Die Gartenlaube (1878)/Heft 13

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1878
Erscheinungsdatum: 1878
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[207]
Um hohen Preis.
Von E. Werner.
(Fortsetzung.)
Nachdruck verboten und Uebersetzungsrecht vorbehalten.


Das Wort kam sehr trotzig und entschieden von den Lippen der jungen Dame; sie schien wieder einmal in kriegerischer Stimmung und fest entschlossen zu sein, den gefürchteten Vormund zu reizen, aber vergebens; er blieb vollkommen gelassen und schien den Widerspruchsgeist seines Mündels eher belustigend als beleidigend zu finden.

„Ein Glück, daß Deine Mutter nicht zugegen ist!“ bemerkte er. „Sie würde wieder in Todesangst gerathen über den Trotzkopf, der sich so gar nicht der Nothwendigkeit fügen will, wie sie es mit großer Selbstverleugnung thut. Du solltest Dir an ihr ein Beispiel nehmen.“

„O ja, Mama ist die Nachgiebigkeit selbst gegen Dich,“ rief Gabriele, immer erregter werdend, „und sie muthet das auch mir zu. Aber ich will nicht heucheln, und lieben kann ich Dich nicht, Onkel Arno, denn Du bist nicht gut gegen uns und bist es nie gewesen. Gleich Dein erster Empfang war so demütigend, daß ich am liebsten sofort wieder abgereist wäre, und seitdem hast Du uns täglich und stündlich empfinden lassen, daß wir von Dir abhängig sind. Du behandelst meine Mama mit einer Nichtachtung, die mir oft genug das Blut in’s Gesicht treibt. Du sprichst in wegwerfender Weise von meinem Papa, von ihm, der todt ist und sich nicht mehr vertheidigen kann, und mich behandelst Du wie ein Spielzeug, mit dem man es überhaupt nicht ernst nimmt. Du hast uns aufgenommen, und wir leben in Deinem Schlosse, wo Alles viel reicher und glänzender ist, als in meinem Elternhause, aber ich wäre doch weit lieber in unserem schweizer Exil, wie Mama es nennt, in unserem kleinen Landhause am See, wo Alles so einfach und bescheiden war, wo wir kaum das Nothwendige hatten, aber wo wir frei waren von Dir und Deiner Tyrannei. Mama verlangt, ich soll sie geduldig ertragen, weil Du reich bist und meine Zukunft von Dir abhängt, aber ich will Dein Vermögen nicht; ich frage nicht darnach, ob Du mich zur Erbin einsetzest. Ich möchte fort von hier, je eher, desto lieber.“

Sie war aufgesprungen und stand jetzt in leidenschaftlichster Erregung vor ihm, den kleinen Fuß energisch vorgesetzt, den Kopf zurückgeworfen, die Augen voll von Thränen des Zornes und der Erbitterung, aber es lag doch mehr in diesem stürmischen Ausbruch als nur der Trotz eines eigensinnigen Kindes. Jedes Wort verrieth die tiefste, innerste Gekränktheit, und es war nur allzu viel Wahres in den Anklagen, die sie dem Vormunde so kühn in’s Antlitz schleuderte.

Raven hatte sie mit keiner Silbe unterbrochen; er sah sie unverwandt an, und als sie jetzt schwieg und die Hände tiefathmend gegen die Brust preßte, während ein Thränenstrom aus ihren Augen stürzte, beugte er sich plötzlich zu ihr nieder und sagte mit tiefem Ernste: „Weine nicht, Gabriele! Dir wenigstens habe ich Unrecht gethan.“

Gabrielens Thränen stockten; jetzt, wo sie zur Besinnung kam, wurde ihr erst die ganze Unvorsichtigkeit ihrer Worte klar. Sie hatte sicher einen Ausbruch des Zornes erwartet – und nun statt dessen diese unbegreifliche Ruhe stumm, fast scheu sah sie zu Boden.

„Also Du willst mein Vermögen nicht?“ fuhr der Freiherr fort. „Was weißt Du denn überhaupt davon, wen ich zu meinem Erben einzusetzen denke? Ich habe Dir meines Wissens niemals etwas darüber mitgetheilt, und doch scheint es Gegenstand sehr eingehender Erörterungen zwischen Dir und Deiner Mutter gewesen zu sein.“

Das junge Mädchen wurde glühend roth. „Ich weiß nicht – wir haben nie –“

„Laß den Versuch, es zu leugnen, Kind!“ unterbrach sie Raven. „Noch hast Du die Unwahrheit so wenig gelernt, wie die Berechnung; sonst würdest Du mir nicht so gegenübertreten. Ich zürne Dir deshalb nicht; den Trotz kann ich verzeihen; die planmäßige Berechnung und Heuchelei hätte ich Dir bei Deinen siebenzehn Jahren nie verziehen. Gott sei Dank, die Erziehung hat noch nicht so viel verdorben, wie ich fürchtete.“

Er nahm ruhig, als wäre nichts vorgefallen, ihre Hand, zog sie auf die Bank nieder und setzte sich neben sie. Gabriele machte einen Versuch, seitwärts zu rücken.

„Nun, Du wirst mir doch gestatten, Deine Kriegserklärung in aller Form entgegen zu nehmen?“ sagte der Freiherr. „Deine Mutter wird sich ihr freilich nicht anschließen, wenigstens nicht in so offener Weise. Sie hat Dir jedenfalls größere Liebenswürdigkeit gegen den ‚Emporkömmling‘ zur Pflicht gemacht.“

„Wie meinst Du?“ fragte das junge Mädchen betreten.

„Nun, das kann Dir doch unmöglich fremd sein. So viel ich weiß, war es die specielle Bezeichnung meiner Persönlichkeit in Deinem Elternhause.“

Diesmal hielt Gabriele tapfer den scharfen Blick aus, der auf ihrem Gesichte ruhte. „Ich weiß, meine Eltern liebten Dich nicht,“ entgegnete sie. „Du hast ihnen aber auch von jeher feindlich gegenüber gestanden.“

[208] „Ich ihnen? Oder sie mir? Doch das kommt schließlich auf eins heraus. Das sind Dinge, die Du noch nicht beurtheilen kannst, Gabriele. Du hast keine Ahnung davon, was es heißt, mit einer Lebensstellung, wie die meinige war, in eine hocharistokratische Familie und in deren Gesellschaftskreise zu treten. Ich habe dort stets nur einen Freund gehabt, Deinen Großvater; bei allen Anderen habe ich mir meinen Platz erst erobern müssen, und dazu giebt es nur zwei Wege. Entweder man beugt sich geduldig all den Demüthigungen, die auf das Haupt des Emporkömmlings gehäuft werden, man zeigt sich tief durchdrungen von der hohen Ehre, deren man gewürdigt ist, und begnügt sich damit, geduldet zu sein – darnach war meine Natur nicht geartet. Oder man wirft sich zum Herrn der ganzen Gesellschaft auf, man läßt sie fühlen, daß es noch eine andere Macht giebt, als die ihrer Stammbäume, und setzt bei jeder Gelegenheit ihrer Ueberhebung und ihren Vorurtheilen den Fuß auf den Nacken; dann lernen sie sich beugen. Es ist im Allgemeinen viel leichter die Menschen zu unterdrücken, als man glaubt; man muß es nur verstehen, ihnen zu imponiren, darin liegt das ganze Geheimniß des Erfolges.“

Gabriele schüttelte leise den Kopf. „Das sind harte Grundsätze.“

„Das sind die Erfahrungen der dreißig Jahre, die ich vor Dir voraus habe. Denkst Du, ich habe nicht auch meine Ideale gehabt, meine Träume und meine Begeisterung? Denkst Du, es hat hier nicht auch geflammt mit all den heißen Empfindungen der Jugend? Aber das nimmt ein Ende, wenn man im Leben vorwärtsschreitet. In eine Laufbahn wie die meinige konnte ich die Träume nicht mit hinübernehmen. Sie halten am Boden fest, und ich wollte emporsteigen und bin emporgestiegen. Ich habe freilich einen hohen Preis dafür gezahlt, zu hoch vielleicht – gleichviel, ich habe es erreicht.“

„Und bist Du glücklich dadurch geworden?“ Die Frage kam fast unwillkürlich von den Lippen des jungen Mädchens.

Raven zuckte die Achseln. „Glücklich! Das Leben ist ein Kampf, keine Glückseligkeit. Man wirft den Gegner oder wird geworfen; ein Drittes giebt es nicht. Du freilich siehst das alles noch mit anderen Augen an. Dir ist das Leben noch ein Sommertag, wie er da draußen leuchtet. Du glaubst noch, daß dort in jener schimmernden Ferne, hinter jenen blauen Bergen ein ganzes Eden voll Glück und Seligkeit liegt – Du täuschest Dich, Kind. Die goldene Sonne scheint über unendlich viel Jammer und Erbärmlichkeit, und hinter den blauen Bergen ist auch nichts weiter, als der mühselige Weg von der Wiege zum Grabe, den wir uns noch mit so viel Haß und Streit würzen. Das Leben ist nur dazu da, um jeden Tag neu überwunden zu werden, und die Menschen – um sie zu verachten.“

Es lag eine unbeschreibliche Härte und Herbheit in diesen Worten, aber auch die ganze Entschiedenheit des Mannes, der einen ihm unerschütterlich gewordenen Glaubenssatz ausspricht. Die tiefe Bitterkeit freilich, welche hindurchwehte, entging dem jungen Mädchen, das halb beklommen und halb empört zuhörte.

„Aber schließlich kommt doch die Zeit, wo man dieses ewigen Kampfes überdrüssig wird,“ fuhr Raven fort, „wo man sich fragt, ob die einst erträumte Höhe es denn werth war, sein Alles dafür einzusetzen, wo man die Summe all dieses ruhelosen Jagens und Ringens, all dieser Erfolge zieht und des ganzen Spiels herzlich müde wird. Ich bin oft müde – recht müde.“

Er lehnte sich zurück und sah in die Ferne hinaus, es lag ein finsterer Schmerz in diesem Blicke, und die tiefe Müdigkeit, von der er sprach, verrieth sich auch in seiner Stimme. Gabriele schwieg, auf’s Höchste betroffen von der tiefernsten Wendung, die das Gespräch genommen hatte, das auch sie auf ganz unbekannte Bahnen führte. Sie hatte bisher nur den eisernen, unzugänglichen Mann gekannt, mit seiner kalten Ruhe und seinen Gebietertone. Selbst sein Benehmen gegen sie war immer nur die Herablassung zu dem Ideenkreise eines Kindes gewesen; er hatte nie anders zu ihr gesprochen, als in jener halb gütigen, halb spottenden Weise, in der auch heute ihr Gespräch begann. Zum ersten Male öffnete sich diese sonst so streng verschlossene Natur in einem Augenblick der Selbstvergessenheit, Gabriele sah in eine Tiefe, die sie nicht geahnt hatte, und die sich auch wohl keinen Anderen aufthat, aber sie fühlte instinctmäßig, daß sie nicht daran rühren und nicht heraufbeschwören durfte, was sich da unten regte.

Es folgte eine lange Pause. Beide blickten schweigend in die weite Landschaft hinaus, die in dem heißen Lichte eines der letzten Augusttage vor ihnen lag. Der Sommer schien vor seinem Scheiden noch einmal all seine Gluth und Pracht über die Erde auszuschütten. Der hellste Sonnenschein umfloß die alterthümliche Stadt, die mit ihren Häusern und Thürmen sich am Fuß des Schloßberges ausbreitete; er lag über all den Wiesen und Feldern, über all den Ortschaften, die sich bald näher, bald ferner dem Auge zeigten, und blitzte in den Wellen des Flusses, der in mächtigen Windungen durch das Thal zog. Um dasselbe schlossen sich die Berge, wie zu einem Kranze, bald in weichgeschwungenen Linien, bald in zackig kühnen Formen aufstrebend, mit grünen Triften und dunklen Wäldern, aus denen hier und da eine weiße Wallfahrtskirche hervorleuchtete, oder eine altersgraue Bergveste sich erhob. Ganz in der Ferne stieg in blauen Dust verloren das Hochgebirge auf, das als erhabener Hintergrund den Horizont begrenzte, und über dem Allen lächelte ein tiefblauer Himmel und schwebte goldiger Sonnenduft, der den ganzen Aether zu erfüllen schien. Es war einer jener Tage, wo Alles wie in Licht und Glanz getaucht, Alles davon überfluthet ist, als gäbe es auf der ganzen Welt nichts weiter, als nur Sonnenschein.

Es konnte keinen schärferen Gegensatz geben, als diese sonnige Landschaft und den tiefen, kühlen Schatten des Schloßgartens mit seiner düstern Einsamkeit. Die riesigen Kronen der Linden, mit ihren dicht verschlungenen Aesten, hielten den ganzen Raum wie mit einer grünen Dämmerung umsponnen und unter den hohen Baumwipfeln rauschte einförmig die Fontaine. In ewigem Wechsel stieg der helle Strahl empor, um dann tausendfach zersprüht wieder niederzusinken. Bisweilen, wenn ein Sonnenstrahl, der sich hier unten verlor, die fallenden Tropfen streifte, funkelte und glänzte es, wie mit Diamantenpracht, aber sie erlosch schon im nächsten Moment. Alles lag wieder im kühlen Schatten, und durch den nebelhaften Wasserschleier blickten die grauen Gestalten der Nixen mit den langen Haaren und den steinernen Häuptern gespenstig hindurch.

Die stille, schwüle Mittagsstunde schien Alles in träumerische Ruhe zu wiegen; kein Vogel flatterte auf; kein Blatt regte sich mehr, nur der Nixenbrunnen rauschte geheimnißvoll durch die tiefe Stille. Es war die Sprache des Quelles, der seit undenklichen Zeiten hier auf dem Schloßberge rieselte, und seit länger als einem Jahrhundert in diesem Steingewand, in das man ihn gezwungen, der treue Gefährte des Schloßgartens gewesen war. Auch an ihm waren jene Zeiten vorübergehuscht, die einst die alte Bergveste geschaut hatte, die ursprünglich an der Stelle des Schlosses stand, wilde, gewaltthätige Zeiten, voll Kampf und Streit, voll Sieg und Niederlage und dann wieder Jahre des Glanzes und der Pracht, als der Fürstensitz sich hier erhob. Weltereignisse waren vorübergezogen; Geschlechter waren gekommen und gegangen, bis endlich die neue Zeit kam, die Allem eine andere Gestalt gab. Allen, nur dem Quelle des Schloßberges nicht, um den Sage und Aberglauben eine heilige Schutzmauer gewoben hatten. Aber jetzt war auch seine Zeit gekommen; die alten Steinbilder, welche ihn so lange schützend umgaben, sollten fallen, und er selbst sollte niedersteigen aus dem hellen Tageslichte in die dunkle Erde, um dort auf immer gebannt zu bleiben.

Ob es Klagen oder Erinnerungen waren, die der Quell flüsterte, sein träumerisches Rauschen übte eine seltsame Macht auf den ernsten, finsteren Mann, der nie das einsame Träumen und seine Poesie gekannt hatte, wie auf das junge, blühende Mädchen an seiner Seite, das bisher lachend und spielend durch das Leben geflattert war, ohne seinen Ernst auch nur zu ahnen. Es löste all jenes heiße Ringen und Streben, all diese frohen Kinderträume in eine einzige räthselhafte Empfindung, welche die Beiden halb süß und halb beängstigend umspann. Unter diesem einförmigen und doch so melodischen Rieseln und Rauschen wich die Welt da draußen mit ihrer schimmernden Ferne und ihrem leuchtenden Sonnengold weit und weiter zurück, und endlich versank sie ganz. Dann legte es sich um die beiden Zurückgebliebenen wie düstere Schatten, wie kühle Wasserschleier, und [209] sie wurden fortgezogen, weit fort in geheimnißvoll dämmernde Tiefen, wohin kein Laut des Lebens mehr drang, wo alles Ringen und Sehnen, alles Glück und Weh erstarb in einem tiefen, tiefen Traum, und mitten in dem Traume vernahmen sie wieder das leise, geisterhafte Singen des Quelles, das wie aus endloser Ferne zu ihnen niedertönte. –

Unten in der Stadt setzten die Glocken zum Mittagsgeläut ein. Die weichen, hellen Klänge schwebten herauf zu dem Schloßberge, und vor diesem Laut zerrannen die seltsamen Gebilde, welche jenes Rauschen gesponnen. Raven sah auf, als sei er unangenehm geweckt worden, während Gabriele sich rasch erhob und mit einer Bewegung, die fast der Flucht glich, an die epheuumrankte Mauerbrüstung trat, um dort vorgebeugt den Klängen zu lauschen. Sie zogen weithin durch die stille Luft, wie damals am Seeufer, als sie mit Georg – Gabriele vollendete den Gedanken nicht. Warum drängte sich auf einmal Georg’s Name wie mit einem Vorwurf in ihr Gedächtniß? Warum stand sein Bild plötzlich so deutlich vor ihr, als wolle es seine Rechte wahren und behaupten? Damals, als sie unter Scherz und Lachen von ihm Abschied nahm, hatten ihr die Glockenklänge gar nichts gesagt, heute durchzuckte es sie bei der Erinnerung jäh und schmerzlich, wie eine Mahnung, sich nicht wieder fortziehen zu lassen aus dem goldenen Sonnenlicht in unbekannte Tiefen, wie eine Warnung vor irgend einer dunkel geahnten Gefahr, die ihre Kreise um sie zog. Ihr war unbeschreiblich bang zu Muthe.

