Die Gartenlaube (1883)/Heft 15

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum: 1883
Erscheinungsdatum: 1883
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[237]

No. 15.   1883.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt.Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis Bogen. 0 Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.


Alle Rechte vorbehalten.

Gebannt und erlöst.

Von E. Werner.
(Fortsetzung.)


Der Freiherr war an das Fenster getreten und preßte die Stirn gegen die Scheiben. Einige Minuten lang beobachtete ihn Paul schweigend, dann trat er zu ihm und sagte bittend:

„Raimund, laß uns nach Felseneck zurückkehren!“

Der Freiherr wandte sich um.

„Nein! Weshalb?“

„Weil Du Dich aufreibst in dem täglichen Kampfe mit all dieser Bosheit und Niederträchtigkeit, mit diesem hochwürdigen Herrn Pfarrer, der Alles gegen Dich hetzt. Er macht ja gar kein Hehl daraus, daß er die Feindseligkeit gegen Dich förmlich organisirt. Deine Wohlthaten werden mit Hohn und Spott zurückgewiesen, Deine besten Absichten werden durchkreuzt, und wenn man zufällig erfährt, daß Dir irgend etwas lieb ist, so wird es heimtückisch vernichtet. Du bist ja ganz wehrlos diesen Menschen gegenüber, die Dich immer nur aus dem Hinterhalte treffen. Ich wäre längst auf und davon gegangen, und Du, der sich jahrelang vor jeder Berührung mit den Menschen gewahrt hat, Du hältst jetzt Tag für Tag ihren schlimmsten Angriffen Stand.“

„Weil ich mir das Wort gegeben habe, diesmal Stand zu halten. Ich war mir vollkommen klar darüber, was ein Kampf mit Gregor Vilmut bedeutet.“

„O, hätte ich diesen Pfarrer nur einmal unter Händen!“ rief Paul wüthend. „Ich wollte ihn fragen, wie unsere schöne Ceder gefallen ist.“

Raimund schüttelte den Kopf.

„Nein, Paul, mit dem Verdachte thust Du ihm Unrecht, das ist ohne sein Wissen geschehen. Vilmut ist ein unbarmherziger, aber offener Gegner, diese kleinliche und heimtückische Rache liegt nicht in seiner Natur.“

„Das bezweifle ich sehr! Nennst Du es vielleicht auch Offenheit, daß er all den albernen Märchen über Dich Thür und Thor öffnet? Die Leute glauben ihm blindlings, ein Wort aus seinem Munde genügt, um den lächerlichen Aberglauben niederzuschlagen, der sich an Deine Person knüpft, aber er spricht dies Wort nicht und läßt es ruhig geschehen, daß die Leute Dich für den leibhaftigen Gottseibeiuns halten. Dies Volk ist ja so dumm, so grenzenlos beschränkt, daß man sich schämen muß, in unserer Zeit dergleichen noch zu erleben.“

Das Gesicht des jungen Mannes glühte in leidenschaftlicher Erregung, und es war ihm Ernst mit seiner Entrüstung. Jene Kälte und Fremdheit, welche einst zwischen ihm und seinem Onkel herrschte, War längst gefallen, er hielt wacker zu Raimund in dem aufgedrungenen Kampfe und nahm bei jeder Gelegenheit offen und rücksichtslos seine Partei. Auch Werdenfels fühlte es, welche Stütze er in dem jungen Verwandten besaß, den er anfangs in halb verächtlicher Art als einen liebenswürdigen, aber leichtsinnigen Taugenichts behandelt hatte. Im Kreise seiner italienischen Freunde war Paul das allerdings gewesen, weil er eben nichts Besseres anzufangen wußte, inmitten dieser ernsten und drohenden Verhältnisse aber kam seine ursprünglich tüchtige Natur immer siegreicher zum Vorschein. In erster Linie war es freilich seine Liebe zu Anna von Hertenstein, die ihm diesen Ernst und diesen Halt gegeben hatte. Der Einfluß einer wahren und ideellen Neigung zeigte sich selbst hier, wo diese Neigung hoffnungslos war, sie hob und adelte das ganze Wesen des jungen Mannes.

„Laß Dich zu keiner Unbesonnenheit fortreißen,“ warnte der Freiherr. „Hier gilt es nicht kämpfen, sondern ausharren, und das ist eine schwere Aufgabe für einen jungen Heißsporn, wie Du es bist. Ich habe Dich schon einige Mal gebeten, nach Buchdorf zu gehen, Du erträgst die hiesigen Verhältnisse schwerer als ich.“

„Und Du weißt, daß ich Dich jetzt um keinen Preis allein lasse,“ erklärte Paul. „Du wirst mich doch nicht fortschicken wollen.“

„Nein,“ entgegnete Raimund mit einem matten Lächeln. „Wenn Du willst, so bleibe, aber es wäre mir lieber, wenn ich Dich in Buchdorf wüßte.“

Paul schien die letzten Worte nicht gehört zu haben.

„Du willst heute ausreiten?“ fragte er. „Ich hörte, daß Du Befehl gegeben hast, den Emir zu satteln. Ich darf Dich doch begleiten?“

„Wozu das? Deine Besorgniß ist ganz unnöthig. Bis zu Thätlichkeiten versteigt man sich denn doch nicht gegen mich.“

„Wer weiß! Diese Menschen sind zu allem fähig. Laß mich mit Dir reiten, ich werde pünktlich zur festgesetzten Stunde bei Dir sein.“

Werdenfels erhob keine weitere Einwendung, und der junge Mann verließ das Zimmer. Raimund blieb allein, und jetzt wo er sich ohne Zeugen wußte, fiel die Maske ruhiger Gelassenheit, die er so lange getragen. Es kam kein Wort über seine Lippen, während er mit stürmischen Schritten das Zimmer durchmaß, aber die fest zusammengepreßten Lippen, der schwere, kurze Athem zeigte, wie er litt unter diesen Angriffen, die er nun seit Monaten Tag für Tag ertrug.

[238] Gregor Vilmut hatte Wort gehalten und den Kampf entfesselt gegen den „Hochmüthigen“, der es wagte, seiner Macht zu trotzen, aber es war ein ungleicher Kampf. Paul hatte Recht, der Freiherr war völlig wehrlos, denn all die Angriffe trafen ihn nur aus dem Hinterhalt. Niemand trat ihm offen entgegen, aber ganz Werdenfels stand in einer einzigen Verschwörung gegen ihn. Die Allmacht des Priesters zeigte sich hier in einer wahrhaft erschreckenden Weise, er hatte den Gutsherrn förmlich in den Bann gethan und der Gemeinde hatte das Wort ihres Hirten von jeher für ein Gotteswort gegolten. Der Haß aus früheren Zeiten, der einst nur noch wie eine alte dunkle Sage umging, loderte jetzt von Neuem in furchtbarer Wirklichkeit empor und trug seine bitteren Früchte.

Wohl stutzte man, als der Freiherr es versuchte, im Großen wie im Kleinen der Wohlthäter der Umgegend zu werden, als er überall, wo es Noth und Elend zu lindern gab, die helfende Hand hinreichte, aber trotz alledem wurde diese Hand zurückgestoßen, und die Wenigen, die sie in ihrer Noth vielleicht ergriffen hätten, wagten das nicht. Nur einmal drohten die Bauern den unbedingten Gehorsam zu versagen, als es sich um die Schutzmaßregeln zur Sicherung des Dorfes gegen den Strom handelte. Man hatte das so lange schon für nothwendig erkannt und es immer wieder hinausgeschoben, weil die Mittel zur Ausführung fehlten, und jetzt wurde das so lang Ersehnte als ein Geschenk angeboten.

Jetzt zum ersten Mal erhoben sich Stimmen, welche meinten, es sei gleich, von welcher Hand die Hülfe käme, wenn sie nur überhaupt geboten würde. Zum ersten Mal gab es heftige Debatten in der Gemeinde, die sich sonst blindlings den Beschlüssen ihres Pfarrers unterwarf, aber auch hier siegte Vilmut. Er überzeugte die Zweifelnden, daß man das „Gnadengeschenk“ nicht brauche, daß die Negierung eintreten werde und müsse, und die Energie, mit der er die Sache sofort in Angriff nahm und die nöthigen Schritte that, überzeugte die Bauern, daß ihr Pfarrer auch hier, wie überall, das Richtige getroffen habe. Das Anerbieten wurde durch Beschluß der ganzen Gemeinde abgelehnt. –

Raimund war vor dem Bilde seines Vaters stehen geblieben, und seine Augen wurden dunkler und dunkler, während sie auf jenen Zügen hafteten. Ihm weckte ja das Wort „Vater“ keine einzige jener heiligen Regungen, die sich sonst an diesen Namen knüpfen, ihm rief es nur die Erinnerung zurück an eine einsame Jugend, in sclavisch strenger Zucht verlebt, ohne Freude und ohne Freiheit. Dann war jene Zeit der Entfremdung gekommen, wo der Sohn das väterliche Haus floh, als ruhe ein Fluch auf dessen Schwelle, wo selbst der Befehl des Vaters ihn immer nur auf wenige Tage zurückführte und es nie erreichte, ihn länger festzuhalten. Und dann zuletzt kam die Katastrophe, wo all die jahrelang genährte Bitterkeit endlich ausbrach, wo Raimund offen seine Wahl und seine Liebe bekannte und vertheidigte gegen den Vater, der in seinem aristokratischen Hochmuthe diese Wahl nicht anerkennen wollte. Der Bruch war erklärt, Raimund ging als ein Enterbter, Verstoßener, um als Herr von Werdenfels zurückzukehren, aber segensreich war diese Herrschaft nicht für ihn geworden!

Der verstorbene Freiherr mußte noch im vorgerückten Lebensalter ein stattlicher und schöner Mann gewesen sein, das zeigte sein Portrait, aber sympathisch war dies Antlitz nicht, wo sich in jedem Zuge Hochmuth und rücksichtslose Härte ausprägten. Die kalten grauen Augen blickten wie höhnend nieder auf den Sohn, den er selbst im Leben „Träumer“ gescholten, und doch war er allein es gewesen, der dem jungen Manne Lebensmuth und Lebensfreude genommen hatte.

Auch der Vater war viel gehaßt worden, auch gegen ihn hatten sich Kampf und Feindschaft erhoben, aber er machte sich kein Gewissen daraus, die Menschen niederzutreten, die ihm im Wege standen, und er hatte dies sein ganzes Leben lang so nachdrücklich gethan, daß sich zuletzt keine Hand mehr gegen ihn regte. Das leise hohnvolle Lächeln, das um die schmalen Lippen spielte, schien zu sagen: Ich habe es verstanden, mit den Menschen fertig zu werden, und vor mir lagen sie im Staube! Du Thor, der Du um Liebe und Versöhnung wirbst – Dich werden sie zu Tode hetzen!

Raimund’s Lippen zuckten, als habe er wirklich jene Worte vernommen. Ja wohl, es war ein Erbtheil des Hasses und des Fluches, das der Vater ihm hinterlassen hatte, und sein ganzes Leben war nur ein einziges Ringen gegen dieses Erbe gewesen. Er hatte schon einmal müde und gebrochen den Kampf aufgegeben und den Fluch, der nicht zu lösen war, mit sich genommen in seine Einsamkeit. Jetzt hatte ihn eine Stimme, deren Macht er sich noch immer nicht entziehen konnte, wieder auf den Kampfplatz gerufen, und er war dem Rufe gefolgt. Zum zweiten Male begann das harte verzweifelte Ringen mit der Vergangenheit – die Sünde des Vaters wurde heimgesucht an seinem Kinde!




Im Pfarrhause war der Gemeindevorstand versammelt, der aus den angesehensten Bauern bestand. Sie hatten sich nach der Verhandlung mit dem Verwalter des Gutsherrn zu ihrem Pfarrer begeben, um ihm pflichtschuldigst mitzutheilen, daß der Protest überreicht sei. Es befand sich aber noch ein Fremder dort, der Ingenieur, den Freiherr von Werdenfels aus der Residenz hatte kommen lassen, um die nöthigen Messungen und Pläne aufzunehmen. Er hatte acht Tage lang im Schlosse gewohnt und soeben erst von dem Ausgange der Sache erfahren, die er sich nicht erklären konnte.

„Ich komme, Hochwürden,“ begann er, „um mir von Ihnen die Bestätigung oder vielmehr die Widerlegung einer Nachricht zu holen, die mir ebenso unglaublich als unerhört erscheint. Der junge Baron Werdenfels hat mir im Namen des Freiherrn mitgetheilt, daß meine Thätigkeit zu Ende sei und daß die sämmtlichen schon begonnenen Vorarbeiten eingestellt werden müßten, da die Gemeinde die projectirten Dammbauten nicht ausführen lassen wolle. Es kann sich hier doch nur um ein Mißverständniß handeln oder höchstens um einen Aufschub. Ich bitte um Aufklärung darüber.“

Die Worte klangen ziemlich erregt, desto ruhiger war die Antwort Vilmut’s.

„Ich bedaure, Ihnen die Sache bestätigen zu müssen. Die Gemeinde hat einstimmig und nach reiflicher Erwägung das Anerbieten des Freiherrn zurückgewiesen. Sie hat schwerwiegende Gründe dafür.“

„Gründe, welche sie veranlassen, die Sicherheit des Dorfes preiszugeben?“

„Das Dorf wird nicht preisgegeben; die Hülfe ist uns bereits von anderer Seite zugesagt. Die Regierung wird und muß eintreten, und die Verhandlungen, die schon seit längerer Zeit darüber geführt werden, sind ihrem Abschlusse nahe.“

Der Ingenieur zuckte die Achseln.

„Ich rathe Ihnen, diesen Versprechungen nicht allzusehr zu vertrauen. Ich kenne den Gang derartiger Verhandlungen mit den Behörden. Sie werden endlose Schwierigkeiten zu überwinden haben, im günstigsten Falle erfolgt die Entscheidung erst nach Jahr und Tag, und daß der Gemeinde ein bedeutender Zuschuß aus eigenen Mitteln auferlegt wird, ist selbstverständlich.“

„Die Gemeinde ist bereit diesen Zuschuß zu leisten,“ erklärte Vilmut, sich zu den Bauern wendend, die ohne Zögern beistimmten. „Ich habe selbst die Schrift über diese Angelegenheit ausgearbeitet und werde persönlich nach der Residenz reisen, um sie an betreffender Stelle zu überreichen. Es handelt sich hier nur um eine Beschleunigung der Sache, denn im Princip ist unser Recht auf die Hülfe des Staates längst anerkannt.“

„So will ich wünschen, daß Sie keine unliebsamen Erfahrungen machen,“ sagte der Ingenieur mit einiger Schärfe. „Wenn man dort oben erfährt, daß das fürstliche Geschenk, welches Freiherr von Werdenfels seinem Dorfe machen wollte, bedingungslos machen wollte, so ohne Weiteres zurückgewiesen worden ist, steht die Gewährung von jener Seite noch sehr in Frage. Verzeihen Sie, Hochwürden, wenn ich Ihnen ganz offen sage, daß ich das nur gerechtfertigt finden würde.“

„Sie kennen die Verhältnisse in Werdenfels nicht,“ versetzte Vilmut unbewegt, „und können deshalb auch kein Urtheil darüber haben. Ich erkläre Ihnen, daß nach der Art, wie sich hier der Gutsherr und die Gemeinde einander gegenüberstehen, eine Annahme jenes Vorschlags nicht möglich war. Das ist eine Privatsache, welche für die Behörden durchaus nicht maßgebend sein kann. Uebrigens habe ich bestimmte Nachricht erhalten, daß eine für uns günstige Entscheidung noch im Laufe dieses Jahres zu erwarten steht.“

[239] „Und inzwischen kommen Frühjahr und Herbst und mit beiden droht Ihnen die Gefahr von den Bergwassern.“

„Sie hat uns seit zwanzig Jahren gedroht und die Hand des Herrn hat uns beschützt, sie wird es auch ferner thun. Vor einer nahen Gefahr wäre das Dorf überhaupt nicht zu schützen, die Arbeiten können doch nicht mitten im Winter beginnen!“

„Doch, das sollten sie,“ sagte der Ingenieur mit Nachdruck. „Es war ausdrückliche Weisung des Freiherrn, sofort damit anzufangen. Es sollten einstweilen Erdwälle aufgeführt werden, hoch und fest genug, um einem etwaigen Hochwasser Widerstand zu leisten, bis der Sommer die eigentlichen Dammbauten gestattet. Die Absicht des Gutsherrn ging wohl hauptsächlich dahin, der Noth und dem Elend dieses Winters zu steuern, indem er Arbeit und Verdienst schuf, wenigstens machte er es mir zur Pflicht, nur Leute seiner Güter anzunehmen und die Lohnverhältnisse sehr reichlich zu stellen, ohne den Kostenpunkt in Betracht zu ziehen. Er hat schlechten Dank dafür geerntet.“

Vilmut runzelte die Stirn, ehe er aber noch antworten konnte, trat Rainer hervor, der sich gleichfalls unter den Bauern befand, und sagte trotzig:

„Das ist unsere Sache allein, da lassen wir Niemand dreinreden. Unser Herr Pfarrer hat es Ihnen ja gesagt, daß hier in Werdenfels ganz besondere Verhältnisse sind – und unser Herr Pfarrer hat Recht. Wir wollen nun einmal nichts von dem Werdenfels!“

„Nein, wir wollen nichts von ihm! – Unser Pfarrer hat Recht! – Wir halten uns an die Regierung!“ – klang es von allen Seiten.

