorfes, die uns mit lautem, nicht enden wollendem Geschrei nach „Bakschisch! Bakschisch!“ förmlich überfiel, verscheuchte indeß sofort jene trüben Gedanken, und als Einer aus unserer Gesellschaft gar die Unvorsichtigkeit beging und einigen halbnackten braunen Bürschchen ein paar kleine Piaster zuwarf, da galt es, sich ernsthaft der wilden Rotte zu erwehren, was wir nur mit Hülfe unserer Eseltreiber erreichten, die rechts und links unbarmherzig dreinschlugen und uns Bahn brachen. Wir bogen übrigens nach wenigen Minuten in ein Seitengäßchen ein, an dessen Eingange sich unsere Treiber postirten und dadurch den nachdrängenden Schwarm abwehrten, sodaß wir uns jetzt nur noch gegen die aus den nächsten Häusern herbeilaufenden Kinder zu vertheidigen hatten. „Bakschisch! Bakschisch!“ so klingt es eben in allen Tonarten durch ganz Aegypten. Das unschöne Wort empfängt den europäischen Touristen, so wie er den Fuß in Alexandria auf afrikanischen Boden setzt, und begleitet ihn von Stadt zu Stadt, von Dorf zu Dorf bis zu den entlegensten Nilkatarakten; denn das eigentliche Volk ist arm, blutarm, wofür der im vorigen Jahre bald nach dem großen Krach abgesetzte und dann „bei Seite geschaffte“ Finanzminister auf das Gründlichste, aber auch auf das Abscheulichste gesorgt hat.

Unser Führer, der den Besitzer des Brutofens kannte, war voraus gegangen, um uns anzumelden, und kam jetzt zurück mit der Nachricht, daß wir sehr willkommen seien, daß aber „der Scheich“ uns bäte, einige Minuten zu warten wegen der Weiber, die sich gerade im Hofe befänden und die sich vor den Fremden nicht sehen lassen wollten. Die Jüngeren in unserer Gesellschaft machten, wenn auch nur im Scherze, Miene, den Einlaß zu [707] erzwingen – da legte ich mich in’s Mittel, und machte sie auf die seltsam bemalte Façade des Hauses aufmerksam. Die weiß gekalkten Wände rechts und links von der Thür bis hinauf zu den Holzgittern der Fenster waren in den schreiendsten Farben bemalt, und mit was für einer Malerei! Dort ein blauer Elephant mit rothem Rüssel, hier eine gelbe Giraffe mit grünen Flecken, dazwischen Strauße und andere seltsame, niegesehene Vögel, und sogar eine Locomotive mit einigen Waggons. Das Hauptbild in der Mitte stellte einen Palmbaum vor, an welchem zwei angekettete Löwen lagen, Palme wie Löwen die albernste Carricatur von Baum und Thier. Und dazu eine Menge blauer, rother, grüner und gelber Arabesken und Verzierungen – kurzum, die tollste Kleckserei, die man sich denken konnte. „Um Gotteswillen, was hat das zu bedeuten?“ fragten einige Neulinge unter uns, die es zum ersten Male sahen. Mir war es längst bekannt. Alle Mekkapilger pflegen nämlich, wenn sie von der Wallfahrt heimgekommen sind, ihr Haus derartig bemalen zu lassen oder selbst zu bemalen, wenn sie anders Talent dazu haben, was eben kein großes zu sein braucht. Die verschiedenen Thiere stellen die verschiedenen Länder vor, durch welche die Reise ging, und die angeketteten Löwen, die niemals fehlen, die Gefahren, denen der Pilger glücklich entronnen ist. Da jeder gute Moslim wenigstens einmal in seinem Leben nach der heiligen Kaaba gewallfahrtet sein muß, so giebt es derartig bemalte Häuser in ganz Aegypten in Menge, namentlich in den größeren Städten, und man findet z. B. in Kairo einzelne arabische Viertel, wo wohl kaum ein Haus unbemalt ist.

Jetzt ging aber die Hofthür auf, und mehrere dichtverschleierte Frauen traten heraus, auf dem Kopfe große geflochtene Körbe tragend, die bis an den Rand voll von jungen Küchlein waren. Im Hofe selbst befanden sich noch drei andere Frauen, die also weniger empfindlich zu sein schienen; sie hatten sogar ihre Schleier zurückgeschlagen und schauten uns dreist an, aber auch für uns Männer bedeutete das keine Gefahr, denn sie waren nichts weniger als jung und schön. Ihre Gesichter, Hände und Arme waren nach Landessitte mit blaupunktirten Zeichnungen geschmückt (nach ihren Begriffen war es wenigstens ein Schmuck), und um den Hals trugen sie in doppelten und dreifachen Reihen große buntfarbige Glasperlen. Sie hockten am Boden, und jede von ihnen hatte einen Korb vor sich stehen, den mehrere ab- und zugehende Araber mit lebendigen Küchlein füllten. Ein lichtgelbes, lebendiges Gewimmel unter-, über- und durcheinander, daß man glauben sollte, die zarten und, wie wir später hörten, erst vorgestern ausgekrochenen Thierchen müßten sich gegenseitig erdrücken. Es ging aber alles gut, obwohl ein solcher Korb, der übrigens mehrere Abtheilungen hat, gegen vierhundert Küchlein fassen kann. Gezählt wurden sie nicht, den dazu würde man bei den vielen Tausenden, ja Hunderttausenden, keine Zeit haben. Die Körbe, die alle von gleicher Größe sind, werden einfach bis an den Rand gefüllt, bis kein Thierchen mehr hineingeht. Der Besitzer trat auf uns zu (es war zugleich der Dorfschulze, der scheich el beled) und begrüßte uns mit feierlichem Salahm und der stereotypen Phrase: „Alles, was ihr hier seht, gehört euch; ich bin euer Knecht, und eure Nähe bringt Rosenduft.“ Er dachte natürlich nichts dabei oder vielleicht gar das Gegentheil, aber so will es einmal die Sitte des Orients. Dann bat er uns, ihm zu folgen. Er führte uns quer über den Hof vor ein anderes langes, aber niedriges Gebäude, das nur eine Thür hatte, oder richtiger eine thürähnliche Oeffnung, die noch dazu so schmal und niedrig war, daß wir einen gelinden Schrecken bekamen, denn das war der Eingang zu dem eigentlichen Brutofen. Die schlanken und behenden Araber freilich schlüpften bequem aus und ein und holten immer neue Körbe voll Küchlein heraus. Der Scheich kroch mit einer einladenden Handbewegung voran und wir, so gut es gehen wollte, hinterher, die Corpulenteren unter uns – und leider gehörte auch ich dazu – nicht ohne Ach und Weh, aber endlich war die schwierige Operation vollendet und wir standen wieder aufrecht im Innern des Raumes. Eine heiße Luft empfing uns und ein Geruch, der von dem Rosenduft himmelweit entfernt war, den wir doch mitgebracht haben sollten. Ueberdies war der ganze Raum nur durch Lichtlöcher von oben matt erhellt, so daß sich das Auge erst einige Minuten an das Halbdunkel gewöhnen mußte, um die Gegenstände genau zu erkennen. Die ganze Anlage und Einrichtung war übrigens so einfach und primitiv wie möglich und entsprach völlig der Schilderung Diodor’s, dessen wir oben erwähnten.

Man denke sich verschiedene offene Kammern, etwa vier Fuß vom Boden und auch nicht viel höher, ungefähr zehn bis zwölf Fuß im Quadrat und durch kleine Mauern von einander getrennt. Solcher Kammern zählten wir acht an jeder Seite; dazwischen befindet sich der ganzen Länge nach ein etwa vier Fuß breiter Durchgang. Der Boden dieser Kammern ist mit feingeschnittenem Zuckerrohr- und Durrahstroh, dem man etwas Sand beigemischt hat, kaum fingerdick belegt, und darauf liegen die Eier zu Tausenden. Die Massenhühnerzucht ist eine Eigenthümlichkeit der ägyptischen Dörfer und ermöglicht es den Bauern, den Brutöfenbesitzern die Eier in ungeheuren Mengen zuzutragen. Die Einlieferung der Eier nimmt etwa zwei bis drei Wochen in Anspruch, und während dieser Zeit sind mitunter Hunderte von Weibern im Dorfe und bringen jede vier- bis fünfhundert Eier. Die eben beschriebenen Kammern haben in der Mitte ein rundes Loch, das mit einem ähnlichen Loche in der Decke, die das Dach bildet, correspondirt, um den Rauch und die übergroße Hitze heraus zu lassen, denn in dem Raume unter ihnen befindet sich das Feuer, und zwar wiederum der primitivste Heizapparat der Welt. Das Brennmaterial besteht bekanntlich in dem holzarmen Aegypten aus Kameel- oder Eselmist, den man mit Häcksel durchknetet (eine Bäckerei der unappetitlichsten Art, die man aber in allen Dörfern fast vor jedem Hause sieht). Dieser Brei oder Teig wird dann in flache Kuchen geformt, ähnlich wie unsere Lohkuchen, und an der Sonne getrocknet. Die Kuchen brennen mit schwelendem, übelriechendem Qualm und ohne Flamme, geben aber starke Hitze, und mit ihnen werden also auch diese Brutöfen geheizt. Holz würde nach dem ägyptischen Volkswort: „Holz ist theurer als Zucker,“ viel zu theuer kommen. Einer aus unserer Gesellschaft hatte ein kleines Taschenthermometer, das vierunddreißig Grad Réaumur zeigte, mithin schon einige Grad über menschliche Blutwärme, aber die Araber bekümmern sich um dergleichen nicht, ja, vielleicht hatte keiner von ihnen jemals ein Thermometer gesehen. Sie beurteilen die Hitze einfach nach ihrem eigenen körperlichen Gefühl, und wenn es gar zu heiß wird, machen sie nach oben einige Luftlöcher mehr auf – weiter nichts. Da liegen nun die Eier zum Ausbrüten, was in der Regel achtzehn bis zwanzig Tage dauert. Zwei, drei junge Araber (hier waren es die Söhne des Scheichs) genügen, um den Dienst zu versehen, der eigentlich nur darin besteht, die Eier von Zeit zu Zeit umzuwenden und zu untersuchen, um die verdorbenen auszuscheiden. Im Ganzen und bei sorgfältiger Behandlung verderben aber nur wenige, kaum drei bis vier Procent. Die Geschicklichkeit, mit welcher diese Leute sowohl mit den Eiern wie auch mit der jungen Brut umzugehen wissen, ist erstaunlich; so gehen sie auch mit ihren nackten Füßen in den Kammern umher, ohne den geringsten Schaden anzurichten.