Auch der Freiherr hatte sich erhoben und trat jetzt zu ihr. „Du flüchtest ja förmlich,“ sagte er langsam. „Wovor denn? Vor mir vielleicht?“

Gabriele versuchte mit einem Lächeln ihrer Bangigkeit Herr zu werden, als sie erwiderte: „Vor dem Rauschen des Nixenbrunnens, es klingt so gespenstig in der stillen Mittagsstunde.“

„Und doch hast Du gerade ihn zum Lieblingsplatze gewählt?“

„Er ist ja die längste Zeit gewesen. Vielleicht verwandelt Dein Befehl ihn morgen schon in ein wüstes Chaos von Erde und Steinen, und –“

„Und ich frage nicht danach, ob meine Befehle Jemanden wehe thun,“ vollendete Raven, als sie inne hielt. „Das mag sein, aber – liebst Du den Quell wirklich so sehr, Gabriele? Würde es Dir im Ernst wehe thun, ihn vernichtet zu sehen?“

„Ja,“ sagte Gabriele leise und hob das Auge empor, ihr Mund sprach keine Bitte aus, aber die Augen, in denen eine Thräne schimmerte, baten heiß und innig für den bedrohten Quell.

Raven schwieg und wandte sich ab; einige Minuten lang stand er wortlos an ihrer Seite, dann begann er von Neuem:

„Ich habe Dich vorhin erschreckt mit meinen herben Lebensansichten. Wer sagt denn aber, daß Du sie theilen sollst? Ich vergaß, daß die Jugend ein Recht auf Träume hat, und daß es grausam ist, sie ihr zu nehmen. Glaube Du immerhin noch an die goldene Zukunftsferne, an die Verheißung jener blauen Berge! Du darfst noch der Welt und den Menschen vertrauen, und Du wirst auch schwerlich je ihren Haß erfahren.“

Seine Stimme klang eigenthümlich weich und verschleiert, und aus dem Blicke, der so düster auf dem jungen Mädchen ruhte, war alle Härte und Strenge gewichen, aber Arno Raven war nicht lange solchen Regungen zugänglich, und es schien auch, als dürfe er sich ihnen überhaupt nicht hingeben, denn gerade jetzt ertönten Schritte hinter ihnen, und als sie sich umwendeten, trat der Castellan des Schlosses mit einem älteren Manne, der dem Handwerkerstand anzugehören schien, in den Garten. Beide blieben stehen, als sie den Gouverneur gewahrten, und grüßten ehrerbietig.

Raven hatte schnell die ungewohnte Weichheit abgeschüttelt. „Was giebt es?“ fragte er, wieder ganz in dem kurzen, gebieterischen Tone, der ihm eigen war.

„Excellenz haben befohlen, den Nixenbrunnen abzubrechen und den Quell zu verstopfen,“ nahm der Handwerker das Wort. „Es sollte heute noch geschehen; meine Leute kommen in einer halben Stunde; ich wollte nur zuvor nachsehen, ob die Arbeit viel Zeit und Mühe kosten wird.“

Der Freiherr sah auf den Brunnen und dann auf Gabriele, die noch an seiner Seite stand; es war, ein kaum merkliches, sekundenlanges Zögern.

„Schicken Sie die Leute zurück!“ befahl er dann, „die Arbeit ist nicht mehr nöthig.“

„Wie meinen Excellenz?“ fragte der Handwerker erstaunt.

„Die Wegnahme des Brunnens würde den Garten schädigen; er bleibt stehen. Ich werde andere Bestimmungen treffen.“

Ein Wink mit der Hand verabschiedete die beiden Männer; sie wagten natürlich keinen Widerspruch, aber die Verwunderung prägte sich deutlich auf ihren Gesichtern aus, als sie den Garten verließen. Es war das erste Mal, daß ein mit so großer Bestimmtheit gegebener Befehl des Gouverneurs zurückgezogen wurde.

Raven war an den Rand der Fontaine getreten und blickte in den fallenden Tropfenregen. Gabriele stand noch drüben an der Mauerbrüstung; jetzt kam sie langsam, zögernd näher und streckte ihm dann plötzlich beide Hände hin.

„Ich danke Dir.“

Er lächelte, aber nicht mit dem gewohnten Sarkasmus – diesmal flog es wie Sonnenschein über seine Züge, als er die dargebotene Hand ergriff und zugleich mit der Linken sanft Gabrielens Haupt emporhob, um ihre Stirn zu küssen. Das war durchaus nichts Außergewöhnliches. Er pflegte es stets zu thun, wenn sie ihm beim Frühstücke den Morgengruß brachte, und sie hatte es bisher ebenso unbefangen hingenommen, wie der Vormund kühl und ernst von seinem väterlichen Rechte Gebrauch machte. Heute zum ersten Male wich das junge Mädchen unwillkürlich zurück, und Raven fühlte, wie die Hand, die er in der seinigen hielt, leise bebte. Er richtete sich plötzlich empor, ohne daß seine Lippen ihre Stirn berührt hatten, und ließ die Hand fallen.

„Du hast Recht,“ sagte er gepreßt. „Das Rauschen des Nixenbrunnens hat etwas Geisterhaftes – laß uns gehen!“

Sie wandten sich zum Gehen. Hinter ihnen rauschte und rieselte der Quell und warf unermüdlich seine weißen Wasserschleier empor. Die drohende Vernichtung war ja nun abgewendet; die Bitte jener braunen Augen und die Thräne darin hatte ihn gerettet, und der ernste, kalte Mann, der die Höhe des Lebens längst überschritten hatte, fühlte es vielleicht in diesem Augenblicke, daß er auch nicht gefeit war gegen den „Nixenzauber“.




Georg Winterfeld saß in seiner Wohnung am Schreibtische. Er sah angegriffen, fast leidend aus; die kurze Frische, welche die Reise seinem Aeußeren gegeben, war längst wieder geschwunden, und die Blässe, welche selbst damals die feinen, durchgeistigten Züge des jungen Mannes deckte, war noch um einen Schein tiefer geworden. Er muthete sich in der That bisweilen allzu viel in der Arbeit zu – die Pflichten seiner Stellung nahmen ihn schon hinreichend in Anspruch, aber trotzdem benutzte er jede freie Stunde, um sich mit rastlosem Eifer allen möglichen Studien hinzugeben, die ihm in seiner Laufbahn förderlich sein konnten. Georg arbeitete oft genug auf Kosten seiner Gesundheit; ihn trieb ein edlerer Sporn, als der Ehrgeiz, mit jedem Schritte, den er vorwärts that, minderte sich ja die Kluft, die ihn von der Geliebten trennte, und er war sich trotz aller persönlichen Bescheidenheit doch zu sehr seiner Kraft und seines Werthes bewußt, um nicht die zuversichtliche Hoffnung zu hegen, daß diese Kluft sich einst ganz ausfüllen werde. Seine Collegen, die sich meist auf ihre pflichtmäßigen Leistungen in den Bureaustunden beschränkten, wußten kaum von dieser stillen, angestrengten Thätigkeit des Assessors, der nie darüber sprach; nur das durchdringende Auge seines Chefs hatte herausgefunden, welch eine Summe von Arbeitskraft und Begabung in dem jungen Beamten lag, so wenig dieser auch bisher Gelegenheit gefunden hatte, sie nach außen hin zu bethätigen.

Georg benutzte mit Vorliebe die Morgenstunden zum Arbeiten; auch heute saß er über ein juristisches Werk gebeugt und hatte sich so darin vertieft, daß er das Oeffnen der Thür im vorderen Zimmer vollständig überhörte. Erst als eine bekannte Stimme sagte: „Bemühen Sie sich nicht! Ich finde schon allein den Weg zu dem Herrn Assessor,“ fuhr er auf. In dem gleichen Augenblicke trat der Ankömmling auch schon ein.

„Guten Morgen, Georg! Da bin ich.“

„Max! Ist es möglich? Wie kommst Du nach R.?“ rief Georg freudig überrascht, dem Freunde entgegeneilend.

[210] „Geradeswegs von zu Hause,“ versetzte dieser, die Begrüßung ebenso herzlich erwidernd. „Ich bin erst vor einer halben Stunde im Gasthofe angelangt und habe mich sogleich auf den Weg zu Dir gemacht.“

„Aber weshalb schriebst Du mir denn nicht einige Zeilen? Wolltest Du mich überraschen?“

„Das nicht, die Reise war vielmehr eine Art Ueberraschung für mich, denn es sind durchaus keine idealen Freundschaftsgefühle, die mich herführen, wie Du Dir vielleicht schmeichelst, sondern eine höchst reale Erbschaftsangelegenheit. Aber vor allen Dingen – wie geht es Dir? Du siehst blaß aus – natürlich, wenn man schon am frühen Morgen über den Büchern sitzt – Georg, Du bist unverbesserlich.“

Georg wehrte lachend die Hand des Freundes ab, der nach seinem Pulse greifen wollte, und zog ihn auf das Sopha. „Laß’ nur den Doctor bei Seite! Ich befinde mich vortrefflich. Also eine Erbschaftsangelegenheit führt Dich her? Sind Euch Reichthümer zugefallen?“

„Das gerade nicht,“ sagte Max. „Nur ein sehr bescheidenes Vermögen, der Nachlaß eines alten Vetters, der hier in der Umgegend von R. ein kleines Gut besitzt. Ich habe ihn gekannt. Er war mit meinem Vater wegen dessen politischer Vergangenheit vollständig zerfallen. Jetzt ist er ohne Testament und ohne directe Erben gestorben, und Papa erhielt, als der nächste lebende Verwandte, vom hiesigen Gericht die Aufforderung, seine Rechte geltend zu machen. Er persönlich kann das nun freilich nicht; Du weißt ja, daß er sein Vaterland nicht betreten darf, ohne sofort wieder in die Festung zu wandern, die er einst auf dem etwas ungewöhnlichen Wege der Strickleiter verlassen hat; das damalige Urtheil hängt ja noch immer über seinem Haupte. Also hat er mich als seinen Vertreter geschickt.“

„Du hast doch hinreichende Vollmacht?“ warf der Assessor ein.

„Die ausgedehnteste, aber trotzdem wird es Weitläufigkeiten und Formalitäten genug geben. Papas damalige Flucht und dauernde Entfernung verwickeln die Sache einigermaßen, und mein berüchtigter Demagogenname wird die Herren vom Gericht auch gerade nicht zu besonders liebenswürdigem Entgegenkommen veranlassen. Ich habe in dieser Voraussicht einen längeren Urlaub genommen und denke bis zur Erledigung der Sache in R. zu bleiben. Ich rechne sehr auf Deinen juristischen Rath und Beistand.“

„Ich stehe Dir ganz zur Verfügung. Vor allen Dingen aber gieb Dein Quartier im Gasthofe auf und komme zu mir! Ich habe Raum genug.“

„Das werde ich mit Deiner Erlaubniß nicht thun,“ sagte Max trocken.

„Weshalb nicht?“

„Weil ich Dir keine Unannehmlichkeiten mit Deinen Vorgesetzten zuziehen will. Oder kannst Du mir versichern, daß Dein Besuch bei uns ganz unbemerkt und ungerügt vorüber gegangen ist?“

Georg sah zu Boden. „Ich habe allerdings einige scharfe Worte von meinem Chef hinnehmen müssen, aber die Bevormundung und die Rücksicht auf meine Stellung hat ihre Grenzen. Meine Freundschaftsbeziehungen opfere ich ihr nicht.“

„Das brauchst Du auch nicht,“ erklärte der junge Arzt, „aber Du brauchst den Conflict auch nicht herauszufordern. Du weißt, ich halte gar nichts von den nutzlosen Aufopferungen, und Deine Einladung ist eine solche. Keine Einwendung, Georg! Ich bleibe unbedingt im Gasthofe. Du compromittirst Dich schon genug in den Augen aller loyalen Gemüther, wenn Du mich nicht als Freund verleugnest.“

Die Weigerung wurde in so bestimmtem Tone ausgesprochen, daß Georg einsah, wie nutzlos jeder fernere Versuch sein würde, er fügte sich also.

„Nun, so laß mich Dir wenigstens zu der Erbschaft gratuliren,“ nahm er wieder das Wort. „Sie ist, wenn auch nicht bedeutend, doch immer von Wichtigkeit für Euch.“

„Gewiß, und das hauptsächlich um meines Vaters willen. Er kann sich nun ungestört seiner geliebten Wissenschaft hingeben, ohne daß die Existenzfrage ewig für ihn im Vordergrunde steht. Auch ich gewinne dadurch eine langgewünschte Selbstständigkeit. Ich hätte längst schon meine Stellung am Hospital aufgegeben, wäre es nicht nothwendig gewesen, unserem Haushalt ein festes Einkommen zu sichern, das er nun entbehren kann. Ich werde mir jetzt eine Praxis gründen und mich verheirathen.“

„Du willst heiraten?“ fragte Georg erstaunt.

„Natürlich will ich das. Eine Frau muß der Mensch doch haben – das gehört zur Bequemlichkeit.“

„Aber wen willst Du denn heiraten?“

„Das weiß ich noch nicht. Sobald ich einen eigenen Herd habe, halte ich Umschau und führe die Braut heim.“

„Doch wohl eine von den Töchtern des Schweizerlandes?“

„Gewiß! Ich schätze die tüchtige praktische Natur dieses Volkes sehr hoch, wenn auch bisweilen einige Derbheiten mit unterlaufen. Zartheit kann ich bei meiner Frau ohnehin nicht brauchen; Eheleute müssen zu einander passen.“

„Da gehst ja sehr gründlich zu Werke,“ spottete Georg. „Du hast Dir wohl ein förmliches Programm zurecht gemacht, mit all den Eigenschaften, die Deine zukünftige Frau besitzen muß? Also, Paragraph eins –?“

„Vermögen!“ sagte Max lakonisch. „Ja, da empören sich nun wieder Deine idealistischen Gefühle. Vermögen ist unerläßlich. Zweitens: praktische Hausfrauenerziehung – das ist ebenso wichtig, wenn man ein bequemes Leben führen will. Drittens: blühende Gesundheit; ein Arzt, der sich mit allen möglichen Krankheiten herumschlägt, will nicht auch in seinem Hause den Doctor spielen. Viertens: –“

„Um Gottes willen, höre auf!“ unterbrach ihn der Freund. „Ich glaube, Du hast ein Dutzend Paragraphen für Dein Eheglück nöthig. Die Liebe steht wohl in keinem derselben?“

„Die Liebe kommt nach der Hochzeit,“ versetzte der junge Arzt zuversichtlich. „Bei vernünftigen Leuten wenigstens, und die besten Ehen sind die, welche mit genauer Berechnung der Charaktere und Verhältnisse geschlossen werden. Sobald das Programm stimmt, mache ich meinen Antrag und heirathe. Punctum!“

(Fortsetzung folgt.)



Die letzte Nacht im Elternhause.


Das griff an’s Herz, und ich vergeß’ es nimmer:
Es war die letzte Nacht im Vaterhaus;
Zieh’n sollt’ ich mit dem ersten Frührothschimmer,
Vielleicht auf ewig, in die Welt hinaus.

5
Noch lag ich schlaflos auf dem weichen Pfühle;

Denn viel bewegte mir die junge Brust:
Des Heimwehs Vorgefühl, des Scheidens Schwüle
Und Hoffnung doch und rege Wanderlust.

Da schlug es zwölf. Die Lampe brannte trübe,

10
Und leise schritt es durch die Kammerthür –

Ein Geist erschien mir, doch ein Geist der Liebe;
Denn meiner Mutter gleich erschien er mir.

Sie nahte still, als wollte sie nicht stören
Des Sohnes, wie sie meinte, tiefe Ruh’.

15
Ich hört’ sie, doch ich schien sie nicht zu hören;

Ich sah sie, doch ich schloß die Augen zu.