Der Ingenieur blickte auf all die finsteren Gesichter ringsum und nahm seinen Hut.

„Dann ist meine Thätigkeit hier allerdings zu Ende. So versuchen Sie denn Ihr Heil bei der Regierung! Ich prophezeie Ihnen einen Mißerfolg, und ich habe Erfahrung in solchen Dingen. Ich fürchte, die Gemeinde wird diese rücksichtslose Ablehnung der ihr gebotenen Hülfe noch einst schwer bereuen.“

Er grüßte kurz und ging.

Seine letzten mit so großer Bestimmtheit gesprochenen Worte schienen die Bauern doch stutzig gemacht zu haben, es zeigte sich einige Besorgniß in ihren Mienen und sie flüsterten mit einander, nur Vilmut bewahrte seine Ruhe.

Er erwiderte den Gruß mit gemessener Höflichkeit und wandte sich dann zu den Anderen, indem er langsam und nachdrücklich sagte:

„Ich habe die bestimmte Zusicherung unseres hochwürdigsten Herrn Erzbischofes, seinen ganzen Einfluß und seine Protection für unsere Angelegenheit zu verwenden, und sein Einfluß ist sehr mächtig in der Residenz. Ich werde ihm dort persönlich die Gründe aus einander setzen, welche die Gemeinde zu ihrem Entschlusse bestimmten, und bin im Voraus gewiß, daß sie seine Zustimmung finden werden. Wenn Ihr jedoch Euern Protest bereut, so ist es in letzter Stunde immer noch Zeit, ihn zu widerrufen. Ich bin überzeugt, der Freiherr würde sich nicht unzugänglich zeigen, wenn Ihr das Ganze für ein Mißverständniß erklärt. Ueberlegt Euch die Sache noch einmal, ich will Eurer freien Entschließung nicht vorgreifen!“

Der siegesgewisse Blick, mit dem er sich im Kreise umsah, zeigte, wie es mit dieser freien Entschließung bestellt war, und wie gut er seine Bauern kannte.

Sie verneinten allesammt entrüstet, keiner machte auch nur den Versuch, die Sache nochmals in Ueberlegung zu ziehen; da ihr Pfarrer sie in die Hand genommen und der Erzbischof auch seine Verwendung zugesagt hatte, galt sie ihnen bereits für gewonnen.

„So bleibt es also dabei, ich reise übermorgen nach der Residenz,“ sagte Vilmut. „Ich hoffe, Euch von dort die Nachricht mitzubringen, daß das Werk schon im nächsten Jahre beginnen kann. Bis dahin aber wollen wir uns dem Schutze dessen anvertrauen, der Herr ist über die Elemente und auch dem Wasser seinen Weg vorschreibt. Es ziemt uns nicht, kleinmüthig zu zagen und zu zweifeln, nachdem er uns so lange beschützt hat, und ich sage Euch, er wird das Dorf schützen und uns Alle!“

Man hörte es den Worten an, daß sie mit tiefster, innerster Ueberzeugung gesprochen wurden, und deshalb war ihr Eindruck auch unbegrenzt. Die Bauern umdrängten den Priester mit allseitiger, stürmischer Zustimmung. Jeder wollte ihm noch einmal die Hand reichen, und als er sie endlich entließ, da waren sie allesammt der Meinung des alten Eckfried, daß sie in ihrem Pfarrer einen Schatz besäßen, wie er zum zweiten Male nicht gefunden werde.

Vilmut traf in der That sofort die Vorbereitungen zur Abreise. Es war nicht seine Art, eine Sache aufzuschieben, die er einmal übernommen hatte, und was den Eifer und die Energie betraf, so konnte sie in keinen besseren Händen liegen. Er sandte eine kurze Nachricht nach Rosenberg, um seinen Verwandten Mittheilung von der bevorstehenden Reise zu machen, und am Morgen des zweiten Tages führte ihn der Schlitten nach der Bahnstation. –

Rosenberg verleugnete selbst jetzt, wo das Landhaus und der Garten schneebedeckt dalagen, seinen freundlichen Charakter nicht, es lag wie eine Idylle mitten in der öden Winterlandschaft. Die Wintersonne schien hell in die Fenster und in das Zimmer Lily’s, die am Schreibtisch saß und Briefe an „Pensionsfreundinnen“ schrieb. Sie unterhielt noch zahlreiche Beziehungen in dem Institute, das sie erst im vergangenen Herbste verlassen hatte, und die jungen Damen pflegten sich gegenseitig ihre Leiden und Freuden in bogenlangen Episteln mitzutheilen.

Iu der letzten Zeit aber waren diese Freundinnen arg vernachlässigt worden, und auch heute waren die Worte, die so schnell und zierlich aus der Feder flossen, nicht an eine Pensionsbekanntschaft, sondern an einen gewissen Herrn von Werdenfels gerichtet, der gegenwärtig zu den eifrigsten Correspondenten Lily’s gehörte.

Paul hatte naturlich nicht gesäumt, von der erhaltenen Erlaubniß Gebrauch zu machen. Er hatte schon in der nächsten Woche geschrieben, aber der Brief war so verzweiflungsvoll, daß Lily nothgedrungen eine tröstende Antwort senden mußte. Das hatte auch einigen Erfolg gehabt, denn das nächste Schreiben war gefaßter, gab aber das dringende Verlangen nach ferneren Tröstungen kund, die nun füglich auch nicht versagt werden konnten, kurz, es entwickelte sich eine äußerst lebhafte Correspondenz, die auch ungestört blieb. Paul war so vorsichtig, seine Briefe nicht mit dem Werdenfels’schen Wappen zu siegeln, sie passirten also als harmlose „Pensionsbriefe“ die Grenze von Rosenberg.

Lily ihrerseits gefiel sich ungemein in der Rolle einer Trösterin und eines Schutzengels, und da sie bei dem jungen Baron unleugbare Erfolge damit erzielte, so gerieth sie schließlich auf die Idee, es sei überhaupt ihre Mission, abgewiesene Freier zu trösten, und dehnte ihre Barmherzigkeit auch auf den Onkel Justizrath aus, ohne jedoch zu ahnen, daß sie damit ein Unheil anrichtete.

Bei dem Justizrathe hatte die alte Freundschaft, die ihn seit langen Jahren mit der Hertenstein’schen Familie verband, wirklich den Sieg über die verletzte Eigenliebe davongetragen. Er kam nach wie vor nach Rosenberg und vertrat mit vollem Eifer die Angelegenheiten der jungen Frau, aber er war in der ersten Zeit noch so niedergedrückt und wehmüthig, daß Lily von tiefem Mitleide ergriffen wurde und sich alle Mühe gab, ihn aufzuheitern.

Freising hatte das anfangs dankbar, dann mit sehr angenehmen Empfindungen hingenommen, aber er mißdeutete leider diese Theilnahme. Er bildete sich ein, auf das sechzehnjährige Mädchen einen Eindruck gemacht zu haben, und fing an zu überlegen, ob ihm die junge Schwester nicht Ersatz für die ältere sein könne, und so geschah denn eines Tages das Unglück! Der Herr Justizrath zog zum zweiten Male den Frack an, bestellte ein neues prachtvolles Bouquet und fuhr wieder nach Rosenberg, um mit vollen Segeln auf den fünften Korb loszusteuern.

Es war ihm diesmal erwünscht, daß Frau von Hertenstein nicht zu Hause und Fräulein Hofer nicht sichtbar war. Er hörte, daß Fräulein Lily sich in ihrem Zimmer befinde, und machte von seinem Vorrechte als alter Hausfreund Gebrauch, indem er sie dort aufsuchte.

Lily erschrak ein wenig, als es so unvermuthet an ihre Thür klopfte. Sie schob rasch den angefangenen Brief in die Schreibmappe und schloß dieselbe, als sie aber den Eintretenden erkannte, sprang sie auf, eilte ihm entgegen und rief fröhlich:

„Ach, Onkel Justizrath!“

[240] Der also Begrüßte verzog ein wenig das Gesicht. Es war ihm heute durchaus nicht erwünscht, als „Onkel“ empfangen zu werden, aber die Herzlichkeit, mit der das junge Mädchen ihm die Hand reichte, machte das fatale Wort einigermaßen wieder gut, er begann daher sofort die Präliminarien, indem er diese Hand festhielt und küßte.

Lily hatte nichts dagegen einzuwenden. Der Handkuß war zwar nicht so angenehm, wie der des jungen Baron Werdenfels, aber die Ritterlichkeit des Justizraths blieb doch immerhin anerkennenswerth. Er fing endlich an, „die Kleine“ als eine Dame zu behandeln, und diese war so entzückt über diesen Beweis seiner Hochachtung, daß sie ihm freundschaftlich beim Ablegen seines Paletots behülflich war.

Dabei kam nun zunächst der verhängnißvolle Frack zum Vorscheine, dann erschienen die neuen und engen Glacéhandschuhe verdächtig, und endlich wurde das Bouquet der Papierhülle entledigt, die es gegen die Winterkälte geschützt hatte. Lily’s Augen wurden immer größer, je mehr der Justizrath sich entwickelte, als er ihr aber nun den schönen Strauß aus Veilchen, Maiblumen und Schneeglöckchen überreichte und dabei bedeutungsvoll sagte: „Dem holden Veilchen die ersten Frühlingsblumen!“ da begann sie zu ahnen, daß diese fünfte Variation des bekannten Themas ihr gelten sollte. Sie war im ersten Augenblicke so bestürzt, daß sie verstummte; Freising, der das für ein günstiges Zeichen nahm, begann sofort seinen Antrag, natürlich mit den nöthigen Abänderungen, welche das jugendliche Alter seiner jetzigen Erwählten erheischte, er sprach noch verschiedene Male von dem holden Veilchen und hielt endlich förmlich um dessen Hand an.

Lily hatte sich inzwischen von ihrem ersten Schrecken erholt und war im Begriffe, laut aufzulachen, als ihr der erhebende Gedanke kam, daß es ja ein wirklicher, ernster Heirathsantrag sei, den sie empfing, und daß sie durchaus die Haltung zeigen müsse, die einer Dame in solcher Lage zukam. Sie unterdrückte daher die unpassende und kindische Heiterkeit, sie wurde gleichfalls ernst, gleichfalls feierlich, und als der Justizrath geendigt hatte, stand sie in würdevollster Haltung vor ihm und beantwortete den „ehrenvollen Antrag“. Es war dieselbe Antwort, die Anna vor vier Monaten gegeben hatte, und die ihre junge Schwester jetzt ebenso geläufig hersagte, wie neulich die Predigt Gregor Vilmut’s über den Selbstmord. Sie erklärte dem Freier, daß sie ihn zwar nicht heirathen könne, versicherte ihn aber ihrer tiefsten Hochachtung und bot ihm ewige Freundschaft und Dankbarkeit an.

„Schon wieder Hochachtung!“ rief der Justizrath verzweiflungsvoll. „Fräulein Lily, haben Sie denn gar keine anderen Empfindungen für mich?“

Die Worte klangen so schmerzlich, daß Lily all ihre Würde vergaß.

„Ich achte Sie sehr, Onkel Justizrath!“ rief sie in reuevoller Aufwallung, aber Freising schüttelte melancholisch den Kopf.

„Ja, das kenne ich, das ist mein altes Schicksal! O mein Fräulein, wie gern gäbe ich all diese unendliche Hochachtung hin für ein einziges kleines, kurzes, nettes Ja!“

Lily empfand es fast wie einen Vorwurf, daß sie diesen bescheidenen Wunsch nicht gewähren konnte, im überströmenden Mitleid ergriff sie die Hand des unglücklichen Freiers und sagte tröstend:

„Kommen Sie, Onkel Justizrath, wir wollen uns auf das Sopha setzen und uns die Sache überlegen.“

„Sie wollen sich meinen Antrag überlegen?“ rief Freising, dessen ganzes Gesicht sich verklärte, während er der Aufforderung nachkam.

„Nein, so meinte ich es nicht,“ protestirte Lily. „Ich bin ja erst sechszehn Jahre und Sie –“

„Ich bin allerdings älter, aber bei Frau von Hertenstein und ihrem Gatten war der Unterschied der Jahre noch viel bedeutender.“

„Ja, aber Sie wollen gewiß nicht, daß ich Sie in der Weise liebe, wie ich meinen Schwager geliebt habe – als einen ehrwürdigen Großvater nämlich.“

„Nein, mein Fräulein, das will ich nicht,“ sagte der Justizrath sehr pikirt. „Und übrigens bin ich noch gar nicht so alt, um Großvater sein zu können, ich stehe im siebenundvierzigsten Lebensjahre.“

„Ich führte das nur des Beispiels wegen an,“ entschuldigte sich das junge Mädchen. „Ich möchte Ihnen so gern helfen, und da ich Sie nicht selbst heirathen kann – wie wäre es, wenn ich Ihnen eine Frau verschaffte?“

(Fortsetzung folgt.)




Ein seltener Vierhänder.

Für die „Gartenlaube“ mitgetheilt von Dr. O. Finsch (Bremen).

Unter den wenigen Sehenswürdigkeiten, welche Batavia, die Hauptstadt von Niederländisch-Indien, abgesehen von dem eigenthümlichen Charakter der Stadt selbst und dem bunten Leben und Treiben seiner farbigen Bewohner, für den Fremden bietet, nimmt der zoologische Garten einen hervorragenden Platz ein, wenn derselbe im Allgemeinen auch noch weit hinter den kleineren Gärten dieser Art in Deutschland zurücksteht. Der „Kebon binatang“, wie der malayische Name lautet, gehört in derselben Weise, wie es bei unseren Thiergärten der Fall ist, einer Privatgesellschaft, „Dieren- en Plantentuin“ genannt, welcher es indeß nicht allein an den nöthigen Kräften, sondern vor Allem an den erforderlichen Mitteln zu mangeln scheint, um ein derartiges Institut in einer der Hauptstadt würdigen Weise durchzuführen.