Wir waren, wie gesagt, gerade zur günstigsten Zeit gekommen, denn seit einigen Tagen hatte das Ausschlüpfen der jungen Brut begonnen. Mehrere Kammern waren schon leer, und der Boden war mit zerbrochenen Eierschalen übersäet. Die Küchlein werden alsdann in den bereits erwähnten Gang gebracht, der eine Art Corridor bildet und den man auf hohen flachen Steinen, die in der Mitte liegen, durchschreitet. Die Araber sprangen auf diesen Steinen wie Katzen hin und her, wir dagegen fürchteten bei jedem Schritt einen Fehltritt zu thun, wobei wir dann natürlich eine Menge Thierchen zertreten hätten, denn sie wühlten und wimmelten, piepten und quiekten zu Tausenden unter unseren Füßen, wirklich wie ein lebendiger hellgelber Teppich. Zwei Tage lang bleiben sie ohne Nahrung; dann werden sie in der oben geschilderten Weise von den Frauen des Dorfes abgeholt, die sie auffüttern und dafür von jedem Hundert fünfundzwanzig Stück behalten. Diese Fütterungszeit dauert etwa drei Wochen, nach deren Verlauf sie freilich noch nicht ausgewachsen und noch viel weniger satt sind, aber sie werden doch schon auf den Markt gebracht, und namentlich in Kairo zu gewissen Zeiten des Jahres in ungeheuren Quantitäten. Sie kosten dann ein bis zwei Tarifpiaster das Stück (ein viertel bis ein halber Franken). Uebrigens nehmen die Eigenthümer der Brutöfen auch eine große Menge zurück und mästen sie noch mehrere Monate lang für die Küchen [708] der Reicheren und der europäischen Familien. Dann steigen sie natürlich sehr im Preise, oft bis zu zwei Franken und mehr.

Der Scheich führte uns nun weiter zu anderen Kammern, die noch mit Eiern angefüllt waren, denn da sie zu verschiedenen Perioden eingeliefert werden, ist auch die Zeit des Ausschlüpfens verschieden. In einer Kammer schien aber gerade dieser wichtige Moment gekommen zu sein, denn viele der Eier bewegten sich sichtlich, und hier und da kam bereits ein gelbes Köpfchen zum Vorschein. Die jungen Araber sprangen hinzu und halfen manchem Thierchen aus der zerbrochenen Schale vollends heraus, gaben uns auch einige Eier in die Hand, die sehr warm und schwer wie Blei waren; in einer Viertelstunde, so sagten sie, würden die Küchlein auskriechen. Und wirklich, als wir zehn Minuten später auf unserem Rundgang noch einmal an dieser Kammer vorbeikamen, war es in derselben schon ganz lebendig geworden und wenigstens hundert Küchlein sprangen, zappelten und piepten umher.

Die drückende Schwüle und mehr noch der unerträgliche Geruch trieben uns aber jetzt, trotz unseres großen Interesses an der Sache, wieder hinaus in’s Freie; wir hatten übrigens auch alles Nöthige gesehen, und etwaige weitere Notizen konnten wir uns ja auch draußen geben lassen. So athmeten wir denn förmlich auf, als wir durch die enge Thüröffnung wieder glücklich hinausgeschlüpft waren, und fanden die Luft draußen bei aller Hitze wahrhaft erquickend. Wir erfuhren noch, daß der Scheich jährlich zweimal brüten läßt, im Mai und Juni sowie im August und September, die erste Periode ist aber die bedeutendste und enthält manchmal gegen achtzigtausend Eier. Von jedem Hundert Eier nimmt der Scheich ein Drittel für seine Mühe, da er sich nicht baar bezahlen läßt, wobei er noch ein sehr gutes Geschäft machen soll. Er ist übrigens längst ein reicher Mann, nur läßt er sich nicht viel davon merken, aus Furcht vor dem Mudir, der ihn dann noch höher besteuern würde. Vater und Söhne begleiteten uns ehrerbietig zum Hofe hinaus, und hier konnte der Scheich nicht umhin, uns auf die schöne Façade seines Hauses aufmerksam zu machen, indem er zugleich stolz auf seinen ältesten Sohn wies, der all die herrlichen Dinge mit eigener Hand gemalt habe. „Allah hat ihm dabei geholfen,“ setzte er naiv hinzu, „denn sonst hätte er es unmöglich so schön machen können.“

Nun kam noch vor dem Abschied der wichtige Moment des Bakschisch, denn ohne einen solchen konnte es unmöglich abgehen. Wir gaben Jeder von uns den Söhnen, die ein hochvergnügtes Gesicht machten, einige Franken; sie küßten erst die Geldstücke und dann unsere Hände und Kleider und wünschten den Segen des Propheten auf uns herab; auch ein halbes Dutzend kleiner brauner Kinder, die sich hinzudrängten und vermuthlich zur Familie gehörten, erhielt einige Piaster und lief jubelnd in’s Haus zurück. Endlich meldete sich noch der Scheich selbst, freilich ohne direct zu bitten, aber doch mit so erwartungsvoller Miene, daß wir ihn sofort verstanden, und so bekam auch er seinen Bakschisch. Da wollte denn das Salahm alékum! (Friede sei mit Euch!) und das Kullo sanne ante taib! (Dein ganzes Jahr sei glücklich!) kein Ende nehmen, und noch beim Fortreiten riefen sie es uns wiederholt nach.




Erinnerungen aus dem Kriege mit Frankreich.
Von Moritz Busch.
1. Das mobilisirte Auswärtige Amt.[1]
Nachdruck verboten.

Wie ein Traum, fast wie ein Wunder kommt es mir vor, wenn ich mir vergegenwärtige, unter welchen Umständen ich vor nunmehr sieben Jahren meine erste und letzte Reise durch Frankreich machte, und doch steht mir keine andere so lebendig vor der Erinnerung. Man wird Beides begreiflich finden, wenn ich sage, daß sie von Saarbrücken über Sedan nach Versailles führte, und daß ich die Ehre hatte, mich in den sieben Monaten, die sie währte, in der unmittelbaren Umgebung des Reichskanzlers – oder, wie er damals noch hieß, des Bundeskanzlers – zu bewegen. Mit anderen Worten: diese Reise hing mit dem Feldzuge von 1870 und 1871 zusammen, und ich war dabei dem mobilgemachten Auswärtigen Amte beigegeben, welches wiederum der ersten Staffel des großen Hauptquartiers der deutschen Heere zugetheilt war. Daß ich dabei Gelegenheit hatte, nicht blos einigen entscheidenden militärischen Actionen an einem guten Platze beizuwohnen, sondern auch andere bedeutende Vorgänge aus nächster Nähe zu sehen und zu hören, war eine Fügung, die einem Manne in bescheidener Stellung, welcher acht Monate vorher nicht einmal daran hatte denken können, mit dem Kanzler in persönliche Berührung zu kommen, recht wohl damals wie später zuweilen wie ein Traum erscheinen konnte. Man sah dicht vor seinen Augen einen weltgeschichtlichen Proceß sich vollziehen, der kaum je vorher seines Gleichen gehabt hatte. Man fühlte den Odem des Geistes unseres Volkes; man hörte seine Donnerstimme über den Schlachtfeldern, empfand die Bangigkeit der Entscheidungsstunde und erzitterte freudenvoll, wenn die Siegeskunde kam. Nicht minder werthvoll und bedeutsam aber waren die stillen nüchternen Stunden, in denen man Blicke thun durfte in die Werkstatt, von wo ein wichtiger Theil jenes Processes seinen Ausgang nahm, wo die Ergebnisse des Waffenkampfes gewogen, berechnet und verwerthet wurden und wo zuletzt, in Ferrières und Versailles, täglich vielgenannte Namen, gekrönte Häupter, Prinzen, Minister, Generäle, Unterhändler, Parteiführer des Reichstags ein- und ausgingen. Wohlthuend endlich war nach des Tages Mühe der Gedanke, als eins der kleinen Rädchen zu dem Apparat zu gehören, mit dem der Meister sein Denken und Wollen auf die Welt wirken, sie nach seinen Plänen sich gestalten ließ. Das Beste war aber und blieb immer das Bewußtsein, in seiner Nähe zu sein.

Ich glaube Ursache zu haben, die Erinnerung hieran werth zu halten als den höchsten Schatz meines Lebens, und ich meine ferner, daß es jetzt erlaubt sein wird, an Einigem davon Andere theilnehmen zu lassen. Selbstverständlich kann das, was ich mittheile, meist nur in Aeußerlichkeiten bestehen. Aber ich denke, Alles ist von Interesse, was zu dem hochherrlichen Kriege gehört, der uns ein deutsches Reich und eine sichere Westgrenze gewann, und auch das scheinbar Kleinste ist werthvoll, was zu dem Antheile in Beziehung steht, den der Graf von Bismarck an den Ereignissen während desselben hatte. Alles sollte deshalb aufgehoben werden. In großer Zeit erscheint das Kleine kleiner; in späteren Jahrzehnten und Jahrhunderten ist es umgekehrt: das Große wird größer und das Bedeutungslose bedeutungsreich. Oft wird dann bedauert, daß man sich von den oder jenen Ereignissen und Persönlichkeiten kein so lebendiges, farbiges Bild machen kann, wie man möchte, weil anfangs unscheinbares, jetzt wünschenswerthes Material mangelt, da sich kein Auge, das es sah und keine Hand, die es beschrieb und bewahrte, gefunden hat, als es Zeit war. Wer wüßte jetzt nicht gern Genaueres über Luther in den großen Tagen und Stunden seines Lebens, bestünde es auch aus sehr harmlosen und wenig charakteristischen Zügen, Umständen und Beziehungen? In hundert Jahren wird Fürst von Bismarck in den Gedanken unseres Volkes seine Stelle neben dem Wittenberger Doctor einnehmen: der Befreier unseres politischen Lebens vom Drucke des Auslandes neben dem Befreier der Gewissen von der Wucht Roms, der Schöpfer des deutschen Reiches neben dem Schöpfer des deutschen Christenthums. Viele haben unserm Kanzler diesen Platz in ihrem Gemüthe und unter den Bildern ihrer Wände schon eingeräumt, und so will ich’s auf die Gefahr ankommen lassen, daß Einer oder der Andere sagt, ich hätte nur von der Schale zu erzählen, und der Kern bliebe unberührt. Vielleicht ist mir später gestattet, in bescheidener Weise den Versuch zu machen, auch von letzterem ein Bild zu geben, das einige neue Züge zeigt. Für jetzt verfahre ich solchen Unternehmungen gegenüber nach dem Spruche: „Sammelt die übrigen Brocken, auf daß nichts umkomme!“

Am 31. Juli fuhr der Kanzler, begleitet von seiner Gemahlin und der Comtesse Marie, aus seiner Wohnung nach dem Bahnhofe, um sich mit König Wilhelm auf den Kriegsschauplatz [709] und zunächst nach Mainz zu begeben. Einige Räthe des Auswärtigen Amtes, ein expedirender Secretär des Centralbureaus, zwei Chiffreurs und drei oder vier Kanzleidiener waren bestimmt, ihm zu folgen. Wir Anderen begleiteten ihn, als er, den Helm auf dem Haupte, in den Wagen stieg, nur mit guten Wünschen. Auch ich hatte mich schon darein ergeben, den Krieg blos auf der Landkarte und in den Zeitungen mitzumachen. Doch sollte es sich bald günstiger für mich gestalten.

Am 6. August Abends traf das Telegramm vom Siege bei Wörth im Ministerium ein. Eine halbe Stunde später, nachdem es Feierabend gegeben, überbrachte ich die frohe Botschaft noch frisch und warm einer Gesellschaft von Bekannten, die in einer Weinstube der Potsdamer Straße der Dinge, die da kommen sollten, wartete, und – nun, man weiß ja, wie der deutsche Mann gute Kunde gern feiert. Es war aber eine sehr gute Kunde, und so wurde sie sehr, von Manchem vielleicht zu sehr, von den Meisten jedenfalls zu lange gefeiert. In Folge dessen war ich am nächsten Morgen noch nicht aus den Federn, als ein Kanzleidiener erschien, der mir von Seiten eines der zurückgebliebenen Räthe Abschrift einer telegraphischen Depesche überbrachte, laut deren ich ohne Verzug in’s große Hauptquartier abzureisen hatte. Also doch, gütiges Schicksal! Rasch war das Nothwendigste besorgt; noch im Laufe des Vormittags erhielt ich im Ministerium Paß, Legitimationskarte und Freibillet für alle Militärzüge, und gegen acht Uhr Abends dampfte ich mit den beiden Begleitern, die ich mitbringen sollte, in Gottes Namen aus dem Anhalter Bahnhofe hinaus.