Wie nah’ ihr Odem! Ihre Hände lagen
Auf meinem Haupte, wie schon oft zuvor –
Erlauscht ich auch nicht ihrer Lippen Klagen,

20
Mein Herz vernahm, was nicht vernahm mein Ohr.


Dann fühlt’ ich ihre Wange auf der meinen –
Warum umschlang ich liebevoll sie nicht,
Als ich sie weinen hörte, schmerzlich weinen
Und eine Thräne fiel auf mein Gesicht?

25
Und nochmals neigte sie den Mund, den frommen,

Und küßte leise diese Thräne fort.
Drauf ging sie wieder – still, wie sie gekommen.
Ich ließ sie geh’n und sprach dazu kein Wort.

– Am Morgen schied ich, ohne ihr zu sagen,

30
Was ich geseh’n, doch wie ein heilig Gut

Treu hab’ ich die Erinnerung getragen
Im Herzen, wo des Menschen Bestes ruht.

Und dann, als ich nach wechselvollen Jahren
Am off’nen Grabe meiner Kinder stand,

35
Da hab’ ich, tief erbebend, erst erfahren,

Was jene Nacht mein Mütterlein empfand.

Und Lieb’ und Reue, Dank und heißes Sehnen,
Ich kost’ sie täglich, koste sie nicht aus.
Wohl bin ich glücklich – aber oft in Thränen

40
Denk’ ich der letzten Nacht im Vaterhaus.

     Cincinnati, O.

B. Bettmann.
[211]

Wie es dem Landboten im nächsten Sommer ergehen dürfte.
Originalzeichnung von E. Spitzer in München.

[212]
Das Wesen des Stotterns.
Von Rudolf Denhardt jun. Lehrer für Stotterer in Burgsteinfurt (Westfalen).

Wir sind nicht wir, wenn die Natur
Gebeugt, dem Geist gebietet.
     Shakespeare.

Ein Aufsatz über das Wesen des Stotterns darf in Deutschland leider auf vielfältiges Interesse rechnen. Während dieses Leiden unter heißeren Graden nur vereinzelt auftritt, findet man es häufiger, je tiefer man in die gemäßigte und kältere Zone eindringt. Während in Italien das rasche Blut eine weichere Sprache formt, den Menschen zu lebendigster Darstellung seines Inneren treibt und somit seine Sprachorgane von Jugend auf übt, entwickelt sich der Nordländer ruhiger und innerlicher: die Ausbildung der Redegewandtheit verlangt ein höheres Maß von künstlicher Einwirkung, und abnorme Erscheinungen finden ein beschränkteres Uebungsfeld, um sich abzuschleifen. In Deutschland findet sich das Stottern häufiger als in Italien; in Dänemark übrigens, Schweden, Norwegen und dem größten Theile Rußlands häufiger als in Deutschland. Somit werden viele Leser dieses Blattes Gelegenheit gehabt haben, verwandtschaftliche oder freundschaftliche Theilnahme mit einem derartig Leidenden zu empfinden, und diejenigen, welche bisher davon verschont blieben, sind nicht sicher, daß nicht auch in ihrem Kreise dieses Leiden unerwartet Jemanden befällt; daß sie sehen, wie ein vielleicht fähiger, jedenfalls sonst normaler Mensch sein Dasein und seine Wirksamkeit verkümmert sieht, sich selbst zur Last wird und seinem Lande nicht dasjenige zu leisten vermag, was er seiner sonstigen Entwickelung nach hätte leisten können.

Gern folge ich daher der ehrenden Aufforderung der Redaction der „Gartenlaube“, eine kurze Abhandlung über das vorliegende Thema zu liefern, um für meinen Theil richtigen Anschauungen über die Natur des Uebels eine größere Verbreitung zu schaffen, dadurch der Ausbildung des Gebrechens bei unserem jungen Nachwuchs rechtzeitig vorzubeugen und den damit schon Behafteten die Möglichkeit der Heilung näher zu rücken. Ich will zuerst kurz darlegen, wie das Leiden sich zu äußern pflegt, und in einer Reihe von Beispielen meiner Erfahrung die Grundlage bieten, von der auf das Wesen des Stotterns sich erkennen läßt, darauf die Ursache des Leidens und die Richtung, in der sich das Heilverfahren zu bewegen hat, feststellen, endlich einige Maßregeln vorbeugender Natur mittheilen.

In welcher Weise sich das Leiden äußert, ist bekannt. Man erinnere sich der Rolle des Kerbriand in Scribe’s „Feenhände“, wie etwa der treffliche Mittell sie darstellt. Der gute Chevalier ist nicht hochgradiger Stotterer. Er hat gute Gedanken in petto, aber er windet sich umsonst, sie gut herauszubringen; „er stößt an“; er kommt anscheinend über harte Consonanten und einzelne Silben nicht hinweg, er wiederholt sie oder bleibt auch stecken, und erst, als ein heiliger Zorn ihn außer sich bringt, rollen die Worte sicher über seine Lippen.

Schlimmer erging es dem Redner Demosthenes bei seinem Debüt auf der attischen Rednerbühne. Er vermochte das „r“ überhaupt nicht auszusprechen und zuckte so auffällig mit der Schulter, daß er, vor dem Gelächter der durch rhetorischen Glanz freilich verwöhnten Athener das Feld räumen mußte.

Der höchste Grad des Stotterns ist aber wahrhaft mitleiderregend: das Gesicht verzerrt sich; der Hals schwillt in würgender Arbeit auf; die Extremitäten zucken in krampfhaften Bewegungen; im Auge prägt sich Angst oder stiere Erwartung des erlösenden Momentes aus. Endlich gelingt es, einen Laut hervorzustoßen, fast unarticulirt, hart und polternd folgen einige Silben, oder auch die Anfangssilbe wird unzählige Male wiederholt, um in einem günstigen Moment endlich den Anschluß an die folgenden zu erhaschen.

Das ist das Eigentümliche des Stotterers, daß, während der normal Sprechende ohne Mühe durch einen Willensact die Sprechorgane aus dem Zustand der Ruhe in Thätigkeit versetzt, bei jenem zurückhaltende und vorwärtstreibende Nerven- und Muskelkräfte zugleich auftauchen, in deren Kampf die Erreichung des Zieles scheitert.

Unzählige Mittel ersinnt der Stotterer, um der letzteren Gruppe das Uebergewicht zu verschaffen. Wollte einer meiner Patienten im Laden Tinte, welches Wort er nur mit der größten Anstrengung aussprechen konnte, kaufen, so suchte er nach seinem Eintritte eiligst das Tintenflaschenregal zu erspähen, und, indem er energisch mit der Hand auf den gewünschten Gegenstand zeigte, vermochte er stotterfrei auszusprechen: „Ich wünschte Tinte zu kaufen.“ Ein Anderer, dem der Buchstabe „p“ Schwierigkeiten bereitete, verlangte an der Theatercasse ein Billet zum ersten Rang; dann, sich anscheinend besinnend, änderte er sein Verlangen und begehrte ein „Parquetbillet“, ohne zu stottern. Er mußte erst in Zug kommen und das schwierige Wort in einer mehr nachlässigen Redeweise unterbringen. Ein Dritter schrieb vor dem Eisenbahnschalter sein Verlangen jedesmal auf einen Zettel und steckte ihn in die Tasche. Dann vermochte er seinen Wunsch fließend zu äußern, ihm half die auf seine Seele beruhigend wirkende Vorstellung, daß er eventuell eine schriftliche Aushülfe habe. Ein Vierter suchte sich durch eine mähende Bewegung des rechten Armes zu Hülfe zu kommen, ein Fünfter wendete das Wörtchen „so“ oder „eben“ als Hebel an. Ein Anderer begann stets mit „freilich“, „natürlicher Weise“, „ohne Zweifel“, unter Umständen alle drei Ausdrücke hinter einander hervorsprudelnd. Ein Oekonom chassirte während des Spazierganges bei jedem schweren Worte vom Wege, und war erst dann im Stande, dasselbe auszusprechen, wenn er einen festen Gegenstand, einen Baum u. dergl. berührte. Eine große Zahl legt eine besondere Folge der Wörter sich zurecht, in der sie über die schweren Buchstaben hinwegzukommen glaubt. Es gelingt oft, werden sie aber in ihrer so einstudirten Rede unterbrochen, so tritt Stottern ein. Selbst alle jene krampfhaften Bewegungen, die oben erwähnt sind, müssen, wenn sie auch ihrer Entstehung nach unwillkürliche Hülfsmittel waren, als willkürliche betrachtet werden. Der Stotterer will sprechen; er kann nicht, respective glaubt nicht zu können; er will sich selbst durch eine andere Muskelbewegung voranstoßen – es gelingt nicht; er verdoppelt seine Anstrengungen, da er sprechen will oder muß, und gelangt zuletzt zu den extremsten Aeußerungen. Einer meiner Berliner Patienten gerieth bei jedem Versuche zu sprechen in so convulsivische Bewegungen, daß er der königlichen Charité überwiesen wurde, und zwar, wie er mittheilte, zuletzt der Irrenstation. Nachdem derselbe am 9. März 1875 als ungeheilt entlassen worden war, wurde er mir im Jahre 1877 von dem Geheimen Medicinalrath Professor Dr. Westphal, welcher sofort einen Stotterer in ihm erkannt hatte, zugesandt, und in vierzehn Tagen konnte er sich dem ausgezeichneten Arzte und dem Charitéverein als frei von seinem Leiden vorstellen. Er war in der That ein hochgradiger Stotterer: mit seinen fast epileptischen Bewegungen verloren sich auch die heftigen Kopf- und Brustschmerzen, an denen er litt.

Aus vielen der vorstehenden Beispiele ist schon ersichtlich, daß dem Leidenden die mechanische Fertigkeit zu sprechen überhaupt nicht abging. Es kam aber sehr auf die Umstände an, ob sie die Fähigkeit in die That umsetzen konnten. Zum Theil zeigten sich die Hülfsmittel wirksam, zum Theil nicht und verschlimmerten selbst die Erscheinungen. Eine Heilung schuf keines.

Noch mehr aber tritt in folgenden von mir beobachteten Fällen zur Evidenz hervor, daß das Uebel nicht in einem Unvermögen derjenigen Muskelgruppen basirt, die beim Sprechen die Action der Sprachwerkzeuge vermitteln.

Ein Patient stockte vor dem Worte „kann“ im Satze: „Kann nicht Fürstendiener sein,“ ohne einen Versuch zu machen, das Wort auszusprechen. „Welches Wort fällt ihnen schwer?“ fragte ich. „Kann’ kann ich nicht sagen,“ erwiderte er unverzagt, nicht denkend, daß er das Wort jetzt zweimal stotterfrei ausgesprochen. Ein Schwede, den ich behandelte, stotterte in seiner Muttersprache, aber nicht, wenn er deutsch oder dänisch sprach; ein Russe deutscher Abstammung wohl im Deutschen, aber nicht beim Gebrauche des Englischen, Russischen und Französischen. Keiner meiner neunhundert Patienten stotterte beim Singen. Von mir gesprochene Worte vermag selbst der schwere Stotterer in der Regel nachzusprechen. Viele können an Gesellschaft bei getheilter Unterhaltung ziemlich fließend sprechen, sowie aber die Veranlassung [213] sich ergiebt, unter Aufmerksamkeit Aller allein zu sprechen, stocken sie. Ein Gymnasiallehrer, den ich behandelte, pflegte beim Beginn des Diners schnell mehrere Gläser Wein zu trinken; dann sprach er lebhaft und fließend. Ein Student konnte in angeheitertem Zustande fließend lange Reden halten. Der Erstere hielt wiederholt öffentliche Vorträge; kurz vorher – in Privatunterhaltung – stotterte er noch ganz bedenklich; sowie er auf der Tribüne stand, war jedes Hemmniß verschwunden. Officiere, die ich behandelte, stockten, mit Ausnahme eines, niemals beim Commandiren, im hohen Grade aber bei kurzen Rapporten. Dieser eine, ein nicht unbedeutender Stotterer, stotterte gar nicht, so lange er mit einem Tafelmesser spielte. Nahm er statt dessen ein anderes Messer, so trat Stottern wieder ein.

Es giebt Fälle, daß hochgradige Stotterer gewisse Buchstaben oder Wörter überhaupt nicht aussprechen können; diese sind zugleich Stammler. Solche Mängel aber lassen sich durch mechanische Sprachübungen unter richtiger Leitung leicht beseitigen und sollen darum hier nicht in Rücksicht gezogen werden. Im Uebrigen aber ist allen gemeinsam, daß sie in der Einsamkeit ganz oder fast fließend lesen, sprechen, nach ihrer Vorbildung selbst glänzende Reden halten können, sowie aber ein Zuhörer in Person oder auch nur in ihrer Einbildung sich einfindet, stocken sie.

Außerdem lehrt die Erfahrung: je ruhiger und bestimmter der Stotterer sich ausdrücken soll, desto mehr macht ihm sein Uebel zu schaffen; je lauter und mit je freierer Wahl des Ausdrucks, um so weniger. Im Ganzen fällt ihm das Sprechen des Morgens schwerer, als des Abends, bei großer Ermüdung tritt aber des Abends das Uebel noch stärker hervor. Jede Gemüthserregung übt Einfluß: niederdrückende Affectionen einen ungünstigen, aufstrebende Affecte, Zorn, Unwille, lebhafte Freude etc. einen günstigen.

Das Uebel nimmt, sich selbst überlassen, nach meinen statistischen Aufzeichnungen zu und tritt häufiger auf bis zum dreißigsten Lebensjahre. Darüber hinaus nimmt es dem Grade und der Häufigkeit nach ab.

In der von meinem Vater im Jahre 1826 zu Burgsteinfurt gegründeten Anstalt befanden sich bis heute neunhundertfünfundachtzig Stotterer, von welchen neuhundertsiebeundvierzig im Alter bis zu dreißig Jahren und nur achtunddreißig das dreißigste Lebensjahr überschritten hatten.

Bei den im Auslande (Schweden, Norwegen, Dänemark, Rußland, Italien, Oesterreich, der französischen Schweiz) von mir behandelten Stotterern war das Verhältniß ungefähr dasselbe. Der Grund ist leicht zu erkennen. Je mehr der Verstand und die ästhetischen Gefühle sich entwickeln, desto mehr wächst das Schamgefühl über das Gebrechen; je abhängiger sich der Leidende von bestimmten Factoren seiner Laufbahn fühlt, desto zaghafter macht ihn sein Leiden. Beide Momente verstärken sein Leiden. Je mehr aber jene Empfindungen von einem Gefühl des eigenen Wertes, innerer Sicherheit und freierer Lebensstellung zurückgedrängt werden, desto mehr tritt auch das Uebel zurück. Wenn einer meiner Patienten, ein Forsteleve, auch vor seinem Jagdhund zu stottern sich nicht entwöhnen konnte, so findet sich bei der Mehrzahl doch die Erscheinung, daß sie Kindern, Verwandten und Freunden gegenüber weniger oder gar nicht stottern, um so mehr aber in Gegenwart von Vorgesetzten und – jungen Damen.

Was die Quelle des Uebels angeht, so war dasselbe in den meisten von mir beobachteten Fällen erblich und häufig zurückzuführen bis auf die Urgroßeltern. Moses Mendelssohn war Stotterer; in der folgenden Generation trat das Uebel nicht auf, wohl aber in der dritten und vierten. Mein Vater stotterte bis zu seinem siebenundzwanzigsten Jahre. Durch Willeskraft und Uebung befreite er sich von dem Uebel; er verheiratete sich in seinem zweiunddreißigsten Lebensjahre. Zwei meiner Geschwister und ich haben gestottert, obwohl wir nie Gelegenheit gehabt haben, mit Stotterern zu verkehren.

Im Jahre 1873 meldete sich bei mir in Kopenhagen ein Mann, Namens Denhardt, nebst zwei seiner Kinder, welche stotterten. Nach kurzer Unterredung mit ihm stellte sich heraus, daß er selbst auch anstieß; ebenso auch vier seiner übrigen Kinder. Der Namensvetter stammte aus Thüringen, woher mein Großvater gleichfalls gebürtig war, und es liegt die Vermuthung nahe, daß diese Familie der meinigen entfernt verwandt ist. Viele Herren, welche mir ihre Kinder brachten, litten ebenfalls früher an dem Uebel; durch Willenskraft wollten sie es dann überwunden habe. Sie bestanden die Probe übrigens oft recht schlecht; wenn sie sich gerade entfernen wollten, rief ich ihnen unerwartet nach: „Darf ich noch einmal um Ihren werthen Namen bitten?“ In fast allen Fällen verfielen die Herren dann in ihren alten Fehler; sie errötheten und konnten nur mit Mühe und unter häufigen Stocken ihren Namen hervorbringen. Weniger ihre Willenskraft als der psychische Einfluß ihrer wachsenden Selbstständigkeit war wohl die Ursache der Abnahme ihres Leides.