Immerhin besitzt der Garten einige Seltenheiten. In wirklich hervorragender Weise sind vor Allem die Affen in demselben vertreten und zwar nicht allein an Zahl der Individuen, sondern auch an Arten, die fast ausnahmslos den Sunda-Inseln angehören. So findet man fünf Orang-Utangs, darunter ein ansehnlich großes Männchen, drei Arten Langarmaffen oder Gibbons (Hylobates), vier Arten Schlankaffen (Semnopithecus), darunter eine Familie von sechs Exemplaren des eleganten Semnopithecus melanolophus von Sumatra, des schönsten Schlankaffen, den ich bis jetzt lebend sah, und unter der Heerde der gewöhnlichen Meerkatzen (Macacus cynomolgus) verdienen zwei Albinos, durchaus weiße Exemplare mit rothen, lichtblöden Augen, wie die der weißen Kaninchen, besondere Beachtung. Da hier die klimatischen Schwierigkeiten, mit welchen die Haltung und Pflege von Affen daheim zu kämpfen hat, fast ganz bedeutungslos werden, so braucht man über diesen Reichthum nicht sonderlich zu erstaunen und wird sich nicht verwundern, selbst Arten zu begegnen, die es bisher nicht gelang lebend nach Europa zu bringen.

Unter den letzteren ist der Nasenaffe (Semnopithecus nasicus) jedenfalls der hervorragendste und interessanteste. Wir kennen denselben bis jetzt daheim nur nach ausgestopften Exemplaren, die, meist fehlerhaft, zum Theil carikirt aufgestellt, ein total falsches Bild geben, namentlich was die besondere Eigenthümlichkeit dieses Thieres, die sogenannte Nase, anbelangt. Sie wird gewöhnlich der menschlichen, also gekrümmt und herabgebogen, nachgebildet, um dem Gesicht soviel als möglich menschliche Züge zu verleihen. Auch mir schwebte ein ähnliches Bild des Nasenaffen und zwar aus Brehm’s „Thierleben“ vor, und ich war daher nicht wenig erstaunt, als ich den hochinteressanten Vierhänder zum ersten Male lebend vor mir sah. Wie die beifolgenden auf Grund sorgfältiger Studien nach der Natur entworfenen Abbildungen zeigen, hat nämlich nur die Nase des jungen Thieres Aehnlichkeit mit der menschlichen, indem die merklich vorragende Spitze sehr an eine kleine Stumpfnase erinnert, die dem Thiere übrigens ein äußerst komisches, impertinentes Aussehen verleiht. Diese Nase weicht indeß trotz ihrer Aehnlichkeit noch sehr von der menschlichen ab, indem sie, auf dem Rücken platt gerundet, sich seitlich verbreitert und an der vorderen seitlichen Basis durch eine Art Längsfurche abgesetzt ist; der eigentliche Spitzentheil hat eine mehr dreieckige Form, fällt spitzwinkelig zur Oberlippe ab, und hier stehen die rundlichen Nasenlöcher auf der oberen Hälfte ziemlich dicht beisammen. Ganz anders ist die Nase beim alten Thiere, wovon der Garten ein prachtvolles Männchen besitzt, geformt. Sie bildet einen breiten, flachen, bis über das Kinn vorragenden und herabhängenden, an der Spitze allmählich sich verschmälernden

[241] 

Die Nasenaffen des zoologischen Gartens zu Batavia.
Zum ersten Male nach dem Leben für die „Gartenlaube“ gezeichnet von Dr. O. Finsch.
Auf Holz übertragen von F. Specht.

[242] und abgestutzten, compacten Hautlappen, welcher eher einem kurzen, platten Rüssel, als einer Menschennase ähnelt. Dieser fleischige Zipfel verdeckt, von vorn gesehen, Maul und Unterkiefer fast ganz und läßt den Kopf fast spitzschnauzig erscheinen. Die großen schmalen, länglichen Nasenlöcher öffnen sich auf der unteren Seite des Fleischzipfels und sind nur bei gewissen Bewegungen des Thieres sichtbar, namentlich wenn dasselbe gähnt, was ziemlich oft geschieht. Der ganze Nasenzipfel stülpt sich dann in die Höhe und faltet sich zurück, sodaß man zugleich das ungemein kräftige Gebiß, namentlich die langen und starken Eckzähne erblickt, welche Respect einflößen. Beweglichkeit besitzt der Nasenzipfel übrigens nicht, außer daß er bei kräftigen Sprüngen des Thieres etwas hin und her wackelt. Das nackte Gesicht ist gelbbräunlich-fleischfahl gefärbt und glatt; nur an der Oberlippe, da wo sich der Nasenzipfel absetzt, sind einige kurze dunkle Borstenhaare vorhanden, sowie einige längere über dem Auge. Das letztere selbst ist klein, zurückliegend, mit lebhaft hellbraun gefärbter Regenbogenhaut, welche List verräth und zu dem sonst so mürrischen, sonderbar ernsten Gesichtsausdrucke des Thieres nicht so recht zu passen scheint.

Im Uebrigen stehen Körperbildung, Haarkleid und Färbung in vollständigem Einklange mit der so eigenthümlichen Bildung des Gesichts. Das Haar ist straff, dicht und ziemlich lang. Auf den Backen bildet es einen zurückliegenden Bart, der die nackten, schwarzen Ohren fast ganz bedeckt, und an den Halsseiten verlängert es sich zu einem breiten, abstehenden Kragen, der sich unter dem kurzen Kinnbarte, der die Spitze des Unterkiefers bedeckt, gleichsam zu schließen scheint. Längs der Mitte des Oberarms, der Bauchlinie und auf den Hinterbacken bilden die gegen einander gerichteten Haare scharfabgesetzte spitze Nähte, die um so schärfer hervortreten, als sie zugleich durch die Färbung unterschieden sind. Letztere ist sehr eigenthümlich und erinnert in gewissem Sinne an eine Art Livree. Die kurzen dichten Haare des Oberkopfes bilden eine Art Barett, unter welchem sich die kleinen Augen zuweilen fast zu verstecken scheinen. Diese Haare sind lebhaft rotbraun gefärbt, welcher Ton auf der hinteren Hälfte des Oberarmes und auf den Schultern allmählich blasser wird und auf der ganzen übrigen Oberseite des Körpers in ein sehr hübsches Rostgrau übergeht, oder hier vielmehr auf grauem Grunde rostgrau melirt erscheint, weil die einzelnen grauen Haare rostfahle Spitzen tragen. Die Backen und der Halskragen sind blaßrothgelb. die ganze übrige Unterseite, die Unterarme, die Hinterbeine, Hände und Füße schön grau gefärbt, längs der Bauchmittellinie rostgelb verwaschen. Die Schwanzbasis wird von einem viereckigen weißen Felde begrenzt, der lange und gut behaarte Schwanz selbst zieht stark in’s Weiße, wie die Oberseite der Hände und Füße. Die Zehen beider Extremitäten sind sehr lang, stark behaart und mit schmalen, langen, schwarzen, etwas gekrümmten Nägeln bewehrt, unter denen der des zweiten Fingers der Hinterfüße besonders verlängert ist. Hand- und Fußsohlen sind schwarz. Das beschriebene Exemplar ist ein ohne Zweifel erwachsenes Männchen, das aufrecht stehend mehr als drei und einen halben Fuß Höhe erreichen mag; doch soll es auch größere Exemplare geben.

Wie schon ein Blick auf die Abbildung zeigt, weicht der junge Nasenaffe so erheblich vom alten ab, daß ihn jeder Unkundige mit Recht für eine ganz verschiedene Art halten wird. Der durchaus abweichenden Nasenbildung habe ich bereits gedacht und muß nur noch hinzufügen, daß das bräunlich-fleischfarbene nackte Gesicht von zahlreichen Querrunzeln durchzogen ist, welche das Thier gleichsam als jugendlichen Greis erscheinen lassen. Das Auge ist im Gegensatz zu dem des Alten groß, voll und lebhaft gelbbraun. Die Färbung weicht ebenfalls erheblich ab. Die Oberseite ist fuchsrot gefärbt, am lebhaftesten auf dem Oberkopfe; Unterarm und Beine und die unteren Theile sind grau, mit gelblichem Anfluge, der namentlich auf der Bauchmitte lebhafter hervortritt. Das viereckige Feld über der Schwanzbasis ist aschgrau wie der Schwanz. Die Backen sind hellroströthlich gefärbt und so kurz behaart, daß die ovalen, nackten, dunklen Ohren freibleiben.

Die jungen Nasenaffen, von denen der Thiergarten in Batavia zwei fast gleichgroße Exemplare besitzt, sind sehr lebhafte Geschöpfe, die in ihrem Betragen ganz mit den anderen Schlankaffen übereinstimmen. Wie diese bewegen sie sich in dem Raume ihres leider viel zu engen Käfigs in behenden Sprüngen, verrathen große Neugierde und sind sehr zutraulich. Furchtlos strecken sie dem Besucher ihre Hand entgegen, um etwas Eßbares zu erbitten, und schneiden dabei nicht jene häßlichen Grimassen, wie dies sonst meist alle Affen zu thun pflegen. Sie lassen dabei schwache klagende Laute hören. Vor ihrem alten Artgenossen scheinen sie großen Respect zu haben und halten sich meist in ehrerbietiger Ferne, obwohl ich nie sah, daß er ihnen in irgend einer Weise Leides anthat. Ein Blick von ihm genügte, sie in eine Ecke des Käfigs zu bannen. Ganz verschieden ist das Betragen des alten Nasenaffen. Er sitzt meist bewegungslos auf seinem Platze und scheint den Beobachter kaum eines Blickes zu würdigen, indem er nur zuweilen momentan das blinzelnde, listige Auge auf ihn richtet. Angebotenen Leckereien schenkt er keinerlei Beachtung, während die Kleinen eifrig darnach greifen. Selbst die Futterstunde, welche doch sonst von fast allen gefangen gehaltenen Thieren so sehnlichst erwartet wird, verändert die stoische Ruhe des alten Herrn nur wenig. Er greift gewöhnlich nur nach einigen Blättern Kopfsalat und überläßt den Rest der Speisen, in Bananen und gekochtem Reis bestehend, seinen jungen Collegen, die eifrig über Alles herfallen. Wie ich mir von Kundigen sagen ließ, ist der Nasenaffe am besten mit rohen Kartoffeln zu ernähren, da er auch in der Freiheit allerhand Wurzeln den saftigsten Baumfrüchten vorzieht, für welche Ernährungsweise schon die langen gekrümmten Nägel sprechen.

Wenn der Nasenaffe des zoologischen Gartens in Batavia eine so überraschende Gleichgültigkeit bekundet, wie sie mir bisher bei keinem Affen entgegentrat, so ist die Gefangenschaft in einem zu engen Käfig ohne Zweifel die Ursache hiervon, sie hat eine Art Schwermuth zur Folge, welche bei freier Bewegung des Thieres verschwinden würde. Wie ich von Allen hörte, welche Nasenaffen in der Gefangenschaft hielten, gehört diese Art zu den liebenswürdigsten und angenehmsten Gliedern der ganzen Ordnung. Ein nur seit zwei Tagen eingefangenes altes Exemplar ließ sich, ohne Widerstand zu leisten, an einem dünnen Stricke leiten und nahm in der Reihe der Matrosen seinen Platz im Boote ein, als wäre es schon wochenlang mit ihnen zusammen gewesen. Alle eingefangenen Nasenaffen werden sehr bald zahm und gewöhnen sich so an’s Haus, daß man sie frei umherlaufen lassen darf. Wenn es bisher nicht gelang, diesen so interessanten Affen unseren Thiergärten zuzuführen, so liegt es wohl hauptsächlich an der Unkenntniß in der Behandlung und Fütterung des Thieres, und ich zweifle nicht, daß sich bei sorgfältiger Pflege auch dieser Affe ebensogut nach Europa bringen lassen wird, wie alle anderen Affen.

Die Heimath des Nasenaffen ist Borneo, über sein Freileben aber leider so gut wie nichts bekannt. Soweit ich im Stande war, Erkundigungen einzuziehen bei Herren, die längere Zeit in den holländischen Besitzungen in Borneo ansässig waren, lebt der Nasenaffe in kleinen Gesellschaften allenthalben in den Küstenwäldern und ist sehr scheu. Die Dajaker, welche den Nasenaffen schon wegen des hübschen Felles lieben, jagen denselben und wissen ihn lebend einzufangen. Jedenfalls sind sie gut mit der Naturgeschichte dieses Thieres bekannt, aber es hat bisher an Forschern gefehlt, welche Interesse genug fühlten, um genaue Erkundigungen einzuziehen.




Der Kampf um die untere Donau.

Wenn Maler und Bildhauer Recht haben, wenn Flüsse und Ströme bärtige Götter und holdselige Göttinnen mit warm empfindendem Herzen sind, dann muß sich die Donau ganz heimlich als ein deutscher Strom fühlen, wenn sie es auch nicht offen eingestehen darf, da sie die Länder aller Völkerfamilien Europas bespült, da sie an den Germanen, Magyaren, Slaven und Romanen vorüber in den düsteren ungastlichen Pontus rollt und da sie aus diesem Grunde ein europäischer, ja der europäischeste [243] Fluß, eigentlich der allein europäische Strom ist. Und dennoch muß sie sich zurücksehnen nach den tannendunkeln Schluchten des Schwarzwaldes, wo ihre Wiege stand, nach den malerischen Höhenzügen, die sie begleiteten, nach den alterthümlichen deutschen Städten, die sich in ihren Wellen spiegeln, sie muß sich zurücksehnen nach den sauberen Weilern, schmucken Dörfern und stattlichen Klöstern, die, auf der Stelle uralter Befestigungen stehend, weit in's Land schauen. Oder könnte sie die schöne Kaiserstadt mit dem Stephansdome und den milden Höhen im Hintergrunde vergessen? Schon wenn sie die Leithaberge im Nacken hat, besonders aber wenn sie an Ofen-Pesth vorüber ist, hört die Herrlichkeit plötzlich auf. Dann muß sie sich zwischen niedrigen Sandufern, von rauschendem Schilf umsäumt, durch kahle, trostlose Steppen winden und mit trägen, matten Armen bewaldete sumpfige Inseln umschlingen.

Wer kann es der schönen, blauen Donau verdenken, daß sie dabei launig und wetterwendisch wird! Noch gestern glaubte der Schiffer die Fahrrinne zu kennen, und heute ist Alles verändert und der Fluß hat in seinem Bette allerlei tolle Streiche angerichtet. An der Grenze von Ungarn gegen die Balkanländer treten die Gebirge, welche die Donau so lange geflohen hatten, dräuend von beiden Seiten an sie heran, zwängen den herrlichen Strom, der sich bis zu 1000, ja bis zu 1500 Meter ausbreiten durfte, in ein 60 bis 100 Meter schmales Bett, jagen den unwilligen, strudelnden, zornigen Fluß 130 Kilometer lang über Felsbänke und Riffe und lassen ihn in schäumenden Wasserfällen tosen und rauschen.

Ist er endlich den Bedrängnissen von links und rechts entronnen, welche die Geographen „das Eiserne Thor“ nennen, dann thut sich vor ihm ein fruchtbares Land auf, welches sich von dem Balkan bis zu den transsylvanischen Alpen dehnt. Aber seine Kraft ist erschöpft. Er hat sich ausgetobt. Nun breitet er sich behaglich, vielarmig in schilf- und rohrreichen Niederungen aus, um endlich die gewaltigen Wassermassen, welche ihm die Alpen, die Karpathen und der Balkan zugesendet haben, in drei Armen, die wieder Sprossen entsenden, müde und schläfrig in das Schwarze Meer zu drängen. Die nördlichste ist die Kilia-Mündung. Ihr Bett nimmt zwei Drittel der gesammten Wassermasse des Stromes auf. Die mittlere heißt Sulina-Mündung. Sie entsendet kaum ein Zwölftel der Wassermenge in das Meer, aber sie ist seit beinahe fünfundzwanzig Jahren die allein von Schiffen befahrene. Der südlichste wird die St. Georgs-Mündung genannt. Sie ist wie die Kilia-Mündung versandet, und auch der mittleren droht fortwährend die Gefahr der Versandung.