Wir fuhren anfangs in einem Coupé erster Classe, später wurde die dritte, zuletzt ein Güterwagen daraus. Ueberall gab es langen Aufenthalt, der unserer Ungeduld noch länger erschien, als er war. Erst am 9. August früh nach sechs Uhr kamen wir nach Frankfurt. Da wir hier einige Stunden auf Weiterbeförderung warten mußten, hatten wir Zeit, uns zu erkundigen, wo das große Hauptquartier sich jetzt befinde. Der Etappencommandant wußte uns keinen Bescheid zu geben. Der Telegraphendirector, den wir dann mit unserer Frage aufsuchten, konnte uns auch nichts Bestimmtes sagen. „Vielleicht noch in Homburg, wahrscheinlich aber in Saarbrücken,“ meinte er. Gegen Mittag ging es weiter – jetzt im Gepäckwagen – nach Darmstadt, am Odenwald hin, dessen dunkle Berge schwere weiße Regenwolken umwebten, nach Mannheim und auf Neustadt zu. Immer langsamer schlich der Zug hin; immer häufiger stockte die Fahrt vor unabsehbar langen anderen Militärzügen. Allenthalben, wo gehalten wurde, kamen Leute herbei, die den Soldaten in den Wagen zu essen und zu trinken brachten, alte Mütterchen darunter, gutherziges, hülfreiches, armes Volk, das nur Milchkaffee und trockenes Schwarzbrod zu bieten hatte.

Der Rhein wurde bei Nacht passirt. Früh liegt ein elegant gekleideter Herr mit seinem englisch sprechenden Diener neben uns auf dem Boden. Es ergiebt sich, daß es der Londoner Banquier Deichmann ist, der ebenfalls in’s Hauptquartier will, um sich bei Roon die Erlaubniß zum Eintritt in ein Cavallerieregiment zu erbitten. Auf seinen Rath fahren wir auf der Ebene vor Neustadt von Hosbach, wo der Zug nicht weiter will, weil vor ihm drei oder vier andere Züge das Bahngleis einnehmen, in einem schnell besorgten Bauernwagen nach dem Städtchen, das von Soldaten, baierischen Jägern, preußischen rothen Husaren, Sachsen, Landwehr und dergleichen wimmelt.

Hier wurde zum ersten Mal seit der Abfahrt von Berlin wieder warm gegessen. Bis dahin hatte es nur kalte Küche und des Nachts wenig erfolgreiche Schlafversuche auf harten Holzbänken, die Reisetasche unter dem Kopfe, gegeben. Indeß gingen wir ja in den Krieg, auch hatte ich’s bei Touren mit minder lohnendem Ziel schon unbequemer gehabt.

Von Neustadt fuhren wir nach einstündigem Aufenthalt weiter, quer durch die Hardt, durch enge Thäler mit Kiefern und durch eine Anzahl von Tunneln, endlich in die Gebirgslücke hinaus, in der Kaiserslautern liegt. Hatten in den letzten Stunden Sonnenblicke mit Regenschauern gewechselt, so goß es während der Fahrt von hier nach Homburg ohne Unterbrechung wie mit Mulden, sodaß der kleine Ort, als wir nach zehn Uhr Abends in seinem Bahnhofe hielten, nur Nacht und Wasser zu sein schien. Wir stiegen, unsere Koffer auf den Schultern, in den peitschenden Regen hinaus, wateten durch Sümpfe und Tümpel und tasteten und fragten uns nach dem Gasthofe „Zur Post“, wo wir alle Zimmer übervoll fanden und auch von dem, was Leib und Seele zusammenhält, nichts mehr zu haben war. Wir hätten aber auch von günstigeren Verhältnissen wenig Gebrauch machen können; denn wir erfuhren hier, daß der Graf mit dem König schon weiter und vermuthlich in Saarbrücken sei, und es hieß eilen, wenn wir ihn noch in Deutschland einholen wollten. Wieder in die Sündfluth hinaus zu müssen, war nicht erfreulich. Aber man konnte sich einigermaßen darüber hinwegphilosophiren, wenn man an Andere dachte, die schlimmer daran waren. In der Wirthsstube hatten die Schlafenden in einem Gemisch von Tabaks-, Bier- und Lampendunst mit einer Beigabe vom Geruche feuchten Tuches auf den Tischen und Stühlen herumgelegen. In der Senkung links vom Bahnhofe schmauchten, halb erloschen in der nassen Nacht, die Wachtfeuer eines großen Lagers. Als wir nach unserem Zuge zurückwateten, blitzten uns durch den schräg herabströmenden Regen die Pickelhauben und Gewehrläufe eines preußischen Bataillons entgegen, welches sich vor dem Bahnhofshôtel aufstellte. Gründlich durchweicht und ziemlich müde geworden, fanden wir endlich wieder ein Unterkommen in einem Güterwagen, wo Deichmann für sich und mich in einer Seitenabtheilung ein Plätzchen am Fußboden zum Ausstrecken und ein paar Hände voll Stroh zum Kopfkissen entdeckte. Die anderen Reisegefährten, unter denen sich ein Baron und ein Professor befanden, hatten es nicht so gut. Sie mußten unter Postpacketen, Briefträgern und Trainsoldaten auf Kisten vorlieb nehmen.

Gegen ein Uhr setzte sich der Zug langsam in Bewegung. Nach mehrmaligem Stillstand hielten wir, als der Morgen graute, in der Nähe eines Städtchens mit schöner, alter Kirche. Im Thale daneben lag eine Mühle, an der die Chaussee nach Saarbrücken sich hinschlängelte. Wir hörten, daß letzteres noch eine halbe Meile entfernt sei, und waren somit dem Ziele sehr nahe, aber unser Zug schien nicht wieder in Gang zu kommen, und jeden Augenblick konnte das Hauptquartier aufbrechen und die Grenze überschreiten, jenseits deren es vorläufig keine Eisenbahn und aller Wahrscheinlichkeit nach wenig andere Fahrgelegenheit gab. Bedeckter Himmel und ein feiner Sprühregen trugen nicht bei, die ungeduldige, besorgte und verdrießliche Stimmung zu verbessern. Wir hatten gegen zwei Stunden auf das Pfeifen der Locomotive zum Aufbruch gewartet, als Deichmann wieder aus der Noth half. Er verschwand, und als er wiederkam, hatte er den Müller drunten gewonnen, uns mit seinem Gespann nach der Stadt zu fahren, Deichmann hatte aber versprechen müssen, dem Müller dafür zu stehen, daß die Soldaten ihm die Pferde nicht nähmen.

Während der Fahrt erzählte uns der Müller, daß die Preußen ihre Vorposten schon bis Metz vorgeschoben. Zwischen neun und zehn Uhr waren wir in St. Johann, wo wir nicht viel von den Spuren der Beschießung durch die Franzosen, sonst aber schon ein recht lebendiges Bild kriegerischer Zustände sahen. Ein Gewirr von Marketenderkarren, Bagagewagen, Soldaten zu Fuß und zu Pferde, Johannitern mit der Kreuzbinde und dergleichen bewegte sich durch die Straßen. Hessische Truppen zogen vorbei, Dragoner und Artillerie; die Reiter sangen: „Morgenroth, leuchtest mir zum frühen Tod.“

Im Gasthofe, wo wir uns umzogen, erfuhr ich, daß der Bundeskanzler noch im Orte war und bei dem Kaufmann und Fabrikanten Haldy Quartier genommen hatte. Es war also nichts versäumt worden, und ich hatte glücklich den Hafen erreicht, aber allerdings mit genauer Noth; denn als ich nun zu Haldy ging, um mich zu melden, hörte ich schon auf der Treppe von Graf Bismarck-Bohlen, dem Vetter des Ministers, daß man gleich nach Mittag weiter zu gehen gedenke. Ich schaffte meinen Koffer aus dem Gasthofe auf den Fourgon, der mit anderen Wagen unten an der Saarbrücke aufgefahren war; dann kehrte ich in das Haldy’sche Haus zurück, wo ich mich dem Kanzler, der eben aus seinem Zimmer trat, um sich zum König zu begeben, auf dem Vorsaal vorstellen konnte, worauf ich das nebenan etablirte Bureau aufsuchte, um zu fragen, ob es für mich zu thun gäbe. Es gab genug zu thun; die Herren hatten alle Hände voll, und ich bekam unverzüglich meinen Antheil davon.

Kurz vor ein Uhr hielten bei stechender Sonne die Wagen vor den Stufen zur Hausthür, alle vierspännig, mit Soldaten [710] auf den Sattelpferden, ein Wagen für den Kanzler, einer für die Räthe und den Grafen Bohlen, einer für den geheimen expedirenden Secretär und die beiden Chiffreurs. Nachdem der Minister mit dem Geheimrath Abeken in dem seinen Platz genommen, und Graf Bohlen sowie die beiden anderen Räthe sich zu Pferde gesetzt, verfügten auch die Uebrigen sich mit ihren Actenmappen in ihre Wagen. Ich bestieg für diesmal sowie später, wenn die Herren ritten, den der Räthe. Fünf Minuten später überschritten wir den Fluß und kamen in die lange Hauptstraße von Saarbrücken. Dann ging es die von Pappeln beschattete Chaussee hinauf, die am Schlachtfelde des 6. August vorbei nach Forbach führt, und nach einer halben Stunde waren wir auf französischem Boden. Von dem blutigen Kampfe, der fünf Tage vorher hier hart an der Grenze gewüthet hatte, waren noch mancherlei Spuren zu bemerken, von Kugeln abgerissene Baumäste, weggeworfene Tornister, Fetzen von Kleidern und Leinenzeug auf den Stoppelfeldern, Kohlen von Kochfeuern, zerschossene Räder, Gruben, von Granaten gewühlt etc. Die Todten aber waren, soweit man sehen konnte, bereits bestattet.

Und hier, am Anfang unserer Reise durch Frankreich, will ich in meiner Erzählung abbrechen, um einige Worte über das mobilisirte Auswärtige Amt und über die Art und Weise zu sagen, wie der Kanzler mit seinen Leuten reiste, wohnte und überhaupt lebte. Der Minister hatte sich zu seiner Begleitung die Geheimen Legationsräthe Abeken und von Keudell, den Legationsrath Graf Hatzfeld und den Grafen Bismarck-Bohlen gewählt. Dazu kamen der Geheimsecretär Bölsing vom Centralbureau und die Chiffreure St. Blanquart und Willisch, endlich ich. Als Boten und Aufwärter gingen die Kanzleidiener Engel, Eigenbrodt und Theiß mit. In ähnlicher Eigenschaft begleitete uns Herr Leverström, der bekannte „schwarze Reiter“, der in den Straßen Berlins Stafettendienste thut. Die Sorge für unser Leibliches war einem Koch anbefohlen, der während der Fahrt als Trainsoldat fungirte und dessen Name mir leider entfallen ist. In Versailles vervollständigte sich der Kreis der Räthe durch Lothar Bucher und den jetzigen Legationsrath von Holstein, sowie durch den jungen Grafen Wartensleben. Bölsing wurde als unwohl geworden durch den Geheimsecretär Wollmann ersetzt, und die gesteigerte Masse der Geschäfte erforderte zwei weitere Chiffreure, auch traten noch einige Kanzleidiener hinzu. Die Güte unseres „Chefs“ – so wird der Reichskanzler von den Angehörigen des Auswärtigen Amtes in gewöhnlicher Rede bezeichnet – hatte es so angeordnet, daß seine Mitarbeiter auch gewissermaßen Glieder seines Haushalts waren: wir wohnten, wenn es anging, in demselben Hause mit ihm und hatten die Ehre, an seiner Tafel zu speisen.