Das Stottern tritt beim weiblichen Geschlechte seltener auf als beim männlichen. Bei der Zusammenstellung der von mir behandelten Stotterer ergab sich das Verhältniß von 1:8. Bei Kindern und Personen bis zum zwanzigsten Lebensjahre, bei welchen die Disposition zum Stottern vorhanden ist, wird dasselbe am häufigsten durch starke Nervenaffectionen bei Krankheiten, Scharlachfieber, Masern, oder durch Erschrecken, Fall und Schlag auf den Kopf hervorgerufen. Die beiden einzigen Fälle meiner Erfahrung, in denen das Leiden nach dem zwanzigsten Lebensjahre eintrat, waren: der eine bei einem Eisenbahnbeamten, den die Entgleisung seines Wagens in die höchste Gefahr brachte, der andere eine Folge des Typhus. – Ein großes Contingent Leidender schaffen sicherlich die Ammen und Kindermädchen, welche die Kinder, um sie zur Ruhe zu bringen, ängstigen. Hierfür spricht schon die Thatsache, daß das Uebel in den unteren Volksschichten viel seltener auftritt. Dagegen habe ich die Behauptungen der Herren Klenke und Lichtinger nicht zutreffend gefunden, daß Scropheln und Eingeweidewürmer die Ursache des Gebrechens sein sollten. In meiner Familie z. B. finden sich diese Erscheinungen gar nicht.

Die Grundursache des jedesmalige Stotterns ist jedenfalls der Gedanke, stottern zu müssen, verbunden mit einem dem Stotterer eigenthümlichen Angstgefühl und der Furcht vor der Aussprache bestimmter Buchstaben und Wörter. Analogien liegen nahe: Ein plötzlich heranrollender Wagen raubt Manchen die Fähigkeit, auszuweichen. Er will forteilen; die Angst lähmt ihn. Eine Kraft zieht ihn vorwärts – die andere rückwärts: er kommt nicht von der Stelle. – Der Bürgermeister einer rheinischen Stadt begann seine wohlstudirte Rede beim Empfang einer fürstlichen Person mit den Worten: „Gemeine Bande“… „umschließen den Fürsten und sein Volk,“ wollte er sagen. Allein die Angst hielt ihn fest, bis der hohe Herr ihm die Schulter klopfte mit den Worten: „Lassen’s gut sein, Herr Bürgermeister! Es war wohl nicht so schlimm gemeint.“ Diese Befangenheit, die viele hochgestellten Personen gegenüber befällt, in potenzirtem Grade ist auch die Grundursache des wirkliche Stotterns. Der starke Stotterer hat zuerst die größte Angst jedesmal vor dem Moment, in dem er in die Weltgeschichte eingreifen soll, nämlich vor dem ersten Worte einer noch so unbedeutenden Bemerkung, welche die Aufmerksamkeit eines Anderen auf ihn lenkt. Ist der große Schritt aber gelungen und der Zuhörer in die Aufmerksamkeit auf seine Worte eingeführt, so fühlt jener sich unbefangener, und er benutzt die gewonnene Lage gern zu langen Excursen. Die knappe Dialogform, mit kurzer Rede und Gegenrede, ist ihm verhaßt. Liest er einen Satz vor, so schweift sein Auge schnell voraus, um einen schwierige Laut zu erspähen und sich innerlich auf denselben vorzubereiten. Je näher er dem betreffenden Worte kommt, desto größer wird seine Angst. Unmittelbar vor demselben bricht er ab; er kann nicht weiter, lediglich darum, weil er glaubt, nicht weiter zu können. Hätte er vorher nicht daran gedacht, so würde er unbefangen darüber hinweggekommen sein.

Ich lernte mehrere Stotterer kennen, welche nur an diesem Angstgefühl litten, bei welchen das Stottern, aber nie zum Ausbruch gekommen war. Eine Dame brachte in Frankfurt am Main ihr sechsjähriges Töchterchen zu mir, das bisher nur wenig gestottert hatte, plötzlich aber nach dieser Consultation in hohem Grade das Uebel zeigte. Der Grund war unzweifelhaft der, daß das Bewußtsein, zu stottern, stärker in dem Kinde erwacht war, es sich nun vorher ängstlich besann und darum desto mehr stotterte. – Ein Arzt hatte das Gebrechen ganz überwunden als er nach Jahren bei dem zufälligen Wiederholen eines Wortes von einem Freunde darauf aufmerksam gemacht [214] wurde, gerieth er in Sorge, das Uebel möchte wiederkehren und von Stunde an trat es wieder auf.

Selbst beim Clavierspiel stand einer meiner Patienten unter diesem Banne. Er sah den schwierigen Tact immer vorher, und wenn er ihn spielen sollte, waren die Finger förmlich steif und es war ihm unmöglich, eine Taste anzuschlagen. Aehnliche Erfahrungen übrigens wird Mancher gemacht haben, wenn er als hoffnungsvoller Sohn des Hauses vor einer größeren Gesellschaft hat vorspielen sollen. – Ein Russe stotterte – wenn man will – beim Schreiben. Er war jeden Augenblick genöthigt, die Tinte von der Feder zu spritzen, bisweilen drei- bis viermal hintereinander, bevor er fähig war, den Buchstaben, den er schreiben wollte, hinzusetzen.

Die widersprechendsten Erscheinungen erklären sich aus dieser potenzirten Befangenheit. Es kommt lediglich darauf an, welche Umstände der sensitiven Natur des Stotterers ein ängstliches Vorgefühl heraufführen oder auf ihn ermuthigend wirken. Der Eine spricht nicht bei der Begrüßung, wenn er angesehen wird; der Andere gerade, wenn dies nicht geschieht. Der Erstere wird durch den Blick des Partners angefeuert und vorwärts getrieben, der Letztere gehemmt. Ebenso sprechen die Meisten im Dunkeln gut, bei Licht schwer. Aber auch das Umgekehrte findet sich. Ein Patient versicherte, bei zunehmender Dämmerung im Kreise seiner Familie fast gar nicht sprechen zu können, sowie aber ein Zündholz aufflackere, sei der Bann von ihm genommen. Im Ganzen fällt das Sprechen schwerer vor Fremden, als vor Bekannten, unter harmlosen Verhältnissen leichter, als unter peinlichen. Aber die Angst kann auch hier unter Umständen belebenden Einfluß ausüben. Wie sie in Gefahr oft zu übermenschlicher Kraftanstrengung befähigt, wie nach Herodot der Sohn des Krösus durch die Angst um das Leben des Vaters seine Sprache wieder erlangt haben soll, so glückte es einem meiner Patienten, sowohl beim Confirmationsexamen in dicht gedrängter Kirche, wie beim Abiturienten- und Staatsexamen fast oder ganz fließend sich zu äußern. Ein Anderer stotterte in ganz fremder Gesellschaft fast gar nicht. Die Angst vor Beschämung trieb ihn vorwärts, sowie aber nur ein Wort mißglückt war, fehlte das treibende Moment: er war beschämt, und in Reaction gegen den vorangegangenen Affect trat nun das Gebrechen um so heftiger hervor.

Versucht man nun, ausgehend von der psychischen Ursache des Leidens, die daraus resultirenden Störungen des physiologischen Apparates festzustellen, so ergiebt sich aus der Vergleichung der normalen und abnormen Erscheinungen, des fließend Redenden und des zum Stottern Disponirten, Folgendes: Jeder, der sprechen will, beabsichtigt einen erzeugten Gedanken durch Worte darzustellen. Dem Entschlusse zur unmittelbaren Ausführung der Absicht folgt mittelst der Nervenleitung der telegraphische Befehl an die verschiedenen Muskelgruppen, aus deren Zusammenwirken das Wort und der Satz resultirt. An der Unfähigkeit dieser Muskulatur liegt aber, wie wir gesehen haben, das Mißlingen des normalen Sprechens nicht, mag der Sprachorganismus auch noch so complicirt und seine Thätigkeit eine noch so verwickelte sein. Die mechanische Sprachfertigkeit fehlt ja dem Stotterer nicht; die Grundursache, daß er sie nicht überall betätigen kann, liegt also weiter zurück. Sie liegt in dem Schwanken des Entschlusses, hervorgerufen durch den fast zur fixen Idee gewordenen Gedanken, nicht sprechen zu können, und dem damit verbundenen Angstgefühl, vornehmlich beim Beginne der Rede, bei starken Stotterern auch im Verlaufe des Sprechens. Dieses Schwanken hat zunächst die unregelmäßige Functionirung der Nervenleitung und in Folge dessen die des Muskelapparates zur Folge. Das Stottern wird hervorgerufen durch eine Functionsstörung desjenigen Nervenapparates (Ganglienzellenapparates), welchen man sich nach dem jetzigen Stande der Wissenschaft als den Sitz des Willens vorzustellen pflegt. In dem Augenblicke, in welchem man das gefürchtete Wort nicht aussprechen zu können glaubt, reflectiren diese Nerven auf diejenigen Nerven im verlängerten Rückenmarke, welche den Muskelbewegungen der Sprachwerkzeuge vorstehen, und von diesen werden genau die Bewegungen ausgeführt, welche man gedacht hat, ausführen zu sollen. Der Wille, zu sprechen, setzt sie in Thätigkeit, in demselben Augenblicke hält sie die Scheu aber wieder zurück.

Die Unentschlossenheit und Angst läßt den Leidenden nicht ruhig respiriren; der Athem stockt oder vibrirt; der Kehlkopf verliert damit die Grundbedingungen seiner Action; er sucht das Ausbleiben seines Lebenselementes durch heftige, krampfhafte eigene Arbeit zu ersetzen, die aber gerade die Vernichtung der normalen Functionirung herbeiführt, welche leicht und spielend die Worte bildet. Diese Störung reflectirt energisch auf die Sprachorgane der Mundhöhle, macht oft die Thätigkeit derselben unmöglich, sowie der Kehlkopf sich ganz schließt, und es tritt jenes Würgen ein, oder aber der Luftstrom zieht unregelmäßig und hastig durch den Kehlkopf, und dann folgt ein Ueberstürzen der folgenden, oder das Repetiren einer einzelnen Silbe. In dieser Beklemmung scheut sich auch der Patient, den Mund aufzuthun; der locale Spielraum, aus dem die Organe die verschiedensten Stellungen und Actionen einzugehen haben, wird unnatürlich verengt, und die Formationen und ihre Uebergänge werden unnatürlich erschwert.

Endlich sei über das Heilverfahren Einiges erwähnt. Vor Allem muß ich hervorheben, daß ich nach Erfahrung und Studium ein geschworener Gegner der bisher noch so vielfach üblichen sogenannten Tact- und künstlichen Respirations-Methode bin, wie sie von Professor Merkel, welcher bis an sein Lebensende stotterte, Leweß, Dr. Klenke, Günther und Anderen beschrieben worden ist und bis heute von fast allen Lehrern für Stotternde ohne wesentliche Verbesserungen angewandt wird. (Dr. Klenke in Hannover beansprucht zur Heilung des Stotterns [siehe Klenke, die Heilung des Stotterns, Leipzig 1863] einen Aufenthalt von wenigstens zwanzig Wochen in seiner Pensionsanstalt und warnt in seinem bekannten Hauslexikon die Stotterer vor denjenigen Lehrern, welche ihnen versprechen sie in vier Wochen von ihrem Uebel zu befreien. Mein Vater und ich haben nun während unserer Praxis eine Anzahl Schüler dieses Herrn kennen gelernt, welche nicht zwanzig Wochen, sondern sieben Monate bis ein Jahr und darüber hinaus sein Institut frequentirt hatten, und nach dieser Cur nach wie vor stotterten.) Ich will mich hier principiell in keine weitere Polemik einlassen; diejenigen der geehrten Leser, welche die Tactmethode kennen, die obigen Ausführungen gelesen haben und eine fließende unbefangene Redeweise als Resultat der Heilung verlangen, werden meine Gegnerschaft verstehen. In neuerer Zeit haben Heilkünstler versucht, Medicin, Tropfen dreimal täglich verordnet, bestehend aus rectificirtem Spiritus, Chloroform und Pfefferminzöl zur Anwendung zu bringen. Außerdem wird dem Patienten Rücken, Brust und Bauch mit einer fettigen Substanz eingerieben. Selbstverständlich verurtheile ich auch dieses Verfahren. Will man damit eine psychische Einwirkung erzielen und eine Veranschaulichung des Satzes: Der Glaube kann Berge versetzen – in Scene setzen?

Bezüglich der Mittheilung der Grundsätze eines rationellen Heilverfahrens lege ich mir, sofern es sich um die Behandlung des ausgebildeten Leidens handelt, absichtlich die größte Zurückhaltung auf – aus zwei Gründe: Erstens, will ich nicht Veranlassung geben zu den unglücklichsten Selbstversuchen. Es liegt meiner Erfahrung eine zu große Blumenlese von derartigen Experimenten vor. Einer meiner Patienten, der vor Allem auf Selbsthülfe hielt, versuchte zuerst nach Art des Demosthenes in’s Reine zu kommen. Auf dem Gymnasium stotterte er fast gar nicht; seine Lehrer bemerkten das Uebel nicht; denn er sprach ganz fließend, auch in längeren Ausführungen, oder glaubte er einmal, nicht vorwärts zu können und schwieg er, wie ein Unwissender oder Trotziger, dann mochte auch der Unwille der Lehrer erregt werden. Die Universitätsjahre wollte er sich nicht durch das Uebel verbittern lassen; er suchte daher die Tiefen des Kottenforstes bei Bonn auf, um mit Kieseln im Munde etc. sich zum athenischen Volksredner auszubilden. Er verschlimmerte damit das Uebel bedeutend. Später hörte er etwas von meinem Heilverfahren; er griff die Fragmete zu geeigneter Verwendung begierig auf, um tiefer und tiefer sich in das Uebel zu verstricken.

Verkehrte Uebungen erschweren die Heilung unendlich. Darum auf diesem Gebiete keine Selbsthülfe! Es kommt hinzu, daß die erforderlichen Uebungen sich mit der nöthigen Genauigkeit nicht beschreiben lassen, am wenigsten in einer kurzen Abhandlung; sie müssen, sollen nicht die verderblichsten Mißverständnisse eintreten, von einem Lehrer, welcher selbst gestottert hat, gezeigt werden. Der zweite, und zwar der Hauptgrund meiner Reserve aber ist der, daß die Uebungen allein nach aller Erfahrung [215] nichts helfen und nach obiger Darlegung des Leidens nicht helfen können. Da die Grundursache eine psychische ist, alles Uebrige aber, vor Allem die örtliche Functionsstörung der Muskelapparate, die zur Ausathmung und zur Laut- und Wortbildung beitragen, nur eine Folge jener psychischen Ursache ist, so treffen die diesen secundären Erscheinungen entgegenarbeitenden Uebungen die Wurzel des Uebels nicht. Sie dürfen zwar nicht fehlen, damit dem Stotterer die äußeren Bedingungen des normalen Sprechens gezeigt und wiedergegeben werden, aber vornehmlich kommt es auf die psychische Behandlung des Patienten seitens des Heilenden an, der die Fähigkeit, ihn völlig zu beherrschen besitzen muß, und diese Kunst läßt sich schriftlich nicht mittheilen.[1]

Bezüglich der Behandlung von Kindern dagegen, welche die Disposition zum Stottern zeigen, ohne es schon ausgebildet zu haben, werde ich, da es mir in der heutigen Nummer an Raum gebricht, später in einem Nachtrag einige vorbeugende Maßregeln angeben.


  1. Wir haben den obigen Mittheilungen des Herrn Rudolf Denhardt aus Burgsteinfurt nur noch hinzuzufügen, daß – wie wir aus eigener Anschauung in den Unterrichtsstunden uns überzeugt haben – das Heilverfahren desselben ein ebenso rationelles wie einfaches und erfolgreiches ist. Herr Denhardt verstand es, ohne alle Medicamente, ohne Operation und mit Vermeidung der ebenso falschen wie erfolglosen Tactmethode, selbst hochgradigen Stotterern, die nicht im Stande waren vier Worte hintereinander zu sprechen, bereits nach vierzehn Tagen oder drei Wochen zum fließenden Gebrauch ihrer Sprache zu verhelfen und ihnen jede beliebige Conversation, jeden Vortrag einer längern Rede, ohne Fratzenschneiden oder alberne Tactbewegungen zu ermöglichen. Der Genannte ist somit, außer seinem zweiundsiebenzigjährigen Vater, augenblicklich in Deutschland der einzige Sprachlehrer, der mit stets gleichen Erfolgen ein Gebrechen zu heilen versteht, das selbst von Aerzten noch falsch aufgefaßt wird und noch niemals richtig bekämpft worden ist. Freilich fordert er auch nach den Unterrichtstunden ein energisches Beachten der Methode, aber wenn dies geschieht, so ist auch ein Rückfall in den alten Fehler unmöglich. Die freudige, wahrhaft rührende Dankbarkeit, mit der alle Geheilten an Herrn Denhardt hängen, beweist nur, wie sehr er es verstanden hat, aus tief unglücklichen scheuen Stotterern frohe und selbstbewußte Menschen zu machen, die sich jetzt mit Sicherheit in ihren Berufssphären und in der Gesellschaft bewegen. Die Redaction der „Gartenlaube“.
    E. K.