Die von den Mündungsarmen eingeschlossenen Inseln, die einen Umfang von mehr als 2000 Quadratkilometer haben, sind mit drei Meter hohem Grase bewachsen und ein Paradies für Wasservögel, Wölfe und Büffel. Ein Fluß, der in seinem Mittellaufe manchmal sein Bett ändert, der am Eisernen Thore nur von kleinen Schiffen befahren werden kann, weshalb vor der Stromenge alle Waaren umgeladen werden müssen, ein Fluß endlich, dessen Mündungsarme entweder versandet sind oder nur mit Mühe für Schiffe fahrbar erhalten werden können: ein solcher Fluß kann nur dann eine bedeutende Handelsstraße werden, wenn die Menschen ihm hier den Fahrweg sicher vorzeichnen, dort sein Bett eindämmen, an einer andern Stelle die Felsen und Riffe sprengen und an der Mündung sein Bett reinigen und austiefen. Wer diese Hindernisse nicht kennt, der glaubt, daß ein so großer gewaltiger Strom, der mit seinem Flußadernetz halb Europa bedeckt, eine natürliche Fahrstraße von Süddeutschland bis in die Balkanländer, bis nach Südrußland, Constantinopel und bis zu den Küsten von Kleinasien bildet.

Wer aber diese Hindernisse kennt, der fragt sich erstaunt: weshalb ist denn der Strom nicht regulirt worden? Größere, schwerere Arbeiten wurden in ärmeren Ländern, unter ungünstigeren Himmelsstrichen ausgeführt und sind für die Bewohner eine Quelle wirthschaftlichen Segens geworden. Bedenkt man aber, welche Völker an dem Mittel- und Unterlaufe des Stromes wohnen, dann löst sich das Räthsel leicht. Da ist jene Musterkarte von Völkern, Stämmen, Nationen und Natiönchen angesessen, welche Oesterreich-Ungarn mit einem politischen Bande umschlingt. Unter einem entnervenden absolut-clericalen Regimente ist ihnen alle Energie, alle kräftige Initiative abhanden gekommen. Was sie noch an Leihenschaft und Feuer besitzen, das verpuffen sie in bitterem, innerem Hader und Streit. Der Mittel- und Unterlauf des zum Segenspenden geschaffenen Stroms ist seit Jahrtausenden der Schauplatz blutiger, grausamer Kriege, der Tummelplatz halbcivilisirter Völker.

Noch trauriger gestalteten sich die Verhaltnisse an der Mündung, als Rußland im Namen der Humanität, der Civilisation und des Christenthums Anfangs dieses Jahrhunderts wieder einmal einen Krieg gegen die nicht minder civilisirte Türkei führte und das Donaudelta in seinen Besitz brachte. Da versandeten die Arme gänzlich, die Schifffahrt stockte. Zunächst wurde Oesterreich in seinen Unternehmungen gehemmt, aber auch England, Frankreich, Italien litten darunter. Denn die Schiffe dieser Nationen hätten gern die heimischen Erzeugnisse aus dem Schwarzen Meere in die Donau-Mündungen hinein- und den Strom hinaufgeführt. Die Westmächte hatten daher das größte Interesse an der Schiffbarkeit der Donau-Mündungen und der Freiheit der Schifffahrt in dem Donaudelta, während Oesterreich und Deutschland, welche ihre Waaren den Strom hinabsenden, sich mehr Vortheil von der Regulirung des Mittellaufes und der Entfernung der Hindernisse am Eisernen Thor versprechen mußten.

Da kam der Krimkrieg und versetzte dem Czarenreiche einen so furchtbaren Stoß, daß es erst vierzehn Jahre später wieder ein energisches Lebenszeichen von sich gab. Im Pariser Frieden (1856) widmete man der Schifffahrt auf der Donau eine ganz besondere Aufmerksamkeit. Die Interessen der europäischen Staaten brachten es mit sich, daß man zwei Commissionen ernannte. Die eine, die europäische Donauschifffahrts-Commission, welche aus Delegirten von Frankreich, England, Oesterreich, Preußen, Rußland, Sardinien und der Türkei bestand, sollte sich mit der Herstellung der Schiffbarkeit und der Freiheit des Verkehrs der Donau-Mündungen bis Isaktscha beschäftigen; der anderen, der Permanenten Commission der Donau-Uferstaaten, welche sich aus Abgeordneten von Oesterreich, Baiern, Württemberg, der Türkei, sowie aus Commissarien für die Moldau, Walachei und Serbien zusammensetzte, war die Beseitigung der Schifffahrts-Hindernisse von Isaktscha aufwärts und die Ausarbeitung von Schifffahrts- und Strompolizei-Vorschriften übertragen. Es ist nach dem, was wir oben über die natürlichen Interessen der Mächte gesagt haben, leicht verständlich, weshalb in derselben nur die Uferstaaten vertreten waren, und wenn man sich erinnert, daß damals die Moldau, die Walachei und Serbien noch abhängig von der Türkei waren, ebenso leicht begreiflich, daß diese Staaten nicht die Rechte der anderen Uferstaaten besaßen. – Um Rußland jeden ungebührlichen Einfluß zu entziehen, drängte man es von den Donau-Mündungen zurück und schlug den Strich, welchen das nordische Reich räumen mußte, zur Moldau, sodaß das Donaudelta wieder in türkische Hände gelangte.

Die europäische Commission ging mit Eifer an’s Werk. Frankreich und England sahen den Aufschwung voraus, den ihr Handel mit dem türkischen Reiche nehmen mußte, wenn die Erzeugnisse ihres Gewerbefleißes die Donaustraße hinauf ihren Einzug in die nördlichen Balkanländer hielten. Die Donau-Mündungen wurden untersucht. Man beschloß die Sulina-Mündung zu reguliren, obwohl sie, wie schon erwähnt, nicht die wasserreichste ist. Die Baggerungsarbeiten wurden mit der größten Eile und Umsicht in Angriff genommen, zwei Molen, der eine 1412, der andere 915 Meter lang, mit einem Kostenaufwand von beinahe zwei Millionen Mark gebaut, auch Uferdämme sowie Leuchttürme errichtet. Die Türkei beeilte sich, ihre Verbündeten auf die thatkräftigste Weise zu unterstützen. In kurzer Zeit waren die Arbeiten beendet. Sogleich kamen englische und französische Kaufleute und überschwemmten das Land mit ihren Waaren. Der Nachbar der Türkei, Oesterreich, mußte zusehen, wie er täglich mehr und mehr von den Märkten verdrängt wurde. Denn die Uferstaatencommission that gar nichts für die Beseitigung der Hindernisse von Isaktscha aufwärts. Sie erließ im Jahre 1858 eine Donauschifffahrtsacte, welche die Freiheit der Donauschifffahrt erklärte und alle bestehenden Privilegien aufhob. Von da ab hüllte sie sich in Schweigen. Im Jahre 1865, nach dem Erlasse des Acte public, welcher alle Werke zur Schiffbarmachung der Donau unter den Schutz des Vökerrechtes stellte, schlief sie ein und war aus ihrem Schlummer nicht mehr zu erwecken.

[244] Im Jahre 1863 legte Rumänien allen österreichischen Schiffen eine Abgabe auf, angeblich zur Anlage von Zufahrtsstraßen, Quais, Häfen und sicheren Landungsplätzen. Oesterreich nahm sie ruhig auf sich. Die Quais, Zufahrtsstraßen etc. wurden aber nicht gebaut. Oesterreich ist bekanntlich geduldig. In seiner Langmuth ging es sogar so weit, daß es sich 1875 in einem Handelsvertrage mit Rumänien die genannten Abgaben vertragsmäßig aufbürden ließ. Dieselben haben den Rumänen in sechs Jahren nicht weniger als 35 Millionen Franken eingebracht. Um Oesterreich für diesen Beitrag zu den Finanzen zu danken, baute Rumänien eine Eisenbahn, die nicht weit unterhalb des Eisernen Thores, bei Vercierova, beginnt und nach Bukarest führt. Uebergeben nun die österreichischen Schiffe nicht gleich in Vercierova ihre Waaren der rumänischen Bahn, sondern erst weiter unterhalb in Giurgewo, von wo die mit der Eisenbahn nach Bukarest zurückzulegende Strecke geringer ist, dann wird die Frachtgebühr um 30 Procent erhöht. Mit anderen Worten, Rumänien sucht Oesterreich zu zwingen, auf die billigere natürliche Verkehrsstraße zu verzichten, um die Einnahmen der rumänischen Bahnen zu vermehren.

Der Leser möge uns verzeihen, wenn wir, obgleich wir eine trockene, volkswirthschaftliche Skizze schreiben, doch auf das Privileg der Romanschreiber Anspruch machen und ihn jetzt einige Jahre zurück, in’s Jahr 1870 versetzen.

Der erste Theil des deutsch-französischen Krieges war vorbei. Am 31. October 1870 erklärte sich Rußland nicht länger durch die Beschränkungen gebunden, die ihm der Pariser Vertrag von 1856 im Schwarzen Meere auferlegt hatte. Es heimste den Lohn für seine „Rückendeckung“ ein. Am 13. März 1871 wurden auf der Londoner Conferenz dem Slavenreiche seine Forderungen zugestanden. Dabei gedachte man auch noch einmal der Donaufrage, der Donaustrecke von Isaktscha aufwärts und des bisher noch nicht regulirten Eisernen Thores. Oesterreich und die Türkei wurden mit der Ausführung der Arbeiten betraut. Ob die Conferenz diesen Beschluß aus Ironie gefaßt hat, ist nicht bekannt geworden. Jedenfalls konnte man keine Mächte entdecken, die eine größere Gewähr für das Nichtzustandekommen der Arbeiten boten. Da in Oesterreich seit 1866 der Zweiseelenstaat eingeführt war und das Eiserne Thor in der transleithanischen Reichshälfte liegt, so hatte zunächst Ungarn ein gewichtiges Wort mitzusprechen. Ungarn aber war dem Plane nicht sehr geneigt. Die Vertreter Ungarns, Oesterreichs und der Türkei kamen zusammen und entwarfen ein Project über die Regulirung des Eisernen Thores. Dasselbe nahm seinen Weg gleich einem alten im Jahre 1856 entworfenen und einem zweiten, von einem amerikanischen Ingenieur, Namens Mac Alpine, auf Veranlassung des Ritters von Cassian ausgearbeiteten, in die Actenschränke des österreichischen Ministeriums und führt dort ein ruhiges, ungestörtes Dasein. Ausgeführt wurde es nicht, das geduldige Oesterreich ertrug auch dies. Zur Entschuldigung muß bemerkt werden, daß man sich damals von der Flußschifffahrt nicht viel mehr versprach. Man erwartete ein gewaltiges Emporschnellen des österreichischen Handels von dem Baue von Eisenbahnlinien, welche den Donaustaat direct mit Constantinopel und den Häfen des Schwarzen und Aegäischen Meeres verbinden sollten. In der That kamen auch Eisenbahnlinien in der Türkei zu Stande; Eisenbahnen, die von beiden Meeren tief in’s Land führten, auf denen Franzosen, Engländer, Italiener, Belgier, Schweizer ihre Waaren in die neu erschlossenen fruchtbaren Länder vordringen ließen und auf diese Weise Oesterreich-Ungarn in verstärktem Maße von den Märkten seiner natürlichen Wirthschaftssphäre verdrängten. Die Anschlüsse an die österreichischen Bahnen aber wurden nicht gebaut. Oesterreich zuckte nicht; denn es ist ja gemüthlich, langmüthig und geduldig und an den Eisenbahnschwindel gewöhnt.

Und inzwischen bereitete sich ein Krieg vor, dessen verschiedene Phasen und dessen Ausgang noch in unser Aller Gedächtnisse lebt. Die Russen versetzten der müden, abgehetzten, unglücklichen Türkei den Stoß in’s Herz. Im Berliner Frieden setzte sich Rußland wieder an der Donau, an der Kilia-Mündung fest, von der es der Pariser Friede verdrängt hatte. Rumänien, der Bundesgenosse Rußlands, ward ein unabhängiger Staat, und diesem verbissenen, boshaften Feinde Oesterreichs wurden die Mündungen der Donau ausgeliefert. Die internationale und neutrale Strecke verlängerten die Mächte bis zum Eisernen Thor.

Diese politischen Veränderungen machten sich bald fühlbar. In der Donaucommission wurde der Zank und Streit permanent. Es begann eigentlich erst recht der Kampf um die untere Donau. Wer hat nicht Notizen über die Thätigkeit der Commission in den Zeitungen bemerkt, und wer hätte sie nicht meistentheils überschlagen?

Die Lectüre derselben scheint ja dem lässigen Zeitungsleser ebenso überflüssig, wie die genaue Kenntniß einer französischen Ministerliste, die man kaum nothdürftig weiß, wenn schon die Journale eine neue veröffentlichen, ebenso überflüssig wie die Bekanntschaft mit den spanischen Parteien, die so zahlreich sind, daß man sie eine ganze Woche auswendig lernen muß, um sie einen Monat lang zu behalten. Nun aber geht gewöhnlich den ganzen Monat hindurch in Spanien nichts von Bedeutung vor, und so kommt man um den Lohn für seine Mühe und seine Anstrengungen.

Und dennoch müssen wir uns mit den ewigen Nörgeleien und dem Gezänk der Donaucommission beschäftigen, und besonders die Taktik Rußlands und Rumäniens in’s Auge fassen. Rußland hat, wie erwähnt, seine Grenzen bis an die Kilia-Mündung vorgeschoben, deren Bett schon jetzt zwei Drittel der gesammten Wassermasse enthält. Wird sie ausgebaggert, dann entzieht sie der Sulina das nöthige Wasser zur Fortsetzung der Schifffahrt. Nun hat Rußland mit der ihm eigenthümlichen diplomatischen Kunst die Kilia-Mündung der Oberaufsicht der Donauconferenz seit den letzten Jahren hartnäckig zu entziehen gesucht. Es möchte dort nach freiem Belieben schalten und walten. Hätte es die Sulina-Mündung unbrauchbar gemacht, und wäre es ihm gelungen, den Kilia-Arm nicht als eine internationale, sondern als eine russische Wasserstraße anerkannt zu sehen, dann könnte es nicht nur die österreichische, sondern auch die englische, französische und italienische Schifffahrt – die dann die Kilia-Mündung zu benutzen genöthigt wäre – nach Herzenslust zwacken und placken.

Aehnlich trieb es Rumänien. Die europäische Commission suchte die sogenannte „gemischte Commission“ in’s Leben zu rufen, welche die Schifffahrt bis zum Eisernen Thore zu regeln hätte. Das war Rumänien mit allen Mitteln zu hintertreiben bestrebt. Obgleich es kein Recht auf eine beschließende Stimme in der Commission hat, weil es nicht zu den Mächten gehört, welche den Pariser und den Berliner Frieden unterzeichnet haben, suchte es sich nicht nur als Großmacht aufzuspielen, sondern sogar Oesterreich aus der gemischten Commission zu verdrängen. Besonders aber widersetzte es sich dem Barrère’schen Vorschläge, daß Oesterreich den Vorsitz in der gemischten Commission führen und jeder in der europäischen Commission vertretene Staat nach alphabetischer Aufeinanderfolge an den Berathungen in der Commission theilnehmen solle.

Um endlich der heillosen, von Rußland und Rumänien angerichteten Verwirrung ein Ende zu bereiten, trat die europäische Commission im Februar zu einer Conferenz in London zusammen. Die Beschlüsse derselben sind seit dem 10. März d. J. durch die politischen Blätter veröffentlicht worden. Im Großen und Ganzen hat die Conferenz an der Lage der Dinge, wie wir sie oben schilderten, nur wenig geändert. Rußland allein hat für sich einige Vortheile zu erringen gewußt.

Für uns Deutsche hat dieser Ausgang der Donaufrage noch ein anderes Interesse, als dasjenige, welches uns die Freundschaft zu unserem Bundesgenossen einflößt. Auch unsere Industrie muß im Oriente neue Absatzgebiete erringen; auch wir leiden, wenn die in die Levante führende Wasserstraße durch Rumänien und Rußland versperrt wird; auch wir leiden, wenn der Anschluß des mitteleuropäischen Eisenbahnnetzes an die türkischen Bahnen nicht erreicht wird. Auch wir leiden, wenn der letzte Punkt, an dem Oesterreich handelspolitisch erobernd im Osten auftreten kann – nämlich Triest – von einer fanatischen italienischen Partei bedroht wird.