Der Kanzler trug während des ganzen Krieges Uniform, und zwar in der Regel den bekannten Interimsrock des gelben Regiments der schweren Landwehrreiterei und weite Aufschlagstiefel, bei Ritten nach Schlachten oder Aussichtspunkten auch an einem Riemen ein Futteral mit einem Feldstecher und zuweilen, außer dem Pallasch, einen Revolver. Nur in Versailles sah ich ihn einige Male im Schlafrocke, und da war er nicht wohl – ein Zustand, von dem er sonst während des Feldzuges meines Wissens völlig unangefochten blieb. Auf der Reise fuhr er meist mit dem jetzt verstorbenen Abeken, einmal mehrere Tage nacheinander auch mit mir. In Betreff der Quartiere machte er sehr geringe Ansprüche und begnügte sich auch da, wo Besseres zu haben war, mit einem höchst bescheidenen Unterkommen. Während in Versailles Obersten und Majore mitunter eine Reihe brillanter Gemächer innehatten, bestand die Wohnung des Bundeskanzlers während der fünf Monate, die wir hier verweilten, in zwei kleinen Stuben, von denen die eine zugleich Arbeitscabinet und Schlafkammer war, und einem nicht sehr geräumigen und wenig eleganten Empfangssalon im Erdgeschosse. Einmal, im Schulhause zu Clermont en Argonne, wo wir mehrere Tage blieben, hatte er nicht einmal eine Bettstelle, sodaß man ihm sein Lager auf dem Fußboden bereiten mußte.

Auf der Reise fuhren wir meist unmittelbar hinter dem Wagenzuge des Königs. Wir brachen dann gewöhnlich gegen zehn Uhr Morgens auf und machten bisweilen starke Touren bis zu sechszig Kilometern. Im Nachtquartier eingetroffen, ging man stets sofort an die Einrichtung eines Bureaus, in welchem tapfer gearbeitet wurde. Feldjäger kamen und gingen mit Depeschensäcken; Boten brachten und holten Briefe und Telegramme; die Räthe verfaßten nach den Weisungen des Chefs Noten, Erlasse und Verfügungen; die Kanzlei copirte und registrirte, chiffrirte und dechiffrirte. Von allen Weltgegenden strömte Material herzu, das in Versailles manchmal kaum zu bewältigen schien und doch zu rechter Zeit bewältigt wurde. Allerlei Besuch stellte sich ein, Militärs und Civilpersonen, Diplomaten, Leute vom Hofe, Fürsten, Prinzen, französische Unterhändler und Agenten, Minister aus Berlin und anderen deutschen Residenzen, Parlamentarier, Finanziers, selbst amerikanische Generale, und für Alle hatte der von tausend wichtigen Fragen in Anspruch genommene Mittel- und Gipfelpunkt der Maschine, die in diesen großen Tagen die Weltgeschichte machte, Zeit und Interesse.

Die fast übermenschliche Befähigung des Kanzlers, zu arbeiten, schöpferisch, aufnehmend, kritisch zu arbeiteten, die schwierigsten Aufgaben zu lösen, überall sofort das Rechte zu finden und das allein Geeignete anzuordnen, war vielleicht nie so bewundernswerth wie während dieser Zeit, und sie war in ihrer Unerschöpflichkeit um so erstaunlicher, als nur wenig Schlaf die dabei aufgewendeten Kräfte ersetzte. Wie daheim, stand der Minister auch im Felde, wenn nicht eine zu erwartende Schlacht ihn an der Seite des Königs schon vor Tagesanbruch zum Heere rief, meist spät, in der Regel gegen zehn Uhr auf. Aber er hatte dann die Nacht durchwacht und war erst mit dem durch's Fenster scheinenden Morgenlichte eingeschlafen. Oft kaum aus dem Bette und in den Kleidern, begann er bereits wieder zu denken und zu schaffen, Depeschen zu lesen und mit Anmerkungen zu versehen, Zeitungen zu studiren, den Räthen und anderen Mitarbeitern Instructionen zu ertheilen, Fragen vorzulegen und Aufgaben der verschiedensten Art zu stellen, selbst zu schreiben oder zu dictiren. Später waren Besuche zu empfangen und Audienzen zu geben oder es war dem Könige Vortrag zu halten. Dann wieder Depeschenstudium, Correctur von befohlenen Aufsätzen, Niederschrift von Concepten mit den bekannten großen Bleistiften, Abfassung von Briefen, Information zu Telegrammen oder Aeußerungen in der Presse, und dazwischen zuweilen abermals Empfang von Besuchen, die zuweilen nicht willkommen sein konnten. In Ferrières und Versailles, wie vorher in Donchery und Haute Maison, kamen dazu noch langwierige Besprechungen mit französischen Unterhändlern. Erst gegen zwei, manchmal erst drei Uhr gönnte sich der Kanzler an Orten, wo für längere Zeit Halt gemacht worden, einige Erholung, indem er einen Spazierritt in die Nachbarschaft unternahm. Darauf wurde nochmals gearbeitet, bis man zwischen fünf und sechs Uhr zum Diner ging. Spätestens anderthalb Stunden nachher war er wieder in seinem Zimmer an der Arbeit, und häufig sah ihn noch die Mitternacht lesen oder schreiben.

Auch hinsichtlich seiner Mahlzeiten lebte der Kanzler in eigner Weise. Früh genoß er eine Tasse Thee und wohl auch ein oder zwei Eier, dann aber in der Regel nichts bis zu dem in die Abendstunden verlegten Diner. Sehr selten nahm er am zweiten Frühstück und nur dann und wann am Thee theil, welcher zwischen neun und zehn Uhr servirt wurde. Er aß somit innerhalb der vierundzwanzig Stunden des Tages nur einmal. Diplomaten halten sprüchwörtlich auf eine gute Tafel und stehen hierin, wie ich mir habe sagen lassen, kaum den Prälaten nach. Es gehört das zu ihrem Gewerbe, da sie häufig einflußreiche oder sonst bedeutende Gäste bei sich sehen, die zu dem oder jenem Zwecke in angenehme Stimmung gebracht werden müssen, und nichts so angenehm stimmt, wie die Vorräthe eines wohlversorgten Kellers und die Ergebnisse der Kunst eines durchgebildeten Kochs. Auch Graf von Bismarck führte einen guten Tisch, der sich, wo die Umstände es gestatteten, zur Opulenz erhob. Dies war namentlich in Reims, Meaux, Ferrières und zuletzt in Versailles der Fall, wo das Genie des Künstlers in der Trainmontur uns Frühstücke und Diners schuf, denen ein an einfache bürgerliche Kost gewöhntes Gemüth fast mit dem Gefühle Gerechtigkeit widerfahren ließ, in Abraham's Schooße zu sitzen, zumal bei ihnen außer andern werthen Gaben Gottes aus dem Bereiche der Getränke der Sekt nicht vermißt wurde. Der Küchenwagen hatte zu solchen Mahlzeiten zinnerne Teller, Becher aus silberähnlichem Metall, inwendig vergoldet, und ebensolche Tassen mitgebracht. Einiges zur Verschönerung der Tafel, die uns so freundlich nährte, trugen in den letzten fünf Monaten Spenden aus der [711] Heimath bei, die auch ihres Bundeskanzlers liebreich gedachte und ihn reichlich mit allerlei leckeren Gaben fester und flüssiger Natur, Spickgänsen, Wild, Fasanen, Baumkuchen, einer riesigen Forellenpastete, trefflichem Bier und edelstem Wein, sowie hundert anderen hochachtbaren Dingen versorgte.

Ich bemerke zum Schlusse noch, daß außer dem Kanzler zu Anfang nur von Keudell und Graf Bohlen Uniform trugen, während alle Räthe beritten waren und sich gelegentlich ihrer Pferde bedienten. Später – ich glaube, daß der Gedanke zuerst in Ferrières angeregt wurde – erhielt das gesammte mobile Auswärtige Amt mit Ausschluß des Ministers und der unmittelbar nach ihm Genannten, doch mit Einschluß der Kanzleidiener eine Art Phantasieuniform, die in einem dunkelblauen Rocke mit schwarzem Sammtaufschlag, einer Mütze mit den gleichen Farben und (bei den Räthen, Secretären und Chiffreuren) einem Degen mit goldenem Portépée bestand. Der alte Geheimrath Abeken, der auch sein Roß wacker tummelte, nahm sich in diesem Costüm ungemein kriegerisch aus.




Junker Paul.
Erzählung von Hans Warring.
(Fortsetzung.)


„Urtheilen Sie nicht zu streng, Herr Kayser,“ sagte Marie, „wenn Sie meinen jüngern Bruder kennten, würden auch Sie ihn lieb haben. Jedermann hat ihn lieb, Cameraden wie Vorgesetzte. Nach dem Kriege wurde er in ein anderes Regiment versetzt, in welchem nur reiche junge Männer dienen. Max warnte, aber er war so froh und hoffnungsvoll und versprach nicht über seine Kräfte zu gehen. Nun ist er doch schwach gewesen, der arme Junge. Er streckt die Hand nach Hülfe aus, und ich kann den Einen nicht retten, ohne den Anderen zu ruiniren.“

„Trocknen Sie Ihre Thränen, Fräulein Marie! Wir wollen schon Mittel finden, Beiden zu helfen. Aber zur Sache! Kurz und rund: wieviel beträgt’s?“

„Es ist eine große Summe, Herr Kayser,“ entgegnete Marie, an ihren Schreibtisch tretend und unter ihren Papieren suchend, „ich habe alle meine Schmucksachen zusammengelegt – es sind einige werthvolle Sachen von meiner Mutter darunter – aber wenn ich auch Alles zu Gelde machte, es würde doch kaum den vierten Theil der Summe bringen, die ich brauche. Da ist der Brief. Wollen Sie ihn lesen, Herr Kayser?“

Kayser überflog nur flüchtig das Schreiben, während Marie mit angstvoll zusammengepreßten Händen vor ihm stand und ihm in’s Gesicht schaute. Bei der verhängnißvollen Stelle zogen sich zwar seine Augenbrauen etwas in die Höhe, aber sein Auge blickte dennoch unumwölkt, als er den Brief zusammenfaltete und zurückgab.