Ein Freiheitsbaum.
Von August Becker.

Es war ein wunderschöner Maiensonntag im Jahre 1832. Die Schuljugend – wozu auch meine älteren Geschwister gehörten – war, wie jeden Sonntag Nachmittag im Lenz, auf das „Schloß“ gestiegen. So hieß im Volksmunde die Ruine Landeck, der sagenhafte merowingische Königssitz Dagoberts des Großen, welche mit ihrem mächtigen Thurme aus römischen Kropfquadern und mit ihren runden Eckthürmchen auf dem Kastanienberg emporragt. Da war es still auf den Gassen des Fleckens Klingenmünster und still im Hause; nur meine Mutter war daheim. Und ich saß als kränkelnder Knabe vor der Hausthür auf der steinernen Staffel und sah in den kommenden Abend hinein, sah selbstvergessen nach den Thurmschwalben, welche das schimmernde Kreuz der Stiftskirche umsegelten, und hörte dem verschlafenen Rauschen des Rathhausbrunnens zu, der aus drei Röhren sein Wasser in die gewaltigen steinernen Tröge goß.

Die Stille auf den Gassen an jenem Maiensonntag ist meine früheste Erinnerung. Wahrscheinlich blieb sie deshalb so lebendig in mir haften, weil diese idyllische Ruhe so plötzlich unterbrochen wurde. Mit Epheu bekränzt, jubelnd und schreiend, brach nämlich, von der Ruine kommend, die Schuljugend in den Frieden der Ortsgasse ein. Und wie toll schrieen auch meine Geschwister mit:

„Preßfreiheit hoch! Freiheit in unserem Lande! Der Wirth soll leben! Der Siebenpfeiffer soll leben. Schüler und der Pistor hoch! hoch! hoch!“

Und dabei schwangen sie kleine papierne, schwarz-roth-goldene Fahnen und geberdeten sich wie junge Bacchanten. Das war nun allerdings ein wunderliches Gebahren und ich verstand von ihrem Geschrei ungefähr so viel, wie eine Kuh von einer Muskatnuß, wie man am Oberrhein zu sagen pflegt. Was sie noch von „Freiheit“ und „Deutschland“ sagten, klang mir leer in’s Ohr. Was war mir Hekuba?!

Lärmend und jubelnd drangen meine Geschwister auch in die Stube, wo meine Mutter lesend saß und die Tobenden nun zu beschwichtigen suchte, indem sie ihnen mit großen Traubenmusbrocken die kleinen Mäuler stopfte und ihrem Geschrei damit ernstlich wehrte. Die gute Frau, sonst entschlossen und nicht leicht außer Fassung gebracht, war an jenem Abende etwas ängstlich und besorgt; den Grund sollte ich erst später erfahren.

„Mutter!“ rief mein ältester Bruder. „Heute geht es los. Sie sind schon in den Wald, um sich einen auszusuchen.“

„Gott gebe, es wäre schon vorüber!“ seufzte die Mutter und ging in die Küche, um einstweilen für das „Nachtessen“ zu sorgen, da die Mägde noch nicht heimgekommen waren.

Eine seltsame Unruhe ging an jenem Abende durch meinen Heimathsort. Viele junge Bursche sah man diesmal nicht, wie sonst an Sonntagabenden, mit den Mädchen unter den blühenden Nußbäume entlang wandeln, und die dort wandelten, sangen nicht wie sonst die alten schönen Volkslieder, sondern jene Freiheitsliedlein und Polenhymnen, welche dann Jahre lang auf allen Kirchweihen zum Tanze aufgespielt wurden. Und immer klang der mir bis dahin unerhörte Ruf „Freiheit!“ gellend dazwischen. Einige ältere Herren standen gruppenweise auf den Gassen und Plätzen, vor den Fenstern und Thüren beisammen, und dann und wann scholl lauter herüber:

„Freiheit in unser’m Land’, Freiheit im ganzen Land’,
Aristokraten werden gebraten,“ etc.

Die Dunkelheit war allmählich hereingebrochen, aber noch ward es auf den Gassen nicht ruhig. Niemand schien sich gern niederzulegen. Viele blieben überhaupt auf. Weil ich krank und noch so klein war, erhielt ich mein Bett im Schlafzimmer meiner Eltern, schlief auch bald getrost ein. Um Mitternacht wurde ich jedoch durch einen fürchterlicher Lärm geweckt. Draußen läutete das Rathhausglöckchen Sturm. Die Papiermühle im Thale stand, die tiefe Maiennacht erhellend, lichterloh in Flammen.

„Laßt sie brennen!“ hieß es draußen im Gebrüll und Tosen von hundert Stimmen. „Wir haben Anderes zu thun.“

Und dazu fiel Schuß auf Schuß unmittelbar vor den Fenstern der Schlafstube, daß ich schreiend auffuhr, wenn der Feuerblitz durch das Zimmer zuckte, die Scheiben dröhnten, die Flinten krachten, die Böller lärmten und dazwischen Freiheitsgesang erbrauste, Rufe erschollen und Jauchzen gellte. Es war eine jener Nächte, die man nicht vergißt, auch für meine Mutter, damals eine junge dreißigjährige Frau, die zwei Wochen später einer meiner jüngeren Schwestern das Leben schenkte. Nur mein Vater behielt seine Fassung auch noch dann als unmittelbar hinter der Mauer ein dumpfes Geräusch sich bemerklich machte, als arbeiteten dahinter Schaufeln, Hacken und Karste, um das Haus zu untergraben.

„Tiefer! Macht’s tiefer!“ wurde durch den fürchterlichen Tumult vernommen, während mein Vater sich ankleidete. Und wieder wurde eifrig gegraben, ohne daß das Krachen der Böller und Gewehre, das Singen und Schreien unterbrochen worden wären.

Da pochte es heftig an die Fensterscheiben.

„Was giebt es?“

„Machen Sie auf, Herr Becker! Die Thür vorn an der Hausflur.“

„Wozu?“

„Wir müssen ihn mit Stricken emporziehen – durch den Speicherlucken oben am Giebel. Dann wollen wir doch auch im Rathsbureau ein Protokoll über unsere Beschwerden aufgenommen haben.“

„Gut!“ sagte mein Vater nach einigen Bedenken. „Wartet ein wenig.“

Vorerst wollte er meine Mutter in Sicherheit wissen, die vor dem gräßlichen Toben und Knallen unmittelbar vor ihren Schlaffenstern heftig erregt war, mich aus meinem Bette in ihre Arme nahm und mit mir in ein entlegenes Zimmer flüchtete,

[216] um die Nacht hindurch dorten zu schlafen oder doch zu verweilen. Inzwischen war nicht blos unsere Familie, sondern der ganze Ort in Aufruhr und Bewegung gekommen. Alt und Jung, Mann und Weib trieb sich draußen umher, um an dem Lärm Theil zu nehmen. Ein mit Stricken und Seilen versehener Schwarm warf sich gegen die Hausthür, an welcher mein Vater stand, indem er sie halb öffnete:

„Nur verheirathete Männer dürfen herein,“ kündigte er dem Haufen an. „Ledige Burschen bleiben draußen.“

Und so geschah es. Die Hereingelassenen polterten nun mit ihren Stricken die hölzernen Treppen hinan auf den Speicher, unter den Thurm, in welchem noch immer die Rathhausglocke bimmelte. Sie warfen von oben das Seil-Ende hinunter und riefen der tobenden Menge zu:

„Stellt ihn in die Grube! Bindet die Stricke an! So! Jetzt!“

Und im Nu war die Arbeit gethan. Ein gräuliches Jubelgeschrei drang zum nächtlichen Maienhimmel empor. Der Freiheitsbaum stand fest, war zur Freude Derer, die ihn nächtlicher Weile im Walde geholt und unter Freudeschüssen und Absingen von Freiheitsliedern nach dem Orte gebracht hatten, in gelungener Weise aufgepflanzt. Und zwar an der Stelle, wo schon jener von 1792, und jener von 1815, bei Napoleon’s Rückkehr von Elba, gestanden.

Während nun draußen auf der Rathhausbrücke, auf dem Platze inmitten des Fleckens der Jubel, Gesang und Gewehrlärm fortdauerte, sammelte sich wieder ein größerer Haufe vor der Hausthür und begehrte Einlaß auf das Rathsbureau.

„Ruft den Bürgermeister herbei!“ sagte mein Vater. „Dann mögen die Bürger hereinkommen, doch kein junger Bursche.“

Und der Bürgermeister kam, trat herein und die Treppen hinan bis in’s Rathsbureau, ihm nach die älteren Bürger, wobei freilich nicht verhütet werden konnte, daß sich auch Einige hereinschlichen, die besser draußen geblieben wären.

Bürgermeister Michael Hoffmann war ein bemerkenswerther Mann, schon in französischer Zeit Maire im Orte gewesen, seitdem Bürgermeister und zwar gleichsam ein geborener, zu dessen Lebzeiten Niemand daran dachte, daß es auch einmal ein anderer sein könnte. Er war Mitglied des Landraths der Pfalz und der Synode der pfälzischen Landeskirche, im ganzen Lande wohlbekannt als „Michel Münster“. Münster ist nämlich die landesgebräuchliche Abkürzung von Klingenmünster, und da die alte Dagobert’sche Stiftung vor allen andern dem streitbaren Erzengel Michael, der den Höllendrachen erwürgt, gewidmet war, so lag in dem Spitznamen eine sehr ehrende Beziehung, die er auch vollauf verdiente. Aus sich selbst geworden, war er ein echter Volksmann, ein rechter Repräsentant pfälzischen Bodens, praktisch, kühn, voll Geistesgegenwart und mit jenem Ehrgeiz ausgerüstet, der zum richtigen Handeln reizt. Unserer Familie war er Freund, Nachbar und Gevatter, für die Gemeinde der rechte Vorstand, der bei strengem Haushalt den Ort nach allen Seiten mit guten Straßen versah.

Bei allem Freisinn pflegte der stattliche Mann historische Familienerinnerungen und blieb nicht ohne Beziehungen zu den verarmten katholischen „Hoffmännern“ im Gossersweiler Thal. Als nämlich 1680 Ludwig der Vierzehnte die Fauthei Landeck besetzte, das Allodialerbe der Herzogin von Orleans, jener bekannten Elisabeth Charlotte von der Pfalz, da wurden die Thalbewohner hinter Klingenmünster durch Dragoner, Kapuziner und freien Trunk wieder katholisch gemacht, und auch der Michel Hoffmann von Mönchweiler fiel mit Frau und Söhnen vom reformirten Glauben ab. Nur eines der Kinder, Diether, wollte nicht katholisch werden, lief fort in die Welt und kam bis hinauf zum Hofe Hermersberg im einsamen Forste der Haardt. Dort nahm ihn eine Wiedertäuferfamilie auf; später verdiente er viel Geld am Bau der Landauer Festungswerke, siedelte sich in Klingenmünster an und ward da oft von seinen Brüdern besucht, während er selbst nie wieder in’s Gossersweiler Thal ging. Noch heute nennen sich die „Hoffmänner“ im Thal und die in Münster Vettern, und Bürgermeister Hoffmann war der Urenkel jenes Diether und erzählte dessen Lebensgeschichte oft genug, wenn er mit meinem Vater beisammensaß.

Wie gerne lauschte ich den Mittheilungen dieses Mannes, besonders über die erregten französischen Zeiten! Hier nur einen charakteristischen Zug aus seinem eigenen Leben! Als die Alliirten nach Paris zogen, war eines Tages wieder die Stube des Bürgermeisters Hoffmann vollgepfropft mit kaiserlichen Officieren, die ihres Quartierbillets harrten, welches der Gemeindevorstand mit der großen Papierscheere selbst zuschnitt. Nun ward einem ein kleines Haus gegenüber angewiesen, in welchem jedoch der reichste Mann des Ortes wohnte. Der Officier brauste wild auf: er lasse sich nicht zum Schweinhirten einquartieren, fluchte und schimpfte trotz beschwichtigender Erklärungen und griff zuletzt wüthend nach seinem Säbel. Da faßte aber unser Bürgermeister die mächtige Papierscheere kürzer und rief:

„Stecken Sie sofort Ihren Flederwisch ein, oder ich steche Sie durch und durch!“

In diesem Augenblicke erhob sich aus einem Winkel der Stube ein unscheinbares Männchen, schlug den Mantelkragen zurück und befahl, den widerspänstigen Officier nun sofort wirklich zum Schweinhirten einzuquartieren, worauf er demselben den Degen abnahm. –

Bürgermeister Hoffmann hatte also in jener „Freiheitsnacht“ von 1832 mit meinem Vater, der das Protokoll führte, Platz am schwarzen Tisch genommen und bat um Ruhe; der Lärm legte sich allmählich, wenn auch nicht ganz. Die „Hauptkrischer“ stammten, wie schon 1792, aus dem Unterdorf und der Steingasse, die schlimmsten aus der Schelmengasse, wo einst der Scharfrichter der Fauthei gewohnt, und aus dem „scharfen Eck“, jenem Ortstheil, der sich gegen den Fuß des Schloßberges hin erstreckt und schon halb zum Westrich gerechnet wird. Es ist das Neulerchenfeld oder Voigtland von Klingenmünster, zumeist von Leuten bewohnt, die vom Wald und Steinbruch lebten. Unser alter Nachbar, der Bäcker Leibrecht, pflegte fechtenden Handwerksburschen zu sagen: „Fechtet das ganze scharfe Eck durch, und habt Ihr auch nur zwei Kreuzer erfochten, so könnt Ihr nach Algier gehen und Euch bei den Franzosen als Fechtmeister anstellen lassen.“

Die Beschwerden wurden also vorgebracht. Auch hier stand im Vordergrunde die Frage wegen des Waldes, den Einige am liebsten getheilt hätten, dann wegen des Streuwerks, vulgo „Sträseld“. Einer murrte über die kleinen Wecke und Würste, wie 1525 die Kitzinger Bürger, denen deswegen ihr gnädiger Markgraf hernach die Augen ausstechen, die Hände abhacken und der Stadt verweisen ließ, daß die Armen noch an allen Kreuzwegen mit aufgehobenen Stummeln dem Tyrannen fluchten, als er schon in seiner Gruft zu Heilsbrunn moderte. Solches Gericht drohte nun unsern Bürgern von Klingenmünster nicht, als sie nach einander alle die Beschwerden vorbrachten, wie man sie überall hörte, meistens localer, selten politischer Natur. Zollfreiheit, Preßfreiheit, ein deutsches Reich zu verlangen, überließ man meistens Anderen, doch schrie man wacker mit, forderte jedoch bei Gelegenheit nur das Zunächstliegende, freilich oft in verkehrter Weise. So sagte endlich Einer:

„Die Schulmeeschter zehren uns uff.“

Das wäre allerdings eine harte Anklage gewesen, doch nur in so fern richtig, als auf Betreiben der pfälzer Regierung damals die Gemeinden sich mit theuern und unpraktischen Schulbauten überbürdeten, während die Lehrerbesoldungen überall gering blieben. In Klingenmünster, wo keine Schulgüter bestanden, gab es damals einen katholischen und einen protestantischen Hauptlehrer, jener arm wie eine Kirchenmaus, dieser durch Privatvermögen in Besitz von Weinbergen, Fruchtfeldern, Wiesen und Kastanienwäldern, wie seine Nachbarn. Geschenke nahm er niemals; Niemand hätte sich getraut, ihm etwas bieten zu wollen. Im Gegentheil schenkte besonders die Frau Lehrerin ihrerseits viel an arme Schulkinder, und oft saß Mittags und Abends die ganze Küche voll kleiner Jungen und Mädchen, die von der Frau Lehrerin warm abgefüttert wurden – was ich genau weiß, denn es war meine Mutter. Dessenungeachtet sagte also einer der Beschwerdeführer in jener „Freiheitsnacht“: „Die Schulmeeschter zehren uns uff.“

Nachdem man darüber hinweg gegangen war, trat ein Anderer auf, ein alter „Speckreiter“, das ist Sansculotte aus den neunziger Jahren, der damals in der Carmagnole und mit umgürtetem Säbel besonders die zurückgebliebenen Frauen der kurpfälzer Beamten ängstigte, indem er sie zum Ruf: „vive la nation!“ nöthigte. Es war ein hagerer Mann in einer Bauernjacke, [217] mit herabhängenden Lippen, schlaffen Wangen, Eulenaugen, starrem Blick, an einen puritanischen Fanatiker aus Cromwell’s Zeit erinnernd. Dieser nannte als seinen Wunsch kurzweg:

„Republik! Liberté, egalité, fraternité! Vive la nation!