[245]

Der chaldäische Zauberer.

Ein Abenteuer aus dem Rom des Kaisers Diocletian.
Von Ernst Eckstein.


„Am Abend des folgenden Tages –“ erzählte Rutilius weiter, „es war eben an jenem Freitag, den wir ausersehen zur Enthüllung unseres Geheimnisses; aber aufgeregt, wie ich war, hatte ich den Geburtstag des Heliodorus völlig vergessen – am Abend also erhielt ich einige Zeilen von Hero’s Hand, die mich nahezu in Verzweiflung setzten.


Der erste Tag der Milchcur.
Nach dem Oelgemälde von Fanny Levy in Königsberg.


„‚Wir müssen uns trennen,‘ schrieb sie, ‚trennen für immer. Ich hatte gehofft, jene grausigen Mahnworte, die mich in der Villa zu Tibur entsetzten, seien der Ausfluß eines verborgenen Grolls, der sich versöhnen lasse – oder was ich sonst mir im gequälten Herzen zurecht legte. Jetzt aber weiß ich, daß die Götter selbst uns mit vernichtendem Fluche den Weg verlegen. Zweimal war ich bei Olbasanus: vorgestern um die Stunde der Hauptmahlzeit und gestern bei Beginn der ersten Nachtwache. Dieser Mann – daran zweifle nicht! – steht im Verkehr mit den Göttern, Dämonen und Abgeschiedenen; ihm ist Gewalt gegeben über alle Reiche der Geister! Mit diesen Ohren hab’ ich’s gehört, mit diesen Augen hab’ ich’s geschen! Als ich nach mannigfachen Beweisen seiner Allmacht noch zweifelte – ach, nur zweifelte, weil ich zu verzweifeln mich scheute – da ist auf den Wink des Entsetzlichen die Todesgöttin Hekate selber mir im Gewölke des nächtlichen Himmels erschienen und hat mir die furchtbaren Worte, die ich auf dem Blatte des Amun gelesen, mit einer Stimme, die dem Brausen des Sturmes glich, wiederholt. Wir müssen uns trennen, Lucius, nicht um meinetwillen, denn ach, wie gerne wollt ich den Fluch der Blindheit ertragen, wenn ich in Dir ein höheres und reineres Licht gewänne; aber um Deinetwillen, dem Hekate, die Grausenhafte, den Tod verheißt, und aus Liebe zu dem theuren Vater, dessen Seele mit Umnachtung bedroht ist. Lebe wohl, theurer Lucius! Möchtest Du leichter vergessen lernen als ich!‘“

„Das waren die Worte, die sich mir unauslöschlich und qualvoll wie mit glühendem Griffel in’s Herz gruben. Von Gaipor, meinem Sclaven, erfuhr ich nun, daß Olbasanus in der That bei vielen Tausenden für den mächtigsten Beschwörer gilt unter allen Chaldäern der Siebenhügelstadt. Gaipor selber, eh’ ich ihn kaufte, hatte den Zauberer im Auftrag seiner Gebieterin, einer [246] Dame aus Neapolis, um die Zukunft befragt, und mit eigenen Augen, wie Hero, die schreckliche Erscheinung der Hekate wahrgenommen, die, von Flammen umloht, vom sternenbesäeten Himmel herniederschwebte. Du weißt, Cajus, ich bin keiner der Leichtgläubigen. Oft genug habe ich unserer Auguren[1] und Wahrsager gelacht, und jenem Feldherrn aus den Tagen des Freistaats meine Achtung gezollt, wie er die heiligen Hühner, als sie nicht fressen wollten, in’s Meer warf. Hier aber drängte sich mir die Ueberzeugung mit so ungestümer Gewalt auf, daß ich ihrem Andrang erlag …“

„Hekate also!“ murmelte Cajus Bononius. „Auch mir ward dieses Wunder bestätigt, nicht von Einem, nicht von Zweien, die es geschaut, sondern von Zwanzigen. Wisse, Rutilius, seit Monden schon rechne ich diesem Olbasanus nach, was er vermöge seines Bündnisses mit den Göttern und Dämonen zu Wege bringt … Indessen – Du warst mit Deiner Erzählung noch nicht völlig zu Ende. „Sprich, Lucius; aber beeile Dich!“

„Ich bin zu Ende!“ versetzte der Jüngling, „Eins nur hab’ ich hinzuzufügen. Inmitten all der dumpfen, herzzerfressenden Trauer, die mich beherrschte, regte sich mir täglich unabweisbarer das Verlangen, den Mann, der so – wenngleich in gütiger Absicht – meine Zukunft zerstörte, aufzusuchen in der Halle seiner Beschwörungen … Ich selbst gedachte eine Frage zu stellen an die entsetzliche Fürstin der Unterwelt. Alle Bemühungen, die Geliebte wiederzusehen, waren erfolglos geblieben. Auch Heliodorus schien mir nachgerade verwandelt – so scheu, so bänglich trat mir der sonst so Rückhaltslose entgegen. Diese Unmöglichkeit, mich Hero oder selbst nur Lydia gegenüber auszusprechen, drängte mich vollends zur Ausführung. Ja, ich überwand meinen Widerwillen gegen jede Berührung mit dem Uebernatürlichen – und jetzt, o Cajus, erblickst Du mich auf dem Weg nach dem Hause des Olbasanus, fest entschlossen, mit eigenem Auge zu sehen, was die Götter mir zugetheilt, und so zum wenigsten doch den einen Trost mit hinwegzunehmen, der im Bewußtsein der Unabänderlichkeit und des ewig vorbestimmten Geschicks liegt.“

„Auf dem Wege zu Olbasanus!“ rief Cajus Bononius voll Leidenschaft. „Wohl, so laß uns nicht zögern. Auch ich stand im Begriffe, ihn aufzusuchen. Gestern schon sandte ich meinen Glabrio, und Olbasanus bestimmte mir die zweite Stunde nach Sonnenuntergang …“

„Auch Du?“ fragte Lucius erstaunt.

„Ja, auch ich – wenngleich aus anderen Gründen als Du, mein theurer Rutilius. Du weißt, ich bin Philosoph. Jahrelang hab’ ich geforscht und geprüft; ich kenne die mannigfachen Erscheinungen der belebten wie der unbelebten Natur. Ich glaube nicht an die wunderbaren Phantasmen dieser Beschwörer. Gleichwohl: die Aussage so vieler wahrheitsliebender Männer liegt vor; ich kann nicht zweifeln, daß sie treu und ehrlich verkünden, was sie gehört und gesehen haben. So ergiebt sich mir ein quälender Widerspruch. Entweder ich irre mich dennoch, wenn ich mit Plinius und Lucretius das Eingreifen dämonischer Gewalten in das Schicksal der Menschen leugne: oder all diese wahrheitsliebenden Männer täuschen sich und sind die Opfer eines elenden, gewissenlosen Betrugs. Im Drang meiner Wißbegierde bin ich gewillt, dafern es möglich ist, diese Frage so oder so zu entscheiden. Komm also, damit ich die Stunde, die Olbasanus mir festgesetzt, nicht versäume.“

Lucius Rutilius fühlte einen freudigen Schreck. Ein Schimmer von Hoffnung blitzte durch seine Seele, denn die Worte des Freundes athmeten trotz ihrer gemessnen Zurückhaltung eine kraftvolle Zuversicht.

„Eilen wir!“ sagte er, bebend vor Ungeduld.

So schritten die beiden Freunde in’s Haus zurück und wandten sich, den viminalischen Berg von der Seite der tullischen Mauer her umkreisend, nach der Wohnung des Olbasanus.

*               *
*

Unweit der gewaltigen Bäder, die der Kaiser Diocletianus, gleichsam zur Sühne dafür, daß er lieber in Nicomedia oder Salona als in Rom residirte, am nordöstlichen Hang des viminalischen Hügels bis zu der Stelle hatte erbauen lassen, wo diese Anhöhe in den quirinalischen Hügel übergeht, stand in der Nähe des collinischen Thores ein seltsames Bauwerk – in dem wuchtigen Prunke seiner farbengeschmückten Frontseite fast an die Königspaläste Assyriens und Persiens erinnernd, und dennoch so frisch und so neu, als sei es eben erst aus den Händen der Baumeister und Stuckarbeiter hervorgegangen, eine architektonische Verkörperung jenes Zeitgeschmacks, der damals schon mit Vorliebe den Stil altvergangener Epochen nicht nur in den schwachen Schöpfungen einer entarteten Literatur, sondern auch auf anderen Gebieten menschlicher Thätigkeit geistreich nachkünstelte.

Hier frellich war es nicht sowohl die Laune des Architeken oder die Geschmacksrichtung seines Auftraggebers, als ein bewußter praktischer Zweck gewesen, was die einfache Façade des römischen Hauses durch diesen phantastischen Luxus des Orients hatte verdrängen lassen. Hinter den wuchtigen, thierkopfgeschmückten Säulen trieb Olbasanus, der chaldäische Zauberer und Dämonenbeschwörer, der erklärte Günstling der römischen Damenwelt, sein geheimnißvolles Wesen, und so stimmte denn schon das Aeußere des umfangreichen Gebäudes zu den räthselhaften Begebnissen, die sich in seinem Inneren vollzogen. Der fremdländische Anblick der Frontseite konnte als Vorbereitung gelten für die Erkornen, denen Olbasanus gestattete, die Schwelle seines verborgenen Heiligthums zu beschreiten.

Lucius Rutilius und Cajus Bononius erreichten die Pforte in dem nämlichen Augenblick, da dieselbe, von innen geöffnet, eine lange, hagere Gestalt in dichter Pänula auf die Straße ließ. Trotz der Milde der Witterung hatte der Unbekannte die Regencapuze voll herauf über das Haupt gezogen.

Ein wenig zur Seite tretend, ließen die beiden Jünglinge den Vermummten vorbei.

„Diesen Gang und diese Haltung sollt’ ich kennen,“ sagte Lucius Rutilius, dem Enteilenden nachblickend. Vergeblich indeß besann er sich. Der Thürsteher hatte inzwischen die Pforte nicht wieder angedrückt. Die silbergetriebene Laterne mit den Scheiben aus ölgetränktem Papyrus vorhaltend, gewärtigte er des Eintritts der beiden Gäste.

Cajus Bononius gab ihm ein Silberstück und fragte, ob der Chaldäer, wie vereinbart, zu sprechen sei.

Der Thürsteher winkte einem der sieben bartumwallten Aethiopier, die in langer Gewandung, den breiten, mit seltsamen Zeichen übersäten Gürtel um die Lenden geschlungen, am Ausgang des Corridors harrten. Schweigsam führte der Mann, den es traf, die beiden Ankömmlinge durch die getäfelte Vorhalle. Wie er so fast unhörbar dahinschritt, die Schleppe seines kuttenartigen Mantels leise über dem Estrich dahinknisternd, in der Rechten die Fackel, die allenthalben an den zahllosen Vorsprüngen und Gliederungen des Mauerwerks gespenstisch flackernde Schatten erzeugte, schien er selbst eine Art übernatürlichen Wesens, wohl geeignet, auf empfängliche Seelen einen unheimlich erregenden Eindruck zu machen. Der Weg führte durch eine Doppelreihe schwerer kurzer Colonnen und erreichte so eine Treppe, deren Basaltschwellen in die Tiefe führten. Ein unterirdischer Gang that sich auf, gerade hoch genug, daß ein stattlicher Mann aufrecht unter dem tropfsteinartig verkrusteten Gewölbe hinwegschreiten konnte. Schauerlich zog der Qualm der Fackel an der Decke entlang. Es herrschte hier eine dumpfe, athembenehmende Luft. Rechts und links in schwärzlich ausgemalten Vertiefungen lag eine unermeßliche Reihe von Todtenschädeln. Nach einer Weile begann der Stollen nach der Seite hin abzulenken; ein zweiter Gang that sich auf, und als Verästelung von diesem ein dritter und vierter. Schließlich hatten die jungen Männer jede Richtung verloren. Lucius Rutilius meinte, sie müßten längst auf der Jenseite des Hügels angelangt sein; Cajus Bononius dagegen war geneigt, die Ausgangstreppe, die sie jetzt in ein weites, spärlich erhelltes Gemach führte, nicht allzu weit von jener Eingangstreppe am Ende des Säulengangs zu vermuthen.

Der Raum, den sie jetzt betraten, war ein Meisterstück in Beziehung auf wirkungsvolle Verwendung architektonischer, plastischer und decorativer Mittel. Als der Aethiopier mit seiner lodernden Fackel sich wieder entfernt und die eiserne Fallthür auf die Mündung der Treppe gelegt hatte, wähnten sich die beiden Jünglinge zunächst in völliger Dunkelheit. Im Hintergrunde auf mannshohem Candelaber brannte allerdings ein blaßblaues Flämmchen; aber die Strahlen, die es rings in dem mächtigen Raume warf, reichten nicht aus, um den vom Fackellicht geblendeten Augen mehr zu zeigen, als die dämmernden Umrisse großer, wuchtiger Massen. [247] Nach und nach indeß gewöhnte sich der Blick an diese dürftige Helle. Cajus und Lucius entdeckten die elliptische Anordnung mächtiger Pfeiler, hinter denen ein tiefer, beinahe schwarz erscheinender Gang einherlief. Nur ein blasses Geflimmer zwischen den Pfeilerschatten verrieth, daß sich jenseits dieses Ganges eine Mauer befand, welche die gleiche Linie beschrieb wie der Binnenraum. Zwölf der Pfeiler, das Drittel nämlich, das dem Eingang direct gegenüberlag, waren auf kunstvolle Weise mit endlos wallenden, tiefschwarzen Vorhängen überkleidet. Dazwischen hingen allerlei phantastische Ketten, Ampelschnüre und sonstiges Beiwerk, das gerade maßvoll genug vertheilt war, um den gewaltigen Eindruck nach Höhe und Breite nicht abzuschwächen.

Oben schloß sich der Raum durch ein flaches Gewölbe ab, dessen Construction, der beträchtlichen Höhe wegen, nicht zu erkennen war. Im Hintergrunde vor dem bläulich brennenden Candelaber befand sich ein umfangreicher Altar, viereckig und gleichfalls mit dunklen Tüchern verhangen. Dreifüße, eherne Monopodien[2] mit allerlei wundersamem Geräth überdeckt, flache Schemel und andere nicht erkennbare Gegenstände reihten sich in symmetrischer Ordnung zu beiden Seiten. In der Mitte des Raums lag ein Teppich von dreißig Fuß im Geviert, an jeder Ecke mit einem Leuchter bestanden, höher noch als der Candelaber im Hintergrunde. Dieser Teppich war mit räthselhaften Figuren bemalt oder durchwoben.

Fünf Minuten etwa hatten die Jünglinge Zeit, sich im Dämmerlichte der blaßblauen Flamme zu orientiren. Dann mit einem Male erklang es, wie die fernen Accorde einer Aeolsharfe. Ohne daß sie gewußt hätten, wie und von wannen er kam, stand Olbasanus hinter dem tuchverhangenen Altare.

„Du kommst nicht allein, Cajus Bononius!“ sprach er mit wohlklingender Stimme. „Gleichviel: ich kenne das. Die meisten Sterblichen tragen Bedenken, nur auf die eigene Kraft vertrauend sich den Räumen zu nahen, wo die Gottheit sich theils mittelbar, theils unmittelbar ihrem Anblick enthüllen soll. Auch Dein Begleiter, wer er auch sein mag, trete heran: seine stille, andächtige Gegenwart stört nicht das Werk des Caldäers.“

„Du irrst, Olbasanus,“ versetzte Cajus Bononius. „Der mich begleitet, ist eben der, den es gelüstet, eine Frage an die Gottheit zu richten. Ich, Cajus Bononius, sandte Dir meinen Boten nur im Auftrage dieses Jünglings; denn mir, das bekenn’ ich Dir, wohnte nie ein Bedürfniß inne, den Schleier der Zukunft hinwegzulüften.“

„Ich irre –“ gab Olbasanus zurück. „Das ist das Loos aller Sterblichen, und auch das meine, so lange ich nur als ohnmächtiger und vergänglicher Mensch zu Dir rede. Erst die Gnade der Gottheit, wenn ich sie anrufe, strahlt mir jenes Licht in die Seele, das jeden Irrthum unmöglich macht. Wohl! Auch so ist Olbasanus geneigt, Deinem Wunsch zu willfahren, obgleich er als Mensch nicht begreift, was Dich veranlassen konnte, diesen Umweg zu wandeln.“

„Es sind Gründe ohne Belang,“ versetzte Bononius.