„Schauen Sie nicht so angstvoll drein!“ sagte er; „die Sache ist nicht ganz so schlimm, wie sie aussieht. Die Schulden übersteigen allerdings um ein gut Theil die Summe, die er noch im Geschäft des Bruders hat. Seine Angaben hierüber sind doch richtig – kann ich mich auf sein Wort verlassen?“

„Er hat nie gelogen – er ist ein ehrlicher, offenherziger Bursche. Aber sein Rettungsplan beruht auf ganz falschen Voraussetzungen. Selbst wenn er eine kleinere Summe brauchte, so würde Max ihm jetzt nicht helfen können, denn wer wird zu einer Zeit, wo Alles schwankt, diesem ein so großes Capital vorstrecken auf ein so unsicheres Object, wie heute die Fabrik ist? Und noch dazu, wenn ein Fremder – ein verhaßter Preuße der Besitzer ist?“

„Wer? fragen Sie? Nun, wir wollen den Mann schon finden. Kommen Sie, Fräulein Marie! Setzen Sie sich mir gegenüber und lassen Sie uns berathen, wie Ihrem Bruder zu helfen ist! Allerdings werden Sie mir Recht geben müssen, wenn ich Ihnen sage, daß dieser Bruder Leichtfuß nicht der Mann ist, der einem Geschäftsmanne Sicherheit zu gewähren im Stande ist. Aber neben ihm steht sein Bruder, und der ist ein Ehrenmann, dem ich ungezählt meine ganze Habe anvertrauen würde – und für ihn steht ferner seine Schwester ein, und die ist mir sicher für Tausende. Aber um des Himmels willen nur keine Thränen! Bei Geschäften muß man alle Sentimentalität zu Hause lassen. Ruhiges Blut und offene Augen – heißt es da. – So! so ist’s recht; jetzt bin ich mit Ihnen zufrieden. – Und nun will ich Ihnen sagen, welchen Ausweg ich Ihnen vorschlagen möchte. Sie werden dadurch allerdings meine Schuldnerin, aber ich hoffe, Sie haben genug Vertrauen zu mir, um davor nicht zurückzuschrecken.“ – –

Als Kayser nach Verlauf einer Stunde das Haus verließ, blieb Marie getröstet und beruhigt zurück. Sie hatte die Gewißheit erhalten, daß ihrem jüngeren Bruder geholfen werden würde ohne Schädigung des älteren. Ihre Dankbarkeit dafür mußte sie ihrem Gaste wohl sehr lebhaft ausgesprochen haben. Er zeigte wenigstens, als er die Straße entlang schritt, eine sehr zufriedene Miene, und in ihm lebte die Ueberzeugung, daß er ohne ein allzu großes Risico – denn er hielt sich überzeugt, daß Max, wenn er nur wollte, eine reiche Partie machen könne – ein Geschäft eingeleitet hatte, welches ihn der Ausführung seines Planes um ein gutes Theil näher zu bringen versprach.



6.

Die Morgensonne eines der nächsten Tage schien hell und freundlich in ein Zimmer, dessen zwei Fensterthüren sich auf einen Garten öffneten, der in reichem, sommerlichem Blumenschmuck prangte. Helle Kieswege, glatt und fest wie Marmor, schlängelten sich durch wohlgepflegte Rasenplätze, von deren sammetnem Grün bunte Teppichbeete sich effectvoll abhoben. Schöne Laubgruppen erhoben sich dahinter und zogen sich anmuthig, ein schattiges Wäldchen bildend, einen Bergabhang hinan.

Das Zimmer, welches diesen Ausblick gewährte, war ein hohes, schönes Gemach, das letzte in einer Reihe anderer, von welchen jedes durch die Eleganz und den Geschmack seiner Einrichtung von dem Reichthume und dem Kunstsinne der Besitzerin zeugte. Nirgends indessen wurde das Auge durch eine geflissentliche Zurschaustellung des Reichthums beleidigt – Tapeten, Möbel und Teppiche, obgleich augenscheinlich ohne Rücksicht auf Kosten gewählt, waren in so matten, schlichten Farbentönen gehalten, daß sie sich dem Auge nicht störend aufdrängten. Sie gewährten dem Blicke des Beschauers Muße, auf den vielfachen Kunstgegenständen zu ruhen, welche, mit sichtlicher Vorliebe und feinem Verständniß geordnet, die Zimmer schmückten. Für die Gemälde, die zwar nicht in großer Menge vorhanden waren, aber einen hohen künstlerischen Werth besaßen, hatte man sorgfältig das richtige Licht gewählt; anmuthige Marmorgruppen schauten aus einem Dickicht dunkeler, ausländischer Blattpflanzen hervor, und Mappen und Albums mit werthvollen Radirungen und Photographien alter Meister lagen wohlgeordnet auf Tischen und Etagèren.

Ein harmonisches Ganzes mit diesen Gegenständen bildete der Anzug der jungen Dame, welche, aus dem Garten kommend, die Stufen der Treppe emporstieg. Freilich hätte eine strenge Toilettenkritikerin das schwere, dunkele Seidenkleid, das sich, der Mode des Tages gemäß, knapp dem Körper des Mädchens anschmiegte und in langer Schleppe hinter ihr herrauschte, für unpassend erklärt, sowohl für das jugendliche Alter der Trägerin, wie für den warmen, sommerlichen Tag. Aber sie hätte dennoch zugestehen müssen, daß, was Farbe und Schnitt anbelangte, Paula von Contagne kaum eine kleidsamere Tracht hätte wählen können. Das enganschließende Gewand offenbarte so schlanke, ebenmäßige Formen, und seine tiefe Purpurfarbe hob die klare, bräunliche Gesichtsfarbe der jungen Erbin und ihr kurzes, dunkeles Gelock so vortheilhaft hervor, daß selbst manche strenge Sittenrichterin, die in dieser Kleidung etwas Uebermodernes hätte wittern können, dadurch versöhnt worden wäre.

Das junge Mädchen hatte mit leichtem, festem Tritt, einen großen, schönen Leonberger Hund hinter sich, die Treppe erstiegen und blieb einige Augenblicke lauschend an der Thür stehen. Ein leichtes, ungeduldiges Lächeln spielte um ihre Lippen, und [712] eine kleine Falte bildete sich zwischen ihren Brauen, als sie ihre Blicke auf einer ältlichen Dame ruhen ließ, die ohne Ahnung, daß man sie beobachtete, gebeugt vor einem Teleskope stand, durch welches sie angelegentlich in die Gegend hinausblickte. Sie war von dem, was sie erschaute, augenscheinlich nicht recht befriedigt. Mehrmals richtete sie sich mit allen Zeichen einer starken Mißbilligung empor, um dann immer wieder von Neuem ihre Beobachtung aufzunehmen. So sehr war sie in dieselbe vertieft, daß sie den Schritt nicht hörte, der sich ihr näherte. Erst als eine kleine, feste Hand sich auf ihre Schulter legte, fuhr sie erschreckt empor und blickte verwirrt um sich.

„Guten Morgen Tante!“ sagte das junge Mädchen, während sie sich herabbeugte, um die Wange der Erschrockenen zu küssen. „Ich sehe mit Vergnügen, daß Du Dich heute derselben Beschäftigung hingiebst, die Du gestern bei mir so unaussprechlich lächerlich fandest. – Nun? ist mein neues Teleskop nicht ein treffliches Instrument? Ich glaube, man könnte damit die Thürme von Straßburg sehen, wenn die Höhen von Elmsleben sich nicht dazwischen schöben.“

„Vraiment, mon enfant!“ setzte die Alte die Conversation in ihrer Muttersprache fort, und ein gewisser gereizter Ton mischte sich in ihr feines Französisch, „Vraiment, es gewährt Einblick in die Nähe und Ferne. – Mir hat es auch die Augen geöffnet. Ich sehe heute ganz klar, weshalb die Dampfschlöte von Elmsleben, die Du bisher stets so widerwärtig gefunden hast, auf einmal von so großem Interesse für Dich sind.“

Sie hatte in sichtlicher Erregung gesprochen und schloß ihre Worte mit einem ärgerlichen Kopfnicken. Dann wandte sie sich der Thür zu, um das Zimmer zu verlassen, kehrte aber, als ihre Nichte keine Miene machte, sie zurückzuhalten, auf halbem Wege wieder um.

„Ich habe es immer gesagt: in Dir ist kein Funke nationalen Stolzes. Das ganze Land, die ganze Bevölkerung, hoch und niedrig, vereinigt sich, den frechen Eindringlingen, den rohen Barbaren ihren Haß und ihre Verachtung fühlbar zu machen – nur Du, Du allein kommst ihnen mit offenen Armen entgegen. – Schon in Baden hat es unseren Unwillen erregt, wenn wir sehen mußten, wie diese preußischen Officiere, diese steifen, ungelenken Pickelhauben Deine liebsten Tänzer waren, wie Du sie Deinen Landsleuten, selbst Deinem Vetter Charles vorzogest. Glaubst Du, daß wir so einfältig waren, nicht den Grund zu errathen, weshalb Du uns vor drei Wochen so plötzlich im Stiche ließest? Glaubst Du, wir sahen nicht ein, daß Dir Baden nur deshalb auf einmal so unerträglich und Deine Sehnsucht nach Deiner Freundin so groß geworden war, weil ihr Gut dicht bei Straßburg liegt, wo Du die angeknüpften Liebeleien mit diesen Preußen ungestört fortsetzen konntest?“

Das Gesicht des jungen Mädchens, welches bis dahin sein ruhiges Lächeln bewahrt hatte, wurde bei dieser Anschuldigung von einer leichten Röthe überflogen. Mit stolz erhobenem Haupte trat sie ihrer Tante näher und unterbrach sie in der Fortsetzung ihrer Rede.

„Du vergißt, daß es die Tochter Deines Bruders ist, welche Du durch Deine unwahren und ungerechten Anschuldigungen beleidigst,“ sagte sie unwillig. „So lange sich Deine Vorwürfe gegen das wenden, was Du meinen Mangel an Patriotismus nennst – so lange kann ich lachen. Wenn Du aber beginnst, meine Sittlichkeit und meinen Charakter anzugreifen, dann hat meine Geduld ein Ende. – Freilich,“ fuhr sie nach einer Pause fort, und wieder erschien das leise spöttische Lächeln auf ihren Lippen – „freilich weiß ich wohl, daß die Schuld Dich nur zur Hälfte trifft. Ich kenne den Einfluß, der Dich antreibt, meine Schritte zu bespähen und meinem Thun stets die schlechtesten, niedrigsten Motive unterzulegen. Ich weiß, daß Du Dir trotz Deiner fünfundfünfzig Jahre noch niemals ein eigenes Urtheil gebildet hast – daß Du Dir Deine Ansichten, Deinen Geschmack und Dein Thun stets von Anderen vorschreiben läßt. – Aber trotzdem –“

„Ich bin es gewöhnt, von Dir als eine einfältige alte Person behandelt zu werden, die nicht im Stande ist, selbstständig zu denken und zu urtheilen,“ fiel die Tante ihr in ärgerlichem Tone in's Wort. „Zwar weiß ich, daß ich an Geist und Energie weit hinter meiner Schwester Clemence zurückstehe, aber so dumm bin ich denn doch nicht, daß ich aus gewissen Folgen nicht auf die Ursachen zurückschließen könnte. Glaubst Du, es ist mir nicht gestern schon aufgefallen, daß Du mit ganz ungewöhnlicher Freundlichkeit jenem preußischen Abenteurer entgegengekommen bist, der sich hier unter uns niedergelassen hat? – Willst Du es leugnen, daß der kleine Dienst, welchen er uns leistete, durchaus nicht des Aufhebens werth war, welches Du davon machtest – leugnen, daß Du freundlicher und achtungsvoller zu ihm sprachst, als jemals zu Deinem eigenen, leiblichen Vetter, dem armen Charles?“