Vive l’empereur!“ fügten einige alte Soldaten hinzu, die sich noch in der Nacht mit einem Rausch versehen hatten.

„Sonst nichts?“ fragte der Bürgermeister launig, während Einige lachten. „Was wollt Ihr noch? Nun? Was noch?“

Eine Zeit lang blieb Alles still. Dann rief eine Stimme aus des hintersten Ecke:

„Köppe!“

„Wer will köpfen? Wen wollt ihr köpfen?“ fragte Bürgermeister Hoffmann ruhig.

„Alles muß verguillotinirt werden,“ sprach dieselbe Stimme, sich etwas mehr hervorwagend, da sie Zustimmung fand.

„Ihr müßt Alle,“ schrie ein Anderer von der Menge gedeckt, „Alle bampeln“ – das ist baumeln, aufgehängt werden.

Unterdessen war aber Bürgermeister Hoffmann bereits von seinem Sitze aufgestanden und trat mit festem Blick unter die tobende Menge, welche sich in ihren Anschauungen theilte und bekämpfte, bei der Erscheinung des stattlichen Mannes aber aus einander wich und Platz machte, sodaß er die freie Gasse rasch benützte. Plötzlich faßte er einen der hintersten Burschen, dessen Stimme er erkannt haben mochte, schlug ihm Eine rechts und Eine links an’s Ohr und schleuderte ihn dann kräftigst zur Thür hinaus.

„So!“ sagte er. „Jetzt geh’ hin und köpp’!“

„Herr Bürgermeister,“ rief mein Vater in guter Laune, „bringen Sie mir den Andern, damit ich ihn das Bampeln lehre!“

Der aber hatte dem Landfrieden nicht getraut und sich bereits aus dem Staube gemacht. Zwar war die Sitzung damit noch lange nicht zu Ende; die ganze Nacht trampelte das Männervolk mit leidenschaftlichem, schreiendem Meinungsaustausch im Hause aus und ein, auf und ab, sodaß meine Mutter kein Auge schloß, während ich selbst längst wieder eingeschlafen war. Der Bürgermeister hob endlich die mitternächtliche Sitzung auf und forderte die Versammelten auf, jetzt ruhig heimzugehen und sich auf das Ohr zu legen.

Ich will hier gleich beifügen, daß der „Köpper“, wie der hoffnungsvolle Sohn Klingenmünsters von Stunde an hieß, zur Betrübniß Europas bald darauf mit dem großen Strome der Auswanderer über’s Meer setzte, während auch das „Bamperle“, ein Schneider, nach einigen weiteren dummen Streichen in Verschollenheit gerieth. Beide schöne Seelen entstammten dem „scharfen Eck“. –

Als ich andern Morgens aufwachte und von hohem Schemel aus durch das Fenster sah, gingen draußen viele Leute umher. Mir ganz nahe aber stand ein hoher Baum, wie ich noch keinen gesehen hatte, der gestern noch nicht dagewesen und nun, mit schwarz-roth-goldenen Bändern und Schnüren geschmückt, den grünen Wipfel bis zum Rathhausthurme emportrug. Die Mädchen von Klingenmünster hatten ihn in der Nacht so schön geziert, bevor er aufgestellt worden war.

Nachdem aus der Pfalz die in Altbaiern üblichen Maibäume schon seit undenklicher Zeit verschwunden waren, blieb der Freiheitsbaum für uns Kinder eine ebenso erfreuliche Erscheinung, wie ein großes Ereigniß. Allabendlich sammelten sich in jener Zeit die Bauern um denselben, plaudernd, perorirend, lärmend, indem sie bald den Dr. Wirth, bald den Siebenpfeiffer, bald Schüler, bald Pistor leben ließen. Der Baum stand noch während des Hambacher Festes, zu welchem auch von Klingenmünster, aus dem Hofe des Bürgermeisters zwei blumengeschmückte Wagen voller Festgenossen abgingen.

In allen Orten längs der weinreichen Haardt und im Wasgau grünten damals die Freiheitsbäume, deren erster diesmal am Fuße der alten Reichsveste Trifels, in dem früheren Reichsstädtchen Annweiler gesetzt worden war. Man hatte ihn am Abend des 6. Mai unter Klang und Sang aus dem Bürgerwalde geholt und neben den Roland im Marktbrunnen gestellt. Ein Kaminfeger aus Altbaiern wollte ihn mit der Axt fällen, wurde aber gräulich vertrommelt, während die alte dreifarbige Reichsfahne aus dem Rathhause geholt und aufgehißt wurde. Bald wurde ein noch höherer Baum aufgerichtet, nächtlicher Weile jedoch von den Gegnern niedergeworfen. Am nämlichen Abend stieg dagegen ein frischer Baum in die Höhe, obwohl von Landau her die Baiern durch das Queichthal gegen die alte Reichsstadt vorrückten. Hier wollten sie Verhaftungen vornehmen. „Bürger heraus! Auf die Soldaten!“ hieß es jetzt, und im Nu sammelten sich an zweitausend bewaffnete Männer und – Weiber, welche mit Aexten, Heugabeln und Flinten auf die vor dem Hause des Bürgermeisters Sieben aufgestellten Soldaten eindrangen. Auf den Ruf: „Soldaten zur Stadt hinaus!“ fand es der commandirende Officier angezeigt, nachzugeben. Erst als Bürgermeister Sieben abgedankt hatte, wurden die Baiern zurückgerufen und von den Bürgern festlich bewirthet. Von da an waren allerorts im Gebirge die Freiheitsbäume gepflanzt worden, auch der unsrige.

Als mein Vater vom Hambacher Feste zurückkehrte, stand unser Freiheitsbaum noch und die Spatzen trieben sich schreiend in dessen Wipfeln umher. Unser Liebling war er noch immer; doch trat er bei den Erwachsenen etwas in den Hintergrund vor den Erlebnissen auf dem Hambacher Schlosse. Da wurde immer wieder erzählt, wie die Table d’hôte verregnet worden und des Herrn Bürgermeisters Schwester fast verunglückt sei, da Alles den Berg hinunter rannte; wie der Dr. Wirth gedonnert habe mit rollenden Augen, geballter Faust, das Ehrenschwert schwingend gegen Tyrannei und – Franzosenthum, für Deutschlands Ruhm und Einheit; wie dann der Siebenpfeiffer beim Reden schwarz und gelb geworden sei und vor innerer Wuth gezittert habe, als wolle er den Tyrannen Gift eintränken; wie Börne und Harro Harring, der Friese, ausgesehen, wie ein Pole und auch Dr. Pistor, in eine anschließende Polonaise gekleidet, begeistert gesprochen haben – und Weiteres mehr. Das Fest hatte dem Volksgeiste zum ersten Male wieder den Gedanken an das Reich nahe gebracht, und dieser wirkte in den Rheinlanden fort, auch dort Boden gewinnend, wo die „Franzosenköpfe“ bis dahin überwogen hatten.

So grünte mir in jenen Sommerwochen draußen vor’m Fenster der Freiheitsbaum. Als ich jedoch eines Morgens ahnungslos wieder hinausschaute, war er verschwunden, spurlos verschwunden. Nur am Boden war eine Grube, halb zugeschüttet, wo er gestanden. Es ist mir noch lebhaft gegenwärtig, wie unglücklich ich mich als Kind darüber fühlte, wie ich jammerte, ohne daß mir Jemand helfen konnte. Mein schöner geschmückter Baum, an dessen Anblick ich mich so sehr gewöhnt hatte, erstand nicht wieder. Wo er hingekommen, was aus ihm geworden, wer ihn verschwinden ließ – ich habe es nie erfahren.

Damals war Fürst Wrede schon auf dem Marsche in die Pfalz, die Untersuchungen wurden allerorts eingeleitet. Die Häupter der Bewegung, wie Wirth, Siebenpfeiffer, waren verhaftet, ein anderer nur durch die List eines Mädchens von Bergzabern vor Verhaftung bewahrt. Schüler und Pistor, beide Bergzaberner Kinder, waren über die nahe Grenze geflohen. Ein vornehmer stolzer Republikaner und weitaus der begabteste und beredteste aller jener Männer von 1832, saß Schüler erst 1849 wieder mit krankem Körper im baierischen Landtag, wo alle Parteien, Minister und Räthe athemlos seiner wahrhaft seltenen Eloquenz lauschten. Was nun den Pistor betrifft, des Posthalters Sohn von Bergzabern, so galt er für die gewinnendste Erscheinung unter den Helden von 1832, wie er der jüngste war. Seine Rede auf dem Hambacher Schlosse galt damals Vielen für die schönste unter allen. –

Nun war es ein Sommermorgen. Nachbarskinder hatten mich mit in den Wald genommen, in die Heidelbeeren. Da klang plötzlich von Osten über die Häuser des Orts her Trommellärm und heller Hörnerklang in’s Waldthal herein. Als wir heimkamen, waren die „Baiern“ schon eingezogen, einquartiert. Und nun wechselten viele Monate lang Truppen um Truppen im Orte, zur Lust von uns Kindern, ohne den gastfreien Pfälzern allzu lästig zu werden. Und auch die „Strafbaiern“ von 1832 fühlten sich nicht unglücklich in der schönen Pfalz. Es war ein heiteres, sanglustiges Volk, freundlich gegen uns Kinder. Allein den Freiheitsbaum ersetzten sie uns doch nicht; der blieb ein für alle Mal verschwunden, und ich habe seitdem keinen mehr gesehen. – –

Zweiundvierzig Jahre waren verflossen. Da befand ich mich an einem schönen Octobersonntag, im Jahre 1874, zu Besuch bei einem Freunde, einem hervorragenden baierischen [218] Abgeordneten, in dessen Wohnung hinterm Schlosse von Bergzabern. Die Aussicht der Fenster ging hinaus auf das reiche Rebengefilde, das von der Stadtmauer, den weiten Berg hinan, gegen den Hexenplatz ansteigt. Auf einem Vorsprung desselben, zum Theil auf Kalkklippen, ragte mitten aus den Reben malerisch und verlockend ein sonst anspruchsloses Landhaus, und von daher kam in demselben Augenblick eine Einladung auf den Nachmittag, wo mich der Anblick gefesselt hatte. Da sich noch ein Freund aus Bergzabern, der dortige Bezirksarzt, hinzugesellt hatte, stiegen wir zu Dreien die Weinberge hinan, die üppig voll reifer Trauben hingen, und wurden oben von dem Besitzer, dessen Tochter und Bruder mit jener gastlichen Liebenswürdigkeit empfangen, welche den gebildeten Rheinländer auszeichnet.

Der Besitzer, welchem man seine siebenzig Jahre keineswegs anmerkte, gewann mich besonders durch sein weiches, aller pfälzischen Härten bares Idiom, und ich begriff, warum seine begeisterte Rede auf dem Hambacher Schloß so wohlgefälligen Eindruck gemacht hatte. Denn unser freundlicher Wirth war Dr. Pistor, jener Redner von 1832. Ich sah ihn zum ersten Male. Zu meiner Zeit war er verbannt, lebte in Paris und Metz und wohnt, als der angesehenste Sachwalter letzterer Stadt, noch immer daselbst, nachdem das mächtige Bollwerk nach Jahrhunderten wieder deutsch geworden war.

Ein unvergeßlicher Nachmittag folgte, Stunden, wie man sie nur auf jenen Höhen der Pfalz verleben kann. Perlender Wein in den Gläsern, Weintrauben ringsum, in der Laube, wo wir weilten, und in reicher Segensfülle am ganzen Berge, – unten die alte Böhämmerstadt, hier die beata rura Palatini, dort über den Gaisberg hin das Elsaß, drüben die Gebirgsmauer des Schwarzwaldes, und wir selbst von einer Zehe des alten Vosegus hinausschauend in das schöne sonnige Land; so vergingen die Stunden in lebendiger Unterhaltung. Einmal ließ ich auch ein Wort von jenem Wunderbaum meiner frühesten Kindheit fallen, der über Nacht entstanden und verschwunden, und wie der Baum im Märchen seine Gaben über Aschenbrödel, so in meine junge Seele Ahnungen geschüttet von der Auferstehung des Reiches.

Der Redner von 1832 antwortete mit einem Lächeln, das zu sagen schien:

„Es war ein Jugendtraum. Solche gehen manchmal in Erfüllung, wenn auch nicht immer genau, wie wir es wünschen.“




Das Fürstenasyl und Künstlerheim am Traunsee.


Und ich schau’ des Sees Spiegel.
Seiner Wogen grünen Schwall,
Seine tannendunklen Hügel,
Seiner Alpen Mauerwall:
Hochlandschneeluft weht hernieder
Kühlend auf der Seele Gluth,
Und, gleich Möven, kreisen Lieder
Neu beschwingt hier um die Fluth.

Victor Scheffel („Frau Aventiure“).

Als mir die freundliche Einladung der „Gartenlaube“ zukam, den Text zu dem Bilde des lieblichen Seestädtchens zu liefern, welches diese Blätter heute seinen Lesern bieten, war ich anfangs in Zweifel, ob meine Feder zu dieser Aufgabe die berufene sei. Nicht als ob ich mit dem Gegenstande mich zu wenig vertraut fühlte; im Gegentheile kann ich ohne Unbescheidenheit behaupten, daß ich in dieser Beziehung wohl die erforderliche Eignung besitze. Ist doch seit einer langen Reihe von Jahren das herrliche Gmunden jeden Sommer das buen retiro, in dem ich Wochen und Monate hindurch Erholung und Stärkung suche und finde, dessen Natur und Gesellschaft ich, um einen landläufigen Ausdruck zu gebrauchen, wie meine Tasche kenne. Meine Zweifel bezogen sich auf meine Unbefangenheit. Gmunden hat nämlich die Eigenthümlichkeit, daß sein Zauber, je länger und genauer man es kennt, um so bestrickender und gewaltiger wirkt, und ich fühle mich von dem Banne dieses Zaubers so unlösbar umsponnen und in demselben gefangen, daß ich meine vollständige Objectivität nicht verbürgen möchte.

Aber meine Bedenken wurden durch die Erwägung beschwichtigt, daß es überhaupt eine vollständige Objectivität nicht giebt und daß – ob bewußt oder unbewußt – das subjective Urtheil sich immer und überall geltend macht. Und so möge denn das schwache Werkzeug des Wortes versuchen, mit der anschaulichen Leistung des Griffels Schritt zu halten.

Man wird mir gewiß gern die topographischen und ethnographischen Daten erlassen, die in jedem Reisehandbuche zu finden sind.

Wenn man sich dem Orte Lambach nähert, so erblickt man bei gutem Wetter bereits das Wahrzeichen von Gmunden, den schroffen kahlen Felsengrat des Traunsteins, der, sich scharf vom Horizonte abzeichnend, die Gegend beherrscht. Bis zur Eröffnung der Salzkammergutbahn im vorigen Herbste verließ man hier die Hauptstrecke der Kaiserin-Elisabeth-Westbahn, um sich auf einer Zweigbahn, die ursprünglich ein Tramway war, später aber mit Miniaturlocomotiven, welche der Volkswitz spöttisch Kaffeemaschinen taufte, befahren wurde, nach Gmunden zu begeben. Ungefähr anderthalb Stunden lang fährt man durch fruchtbares wellenförmiges Land. Saatfelder wechseln mit Hopfengärten und dunklen Nadelwäldern ab; bei netten freundlichen Dörfern stehen die zierlichen im schweizer Stile gebauten hölzernen Stationshäuser. Mitten im Tannenwalde hält der Zug bei einem der selben – wir sind in der Station Traunfall, und zahlreiche Touristen, die von Gmunden aus den weitberühmten pittoresken Traunfall auf der Traun mittelst des Salzschiffes besucht haben und jetzt mittelst Eisenbahn zurückkehren, besteigen den Train. Bald nachdem der Zug den Wald verlassen hat, beginnt sich die Bahn mehr und mehr zu senken; das Gefälle wird stärker; die Bremsen arbeiten. Das Wahrzeichen der Gegend, der Traunstein, rückt näher und näher heran, und jetzt – da – hinter der Station Engelhofen blitzt es auf wie ein blaues feuriges Auge – das ist der Traunsee, „das steirische Meer“, wie ihn Heinrich von Ofterdingen in Meister Scheffel’s „Frau Aventiure“ geographisch und politisch wohl nicht ganz correct nennt.