„So wünschest Du wohl, daß der Name Deines Begleiters dem Seher verschwiegen bleibt?“

Cajus Bononius wechselte mit Lucius Rutilius einen flüchtigen Blick. Dann zu Olbasanus gewandt:

„Wenn’s Dir genehm ist, ja!“

Der Chaldäer schien einige Secunden zu zögern.

„Schwer zwar und größerer Kräfte bedürftig wird der Wahrspruch des Zauberers, wenn der Frager seinen Namen verbirgt,“ sagte er langsam. „Indeß, dafern Du es dringend begehrst …“

„Wir bitten darum!“ versetzte Bononius.

Der Chaldäer trat nun bedächtigen Schrittes hinter dem Altare hervor.

„Gewährt!“ sprach er feierlich.

Dann streckte er die Hand aus, in der ein elfenbeinernes Stäbchen blinkte. Sofort erglänzte der weite Raum wie in Tageshelle. Nicht nur auf sämmtlichen Kandelabern brannten weithin strahlende Lampen, – auch zwischen den Pfeilern schienen Lichtquellen gleichsam aus dem Boden gewachsen; flache Schalen mit ruhig lodernder Flamme.

Die beiden Jünglinge waren beim Anblick dieser Verwandlung nicht nur leidlich geblendet. Lucius Rutilius faßte sich wie betäubt an die Stirn. Cajus Bononius stand regungslos. Er schien zu prüfen, zu erwägen, zu forschen. Endlich spielte ein befriedigtes Lächeln über sein Antlitz. Es war, als habe er für dieses Räthsel die Lösung gefunden, während Rutilius noch immer von dem Eindrucke des Wunders gebannt war.

„Tretet heran,“ sprach der Chaldäer volltönig. „Unbekannter, was begehrst Du zu wissen?“

Abermals tauschten die Jünglinge einen Blick aus; dann sagte Rutilius:

„Ich wünsche zu wissen, was mir von den Göttern bevorsteht, falls ich die wichtigste und bedeutsamste Absicht meines Lebens zur Ausführung bringe.“

Olbasanus zögerte wie zuvor mit der Antwort. Endlich versetzte er:

„Ich fürchte, das ist unbestimmter, als die Gottheit gestattet. Kannst Du Deine Frage nicht klarer fassen? Vermagst Du die Absicht, von der Du redest, nicht rückhaltlos zu benennen?“

Rutilius fühlte, wie ihm Bononius heimlich den Arm berührte.

„Nein,“ sprach er gelassen. „Ich bitte Dich, zu versuchen, ob die Antwort nicht möglich ist auch ohne eine genauere Bezeichnung.“

Olbasanus blickte nach oben. Da zuckte ein Lichsstrahl herab, einem Blitze vergleichbar.

„Gewährt,“ sagte er, zu Rutilius gewandt. „Bei allen Schrecken der Unterwelt, Du bist ein Liebling der Götter; denn nur den Erkorenen, denen sie wohlwollen, gönnen sie so auserlesene Huld. Gemeinhin strafen sie das Mißtrauen gegen ihren Vermittler durch ewiges Schweigen.“

Die beiden Jünglinge wurden mit jeder Minute aufgeregter: Lucius, weil ihm die ruhige, würdige Art des Chaldäers wie eine Bürgschaft erschien für den Ernst und die Wahrheit dessen, was er zu künden hatte; Cajus Bononius, weil er sich höchlich enttäuscht sah; denn er hatte sich fest überzeugt gehalten, der Zauberer werde erklären, das Verlangen des Lucius sei unstatthaft.

Olbasanus berührte jetzt mit dem Stab die Altarplatte. Ein heller Ton, wie von geschlagenem Metall, durchschwirrte den Raum. Durch die Vorhänge rechts trat ein ganz in Weiß gekleideter Knabe herein. Er trug ein Becken mit glühenden Kohlen und setzte es neben Olbasanus auf einen der Erzschemel.

„Führ’ uns das Opfer heran,“ befahl der Chaldäer.

Der Knabe entfernte sich. Olbasanus ergriff eine Schaufel, füllte sie mit glühenden Kohlen und trug sie nach einem der Dreifüße, auf dessen Schale er sie sorgfältig ausbreitete. Nach dem Altar zurückkehrend, hob er die Hände empor.

„Hekate!“ sprach er mit dumpfer Stimme, „Herrin der Unterwelt, Fürstin der Nacht und der Schatten, Beherrscherin der Dämonen und Abgeschiedenen, allgewaltige, grausige Göttin! Weder das uranfängliche Fatum, noch eine der oberen Gottheiten widersetzt sich dem, was wir vorhaben. So flehe ich denn zu Dir, daß auch Du in Gnaden gewährest, was Olbasanus Dir zagend entgegenraunt. Entschleiere diesem Jüngling die Zukunft, stille seinen Durst nach dem Unergründeten, erfülle sein Auge mit Klarheit und lehre ihn, was die Geister und Dämonen Dir zugetragen vom Aufgang bis zum Niedergang. Bist Du aber gewillt, den, der Dich anruft, wie so hundertmal, zu begnaden, so durchwühle Dein heiliges Element; laß Deinen Geist durch die feurige Gluth wehen und beseele sie mit Deinem unsterblichen Athem!“

Nach diesen Worten machte er einige Schritte vorwärts nach dem Dreifuß und blickte starr in die glühenden Kohlen. Auch Lucius Rutilius und Cajus Bononius waren näher getreten. Mit einem Male begannen die Kohlenstücke sich langsam zu regen. Es war ein Wogen und Wallen, als ob die Kraft eines ungeahnten Lebens diese sprühenden Brände durchathme, bis endlich die Bewegungen schwächer wurden und aufhörten.

Der Chaldäer schritt zurück und verneigte sich mit gekreuzten Armen. Jetzt erschien der weißgekleidete Knabe, an silberglänzendem Stricke ein schwärzliches Lamm führend. Er band das Thier am Altare fest und nahte sich dann den beiden Jünglingen mit einer Schale aus Onyx. Seine Haltung war nicht mißzuverstehen. Lucius Rutilius griff in die Gürteltasche und legte einige Goldstücke auf die Schale. Der Knabe dankte und trat wieder zurück hinter den Vorhang.

(Fortsetzung folgt.)



[248]

In der Pertisau.

Von 0Heinrich Noé.

Es giebt manchen Klang, welcher, sowie er das Ohr berührt, die Einbildungskraft zu einer Reihe von Gestaltungen erregt. Ein solcher wirkt wie das Schlagwort einer Scene. Die Umgebung, in welcher wir uns zufällig befinden, wenn uns der Klang berührt, hat mit dieser Wirkung wenig zu schaffen, ja ich möchte sagen, diese letztere sei um so stärker, je mehr sich jene Umgebung von der Wesenheit der Dinge unterscheidet, welche durch den Klang bezeichnet werden.

Ich pflege den Winter im österreichischen Küstenlande, in der Nähe von Triest, zuzubringen. Rings um das einsame Haus, in welchem ich meinen Schreibtisch aufgeschlagen habe, ist Felsgestein, hier und dort von Oelbäumen, wilden Myrthen und Manna-Eschen beschattet. Einen Theil des Gesichtskreises nehmen das Meer und die Lagunen von Aquileja ein. Eines Tages kam mir dort ein Brief des Herausgebers der „Gartenlaube“ zur Hand, der mich aufforderte, ihm zu einem schönen Bilde einige begleitende Zeilen zu schreiben. Das Wort Pertisau wirkte zauberkräftig. Urplötzlich sah ich Fichtendickicht und Alpenrosen, ich hörte Quellen und sah den Jäger mit erlegtem Gemsbock über den See steuern. In dessen Anschlagen gegen den von Krummholz bedeckten Strand mengte sich ein Nachhall von Citherspiel aus einer Herberge des Ufers.

So vergegenwärtigte sich mir in der Landschaft des Karstes das Bild des Achensees. Es ist kein Wunder, daß der Anschlag gerade dieses Namens solche Kraft hat. Wenn man die Natur des nördlichen Tirol als eine Dichtung auffaßt, so erscheint uns die Gestaltung der Landschaft und des Lebens um jenen See wie ein Auszug aus derselben.

Das nördliche Tirol hat außer dem Plansee keinen anderen, als diesen. Man mag das immerhin, wie es oft geschieht, als einen Mangel bezeichnen, wenn man das benachbarte, an Seen reiche baierische Hochland daneben in Vergleichung stellt. Doch ist es sicher, daß der Mangel durch große Pracht der Eiswelt, durch Wasserstürze und andere Schaustücke des Hochgebirges ausgeglichen wird. Man wird auch zugeben, daß der Königssee großartiger ist – gleichwohl aber habe ich stets gefunden, daß die Rückerinnerung der Reisenden an keiner Stätte lieber verweilt, als am Achensee.

Der hartnäckigste Rundreise-Tourist, der sich taub stellt gegen Zumuthungen, von der Bahn abzuschweifen und diesem oder jenem vom Schienenwege etwas abgelegenen Schaustücke einen Tag zu „opfern“, findet sich bereit, zu Jenbach im Innthale aus dem bequemen Waggon auszusteigen. Er läßt sich einen steilen Berg hinaufziehen, oder klimmt den vierhundert Meter hohen Anstieg sogar im Schweiße seines Angesichts zu Fuß an, um den Achensee zu sehen. Er verläßt die Ueppigkeiten des prächtigen „Tiroler Hof“ zu Innsbruck, um einen Tagesausflug an seine Ufer zu machen. Er kann ja nirgends sagen, daß er in Tirol gewesen ist, wenn er den Achensee nicht gesehen hat. Keine Gegend der nördlichen Landeshälfte ist von Dichtern mehr gefeiert worden, und es ließe sich über sie eine Sammlung zusammenstellen, in welcher vom Ausdruck lyrischer Stimmungen an bis zum volksthümlichen Drama alle Gattungen Poesie vertreten wären. Es ist ein eigenthümlicher Hauch, der über dieser Fluth weht.

Das Alpenland wurde in den Zwanziger und Dreißiger Jahren unseres Säculums künstlerisch erobert. Die Münchener Landschaftsmaler waren es zuerst, welche sich seiner bemächtigten. Unter ihren Bildern kehrte der Achensee immer wieder. Man konnte keine Ausstellung besuchen, ohne ihm zu begegnen. Das gilt bis auf den heutigen Tag. Auch seine Begleiter verlassen ihn nicht, als da sind: die Zugspitze, der Dachstein, der Gosau- und Königssee, rebenumsponnenes Gemäuer von Meran und der Bozener Rosengarten. Alle diese halten treue Genossenschaft.

Noch blüht das Edelweiß auf den Felsen des Sonnjoch und des „Unnütz“, noch blaut das Wasser und die Alpenblumen begrüßen die Sonnenwende mit ihrer Pracht, aber der Achensee ist nicht mehr der nämliche, wie in jenen Tagen. Was mit ihm vorgegangen ist, mag uns sein nördlicher Nachbar, der Schliersee, am eigenen Beispiele aufweisen.

„Nu,“ sagte die Fischer-Liesl (die Wirthin), „jetzt seid’s den ganzen Sommer da g’west. Was schuldig seid’s, ihr Malerbuben, wollt’s wissen? Trunken habt’s g’nug, meinet ich!“

„Da hat sich nichts gefehlt,“ entgegneten die Malerbuben.

„Also rechnen wir auf Einen vier Maß alle Tag’, wird Enk wohl nit z’viel sein?“

„Gewiß nit, Liesel!“

„Also, Einer alle Tag’ vier Maß, seind zwanzig Kreuzer, macht nachher im Monat zehn Gulden. Dös habt’s allein trunken, vom Essen red’ i no gar net. Seid’s z’frieden, wenn i Enk neun Kreuzer aufschreib’ für’s ganze Essen? Waren nacher a vier Gulden und dreiß’g Kreuzer an Monat – a was, sagen wir vier Gulden!“

„Ist nit z’viel, Lisi!“

„Für d' Stub'n – was soll i Enk da rechnen? Daheim seid's a so nit g'wen, es Lumpen! Sagen wir halt an Sechser über d' Nacht, nacher waren's wieder drei Gulden. Und vier Monat seid's jetzt da gewesen – – Jeses, es derzahlt es ja nit, es habt's ja nix! Wißt's was – zahlt a Jeder für Alles zusamm' zwölf Gulden – is a Ding!“

Das war die „Rechnung“ der Fischer-Liesl am Schliersee gewesen.

[249] 

Pertisau am Achensee in Tirol. Nach einem Aquarell von Adolf Neumann.

[250] Und nicht gar viel anders waren die Sitten der Gaststätten zur Zeit der „Entdeckung“ am Achensee. Aber in Bezug auf Fortschritt scheint der nördliche Nachbar den südlichen schier überholt zu haben. Es fährt ihm die Eisenbahn dort bis an das Ufer; er hat seine Tables d'hôte, und die Malerbuben sind längst vor eindringenden Commissionsräthen und Geheimräthen verschwunden.

Gleichwohl sind auch diese Gestade dem Wandel in Verkehr und Brauch nicht entgangen, der seit etwa dreißig Jahren die Alpen heimgesucht hat. Auch die Scholastica, vor Decennien die Fischer-Liesl dieses Ufers, hat den sogenannten „Anforderungen der Jetztzeit“ einige Zugeständnisse gemacht. Dann kommt gar noch der noble „Achenseehof“ – kurzum, Master Fortschritt würde vergnügt auf „menschenwürdige“ Zustände hinweisen. Doch giebt es auch noch uralte, gemüthliche Herbergen, wie z. B. den „Muchwirth“.

Auch die Gesellschaft hat sich in entsprechendem Maßstabe verändert. Früher sah man Maler, Studenten mit leichten Ränzchen, Münchener Bürger, die auf ihrem Feiertagsausflug ketzerisch aus der heimathlichen Verehrung des Gambrinus in die des Etschländischen Bacchus übersprangen, Sommerfrischler aus Innsbruck. Jetzt bemerkt man all diese kaum mehr unter der Menge Jener, die „weit her sind“. Wie angedeutet, ist der Achensee bereits eine Domäne der Novellisten gewordeu, und mehr als eine schriftstellernde Dame hat, auf der Durchreise begriffen, von der Veranda ihres Gasthofes aus hier, soweit die Gegend durch ihr Binocle zu überschauen war, Stoff zu einer „Geschichte aus den Bergen“ gesammelt. Eine andere wandelte wohl zu gleichem Zweck auf stilleren Pfaden, wie z. B an dem romantischen Achensee-Ufer hinter Rainer, das unser heutiges Initial darstellt, und prägte sich tief in’s Gedächtniß die „Vokstypen“ des Tiroler Landes.

Die Wahrheit zu gestehen, ist die Gegend Pertisau jener Theil des Strandes, welcher verhältnißmäßig am spätesten sich in den Geist des Jahrhunderts gefunden hat. Die Pertisau ist eine ebene grüne Flur am südwestlichen Gestade, eine Anschwemmung von Schotter, welchen die Bäche des Falzthurn- und Gernthales allmählich in den See vorgeschoben haben, der aber jetzt schön von Gras und Bäumen überwachsen ist.