„Leugnen?“ fragte das junge Mädchen stolz. „Weshalb sollte ich irgend eine meiner Handlungen leugnen? Ich bin bereit, jede vor der ganzen Welt zu vertreten. Und deshalb mache ich kein Hehl daraus, daß ich gesonnen bin, unserm neuen Nachbar jede Freundlichkeit zu erweisen, die in meinen Kräften steht, jeden Dienst zu leisten, den ich ihm zu leisten im Stande bin. Denn abgesehen davon, daß er einer Nation angehört, für welche ich warme Sympathien hege, so hat auch Alles, was ich von dem Manne gehört habe, mir eine aufrichtige Achtung eingeflößt, und seine bedeutende Persönlichkeit und die feste, kraftvolle Männlichkeit seines Wesens einen sehr angenehmen Eindruck auf mich hervorgebracht. Du darfst nicht die Hände zusammenschlagen, Tante, und die Augen gen Himmel richten – ich weiß sehr wohl, was ich spreche, und finde daran gar nichts Unstatthaftes, daß ich Dir noch ferner gestehen will, wie mir der Mann schon ganz außerordentlich gefallen hat, als ich ihn von den Fenstern unseres Coupés aus die Landstraße entlang reiten sah. Ich wußte nicht, wer er war, aber seine ganze Erscheinung, die Art wie er zu Pferde saß und seinen muthigen Braunen zügelte, sein ernstes Gesicht und die aufrechte Haltung seines Hauptes – dies Alles paßte so gut zu dem Bilde, das ich mir von ihm gemacht hatte, daß ich aufrichtig wünschte, in ihm unsern neuen Nachbar zu finden. Und als er uns später seinen Namen nannte, nachdem er uns so ritterlich zu Hülfe gekommen war und unsere unbändigen Pferde mit so kräftiger Hand zum Stehen gebracht hatte – war es da nicht natürlich, daß ich mich über die Erfüllung meines Wunsches freute und die feste Hand freundlich schüttelte, die mir einen so wesentlichen Dienst geleistet hatte? – Ich muß gestehen, Tante, ich fand dies so selbstverständlich, daß ich mich wunderte, als Du Deine Dankesworte ihm so knapp zumaßest.“

„Ich bin eben älter und kaltblütiger als Du, mein Kind, und lasse mir durch einen hoch getragenen Kopf und eine lange Gestalt nicht so leicht imponiren. Kannst Du es mir übrigens verdenken, Paula, daß Deine preußischen Sympathien mich ängstlich und sorgenvoll machen? Du kennst die Ansichten unserer Familie. Du weißt, welche Wünsche man in Betreff Deiner hegt. Nun denke Dir meinen Schreck, als ich, da ich Dich hier aufsuchen will und nicht finde, einen Blick in das Teleskop werfe. Da steht die Fabrik dieses Preußen vor mir, so nahe, als sollte ich sie greifen. Da sehe ich den Fabrikhof, die hohen Essen der Spinnerei, den Garten und dahinter das Wohnhaus mit dem Balcon und dem Zeltdache darüber. Ich frage Dich, soll mich das nicht erschrecken?“

„Ich weiß nicht, was daran zu erschrecken ist, Tante. Das Alles sieht sehr gut, sehr wohlerhalten und sehr stattlich aus. Und ohne Zweifel hätte es Dir noch besser gefallen, wenn es Dir gleich mir gelungen wäre, den Besitzer zu erschauen. Denn,“ fuhr sie nach einer Pause fort, und ein Lächeln zog über ihr Gesicht, „Du hast einen viel zu feinen, scharfen Blick und einen zu guten Geschmack, um nicht auch Wohlgefallen an unserem neuen Nachbar zu finden.“

„Niemals, Paula, niemals! Ich kann diese steifnackigen Preußen nicht leiden.“

„Du sprichst das nach, weil Tante Clementine es Dir vorgesprochen hat,“ entgegnete die Nichte überredend. „Ich kenne Dich zu gut, um nicht zu wissen, daß ein männlicher Mann Dir auch besser gefällt, als solch ein zierliches Püppchen, wie Vetter Charles oder die Herrchen, mit denen er uns in Baden bekannt machte. Sieh, das gefällt mir an unserem preußischen Nachbarn am besten, daß jede seiner Bewegungen ihn als ganzen und wahren Mann kennzeichnet. Seiner starken Hand merkt man an, daß sie das, was sie ergriffen, auch festzuhalten versteht.“

„Du hast gestern eine ungemein scharfe Beobachtungsgabe entwickelt, Kind! Von allen den Vorzügen, die Du mir da

[713]

Das Siegesdenkmal in Freiburg.
Nach einer Photographie auf Holz übertragen.

[714] rühmst, habe ich nichts entdecken können, ein Beweis, daß Deine Phantasie Dir wieder einen Streich gespielt hat. Es geschieht Dir das oft, und daher kommt es, daß Deine Bewunderung nie lange Stand hält. Ich hoffe, sie wird auch dieses Mal schnell genug verfliegen.“

„Hoffe das nicht, Tante Siddy! Dieses Mal wird meiner Bewunderung keine Ernüchterung folgen. Du sollst es erleben, daß ich meinem stattlichen Preußen unwandelbare Treue bewahre?“

„Das würde mir Deinetwegen Sorgen machen, Paula,“ erwiderte Fräulein Sidonie.

„Natürlich, Tante, denn wann hättest Du Dir nicht Sorge gemacht? Heute bejammerst Du meine Flatterhaftigkeit und morgen meine Ausdauer. Wann wirst Du doch aufhören, Kummer und Herzeleid über Deine ungerathene Nichte zu fühlen?“

„Wahrscheinlich erst dann, wenn ich Dich glücklich im Hafen sehe und mein schwieriges Amt auf die Schultern eines Anderen abwälzen kann.“

„Nun denn, Tantchen, freue Dich! Ich will Dir vertrauen, daß Du diesem Ziele nie näher gewesen bist, als eben jetzt.“

„Paula, ich warne Dich – rede solche Thorheiten auch selbst im Scherze nicht! – oder solltest Du Dich mit Charles verständigt haben?“

„Meine Schuld ist es nicht, daß er mich nicht schon lange verstanden hat; ich habe es an Deutlichkeit nicht fehlen lassen.“

„Du hast ihn in der That schlecht genug behandelt. Ich, an seiner Stelle, hätte mir das nicht gefallen lassen.“

„Ich auch nicht, Tante!“

„Er hat eben dadurch seine große Gutmüthigkeit und seine Liebe zu Dir bewiesen.“

„Liebe, Gutmüthigkeit!“ rief Paula mit einem verächtlichen Zucken ihres hübschen Mundes, „sage lieber: Habsucht und Feigheit! Wenn er ein Mann wäre, so hätte er mir schon lange stolz den Rücken kehren und seiner Wege gehen müssen.“

„Er harrt aus, weil er Dich liebt, Kind.“

„Tante, Du sprichst Dinge, die Du selbst nicht glaubst, die Dir Tante Clemence vorgesprochen hat. Du weißt es ebenso gut wie ich, daß er nicht mich, sondern nur mein Geld liebt. Fort mit ihm! Ich mag ihn nicht. Ich möchte ihn nicht zum Manne haben, auch wenn er der Einzige seines Geschlechts auf der Welt wäre.“

„Gott im Himmel, Paula, was soll daraus werden? O, ich sehe schreckliche Zeiten voraus.“

Tante Sidonie, welche während dieses Gespräches unruhig im Zimmer auf und nieder gegangen war, blieb jetzt vor ihrer Nichte stehen und blickte ihr kummervoll in’s Gesicht. Ihre rathlose Miene und die ängstliche, nervöse Hast ihrer Bewegungen standen in seltsamem Contrast zu dem heiteren, zuversichtlichen Lächeln auf dem Antlitze der hübschen Nichte und der ruhigen Sicherheit ihrer Haltung. Sie hatte sich einen Sessel an das Teleskop gerückt und von Zeit zu Zeit mit sichtlichem Interesse hineingeblickt.

„Sorge Dich nicht, Tantchen!“ sagte sie jetzt, ihren Kopf wieder emporhebend und mit beruhigendem Lächeln zu ihrer Tante hinüberblickend. „Du siehst ja, wie ruhig und zuversichtlich ich bin. Ende dieses Jahres werde ich majorenn, das heißt so viel als: meine Person wird dann von der Bevormundung der Tante Clemence und mein Vermögen von der Verwaltung des Herrn Kayser frei. Dann heißt es: Es lebe die Freiheit!“

„O, daß ich Dich so sprechen hören muß! – Und was gedenkst Du denn mit Deiner Freiheit anzufangen? Willst Du etwa den langen Preußen heirathen?“

„Setzen wir den Fall, ich hätte Lust dazu – was dann, Tantchen?“

„Was dann? Nun, das bedeutet so viel, als, Du treibst Deine arme alte Tante aus Deinem Hause,“ sagte Fräulein Sidonie unter strömenden Thränen, während sie sich ihrer Nichte gegenüber setzte, als hätten ihre Füße plötzlich die Kraft verloren, sie zu tragen. „Wenn ich es erleben müßte, daß jener preußische Abenteurer, von dem alle Welt weiß, daß er ruinirt ist oder es doch wenigstens in kürzester Zeit sein wird – wenn ich es erleben müßte, ihn hier als Herrn und Gebieter schalten zu sehen – mir müßte das Herz brechen.“

„Glaube doch das nicht, Tante Siddy! Es hat schon so oft brechen wollen und ist dennoch immer hübsch ganz und heil geblieben. Du wirst Dich mit Deinem stattlichen Neffen schon aussöhnen.“

„Niemals, niemals! Ich werde gehen, so weit mich meine Füße tragen.“

„Das wird nicht gar so sehr weit sein. – Aber“ –und sie schaute mit der Miene hoher Befriedigung in das Glas – „da ist Er. – Ich sehe Ihn. – Wie das meinem Herzen wohlthut!“

„Daß Du Dich nicht schämst, so zu sprechen!“

„Da kommt er die Balcontreppe hinab mit seinem festen Soldatentritt; er geht Arm in Arm mit einer Dame den Mittelgang hinab; er beugt sich zu ihr nieder – Tante, willst Du nicht sehen, wie hübsch und vornehm er aussieht?“

„Du bist eine Närrin, Paula. Laß mich in Ruhe!“

„Und wenn ich denke, daß es nicht mehr lange dauern wird, bis Du so an seinem Arme einhergehen wirst! – Kleines Tantchen, ich sehe voraus, daß Du dann um einen Kopf größer wirst aus freudigem Stolze.“

„Es haben sich schon ganz andere Leute, als Du, mit ihren Prophezeiungen getäuscht.“

„Es wird allerdings nicht ganz bequem für ihn sein, Dich zu führen, denn Du reichst ihm kaum bis an den Ellenbogen. Aber ich glaube, er ist sehr gutmüthig – starke Männer sind das immer; er wird sich schon dazu verstehen, sich Deinem Schritte anzubequemen.“

„Gutmüthig! Anbequemen! – Nun, ich gelobe es Dir an: ich werde seine Gutmüthigkeit nicht auf die Probe stellen.“