Weiter und weiter rollt der Zug abwärts; das blaue, feurige Auge schlägt sich immer größer und voller auf. Im Halbkreise aber um den See gelagert hält den Blick das freundliche ansehnliche Städtchen Gmunden gefangen, eingerahmt links von dem bewaldeten Grünberge, dessen äußerste Spitze das „Hochgschirr“ heißt und dem sich die schroff aus dem See aufsteigenden, grauen, zerklüfteten Wände des Traunsteins anschließen, während rechts blühendes villen- und schlösserbedecktes Wald- und Hügelland sich ausbreitet, das sich mit den reizend gelegenen Orten Ebenzweier und Altmünster bis an das in blauem Dufte verschwimmende romantisch gelegene Dörfchen Traunkirchen erstreckt, und von dem, wie ein vorgeschobener Posten, das Seeschloß der kleinen Insel Ort, die mit dem Festlande durch eine Holzbrücke verbunden ist, in den See hinein vorspringt. Auf dem See ist es lebendig; die Schlote der Dampfer senden pustend und qualmend dicke Rauchsäulen zum wolkenlosen Sommerhimmel empor; ferne Segelboote ziehen majestätisch wie weißgefiederte Schwäne einher; rasche buntbewimpelte Barken, kleine Seefahrzeuge, in denen nur ein Mensch in liegender Stellung Platz hat, werden mit Doppelrudern von starken Armen getrieben und schwere Holzflöße und Salzschiffe schießen blitzschnell unter der Traunbrücke über die Wehre hinab.

Wenn man durch die Traunvorstadt über die erwähnte Brücke, unter welcher der grüne wilde Fluß schäumend und brausend über die Wehre tobt, in das Städtchen einfährt, so gelangt man zunächst durch ein alterthümliches Thor und durch die ziemlich enge Traungasse auf den stattlichen Platz, der im Hintergrunde durch das alte große und gut renommirte „Hôtel zum goldenen Schiff“, das gewöhnliche Absteigequartier des deutschen Kaisers auf seiner Durchreise durch Gmunden, abgeschlossen wird. Rechts bildet das ehemalige Salinengebäude, das jetzt als Rathhaus verwendet wird, links das Kaffeehaus nächst dem Landungsplatze der Dampfschiffe die Seitencoulisse. Den Vordergrund nimmt der See ein, den man von hier aus in seinem offenen Theile bis Traunkirchen, wo er zu einem Kesselsee wird, vollkommen überblickt. Vom Marktplatze führt der Weg an dem netten neugebauten Theater, in welchem

[219]

Gmunden am Traunsee.
Gezeichnet von Adolf Neumann.

[220] in den Sommermonaten eine ganz erträgliche Gesellschaft Possen- und Operettenvorstellungen giebt, der massiv und geschmackvoll gebauten Sparcasse, dem neuerrichteten grandiosen Actienhôtel „Austria“, dem Casino mit seinen Lese-, Spiel-, Billard-, Speise-, Tanz- und Musiksalons und der in den See vorspringenden breiten Terrasse vorbei auf die Esplanade, eine lange zum Theil künstlich dem See abgerungene Allee; sie wird rechts von einer Häuserreihe, aus der die zierliche Miniaturvilla Meister Karl Laroche’s und das imposante „Hôtel Bellevue“ hervorzuheben sind, begrenzt, während sie links der See mit seinen zahlreichen Landungsplätzen und Treppen abschließt. Die Esplanade ist so recht eigentlich der Mittelpunkt des Gmundener Sommerlebens, da sie der einzige Ort in dem etwas sonnigen Städtchen ist, an dem zu jeder Tageszeit erquickender kühler Schatten zu finden, dessen Annehmlichkeit noch durch die Seeluft, die rauschend durch die Kronen der Bäume zieht, erhöht wird. Die der Sonne ziemlich ausgesetzte Lage des Ortes ist wohl der einzige wirkliche Uebelstand Gmundens. Auf der Esplanade, auf der sich eine Conditorei, eine Sodahütte und der Musikpavillon befinden, in dem während der Saison täglich Mittags und Abends das ziemlich gut geschulte Curorchester spielt, ist man sicher seine Bekannten zu treffen.

Dort steigt eine elegante Gesellschaft in eines der raschen und sicheren Kielboote, um nach einem der reizenden Punkte am rechten See-Ufer, an dem zahlreiche gut besuchte Caféwirthschaften sich angesiedelt haben, zu steuern. Eine Cavalcade sprengt vorüber: mehrere Herren und Damen auf anmuthigen Rennern, rothbefrackte Reitknechte mit weißgepuderten Perrücken im Gefolge. Allen voran reitet eine schlanke jugendliche Mädchengestalt in enganliegender dunkler Amazone, mit wehendem blauem Schleier auf dem runden Filzhütchen; es ist die reizende Prinzessin Mary von Hannover, welche ihrer Mutter, der Königin, in Gmunden Gesellschaft leistet, während Prinzessin Friederike ihren leidenden Vater in ein französisches Seebad begleitet hat. Ein schlanker junger Mann, der zu Fuß die Esplanade entlang schreitet, grüßt die Prinzessin mit ehrerbietiger, aber doch vertrauter Höflichkeit; er ist gleichfalls ein Depossedirter, der junge Prinz von Hanau, der Sohn des verstorbenen Kurfürsten von Hessen. Jetzt hält eine vornehme Equipage, ebenfalls mit rothberocktem und weißgepudertem Kutscher und gleichbekleidetem Diener; die Königin von Hannover, eine trotz des ergrauten Haares noch immer schöne Dame, steigt von einem Hoffräulein begleitet aus, um zu promeniren. Bei einem alten, aber noch kräftig und elastisch einherschreitenden und sorgfältig gekleideten Manne mit einem olympischen Goethe-Kopfe bleibt sie zu längerem freundlichem Gespräche stehen. Wir sehen Karl Laroche vor uns, den Altmeister des deutschen Schauspiels, den unübertroffenen Charakterdarsteller mit dem zündenden Humor um die Lippen, der ewigen Jugend im Auge. Nur wenige Schritte setzt die Königin, nachdem sie Laroche verabschiedet, ihren Weg fort, um wieder stehen zu bleiben, diesmal bei einem Ehepaare, einem jungen schlanken Manne und einer Dame von kaum mittlerer Größe, aber zierlichem Wuchse und einem unendlich belebten ausdrucksvollen Gesicht. Es ist Graf Prokesch-Osten, der Sohn des verstorbenen österreichischen Internuntius in Constantinopel; seine Gemahlin ist keine Geringere als Friederike Goßmann, einst die gefeiertste Naive der deutschen Bühne, die erste Interpretin der Sand-Bitch-Pfeiffer’schen Grille. Graf und Gräfin Prokesch-Osten zählen zu den Hausfreunden der königlich hannöverischen Familie, die den größten Theil des Jahres in einer dominirend auf einem Hügel gelegenen Villa Hof hält.

Ein reger Kunstsinn verschönt und lindert den Entthronten die schweren Tage des Exils. Der König wie die Königin beschäftigen sich mit Vorliebe mit Musik und Literatur. Kein Künstler oder Schriftsteller von einiger Bedeutung hält sich in Gmunden auf, der nicht zu dem hannöverischen Hofe in nähere oder fernere Beziehung träte. Häufig finden in der hannöverischen Villa musikalische oder literarische Abende statt, an denen zuweilen die Prinzessinnen, die sehr musikalisch sind, thätig Theil nehmen. Componisten haben hier ihre noch nicht veröffentlichten Compositionen vorgetragen, Dichter ihre noch im Manuscripte befindlichen Werke vorgelesen. Bei keinem Concert im Casino, bei keiner Wohlthätigkeitsvorstellung im Theater wird man die königliche Familie in der vordersten Sitzreihe oder in einer ersten Rangloge vermissen. Den Prinzen kann man oft im Lodenrock und gemsledernen Kniehosen, den grünen gemsbartgeschmückten Sturmhut auf dem Haupte und den Bergstock in der Hand, von einer Alpenpartie oder einem Jagdausfluge zurückkehrend, über die Esplanade schreiten sehen. Die öffentlichen und die Wohlthätigkeit-Bestrebungen des Städtchens finden bei den hannöverischen Gästen bereitwillige und reiche Unterstützung; so ist die Errichtung der neuen protestantischen Kirche dem werkthätigen Eingreifen der hannöverischen Königsfamilie hauptsächlich zu danken.

Wir setzen unseren Weg über die Esplanade fort und begrüßen auf dem Wege einige Bekannte, die ungarisch-deutsche Schauspielerin Lilla von Buljofsky, die am Ufer des Sees eine behagliche Villa besitzt, in der sie jeden Sommer von ihrer winterlichen Gastspielcampagne ausruht, Karl Goldmark, den Componisten der „Königin von Saba“, der in dem oberen ruhigeren Theile der Stadt an seiner neuen Oper arbeitet, den Dichter der „Sulamith“, F. Kaim – wenn ich nicht irre, ein geborenes Gmundener Kind – den Maler der Potentaten Angeli, den Capellmeister Proch, den Violinisten Josef Hellmesberger, den Schauspieler Adolf Sonnenthal … „Wer zählt die Völker, nennt die Namen, die gastlich hier zusammenkamen?“ Gmunden übte von jeher eine merkwürdige Anziehungskraft auf das phantasievolle Künstlervolk aus. Abgesehen von der zauberhaften Lage, die nur mit der Luzerner verglichen werden kann, wie denn der Gmundener See unbestreitbar die meiste Aehnlichkeit mit dem Vierwaldstätter See besitzt, ist es wohl die Zwanglosigkeit des Lebens, was die Künstlerkreise an Gmunden fesselt. Bei aller geistig und social vornehmen Geselligkeit hat sich das Gmundener Leben gegen steifen Etiquettezwang anderer Badeorte und Sommerfrischen zu schützen gewußt. Man speist selbst bei dem Könige von Hannover im einfachen schwarzen Rocke. Der Frack und Cylinder sind in Gmunden seltene und belächelte Erscheinungen.

Nächst der Künstlerwelt stellen die Hof- und aristokratischen Kreise ein starkes Contingent zu den regelmäßigen Gästen Gmundens. Außer der hannöverischen Königsfamilie haben die Erzherzogin Elisabeth, die Wittwe des Erzherzogs Karl Ferdinand, mit ihrer Familie, der Großherzog und die Großherzogin von Toscana, der Herzog Philipp von Württemberg und seine Gemahlin, eine Tochter des Erzherzogs Albrecht, der frühere Minister Graf Belcredi, und viele andere Mitglieder der österreichischen Aristokratie hier ihre Villen, und manche dieser Familien verleben hier auch die Wintermonate. Die Villa der Erzherzogin Elisabeth ist im Schweizerstile gebaut, mit schönen sich gegen den See von einem Hügel herabziehenden Gartenanlagen. Die großherzogliche Familie von Toscana besitzt eine schöne Villa im italienischen Stile und ein neugebautes Jagdhaus in der Nähe von Traunkirchen, denn der Großherzog ist ein gewaltiger Jäger vor dem Herrn. Herzog Philipp von Württemberg hat sich ein Schloß im schottischen Castlestile aus einem Hügel zwischen Ort und Altmünster erbaut, dessen rothe Backsteinzinnen aus dem üppigen Grün hervorleuchten und dessen innere Einrichtung durch Wunder von Reichthum und Geschmack überrascht. Die Folge dieser hocharistokratischen Ansiedelungen ist ein reger Verkehr mit Ischl, der Sommer-Villeggiatur des österreichischen Kaiserhofes. Die grünen, offenen Hofwagen mit den goldenen Wappen bringen fast täglich Mitglieder des Ischler Hofes zum Besuche nach Gmunden, und oft sieht man auf den Dampfern die kaiserliche Flagge aufgezogen, als Zeichen, daß der Kaiser oder die Kaiserin über den See fährt. Sind doch die den See einschließenden Berge das Jagdrevier des kaiserlichen Waidmannes. Auf den Höhen des Höllengebirges verfolgt der Kaiser, ein ebenso unermüdlicher und kühner Bergsteiger wie trefflicher Schütze, die flüchtige Gemse oder den mächtigen Gebirgshirsch, und oft bringt er mit dem Kronprinzen und einem kleinen Gefolge Tage in einem der kleinen, aber bequem eingerichteten Jagdhäuser auf dem Kranabittsattel oder nächst dem nahen Langbath- oder Offensee zu. Wir können die Esplanade, von der wir allerdings etwas weit abgeschweift sind, nicht verlassen, ohne der Schwimmschule zu gedenken, die das wichtigste Etablissement Gmundens ist.

Gmunden, obwohl seit 1859 zum Curorte erklärt und als solcher Cur- und Musiktaxen einhebend, hat kein eigentliches specifisches Mineralwasser. Man gebraucht Salz- und Fichtennadelbäder oder die Kaltwassercur, das eigentliche Heilelement [221] Gmundens ist aber die frische, nervenstärkende Gebirgsluft und der herrliche See mit seinem krystallklaren Wasser, das selten eine Temperatur von sechszehn bis siebenzehn Grad Réaumur überschreitet. Die Schwimmschule in Gmunden ist nun allerdings in einem etwas primitiven Zustande, und in dieser Beziehung sollte die Commune oder die Curcommission auf die Sommergäste mehr Rücksicht nehmen. Die Zahl der Cabinen, die mit etwas zu spartanischer Einfachheit eingerichtet sind, ist eine ganz ungenügende, zumal in den Mittagsstunden, in denen der Zudrang zum Bade der größte ist. Auch ist die Schwimmschule zu nahe am Ufer gelegen, gerade gegenüber dem Hôtel Bellevue, dessen Küchenabfälle sich in dem Bassin oft unangenehm genug bemerkbar machen, da die Abzugscanäle in den See münden. Man wird die hoffentlich bald erstehende neue Schwimmschule wohl weiter in den See rücken und durch eine Fähre oder Brücke mit dem Ufer verbinden müssen. Geübte Schwimmer und Schwimmerinnen vermeiden jetzt allerdings diese Uebelstände, indem sie aus dem umfriedeten Raum in den weiten, offenen See hinausschwimmen, und Schwimmtouren nach dem Seeschlosse Ort und zurück, ja selbst über die ganze Breite des Sees bis zum Grünberg gehören nicht zu den Seltenheiten, und an schönen Sommermittagen kann man von der Esplanade aus weit, weit draußen zahlreiche dunkle Punkte erblicken, die nichts anderes sind, als die meist durch breitkrämpige Strohhüte gegen die Sonnenstrahlen geschützten Köpfe von kühnen Schwimmern und Schwimmerinnen. Es giebt aber in der That auch nichts Herrlicheres, Genußreicheres und Erquickenderes, als so hinauszutreiben in das blaue endlose Element, sich wiegen zu lassen von den von leichtem Winde bewegten Wellen des Sees und mit allen Sinnen den Schönheitszauber in sich aufzunehmen, der aus Wasser, Luft und Erde fast überwältigend auf uns eindringt. Der Traunstein spiegelt seinen mächtigen Felsenfuß in dem krystallklaren Wasser, und das ferne Traunkirchen scheint in der hellen täuschenden Sonnenbeleuchtung so nahe, so erreichbar. Rechts erinnert das Seeschloß Ort an Chillon am Genfer See, das Byron’s Genius unsterblich gemacht hat. Und doch giebt es noch etwas Herrlicheres, und das ist eine Bootfahrt oder eine Schwimmtour in einer Mondnacht. Dann wird der Mittagszauber zum berauschenden Nachtmärchen, wenn bei jedem Ruderschlage oder jedem Tempo silberne Funken aus der dunklen Fluth aufblitzen und die Ferne geisterhaft in Duft und Dämmerung verschwimmt. Eine Mondnacht am Gmundener See, oder noch besser auf dem See gehört zu den poetischsten Erlebnissen und läßt eine unvergängliche Erinnerung zurück.