Um dorthin zu gelangen, lassen sich die meisten Fremden, nachdem sie den steilen Aufstieg vom Innthal hinauf zurückgelegt haben und beim anmuthigen Wirthshause in der Buchau (nicht ohne sich durch ein Seidel „Rothen“ gestärkt zu haben, angelangt sind, auf einem Kahn überfahren. Das ist in etwa einer Viertelstunde geschehen.

Die Anderen, welche den viel längeren Fußweg um die Ausbuchtung herum vorziehen, gehen längs des Strandes hin, den des Nachmittags, wenn der „baierische“ Wind weht, blasiger Schaum bedeckt, angesichts der grünen und grauen Kegel, welche ihnen aus Falzthurn entgegen schauen, und bald gewinnen sie, gleich denen, welche in einem Kahne fahren, die Uebersicht über den ganzen See bis zu seinem Nordende hin. Die Pertisau nimmt sich schöner aus, wenn zwischen dem Beschauer und ihrem Ufer sich noch ein Stück See ausdehnt, als von ihrem eigenen Boden aus.

Die vornehmsten Insassen der Pertisau sind Forstleute, Jäger und Fischer. Ihr stattliches Gebäude ist das „Fürstenhaus“, Eigenthum des Klosters Fiecht. An diesen Strand knüpfen sich manche Erinnerungen fürstlichen Jägerlebens, aus den Tagen, in welchen allenthalben in den nördlichen Gebirgen des Landes die Hüfthörner schallten und die Herzöge von Tirol zu Sigmundslust und Sigmundsberg, zu Thurneck und Waidburg Hof hielten.

Die Urkunden haben Manches aus jener Zeit bewahrt. Darum rathe ich Jedem, der dort in sommerlichen Lüften Kühlung sucht, sich von Innsbruck des Herrn Sebastian Ruf's „Chronik des Achenthales“ kommen zu lassen. Der grüne Alpenboden wird, indem die Gestalten der Landesgeschichte sich auf ihm bewegen, an Reiz gewinnen.

Jetzt gehört das einstmalige „Fürstenhaus“ dem Kloster Fiecht, dessen fromme Insassen es zu einem Gasthause umgestaltet haben. Und zwar ist dieses das besuchteste am See geworden. Der Wein ist von wahrhaft clericaler Reinheit, die Aussicht eine der schönsten und die Preise ohne ein Spur von liberalem Fortschritt. Darum findet sich auch das „Fürstenhaus“ die meiste Zeit bis zum Dachboden angefüllt.

Unter den übrigen Gaststätten stehen der „Pfandler“ und der „Karl“ bei den Reisenden in gutem Ansehen. Nicht Wenige ziehen den Aufentalt dort vor, und auch aus dem „Fürstenhause“ pilgern die Gäste gern dorthin, um der geistlichen Atmosphäre oder dem Fastenspeisetisch zu entfliehen.

Dies zur Unterrichtung für Ankömmlinge. Sehr viel Anderes sieht er sofort selbst, beispielsweise, daß er sich in einer Umgebung befindet, deren erstes Lebenselement die Jagd ist. Hierher sollte man sich des guten Gerstäcker's „Gemsjagd in Tirol“ mitnehmen und alle Tage darin lesen. Hier hat dieses Buch seinen Boden. Es wäre auch als Führer zu benutzen auf die Reitwege und zu den Jagdhäusern hinauf, zu den Höhen, von welchen aus man in die Kare des Hochgebirges, in denen die Quellen der Isar zusammenrinnen, sowie auf das ferne Eis der Zillerthaler Gletscher schaut.

Einen Umstand, der manchen Fremdling zur Pertisau ziehen wird, will ich nicht verschweigen. Die Welt wird immer bequemer, und so sei es denn gesagt, daß man nirgends bequemer in’s Gebirge hinaufgeht, als zwischen Pertisau, Hinterriß, Vereinsalpe und Mittenwald. Die Jäger hören das nicht gern, die Touristen stören ihnen das Wild. Es mird aber doch nicht Jeder mit Hunden herumziehen, Steine ablassen oder Pistolen schießen. Wir leben ja in einem Zeitalter guter Sitte. Die Reviere des Herzogs von Coburg zählen einen Stand von mehr als achttausend Gemsen. Wer da auf einsamer Wanderung keine zu sehen bekommt, sieht nirgends eine.

Diese Reitwege, zum Zwecke der Jagd gebaut, erreichen den Gipfel in weit ausgreifenden Windungen. Man spürt kaum, daß man steigt. Verhält sich die Sache auch nicht so, wie der alte Postmeister von Walchensee seinen Gästen den Steig auf den Herzogstand schilderte, nämlich „anfangs wohl ein kleines Stückl lang a bißl steil, nacher aber fast schier abwärts“, so giebt es doch keinen Mann, der auf solchem Pfade den Weg zum Blumser-Joch, in die „Eng“ oder von Hinterriß in’s Karwändelthal anstrengend fände. Zugleich sei darauf hingewiesen, daß eben das letztgenannte Thal, sowie Hinterau und Gleirsch, die alle in die Scharnitz ausmünden, ebenso leicht zu begehen als unbekannt sind. Ich habe mir in meinem „Deutschen Alpenbuch“ (bei Flemming in Glogau erschienen) alle Mühe gegeben, unseren Reisenden das klar zu machen, und Bogen darüber geschrieben. Es scheint aber nichts genutzt zu haben. So sei es denn an dieser Stelle zum Nutzen derjenigen, die etwas Großes sehen wollen, wiederholt.

Die vielberufenen Ampezzaner Dolomite haben nichts, was an Schönheit über das oberste Karwändelthal hinausginge. Es wäre leicht, da einen Dithyrambus anzustimmen. Ich verschone den Leser damit und stelle zu seiner Verfügung einige Wörter, aus denen er sich das Bild alsdann zusammensetzen mag. Solche Wörter sind: Oede, Wasserfall, Wolke, Schneereste, Nebel, Adler, Felswand, Dolomitzacken.

Es giebt keinen Theil der Alpen, welcher weniger bekannt wäre, als die Quellenthäler der Isar. Man sieht auf der Landkarte keine Wirthshäuser. denkt aber weder an die chausseegleichen Reitwege noch an die Schönheiten eines Imbisses, den man sich mitträgt, etwa unter den Schatten der Ahorne oder nahe an einen sausenden Absturz. Die Linie Pertisau-Mittenwald (sei es über Karwändelthal oder über Verein) müßte wimmeln von Sommerreisenden, wenn den Leuten das Richtige gesagt würde. Dabei sind die beiden Endpunkte gleich gemüthlich, nicht minder aber auch Hinterriß, das in der Mitte liegt. Ueber Vorderriß soll der Fußgänger nicht gehen, das breite Isarthal möchte ihm langweilig vorkommen. Wer sich in Pertisau aufhält, versäume es auch nicht, über die Lamsen nach Schwaz oder über Haller Anger in’s Salzthal zu pilgern. Aus den hunderterlei Wörtern und Ziffern der Reisebücher, die auch meist ohne Schattirung malen, kennt man sich nicht leicht aus.

Das angeführte Verhältniß muß um so mehr in Verwunderung setzen, als sich den Sommer über so viele Leute in der Pertisau aufhalten. Aber weiter als Hinterriß kommen die wenigsten. Beim Karl-Wirth, wo meistens die Jäger einkehren, geht es mitunter zu, wie in der bekannten Erzählung von Jacobs „Der Mittag auf dem Königssee“.

Der gute Jacobs würde aber wohl, wenn er statt seiner Gewährsleute einen der Pertisauer Jäger oder etwa den Oberjäger Moderecker in Mittenwald gehabt hätte, andere Sachen zu [251] hören bekommen haben, denn da ist der Wildgarten von Tirol. Was es überhaupt im Hochgebirge geben kann, kommt hier vor. Während man an der Table d’hôte im Fürstenhause, so viel aus den sich kreuzenden Schallwellen zu entnehmen ist, meist über Dinge spricht, die nicht in die Alpen gehören, und dort die Zeitung den tagtäglichen Gedankenvorrath liefert, kann der stille Beobachter in den anderen Gaststätten die Lücken seiner Kenntniß der Waidmannssprache, insbesondere der des Hochgebirges, ausfüllen lernen.

Da gellt es in die Ohren von guten Böcken, Geltgeisen, Jahrlingen und Kitzen – von Blatt und Grind, von Latschenstreifen, vom „auf haben“ und „Graben“ ausgehen – mitunter aber auch von „Lumpen“, das heißt von Wildschützen.

So belehrend es für den Neuling sein mag, dem Gespräche der Männer zu folgen, so wenig wäre es angezeigt, Unwissenheit durch Fragestellung oder andere Eingriffe zu verrathen. Nicht selten würde sich daraus einer jener Zwischenfälle entwickeln, welche während allgemeiner Dürre den Mühlen unserer Witzblätter Wasser liefern.

Die Gemse ist im Gebirge überhaupt der vornehmste Gegenstand der Touristenneugierde. Gilt dies schon für die Schweiz, wo es kläglich mit dem Vorkommen dieses Jagdthieres bestellt ist, wie viel mehr alsdann für das wildreichste Gebiet sämmtlicher Alpen!

Die Pertisau ist der beste Ort, von dem aus Gänge unternommen werden können, die den Zweck haben, der Gemse in ihrer Freiheit ansichtig zu werden.

Da war nun einmal eines Tages die Rede gewesen vom Venediger Mannl, das im Hochsee am Dalfazer Joche Fische mit goldenen Zähnen fand; vom Irdeiner See am Sonnwendjoche, der laut „billt“, wenn ein Ungewitter heraufzieht; vom Silberhannsl in der Scharnitz, der im Karwändelthale Schätze aufgrub; vom Erdbeersammler, der auf dem Stanser Joche dort abfiel, wo jetzt das Marterl steht; vom Streite der Ebener drüben mit den Goldsuchern; von den Zauberstollen am Roßkopfe. – Da fiel es einem Fremdlinge, der das für Narrethei erklärte, ein, beim stimmführenden Forstwarte anzufragen, ob es wahr sei, daß die Gemsen Wachen ausstellten.

Glücklich war also wieder einmal das unvermeidliche Thema der „Wachjemse“ angeschlagen.

„Das ist natürlich,“ entgegnete der Forstwart.

„Und die Wachen pfeifen, nicht wahr?“

„Gewiß.“

„Wie machen sie denn das?“

„Ganz einfach. Haben Sie einmal Gassenbuben in der Stadt beim Pfeifen zugeschaut?“

Und bevor der Neugierige bejahend antworten konnte, hatte der Forstwart den Zeigefinger und den Mittelfinger der rechten Hand in die Mundhöhle gesteckt. Es gellte, daß man es bis zum Ueberführer in der Buchau hätte hören können.

„Nu, schauen Sie, so machen’s die Gamsböck’, die auf der Wach’ stehen. Dazu hat ihnen unser Herrgott die gespaltenen Hufe gegeben. So stecken sie den Vorderlauf zwischen die Zähn’!“

Jetzt wußte unser Reisender, wie die „Wachjemsen pfeifen“. In Jagdbüchern steht das freilich ein wenig anders – aber der Forstwart, der muß es doch wissen.

Niemals geht ein Tourist über das Joch, ohne daß ihm sein Führer eine Gemse zeigt. Ich habe einen schlauen Holzknecht gekannt, der sich in solcher Eigenschaft, wenn einmal der Zufall in der That kein Stück zu Gesicht führte, ganz gut zu helfen wußte. Der gab an einer geeigneten Stelle seinem Begleiter – und wäre derselbe ein Consistorialrath gewesen – einen derben Schlag in die Seite und zeigte zugleich mit der linken Hand nach einer vorspringenden Felswand oder einem Graben hinter Geröllhalden. Und ehe der erschreckte Mann, der nicht wußte, wie ihm geschah, zu Wort kommen konnte, rief der Führer schier erzürnt:

„Himmelsakr…, ja bald S’ nit hinschaun! Grad is dort a Gams eini g’sprungen!“

Alles Anstrengen der Augen blieb nutzlos. Das „Gams“ wollte sich nicht mehr zeigen.

Mittlerweile hatte das zurückgebliebene Fräulein die Beiden eingeholt.

„Sieh mal, Mathilde, wie schade. Auf ein Haar hätten wir eine Gemse zu sehen bekommen!“

„Jägerisch“ geht es zu in der Pertisau. Freilich. wenn man das kleine Chronikbüchlein des oben gedachten Herrn Sebastian Ruf durchblättert, so möchte man sich schier darob wundern, wie überhaupt noch ein Stück Wild in jenen Bergen vorhanden sein kann. Denn man ersieht aus ihm, daß die Bauern, so oft irgendwo ein Rummel in der Welt los war, der ihren Drängern, mochten es Fürsten oder Aebte sein, den Athem nahm und ihnen etwas Anderes zu schaffen gab, als sich um das Achenthal und seinen Wildstand zu kümmern, sofort zugriffen. Dann gab es ein allgemeines Niederschlagen von Hirsch, Reh und Gemse. Alles wurde umgebracht. Es waren so und so viele „1848“ im Hochgebirge. Hinterher kamen dann immer wieder die strengen Verordnungen und Strafen. Gewiß mehr aber noch als diese hat dem Waidwerk die Ausdehnung der Bergwildnisse geholfen. In den unbewohnten Thälern zwischen Achensee, Isar und der Seefelder Höhe wird der Gemsbock so leicht nicht ausgerottet.

Die schönste Jagd ist freilich zu einer Zeit, wo kein Mensch in die Berge reist. Ich meine die Jagd auf den Auer- und Birkhahn. Da meine Worte nicht vermögen, ein Bild jener regen Frühlingstage zu geben, so verweise ich den Leser, den ein gutes Geschick zum Achensee führt, auf ein schönes Gemälde im gastlichen Hause des Oberförsters zu Vorderriß. Dasselbe stellt einen Hahn vor, der in dämmeriger Morgenfrühe des Maientages in die Frühlingsluft des Hochgebirges hinaus balzt. Das Bild hat die Form einer Schießscheibe und eben einer jener Malerbuben hat es gemacht, die sich noch immer zwischen Achensee und der Isar herumtreiben.

So empfehle ich die Reise in die Pertisau. Wenn der Ankömmling beim „Zigeunerbrünnl“ lagert und seinen Blick in die blaue Tiefe des Sees versenkt, oder von der herrlichen Hoch-Iß oder vom Unnutz aus (der wohl den Achenthalern ein „Unnutz“ ist, weil sie Hochgebirg ohnehin genug haben, nicht aber dem Fremdling) zugleich in die Münchener Fläche und in die Eiswelt schaut, dann wird er mir in Gedanken Recht geben, daß ich ihn auf diesen Strand als auf eine der schönsten Tiroler Sommerfrischen hingewiesen habe. Ich aber wünsche mir, um der Erinnerung in weiter Ferne nachzuhelfen, ein Bild desselben für meine Schreibstube. Ich werde es mit Edelweiß umkränzen.




Blätter und Blüthen.


Das Berliner Verbrecher-Album.

 „Ha! … hamm! hammer dich emol, emol, emol
 An dei’m verrissene Camisol,
 Du schlechter Kerl.“
 Victor von Scheffel („Gaudeamus“).

Wenn in früheren Zeiten Häscher, Waibel, Stadtsoldaten, Constabler, Polizeidiener oder wie die Greiforgane der Justiz sonst hießen, einen Uebertreter der Gesetze festnahmen, so mögen sie wohl oft triumphirend in die Tonart des oben angeführten Citats eingestimmt haben, denn es gehört nun einmal zu den berechtigten oder unberechtigten Eigenthümlichkeiten der Mitglieder der Spitzbubenzunft, sich nicht immer „kriegen“ zu lassen, im „Betretungsfalle“ aber auch nach Möglichkeit wieder zu entweichen. Wie Rübezahl seiner entflohenen Emma Blitze des Aergers nachschleuderte, so verfolgte einst der starke Arm der Gerechtigkeit den Entsprungenen durch Steckbriefe nebst dem ominösen Signalement, ein Modus, welcher in Ermangelung eines besseren auch heute noch vielfach zur Anwendung gelangt. Wie es indeß um eine solche kurze Personalbeschreibung beschaffen ist, weiß Jeder, der schon in die ernste Lage gekommen, nach einem solchen Signalement ein bestimmtes Individuum ausfindig zu machen und zu erkennen. „Blaue Augen“, „blondes Haar“, „mittlere Statur“ sind innerhalb der deutschen Grenzen nichts ungewöhnliches, und figurirt unter „besonderen Kennzeichen“ nicht wenigstens ein sichtbares Deficit an Gliedmaßen oder Sinnen, so ist mit der Rubrik nichts „besonderes“ anzufangen. Neuerdings ist aber den „schlechten Kerlen“ in der Photographie ein Feind erwachsen, der in seinen Erfolgen das beste Signalement weit hinter sich zurückläßt.