„Gelobe Nichts, Tantchen, gar nichts! Du wirst Deinem Gelübde doch untreu.“

„Nun, das wollen wir doch sehen,“ rief Tante Sidonie, indem sie sich entschlossen erhob und vor ihre lachende Nichte hintrat, die, nachlässig in den Sessel zurückgelehnt, mit halbgeschlossenen Augen zu ihr hinüberblinzelte. „Ich weiß, daß Du von jeher ein Kobold gewesen bist, der seine Freude daran hatte, verständige Menschen in die Irre zu führen; deshalb will ich noch hoffen, daß Deine Faseleien nicht Viel zu bedeuten haben. Aber ein Fünkchen Wahrheit pflegt ihnen doch zu Grunde zu liegen – und deshalb will ich Dir meinen festen, unabänderlichen Entschluß mittheilen. Merke Dir’s, Kind: sobald ich irgend ein Einverständniß zwischen Dir und jenem norddeutschen Räuber bemerke –“

„Wahre Deine Zunge! Selbst von seiner Tante würde er eine solche Kränkung seiner Ehre nicht geduldig hinnehmen.“

„So packe ich meine Sachen,“ fuhr Fräulein Sidonie unbeirrt fort, „und verlasse dieses Haus.“

„Tante, Tante! Mache mich nicht unglücklich!“

„Ich weiß wohl, daß Du Dir aus mir nicht viel machst,“ und die Stimme der alten Dame fing wirklich an zu zittern, „aber meine Abwesenheit würde sich doch bald genug fühlbar machen. Wie hier die Wirthschaft gehen soll, wenn ich sie nicht in Ordnung halte, das möchte ich sehen. Du hast Dich nie um irgend Etwas bekümmert. Du bist so nachlässig und sorglos und läßt jedes Ding liegen, wo Du es gebraucht hast. Wenn ich nicht Alles unter Schloß und Riegel hielte – was würde dann werden? Dir könnte man Deine Sachen vom Leibe stehlen, ohne daß Du es merktest.“

„O, im Winter doch wohl,“ schaltete die Nichte ein.

„Und was die Tafelvorräthe anbelangt – den Zucker und die Conserven und den Wein und den Thee – da wird dreimal so viel verbraucht werden als jetzt, Du hast keine Idee vom Haushalten. Denke daran, wie oft Du den Schlüssel in der Cassette hast stecken lassen – wie oft ich ihn abgezogen und Dir gebracht habe!“

„Damit hat’s keine Noth, Tantchen. Den Schlüssel der Cassette wird Er schon in der Tasche behalten.“

„Soll ich das etwa so verstehen, daß ich mir das Wirthschaftsgeld von ihm soll zuzählen lassen?“

„Es wird sich nichts Anderes thun lassen, Tante Siddy.“

„Nun, ehe ich das erlebe, lieber mag Alles zu Grunde gehen!“ rief die alte Dame in großer Erregung. „Und das soll der Lohn sein für alle meine Liebe und Treue?“

„Nein, Tantchen, so soll es nicht sein, eine so ungerathene, [715] entmenschte Nichte bin ich nicht. Dein Jammer geht mir zu Herzen – komm, laß’ Deine Thränen trocknen! Ich kann Dir nicht das Herz brechen. Siehst Du, ich will Dir ein Opfer bringen: ich entsage ihm. Sei ruhig, ich nehme ihn nicht. – Aber ich fürchte, wir haben dabei doch nicht viel gewonnen; denn wenn meine Kräfte auch einem Einzelnen gegenüber ausreichen, der Nation gegenüber – das fühle ich – bin ich widerstandslos. Die Nation hat es mir angethan; sie ist mein Verhängnis.“

„Gegen dieses Verhängniß wird es wohl noch wirksame Mittel geben.“

„Das glaube ich nicht. Ich fühle, daß dieser Zug meines Herzens die Stimme meines Schicksals ist. ‚Ein Preuße‘ – so lautet die Lösung meines Lebensräthsels.“

Sie hatte sich, während sie sprach, der Thür genähert, von wo sie jetzt lachend zu ihrer Tante zurückblickte.

„So, Tantchen, nun gehe ich und überlasse Dich Deinem Nachdenken; ich bin versichert, daß die Einsamkeit Dich auf bessere Gedanken bringen wird. Komm, Tristan, mein deutscher Held! Wir wollen einen Gang durch den Garten machen.“

Mit einem Pfiff rief sie ihren Hund zu sich heran und hatte mit ihm bereits die erste Stufe der Treppe erreicht, als sie sich noch einmal auf dem Absätze umdrehte.

„Laß Dir rathen, Tantchen, thue Deine Morgenhaube ab und hole die neue, die mit den blauen Schleifen hervor, die ich Dir aus Straßburg mitbrachte! Wirf auch einen Blick auf den Frühstückstisch und lasse Portwein – vom gelbgesiegelten – aufstellen! Ich wünsche, daß es an nichts fehle, denn ich erwarte Besuch.“

„Das fehlte nun noch – heute schon! Ich komme nicht zum Vorschein, wenn er uns besucht. Dann magst Du zusehen, wie Du ihn schicklich empfängst.“

Die Nichte lachte und sprang leichtfüßig die Stufen hinab.

(Fortsetzung folgt.)




Das Genossenschaftswesen in Deutschland.


Was in unseren Tagen in die Welt hineingeschrieben wird, uns in wichtigen, die Zeit bewegenden Fragen zu praktischem Angriff zu mahnen, während die Schreiber über das Nächste, was darin vor Aller Augen vorgeht, sich in vollständiger Unkenntniß befinden, davon liegt ein Beispiel in einer geachteten Zeitschrift vor, welches man kaum für möglich halten sollte.

In Nr. 1, Band II, einer in Leipzig erscheinenden Wochenschrift ist nämlich in einem Dr. M. gezeichneten Artikel „Die Arbeiterfrage“ in Bezug auf die aus der Unselbstständigkeit der Arbeiter herrührenden Mißstände wörtlich zu lesen: „In England ist man bemüht, diesem Uebel durch die Genossenschaft abzuhelfen. In Deutschland ist Huber’s Bemühen bis jetzt vergeblich gewesen, diese sittlich naturgemäße Einrichtung bei uns heimisch zu machen.“

Wo, in welcher von der Welt abgeschlossenen Klause lebt der Schreiber, um diesen unglaublichen Ausspruch zu thun, während sich die Genossenschaften zu Tausenden seit fast einem Menschenalter – 1875 wurde in München das fünfundzwanzigjährige Jubiläum gefeiert – bei uns verbreitet haben! So sind für dieses Jahr in Deutschland – Deutsch-Oesterreich eingeschlossen – 2830 Creditgenossenschaften, als Volks- und Gewerbebanken, Vorschuß- und Creditvereine, 743 Genossenschaften in einzelnen Gewerbszweigen, Productiv-, Rohstoff-, Magazin- und Werkgenossenschaften, 1049 Consumvereine, 64 Baugenossenschaften: 4686 in Summa, in dem eben zur Veröffentlichung gelangenden Jahresbericht pro 1876 nachgewiesen, sodaß man den Gesammtbestand wohl auf 4800 anschlagen muß, da die Entstehung neuer Vereine nicht gleich bekannt wird.

Nach den mäßigsten Schätzungen muß der Mitgliederbestand dieser Genossenschaften auf mindestens 1,380,000, die von ihnen gemachten Geschäfte im verflossenen Jahre auf 2650 Millionen Reichsmark, ihre angesammelten Capitalien in Geschäftsantheilen der Mitglieder und Reserven auf 170 bis 180 Millionen, die zum Betriebe ihnen anvertrauten fremden Gelder auf 360 bis 370 Millionen Reichsmark angeschlagen werden, worüber man die speciellen Nachweisungen aus dem erwähnten statistischen Jahresberichte des unterzeichneten Anwaltes pro 1876 entnehmen mag.

Hieraus wird man ersehen, daß sich das deutsche Genossenschaftswesen mit dem englischen wohl messen kann. Mögen die Engländer im Bereiche der Consumvereine (Stores) uns voranstehen, so gleicht sich dies reichlich durch den Stand der Creditgenossenschaften bei uns aus, wo jene kaum in die ersten Anfänge einzulenken beginnen. Und nicht nur, daß wir in der Ausbreitung und Bedeutung der Bewegung wohl neben ihnen bestehen, sind wir ihnen in der Organisation derselben voraus, welche überall im Auslande als mustergültig anerkannt und mehr oder weniger nachgebildet wird. Vermöge dieser Organisation bilden die deutschen Genossenschaften einen allgemeinen Verband, der sich in einer Anzahl von Unterverbänden (gegenwärtig 34) je nach den deutschen Ländern und Provinzen gliedert und einen besoldeten Anwalt mit förmlich eingerichtetem Bureau – gegenwärtig den Unterzeichneten – zur Führung der Geschäfte an seine Spitze stellt. Alljährlich treten die Deputirten der zugehörigen Vereine zum sogenannten „Allgemeinen Vereinstag“, dem eigentlichen „Deutschen Genossenschafts-Congreß“ zusammen, welchem die Entscheidung in den gemeinsamen Angelegenheiten zusteht, wobei die Unterverbände ihm vorarbeiten und seine Beschlüsse zur Geltung bringen, während ihre Directoren dem Anwalte als engerer Ausschuß in Leitung der Geschäfte, besonders in der Finanzverwaltung, zur Seite stehen. So ist, ohne in die Selbstständigkeit der einzelnen Vereine einzugreifen, eine Centralisation geschaffen zu Austausch und Kritik der gemachten Erfahrungen, Verfolgung gemeinsamer Interessen mit vereinten Mitteln und Kräften und werthvollen Geschäftsverbindungen.

So wurde

a) die Gründung eines Organs in der Tagespresse, der Wochenschrift: „Blätter für Genossenschaftswesen“ (Verlag von E. Keil in Leipzig);
b) die Errichtung eines Centralgeld-Instituts, der mit drei Millionen Thaler dotirten „Deutschen Genossenschaftsbank“ in Berlin, zum Behufe der Vermittelung von Großbankverbindungen für die Vereine, endlich
c) die regelmäßige Herausgabe umfassender statistischer Jahresberichte (Verlag von Klinkhardt in Leipzig)

möglich – Einrichtungen, welche die Bewegung in hohem Grade förderten und weithin, wie wir bemerkten, die größte Anerkennung fanden. Auf Grund der bezüglichen statistischen Nachweise über die Resultate der deutschen Genossenschaften wurden bei den internationalen Congressen resp. Ausstellungen zu Amsterdam 1869 und zu Brüssel im verflossenen Jahre dem unterzeichneten Anwalt als dem Vertreter des Verbandes die ersten Preise durch die Jury zuerkannt. Und wie sich die italienischen Volksbanken zu der von uns empfangenen Anregung stellen, davon legen die in diesem Jahre von ihnen hierher gelangten Kundgebungen, welche nebst unserer Erwiderung in den „Blättern für Genossenschaftswesen“ (Seite 90, 98, 139) abgedruckt sind, ein erfreuliches Zeugniß ab. Danach hat der erste Congreß derselben Ende April zu Mailand, unter dem Vorsitz des Unterstaatssecretärs im Ministerium für Handel und Gewerbe, Luigi Luzzatti, stattgefunden, auf welchem ein Verband derselben nach dem Muster des unserigen zu Stande gekommen ist. Bei der Bedeutung, welche diese Cooperation auch für die Anknüpfung weiterer Beziehungen zwischen beiden Völkern in Aussicht stellt, lassen wir die kurzen Schriftstücke hier im Wortlaute folgen.