Hinter dem neuen Theile des Städtchens mit der Esplanade, der Schwimmschule, dem Casino, den Hôtels und den Dampfschiffslandungsplatze erhebt sich, hügelförmig aufsteigend, der ältere Theil, ein Gewirr von ziemlich engen, alterthümlich gebauten Gäßchen, das einen größeren Platz einschließt. Dieser Theil der Stadt, in dem sich die Pfarrkirche befindet, die einen von Schwanthaler 1656 geschnitzten Hochaltar besitzt, erstreckt sich bis zur sogenannten Wunderburg, einer Schloßruine aus dem 13. Jahrhundert, die in einen freundlichen Landsitz mit schönem Parke umgestaltet wurde. Gmunden, an dem Ausflusse der Traun aus dem See gelegen, zählt zwischen sechs- bis siebentausend Einwohner und besteht aus der eigentlichen Stadt und acht Vorstädten. Man behauptet, die römische Colonie Laciacum habe einst die Stätte des heutigen Gmundens eingenommen; in Documenten aus dem 13. Jahrhundert findet man die Stadt unter dem Namen Gamunda angeführt. Was die Geschichte betrifft, so war Gmunden schon im Jahre 1186 zur Salzniederlage bestimmt, kam als Salzstapelplatz zu Blüthe und Reichthum und hatte im Mittelalter durch die Bauernaufstände viel zu leiden. Nebst der Fremden-Industrie ist der Salztransport (die Soole wird von Ebensee hierher geleitet) die Haupterwerbsquelle der Gmundner. Das gewerbfleißige Städtchen, in dem alljährlich ein besuchter Jahrmarkt abgehalten wird, erzeugt aber auch hübsche Holzschnitzereien, Tischler- und Lederarbeiten und Töpfereiwaaren, von letzteren besonders gelungene Nachahmungen alter Majoliken. Auch betreibt es einen nicht ganz unerheblichen Handel mit Holz, Vieh und Getreide.

Der Fremdenzufluß ist in den Monaten Juli und August am lebhaftesten. Bis jetzt nahm der Verkehr nach Ischl seinen Weg über Gmunden, und obwohl eine herrliche, zum Theil dem Felsen abgerungene Chaussee mit Tunnels, Wetterdächern und berauschenden Fernblicken längs des Sees von Gmunden nach Ebensee führt, so bedienten sich die Reisenden doch zumeist der in der Saison täglich mehrmals im Anschlusse an die Eisenbahnzüge verkehrenden Dampfschiffe, um die Strecke Gmunden-Ebensee zurückzulegen. Das wird sich nun allerdings mit der Eröffnung der direct nach Ischl führenden Salzkammergutbahn wahrscheinlich ändern, und wohl kaum zum Vortheile Gmundens. Der Bahnhof Gmunden der Salzkammergutbahn befindet sich weit draußen bei Pinsdorf; man wird den reizenden Ort nicht mehr unmittelbar berühren, und so Mancher, der vielleicht, durch den Zauber der Natur und die anheimelnde Gemüthlichkeit des Städtchens gefesselt, hier Tage und Wochen verweilt hätte, wird nun achtlos dem großstädtischeren Ischl zudampfen.

Die Stammgäste Gmundens aber, die Künstler und Jagdlustigen, werden den Ufern des reizenden Traunsees treu bleiben. Sie werden nach wie vor die blauen Wogen des Sees auf allen Arten von Ruder- und Segelbooten durchfurchen, die Bergriesen, die ihn umsäumen, erklettern, den flüchtigen Gemsen auf den Gebirgsschroffen nachstellen oder die flinken rothgesprenkelten Forellen der grünen Traun an den Angelhaken locken. Und wenn der Traunstein seine Nebelkappe über die Ohren zieht, daß von dem Portraitkopfe Ludwig’s des Sechszehnten, den phantasievolle Reisende in seinem Profil erkennen wollen, nichts zu sehen ist, wenn die „schlafende Griechin“ nebenan sich in schwarze Wolkenschleier gehüllt und der Sturm mit Blitz und Donner aus der Viechtau sein wildes Lied singt, dann flüchtet man vor dem Zorne der Elemente in die heimlichen Räume des Casinos, um bei einem Glase Wein und einer Zeitung oder bei einer Whistpartie besseres Wetter abzuwarten. Wehe aber dem Unglücklichen, den das böse Wetter auf dem See überrascht!

Mit dem Traunsee ist durchaus nicht zu spaßen. So freundlich und zutraulich er bei Sonnenschein sich präsentirt, so furchtbar kann er plötzlich, fast ohne allen Uebergang, werden. Dann rast er und „will sein Opfer haben“. Unglücksfälle kommen trotzdem nur selten vor, da die Schiffsleute sehr vorsichtig und gewandt sind und aus für Andere kaum merkbaren Zeichen den Umschlag des Wetters erkennen. Nur wenn ein Boot an dem Fuße des in senkrechten, nirgends einen Landungsplatz bietenden Felsmauern in den See abfallenden Traunsteins vom Viechtauer Winde, der es gerade gegen dieselben treibt, überrascht wird, läuft es ernstliche Gefahr. Doch wer denkt daran in klaren Sommerabenden, wenn die Musik auf der Esplanade spielt und der See, so weit man blicken mag, von buntbewimpelten Fahrzeugen bedeckt ist! Die Sonne neigt sich zum Niedergange; der Traunstein beginnt in hellem Purpur aufzuflammen, und die leuchtende Mondsichel steigt langsam über seinem Scheitel empor. Die Musik hat die Esplanade verlassen, um in dem großen Saale des Casinos den Tanzlustigen aufzuspielen. Und wenn man spät Nachts über die monderhellte Esplanade nach Hause geht, dann begegnet man wohl einer mittelalterlichen Reminiscenz, dem in einen weißen Mantel gehüllten, mit Spieß und Horn ausgerüsteten Nachtwächter und hört sein eintöniges Lied: „Bewahrt das Feuer und das Licht, damit kein Unglück g’schicht!“ Draußen aus dem See aber ist noch eine kleine lustige Gesellschaft in schwankem Kahne und weckt mit fröhlichen Liedern, mit Waldhornklängen und Pistolenschüssen das vielstimmige Echo: das ist ein Abend in Gmunden.

Den geselligen Mittelpunkt der geistig und social hervorragenden Kreise Gmundens bilden, außer der hannöverischen Familie, die Häuser von Karl Laroche und Gräfin Prokesch-Osten (Friederike Goßmann). Das äußerst geschmackvolle Haus Laroche’s ist klein, mit fast schiffscabinenartig beschränkten Räumlichkeiten, aber die schrankenlose Gastfreundschaft des Hausherrn weiß das kleine Haus kautschukartig auszudehnen. Der Spruch: „kleines Haus, große Ruhe“ – hat hier keine Anwendung; es herrscht hier im Gegentheil ein sehr bewegtes Leben und Treiben. Weit eher paßt das Wort aus „Wilhelm Tell“:

„Stauffacher’s Haus verbirgt sich nicht, zu äußerst
Am offnen Heerweg steht’s, ein wirthlich Dach
Für alle Wand’rer, die des Weges fahren.“

Wenn es dunkelt, dann erhellen sich die Fenster des bescheidenen Salons, und Männer- und Frauengestalten schreiten [222] durch den kleinen, zierlich gehaltenen Vorgarten und die Treppe des erhöhten Parterre hinauf. Bauernfeld ist vielleicht von Ischl herübergekommen und liest einem kleinen gewählten Kreise sein neuestes Lustspiel vor; die Goßmann trägt, wenn sie gut gelaunt ist, mit unwiderstehlichem Feuer eine französische Chansonette vor, und Anton Ascher gießt die Lauge seines kaustischen Witzes über Alles und Alle. Laroche nimmt in Gmunden gleichsam die Stelle des Hausherrn ein; er macht die Honneurs des lieblichen Städtchens. Die Fremdenbücher in den Villen Laroche und Prokesch-Osten gleichen dem goldenen Buche der Republik Venedig, nur daß in denselben neben dem Adel der Geburt auch der des Geistes und Talentes seinen Platz gefunden hat.

Die Villa Prokesch-Osten ist geräumiger als die Villa Laroche und liegt außerhalb der Stadt auf dem Wege gegen Ort zu. Von der Seeseite gelangt man durch einen sanft aufsteigenden, wohlgepflegten Garten in dieselbe. Sie birgt seltene Kunstschätze. Der Vater des Besitzers, der verstorbene österreichische Internuntius in Constantinopel, war ein verständnißvoller Sammler von alten Münzen, geschnittenen Steinen und allen Gattungen von Alterthümlichkeiten; er hatte in seiner Stellung und bei seinen zahlreichen Reisen vielfach Gelegenheit, seltene Schätze dieser Art zu erwerben. Ein Theil dieser Schätze, die der Sohn erbte, wird hier pietätvoll aufbewahrt. Uebrigens ist auch Graf Prokesch-Osten junior selbst ein eifriger und glücklicher Sammler, und hat von seinen orientalischen Reisen nicht nur ein selbstgeschossenes Krokodil, das ausgestopft im Vorhause paradirt, sondern auch manches andere werthvolle Stück heimgebracht, das hier in dem türkischen Rauchzimmer oder in den Schränken des Studirzimmers seinen Platz gefunden hat. In diesem türkischen Rauchzimmer, mit seinen weichen, schwellenden Ottomanen, seinen blinkenden Waffen an den Wänden und seinen schweren Portièren aus bunten türkischen und persischen Stoffen, haben viele bedeutende Männer ihr Nargileh und viele schöne und geistreiche Frauen ihre Cigarette geraucht. Friederike Goßmann, die ihr bezauberndes Talent noch immer von Zeit zu Zeit einem wohlthätigen Zwecke zu Gute kommen läßt und die aus solchem Anlasse wiederholt im Gmundener Theater eine ihrer Lieblingsrollen gespielt hat, macht mit Geist und Liebenswürdigkeit die Honneurs ihres schönen Sommerheims und liebt es, den Besuchern das sogenannte Grillenzimmer zu zeigen, wo die Reliquien ihrer Künstlerlaufbahn, und namentlich die Erinnerungen an die Rolle, der sie ihre ersten und berauschendsten Erfolge verdankt, aufbewahrt werden. Da sieht man zwischen zahllosen Kränzen mit Bändern und Inschriften, zwischen Albums, Bildern etc. auch das Costüm, in dem die Künstlerin nicht weniger als hundert Mal die Grille spielte. Leider ist der bedeutende Mittelpunkt dieses Hauses, der alte Graf Prokesch-Osten, der hier so gern und glücklich im Kreise seiner Familie weilte, der sich so innig an seinen erblühenden Enkelkindern freute, im verflossenen Winter hochbetagt aus dem Leben geschieden. Wie interessant wäre es, den Mann, der so lange Oesterreich in Constantinopel vertreten hatte, der den Orient kannte und liebte wie Wenige, der so geistvoll und anregend zu erzählen wußte, über die gegenwärtige politische Lage sprechen zu hören. Vielleicht ist es aber besser für ihn, daß er heimgegangen; die Ereignisse der letzten Monate hätten ihm, der ein Freund der Türken war, das Herz gebrochen.

Der glänzendste Tag der Gmundener Saison ist der 18. August, der Geburtstag des Kaisers. Da leuchtet die menschenwimmelnde Esplanade von farbigen Ballons und Lampions; da ziehen auf dem See Fahrzeuge, deren Umrisse sich in Feuerlinien abzeichnen; da flammen auf allen Höhen die Freudenfeuer; da wird mitten auf dem See ein Feuerwerk abgebrannt, dessen Schlußeffect unter donnernden Kanonenschlägen die ganze Gegend in zauberhaft farbenwechselndes, elektrisches Licht taucht. Nach dem Feuerwerk findet im Casino ein großer Ball statt, zu dem alle Sommerfrischen der Umgegend ihr Contingent an schönen Tänzerinnen und flinken Tänzern stellen.

Indem ich im Begriffe bin zu schließen, bemerke ich erst, wie unvollständig meine Schilderung ausgefallen ist. Ich habe nicht von der herrlichen Umgebung Gmundens gesprochen, nicht von der reizenden Villa Sartori mit den herrlichen Parkanlagen und der Meierei, welche die Liberalität ihres Besitzers dem Besuche des Publicums geöffnet hat, nicht von dem Calvarienberge mit der entzückenden Aussicht, nicht von dem schattigen Spaziergange längs der Traun zur Altmühle, nicht von den weiteren Ausflügen zur Rabenmühle, an den Attersee, an die Langbathseen und den Offensee, nicht von den Bergpartien zum Laudachsee, auf den Kranabittsattel oder den Erlakogel. Inmitten all dieser Herrlichkeit liegt Gmunden mit seinem See, wie ein großer funkelnder Edelstein, gefaßt von kleineren, aber nicht minder werthvollen Steinen. Und so seien denn diese Zeilen, die ich mit Worten Victor Scheffel’s einleitete, mit den Versen desselben Meisters, die er Heinrich von Ofterdingen in der „Frau Aventiure“ über Gmunden in den Mund legt, geschlossen:

„Wie verklärt strahlt mir entgegen
Gottes Welt, wie groß, wie weit!
Steirisch Meer, ich fühl’ den Segen
Deiner keuschen Herrlichkeit;
Was gequält mich und gekränket,
Was des Denkers Folter war,
Tief zum Seegrund sei’s gesenket,
Sei vergessen immerdar!“

Eduard Mautner.




Blätter und Blüthen.


Mikroskopische Schriften und Zeichnungen. Zu allen Zeiten hat es Menschen gegeben, die einen Ruhm darin suchten, im Kleinen groß zu erscheinen. Plinius erzählt uns von einem Elfenbeinkünstler, der ein bemanntes Schiff gearbeitet hatte, so klein, daß eine Fliege es mit ihren Flügeln vollkommen bedeckte. Ein anderer alter Autor gedenkt einer so klein geschriebenen Ilias, daß sie in einer Nuß Platz hatte. In den früheren Jahrhunderten gefiel man sich darin, Christusköpfe zu zeichnen, deren Haupt- und Barthaar in nur mit der Lupe leserlicher Schrift die ganze Heiligengeschichte enthielt. In der russischen Abtheilung des Liebhaberei-Pavillons auf der Wiener Weltausstellung befanden sich derartige Christusköpfe, auf denen man bei genauerer Untersuchung die Haarlinien als Schriftzeilen erkannte. Auch der berühmte Kirschkern des Grünen Gewölbes in Dresden, auf welchem ich weiß nicht wie viel Gesichter eingravirt sind, gehört hierher. Mit Hülfe der Photographie lassen sich jene mühsamen Künsteleien ohne Mühe übertreffen, und die während der Pariser Belagerung für die Taubenpost aus Collodiumblättchen photographirten Briefsammlungen, die man mittelst einer Art Zauberlaterne vergrößert auf die Wand warf, um sie lesen und copiren zu können, übertrafen alles vorher Dagewesene und erfüllten obendrein den edleren Zweck, Tausenden von Menschen innerhalb und außerhalb des eisernen Gürtels Nachricht von dem Schicksal der Ihrigen und Trost zu spenden.

Aber auf der im Sommer 1876 zu London veranstalteten Ausstellung wissenschaftlicher Apparate hatte die dortige „Mikroskopische Gesellschaft“ eine von Peter und Ybbetson construirte Maschine ausgestellt, deren in Proben vorhandene Leistungen denn doch Alles übertrafen, was in diesen Kleinkünsten jemals geleistet worden ist. Der erst unlängst erschienene deutsche amtliche Bericht über diese Ausstellung erzählt, daß mittelst dieser Maschine das Vaterunser innerhalb eines Kreises aus Glas gravirt worden ist, welcher 1/300 Zoll im Durchmesser hat, sodaß die Schrift natürlich nur mit einem kräftigen Mikroskope zu lesen ist. Dasselbe Gebet war auf dem dreihundertfünfundsechszigtausendsten Theile eines Quadratzolles untergebracht worden, und solche Schriftstücke können dann als Probetafeln für die Güte der ausgezeichnetsten Mikroskope benutzt werden. In der letzteren Gestalt ist die Schrift so klein, daß die Bibel mit dem neuen Testament zusammen, welche 3,566,480 Buchstaben enthalten soll, zwanzigmal auf den Raum eines englischen Quadratzolls geschrieben werden könnte. Dagegen muß sich allerdings die Ilias in der Nußschale verstecken.




Nicht zu übersehen!


Mit dieser Nummer schließt das erste Quartal dieses Jahrgangs unserer Zeitschrift. Wir ersuchen die geehrten Abonnenten, ihre Bestellungen auf das zweite Quartal schleunigst aufgeben zu wollen.

Die Postabonnenten machen wir noch besonders auf eine Verordnung des kaiserlichen General-Postamts aufmerksam, laut welcher der Preis bei Bestellungen, welche nach Beginn des Vierteljahr aufgegeben werden, sich pro Quartal um 10 Pfennig erhöht (das Exemplar kostet also in diesem Falle 1 Mark 70 Pfennig statt 1 Mark 60 Pfennig). Auch wird bei derartigen verspäteten Bestellungen die Nachlieferung der bereits erschienenen Nummern eine unsichere.
Die Verlagshandlung.



Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.