Verbrecher-Album – wer hätte je gedacht, daß das Album, jener moderne Familientempel, der in seinen Hallen nur geliebte Personen, Freunde und Geistesheroen versammelt, auch in den Dienst der Criminalpolizei treten und auf den grünen Tischen derselben, ganz wie bei uns in der guten Stube, „zur gefälligen Ansicht“ ausgelegt werden würde.

Betreten wir die melancholisch-düsteren Räume des Berliner Criminalcommissariats am Molkenmarkt, wir brauchen trotz der Inschrift über der [252] Eingangspforte zur Hölle in Dante’s „Göttlicher Komödie“ nicht jede Hoffnung hinter uns zu lassen, sind wir doch „unbescholten“, „unverdächtig“, „in Besitz der bürgerlichen Ehrenrechte“ mit welchen Eigenschaften man am „Molkenmarkte“ immerhin nach der positiven Seite noch Eindruck machen kann.

„Gallerie berüchtigter Persönlichkeiten, Bilderbuch in zwanglosen Bänden, herausgegeben von der Berliner Crimmalpolizei“, würde der Titel des vor uns liegenden Verbrecher-Albums heißen können, wenn es je auf dem Büchermarkte erscheinen sollte. Gleich den meisten Sammelwerken ist auch dieses Opus weit über den ursprünglichen Rahmen hinausgewachsen und mußte wegen Theilung der Arbeit in verschiedene Gruppen gebracht werden: A männliche, B weibliche Personen. Blättern wir in dem Album des stärkeren Geschlechts, das hier in den feinsten Standesunterschieden zur Anschauung gebracht ist. Schwindler, Fälscher, Bauernfänger, Leichenfledderer (solche, welche im Freien schlafende Personen berauben), Raufbolde, Hochstapler, Todtschläger, Kinderfreunde, Flatterfahrer (Wäschediebe), Hehler, Einbrecher, Gelegenheits-, Corridor-, Rollwagen-, Schlafstellen-, Boden-, Eisenbahn-, Taschen- und andere Diebe, Ueberziehermarder, Räuber, Mörder, Schmieresteher (Aufpasser) – eine feine Familie! Es ist ein weit verbreiteter Irrthum, daß der Verbrecher an irgend einem „Kainszeichen“, verstörtem oder furchterregendem Aussehen zu ernennen sein soll. Wir finden unter den circa zweitausend Photographien treuherzig und harmlos dreinschauende, oft schöne Männer, von denen man wohl eine größere Vertrautheit mit der Feder oder dem Pinsel, als gerade mit Brechstangen, Centrumsbohrern und Dietrichen voraussetzen könnte.

Jener noble Herr im modernsten Promenadenanzug, Klemmer und kunstgerecht gedrehtem Schnurrbart hat den Anschein, den besten Kreisen anzugehören, und doch ist es einer der schwersten und gefürchtetsten Einbrecher und Todtschläger; dieser Jüngling mit der Schülermütze könnte soeben das Abiturientenexamen abgelegt haben, wenn er nicht wegen Raubes auf offener Straße eine Reihe von Semestern – Zuchthaus hinter sich hätte. Eine auffallende Persönlichkeit ist „der Mann ohne Nase“; an der Stelle, wo andere Sterbliche das Riechorgan haben, befindet sich bei dem Verbrecher ein häßliches, entstellendes Loch, das als „besonderes Kennzeichen“ treffliche Dienste leisten würde, wenn der Betreffende es nicht verstünde, die Natur zu corrigiren; auf einem zweiten Bilde erscheint er mit einer prächtigen, von einer Brille gehaltenen künstlichen Nase, die den Träger kaum wieder erkennen läßt. Daß der Bösewicht „mit Nase“ und „ohne Nase“ je nach Befinden „arbeitet“, braucht wohl kaum gesagt zu werden. Wir sehen ferner würdige Greise in Silberhaaren, fromme Apostelköpfe, imponirende Patriarchen, Cavaliere, langgelockte Jünglinge mit Sammetröcken, Biedermänner, Ritter hoher (selbstverliehener) Orden, uniformirte Pseudobeamte – Alles Hyänen, Tiger und Wölfe in Schafskleidern. Allerdings fehlt auch das skophulöse Gesindel nicht, schlechtgenährte Gestalten, die ihren Beruf kaum verfehlt haben, niederträchtigen Blickes, in kurzem Haare und – rasirten Gesichtern. Letzteres ist meist eine kleine Erinnerung an den Aufenthalt im Zuchthause, da dort bekanntlich die Toiletten- und Bartfrage in der einfachsten Weise gelöst wird.

Wenden wir uns jetzt zu dem ewig Weiblichen; auch hier die übersichtlichste Classificirung. Schwindlerinnen, Hochstaplerinnen, Taschen-, Schlafstellen-, Omnibus-, Theater- und Eisenbahndiebinnen. Die Wahrheit des alten Sprüchworts: Gelegenheit macht Diebe, scheint in der überraschend großen Zahl von Ladendiebinnen zum Ausdruck zu kommen; wir begegnen darunter Damen, die thatsächlich geachtete Lebensstellungen einnehmen, trotzdem aber an Kleptomanie (entschuldigendes Fremdwort für Hang zum Stehlen) leiden.

Aus der Gallerie bildschöner Mädchen und Frauen in den geschmackvollsten Roben, mit Schleier, Pincenez und vielknöpfigen Handschuhen mögen nur einige besondere Erwähnung finden. Da ist eine junonische Gestalt mit gefährlichen Augen, die nach ihren Antecedentien die „Hochzeiterin“ heißt. Die Dame übt nämlich die seltene Gewohnheit, in gewissen Zeitabschnitten in den verschiedensten Stadtgegenden mit ihrem „Bräutigam“ (unverfängliche Bezeichnung für eine überaus gefährliche Species von Verbrechern) aufzutauchen, um in der neugemietheten reizenden Wohnung – Polterabend zu feiern. Die angeblich soeben vom Standesamt kommenden Liebesleute empfangen aus befreundeten und gesinnungstüchtigen Kreisen reiche Geschenke der seltensten und wunderlichsten Art, leicht transportabel und verkäuflich. Ein halbes Dutzend goldene Uhren, eine Schachtel Ringe und Ketten, ein Taschentuch voll silberner Löffel, Messer und Gabeln in den verschiedensten Mustern und – Monogramms, Kleiderstoffe für mindestens hundert Personen, feine Wäsche mit ausgetrennten Namen, ein Faß Butter, Säcke, gefüllt mit Kaffee, Zucker, Seife, Räucherwaren und andern Scherzartikeln, sodaß die für das glückliche Paar angeblich eingerichtete Hütte schließlich ein dicht gefüllter Gabentempel ist. Daß das Ganze eine Komödie, die Hochzeitsgeschenke sämmtlich gestohlen sind, die Wohnung ein Hehlernest ist, alle Festgenossen trotz ihrer weißen Binden eitel Einbrecher und Spitzbuben, kennt man in eingeweihten Kreisen nur zu genau. Die Partie geht, wie immer, zurück, Gold- und Silberwaaren, Teppiche und Stoffe werden deshalb zu Schleuderpreisen verkauft – wenn nicht die Criminalpolizei Kehraus macht.

Wie kommen jene zwölf- bis dreizehnjährigen Mädchen in das Verbrecher-Album? Sie wurden wiederholt dabei betroffen, als sie kleinen Kindern im Hausflur die Ohrringe abnahmen, jedenfalls ein bedeutsamer Anfang auf der Bahn des Bösen. Eine preisgekrönte Schönheit in ganzer Figur, edlen Formen und gewählter Toilette erregt das Interesse jedes Unbefangenen, die schwärmerischen Augen, die feingeschnittene Nase und das zierliche Mündchen können nur einem „Ideale“ angehören, jene zarten Hände greifen gewiß nur in die Tasten des Coucertflügels … Welche Täuschung! Die vielbewunderte Dame ist ein – Mann, der sein gefälliges Aeußere zu Räubereien und anderen Schandthaten benutzt.

Es entsteht die Frage: Wem wird die zweifelhafte Ehre zu Theil, in das Verbrecher-Album aufgenommen zu werden? Allen Personen, von denen die Behörde annimmt, daß sie mit hoher Wahrscheinlichkeit nach ihrer Bestrafung das Verbrechen in Berlin oder außerhalb der Stadt fortsetzen. Unser Strafsystem würde indeß eine herbe Kritik erfahren, wenn sämmtliche „Albumler“ die Wahrscheinlichkeit zur Gewißheit machten. Viele der hier conterfeiten Personen haben nach gesühnter That längst den Pfad des Guten wieder betreten und sind tüchtige Mitglieder der menschlichen Gesellschaft geworden; daß sie trotzdem in der Gallerie weitergeführt werden, ist ein bedauerlicher, aber unvermeidlicher Uebelstand. Aus diesen und anderen Gründen ist das Verbrecher-Album Unberufenen verschlossen. Kein Portrait zeigt einen Namen, und die Sammlung wird nur denjenigen Personen vorgelegt, die an der Ermittelung eines Missethäters gegründetes Interesse haben. In solchen Fällen rief schon mancher von Bauernfängern arg gerupfte Provinziale oder sonstwie Betrogene und Geschädigte sein „Heureka“ (Gefunden)!

Das Album versagt seinen Dienst selten und wird zum Schrecken der Verbrecherwelt ein öffentlicher Angeber. Von welcher Bedeutung es für die allgemeine Sicherheit ist, möge die Thatsache erhellen, daß durch diese Photographien jährlich circa 200 „Gesuchte“ ermittelt werden. Zwischen verschiedenen auswärtigen und den Berliner Behörden findet ein Austausch eigens angefertigter Doubletten statt, ja man beschenkt sich gegenseitig mit Albums in Taschenformat, welche auserlesene „Specialitäten“ enthalten. Wo immer ein großer Menschenzusammenfluß stattfindet, bei Sänger-, Turn-, Schützenfesten, Messen etc., trifft die ortsangehörige Polizei ihre Vorbereitungen zum Empfang ihrer oft angemeldeten Gäste, das heißt Spitzbuben, und veranlaßt die Beamten zu eingehenden Studien im Fest-Album; daß sich hieran manche für den Ankömmling unerwünschte Erkennungs-, Begrüßungs- und „Schub“-Scene knüpft, spricht eben wieder für die Wunderkraft des Bilderbuches. Brauchbarkeit und Erfolg des letzteren hängen wesentlich von der Qualität und Herstellung des photographischen Portraits ab, mit welcher Aufgabe die bekannte Firma Zielsdorff und Adler seit dem achtjährigen Bestehen des Albums betraut ist.

Nur wenige der Photographirten unterschätzen die Tragweite der Aufnahme, die meisten wissen vielmehr recht genau zu beurtheilen, welche Consequenzen das Stillsitzen vor der Camera obscura nach sich zieht. Man hat beobachtet, daß das weibliche Geschlecht der Procedur nicht die geringsten Schwierigkeiten entgegensetzt. Jung und Alt wird sichtlich von der Eitelkeit bewegt und sucht sich in der vortheilhaftesten Stellung und mit dem brillantesten Augenaufschlag verewigen zu lassen; mögen doch unter den Vorgeführten manche sein, welche nicht zum ersten Male ein photographisches Atelier betreten und ihre Erfahrungen im „Sitzen“ hier gern zur Anwendung bringen.

Anders gestaltet sich der criminal-künstlerische Act bei dem starken Geschlecht; ein bestimmter Procentsatz fühlt sich geehrt, hält still und läßt sich ruhig und stolz abnehmen, als wäre das Bild für die Mutter oder Braut bestimmt. Gewiegte Verbrecher versuchen aber mit allen nur denkbaren Mitteln die bildliche Fixirung zu verhindern oder das Resultat fragwürdig zu machen. Da geht es denn nicht ohne erheiternde Scenen und komische Zwischenfälle ab.

Einige Renitente blasen die Backen auf und verdrehen die Augen, andere machen lange Gesichter, runzeln die Stirn, wackeln mit der herausgesteckten Zunge, „rümpfen“ die Nase oder verzerren in unglaublicher Beweglichkeit die Muskeln. Oft müssen die begleitenden Beamten das „Object“ beim Schopf nehmen, um es „mit Gewalt“ photographiren zu lassen. Das Resultat derartiger Zwangsmaßregeln ist denn auch ein sehr komisches, so erscheinen auf den Bildern dreier des Diamantendiebstahls und der Beraubung eines Cassenbotens bezichtigter englischer Hochstapler an Schultern, Armen, Brust und Schenkeln eine Menge kräftiger, festhaltender Hände, deren Eigenthümer zweifellos die ganze Bedeutung des Scheffel’schen „Hammer dich emol, an dei’m verrissene Camisol“ ermessen mögen.

Die Gauner verziehen trotz alledem das Gesicht in der fabelhaftesten Weise, sodaß das Bild von zwerchfellerschütternder Wirkung ist. In besonderen hartnäckigen Fällen wird dieses Fest- und Abnahmeverfahren eingestellt, man bringt den Verbrecher im Laufe eines Gesprächs in die erwünschte Stellung und benutzt den geeigneten Moment zur Anfertigung eines Augenblicksbildes, was bei dem heutigen Standpunkt der Technik und unter Anwendung der Trockenplatte keine Schwierigkeiten darbietet. Ganz „gerissene“ Gauner wissen auch diese Procedur zu vereiteln und meiden jede für eine etwaige Augenblicksaufnahme geeignete Situation, sie entgehen ihrem Schicksal aber doch nicht, denn in der nächsten gerichtlichen Verhandlung, in welcher der photographiescheue Spitzbube ausnahmsweise in vortheilhaftes Licht gesetzt wird, sitzt an dem grünen Tische neben dem Schreiber vor einem Haufen Acten ein eifrig arbeitender Herr (Portraitzeichner), dem der Inculpat diesmal nicht entschlüpft, das Bleistift- oder Kreidebild wird photographisch vervielfältigt und der „schlechte Kerl“ klebt im Verbrecher-Album. Gustav Schubert. 




Kleiner Briefkasten.

B. L. in Frankfurt am Main. Die Gerüchte, daß die Nordamerikaner die in Deutschland zu Gunsten der amerikanischen Ueberschwemmten angeregten Sammlungen als unnöthig abgelehnt hätten, beruhen auf Irrthum. Der Präsident der Vereinigten Staaten hat vielmehr in einem Schreiben an die Herren Brasch und Rothenstein „allen denjenigen Deutschen, deren Sympathien für die amerikanischen Nothleidenden sofort und im rechten Augenblicke erweckt wurden“, seinen „tief gefühlten Dank“ ausgesprochen. Lassen Sie sich also durch die erwähnten Gerüchte nicht beeinflussen und senden Sie Ihren Beitrag unverzüglich an die Firma Brasch und Rothenstein in Berlin, Friedrich-Straße 78.

H. L. Th. in Wingen bei Lembach. Unsere briefliche Antwort kam als unbestellbar und mit der Frage zurück: Welches Lembach?

Henrica M. Die Adresse lautet: Pastor L. G. in Hannover.



Unter Verantwortlichkeit von Dr. Friedrich Hofmann in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Staatlich besoldete Priester, welche die Zukunft voraussagten.
  2. Tische aus Citrusholz, mit einem elfenbeinernen Fuße.