Das erste Telegramm, welches der internationale Congreß an den Unterzeichneten richtete, lautete:

„Der erste zu Mailand versammelte Congreß Italienischer Volksbanken schließt in dankbarem Angedenken an Ihren Namen, indem er Sie zum Führer und Begründer des volksthümlichen Genossenschaftswesens proclamirt.

Der Präsident des Congresscs: Luzzatti.“     

In dem Briefe an den Herrn Unterstaatssecretär Luigi Luzzatti [716] in Rom, in welchem der Unterzeichnete als Anwalt des Allgemeinen deutschen Genossenschafts-Verbandes das italienische Telegramm vom April beantwortet hat, sprach er seine Freude über das Stattfinden „des ersten Congresses italienischer Volksbanken in Mailand“ aus, den er als den Schlußstein des Baues bezeichnete, welcher bestimmt sei, den jungen Schöpfungen seinen Schirm gegen Angriffe und Gefahren mancher Art zu bieten, die ihnen nicht erspart bleiben würden. Er nennt denselben „eine Cooperation in der höheren Potenz“, welche die Wirkung habe, die bisher nur localen Anstalten zu einer nationalen Institution zu erheben, und legt zur Mittheilung an den Congreß einige Schriften bei, welche sich auf die Cooperativbewegung bei uns, deren Organisation und die damit zusammenhängende sociale Frage beziehen. Schließlich ruft er, da Italien und Deutschland große, mehrfach verwandte Aufgaben haben, den Friedensgruß an die Genossenschaften Aller Culturländer, der 1875 vom Allgemeinen Vereinstage in München ausging, den italienischen Strebegenossen insbesondere zu.

Darauf lief folgende Zuschrift ein und dieses Mal in deutscher Sprache:

Milano, den 16. Juni 1877.
Hochgeehrter Herr und Freund!

Ihr Brief hat eine große Freude bei den italienischen Mitarbeitern angerichtet.

Die italienische Cooperation folgt dem Beispiele der deutschen; Ihr glorreicher Name, von mir in vielen öffentlichen Versammlungen gepriesen, erhielt Anerkennung bei den italienischen Handwerkern gleich wie bei den deutschen. Sie haben gut gedacht, daß unser allgemeiner Vereinstag auf einer beständigen Commission beruht, und ich habe in Italien dieselbe Institution eingeführt, welcher Sie in Deutschland vorsitzen.

Deutschland und Italien in dem Felde der Wissenschaft, sowie in dem sozialen Fortschritt, werden der Welt zeigen, daß die Freiheit und die freie Forschung die soziale Frage erschöpfen und lösen.

Die Mitglieder der Commission wünschen, mit ihrer Unterschrift ihre Huldigung kund zu machen.

Der Vorsitzer der auf Selbsthülfe beruhendenn italienischen Genossenschaftern.

Luigi Luzzatti, Abgeordneter.

NB. Ich werde Ihnen die Acten unseres Congresses schicken.“

So kann sich denn der Schreiber jenes Artikels über den Stand der Genossenschaften in Deutschland beruhigen; ein tüchtiger Stamm gesunder Kräfte aus unserem Volke ist an der Arbeit. Und wie ersprießlich, ja unentbehrlich die Thätigkeit der Genossenschaften ist, besonders in der schweren wirthschaftlichen Lage, welche seit Jahren auf uns lastet, davon weiß man nicht blos in den Kreisen der Arbeiter und Handwerker, sondern auch in denen des mittleren Gewerbstandes zu reden, welche sich den Genossenschaften mehr und mehr zuwenden. So sieht man Elemente aus den verschiedensten Lebenskreisen sich zusammenschließen, der socialdemokratischen Agitation Stand halten und in der Schule der wirthschaftlichen Selbsthülfe der Reise des Volks für weitere Lebensgebiete vorarbeiten.

Potsdam, 31. August 1877.

Der Anwalt des Deutschen Genossenschaftsverbandes.

Dr. Schulze-Delitzsch.




Blätter und Blüthen.

Ein Findelkind. (Mit Abbildung Seite 705). Ein vornehmes Kind, in kostbares Spitzengewand gehüllt, an der Pforte des Klosters ausgesetzt und von den frommen Schwestern in zärtliche Hut genommen – wer fühlte nicht durch dieses von unserm Künstler so eindrucksvoll dargestellte Motiv sein Interesse in Anspruch genommen? Wer sind die Eltern, und was ist der Grund der Aussetzung? Ob der Brief in der Hand der Nonne, der dem Kinde beilag, das Rätsel löst oder ob er den Gram und den Kampf, den das Mutterherz durchgelitten, ehe es das Liebste dahingegeben, verhüllt und nur für das Kind bittet: „O, habt Erbarmen!“ – niemand sagt es, niemand ergründet es. Und warum ist es gerade das Kloster, an dessen Pforte die Mutterliebe anklopft? Giebt es im Umkreise keine andere Stätte der Barmherzigkeit und Liebe, giebt es kein – Findelhaus?

Wir berühren mit dieser Frage ein Thema, dessen Für und Wider in Wort und Schrift schon seit Jahrhunderten mannigfach beleuchtet worden. Die Nächstenliebe vertheidigt ein Institut, welches so manche unaufgeblühete Menschenknospe vor dem sicheren Tode rettet, aber die Sittencensur verurtheilt in ihm eine Einrichtung, die angeblich der Unsittlichkeit Thür und Thor öffnet – und beide Anschauungen dürften, jede von ihrem Standpunkte aus, im Rechte sein. Es fragt sich nur: was hat den Ausschlag zu geben – die schützende Rücksicht auf die Tausende von sonst verlorenen jungen Menschenleben oder eine vielleicht übertriebene Aengstlichkeit vor drohenden Gefahren für die Volkssittlichkeit?

Es kann nicht unsere Aufgabe sein, auf diese Streitfrage hier einzugehen. Praktisch ist sie jedenfalls längst zu Gunsten der Findelhäuser entschieden. Sie haben bei allen europäischen Völkern eine Geschichte aufzuweisen, welche wenigstens darthut, daß sie, wenn nicht ein segensreiches Institut, so doch sicher ein unentbehrliches Correctiv in der menschlichen Gesellschaft sind. Die christliche Kirche nahm sich schon im frühen Mittelalter der Findelkinder an; denn bereits im sechsten Jahrhundert soll zu Trier an der Kathedralkirche sich eine Marmorschale zur Aufnahme ausgesetzter Kinder befunden haben. Das erste Findelhaus im heutigen Sinne wurde 787 in Mailand gegründet. Seitdem haben sich ähnliche Institute in allen civilisirten Ländern Europas mehr und mehr verbreitet und in ihrer inneren Organisation befestigt und vervollkommnet. Namentlich in den romanischen Ländern sind sie heute sehr zahlreich. Es wurden z. B. 1810 in Frankreich 55,700 Kinder, 1833 aber deren 133,000 ausgesetzt. In Spanien – um dies noch zu erwähnen – weisen die Findelhäuser sehr originelle, ja humoristische Eigenthümlichkeiten auf; alle Findlinge werden dort gesetzlich als adelig betrachtet, damit nicht etwa einer unter ihnen, der wirklich vom Adel ist, dieses kostbaren gesellschaftlichen Vorrechts verlustig gehe. In Rußland gibt es ganze Findlingscolonien.

Aber wir wollten unser Bild interpretiren und verlieren uns in Daten zur Entwicklungsgeschichte der Findelhäuser. Sei es drum! Vielleicht geben diese Notizen, zusammen mit dem Bilde, das sich, im Grunde betrachtet, selbst erklärt, an geeigneter Stelle einige Anregung zur intimeren Beschäftigung mit dem jedenfalls interessanten Gegenstande des Findelhauswesens und seiner Entwickelung und Bedeutung für unsere Tage.


Das Freiburger Sieges-Denkmal. (Mit Abbildung. S. 713.) Der Breisgau, der zwei Jahrhunderte lang die äußerste Südwest-Grenzmark Deutschlands gegen das französisch gewordene Elsaß bildete, stand im Januar 1871 in der Gefahr, von Bourbaki’s Armee überschwemmt zu werden. Es war ein Thermopylenkampf, welcher dort von einer deutschen Heldenschaar gegen eine mehr als dreifache Uebermacht ausgekämpft werden mußte, um das Grenzland vor dem Einbruch rachedrohender Horden zu schützen. Diesen Kampf bestand bekanntlich der General von Werder mit seinem vierzehnten Armeecorps. Die dreitägige Schlacht an der Lisaine am 15., 16. und 17. Januar rettete durch den Sieg über Bourbaki das badische Land vor der drohenden Verwüstung. Zum Dank dafür hat die Hauptstadt des Breisgau den heldenmüthigen Rettern ein Denkmal errichtet, dessen Enthüllung und Weihe am 3. October im Beisein des deutschen Kaisers und des Kronprinzen, der badischen Fürstenfamilie, des Generals von Werder und vieler Deputationen des vierzehnten Armeecorps in der geschmückten und volkdurchwogten Stadt bei echtem Kaiserwetter gefeiert worden ist. Das Denkmal – jedenfalls eines der imposantesten Siegesmonumente in Deutschland – ist vom Professor Moest in Karlsruhe nach seinem Preismodell ausgeführt worden, steht auf dem ehemaligen Casernen-, jetzt Kaiser-Wilhelms-Platz und trägt vier Inschriften, von denen die wesentlichste an der Südseite lautet:

Dem
XIV. deutschen Armeecorps und seinem Führer
General von Werder
das dankbare badische Volk.

Höchst sinnig ist vom Künstler durch die Vertheidigungsstellung der vier Kriegergestalten auf den Ausladungen an den vier Ecken des Unterbaues der Hauptcharakter jenes großartigen Kampfes bezeichnet, dessen Aufgabe war, nicht, wie der Gegner, angriffsweise zu verfahren, sondern das offene Thor zum unbeschützten Vaterland bis zum letzte Mann zu vertheidigen.

So sind nun drei deutsche Männer in Freiburg durch Denkmale geehrt worden: Rotteck, Berthold Schwarz und Werder.



Eine dringende Bitte. Das Correspondenzblatt für Schweizer Aerzte enthält das nachstehende Gesuch der ärztlichen Gesellschaft von Winterthur an die Eisenbahndirection der dort einmündenden acht Bahnen.

  1. Die Dampfpfeife möge auf einen lieferen Ton gestimmt werden, wodurch sich der schädliche Einfluß auf das Ohr vermindert, ohne daß das Signal an Deutlichkeit einbüßt.
  2. Die Signale sind vor allem im ganzen Bereich des Bahnhofes und seiner Zufahrtslinien nicht so übermäßig laut und lange zu geben, und jedes unnöthige Signalgeben ist überhaupt zu vermeiden.
Diese gerechtfertigte Petition müssen auch wir auf das Wärmste befürworten. Schon der gesunde Mensch springt erschreckt drei Schritte zurück wenn der schrille Pfiff der Dampfpfeife ihm Mark und Bein durchschneidet; um wie viel mehr erregt der scharfe Ton den armen Kranken, welcher der Badereise wegen nothgedrungen die Eisenbahn benutzen muß! Möchten daher auch die deutschen Eisenbahndirectionen die nöthige Rücksicht auf die Nerven ihrer Passagiere nehmen! Ein solches Herabstimmen der Dampfpfeife würde für viele Reisende ein willkommenes Weihnachtsgeschenk sein.
Dr. – a –

Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Die späteren Capitel werden illustrirt erscheinen.
    D. Red.