Die Gartenlaube (1887)/Heft 51

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1887
Erscheinungsdatum: 1887
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 51.   1887.
      Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig oder jährlich in 14 Heften à 50 Pf. oder 28 Halbheften à 25 Pf.



Jascha.

Von W. Heimburg.

In einer kleinen Stadt, von köstlichen Wäldern umgeben, finden Mädchen von fünfzehn bis achtzehn Jahren im Hause einer hochgebildeten Frau Pension. Fern von dem Getriebe der Großstadt bietet der Aufenthalt, neben Unterricht in Litteratur, Konversation und Musik, den jungen Mädchen die reinsten Freuden einer schönen Natur, eines harmonischen Zusammenlebens und die vollste Gelegenheit, in der ozonreichen Luft ihre Gesundheit zu kräftigen. Bedingungen, Referenzen etc.“

Man muß nun nicht an eine Pension denken, wo man noch auf den Schulbänken zu sitzen pflegt; wir waren sämmtlich erwachsen, zwei von uns bereits verlobt – Lene Beckenschild und ich. Aber darum konnten wir doch alle die Wohlthaten vertragen, welche die obige Annonce verhieß; und das Zusammensein mit fröhlichen gleichalterigen Genossinnen, die gütige Fürsorge der liebenswürdigen Vorsteherin und die erfrischende Waldluft stählten Geist und Herz für künftige schwere Zeiten. Ich spüre noch heute den Segen jener harmlosen köstlichen Jahre, die ich bei Frau Doktor Degenhardt verlebte. Und wie oft noch bin ich Nachts im Traum in jenem großen alten Hause, in seinen geräumigen trauten Zimmern, in dem schattigen Garten, der es umgab!

Mehr als zwölf Pensionärinnen nahm Frau Doktor nie; einmal nur wurden wir auf kurze Zeit – dreizehn. Auf kurze Zeit – es war so traurig! Man sollte wohl traurige Geschichten nicht erzählen; und doch, sie, von der diese Zeilen sprechen, war es wohl werth, daß man ihrer gedenkt. Und heute, wo wiederum der Herbst da ist und die Blätter fallen, gedenke ich ihrer so recht lebhaft und jenes Septembers, da ich ihr nahe treten konnte.

Des Augenblicks, als sie zu uns kam, erinnere ich mich noch so deutlich! Wir saßen alle Zwölf im Saal, ganz verschieden beschäftigt; es war einer der Tage, an denen bei Strafe kein Wörtchen Deutsch gesprochen werden durfte, und Mademoiselle Cecile, die hübsche lebhafte Französin, schwang heute ihr Scepter: die Engländerin saß stumm am Ofen – es war im März – und nähte points lace für einen jener großen altmodischen Kragen, die sie beständig über dem Kleide zu tragen pflegte; sie sah mißmuthig aus und fröstelte. Frau Doktor las uns Etwas vor. Was? – Das habe ich heute vergessen. Auf einmal scholl schmetternd ein Posthorn herauf, ein Wagen rasselte über das Pflaster, und Mademoiselle, die an das Fenster geeilt war, schrie: „Mon dieu, quelle surprise, une visite pour notre maison – voilà madame.

Wahrhaftig! Schon nach ein paar Minuten stürzte

Georg Daniel Teutsch. Bischof der evangelischen Landeskirche A. B. in Siebenbürgen.

[842] Johanne in das Zimmer mit einer Karte, ob Frau Doktor die Damen empfangen wolle.

Frau Doktor befahl, dieselben in ihr Zimmer zu führen, und nun saßen wir da, neugierig wie die Spatzen, denn ein Besuch per Extrapost war für unser sehr stilles Leben immerhin ein Ereigniß. Mademoiselle, die ebenfalls an Wissensdrang litt, lootste Johanne herein.

„Was ist’s?“ fragte sie.

„O, furchtbar fein!“ erwiederte das lustige Stubenmädchen, „die alte Tante im Sammetpelz, und die junge -“

„Eine junge? Sie soll wohl in Pension hier?“

„Noch Eine?“

„Nein, das geht nicht!“

„Das könnte uns fehlen! Wir sind ja schon zwölf!“ klang es durch einander.

„Dreizehn? Das bringt Unglück!“ meinte unsere Jüngste, die blonde Liddy.

„Das brauchen wir nicht zu leiden!“ erklärte Dora von Lindenberg.

Wir waren vor lauter Aufregung in unser geliebtes Deutsch zurückgefallen und sprachen durch einander, abermals wie die Spatzen, wenn sie Morgens erwachen.

„Wie heißen sie denn, Sie hatten ja die Karte, Johanna?“

„Frau Landrath von Ponianska nebst Enkelin,“ rapportirte das Mädchen und zog sich eilends zurück, denn die Glocke schellte aus Frau Doktors Zimmer

Ja, was würde es nur werden? O, Frau Doktor wird sie nicht nehmen, darin waren wir einig. Aber, siehe da, wir hatten uns geirrt, die Frau Landrath im Sammetpelz bestieg allein die Extrapost und fuhr mit dem Abschiedsgruß des Posthorns zum Städtchen hinaus, und bei der Abendtafel ward uns eine neue Hausgenossin, Numero dreizehn, vorgestellt und fand ihren Platz neben Frau Doktor, die liebreich und freundlich mit ihr sprach.

Sie war ein schlankes Mädchen von siebzehn Jahren. Ihre blonden Haare trug sie in einem festen Knoten am Hinterhaupte und so fest zusammengenommen, daß man nicht ahnen konnte, welch eine Fülle goldiger Wellen er barg. Auf der niederen mattweißen Stirn krausten sich ein paar schimmernde Löckchen, die wunderbar genug abstachen gegen die dunklen Brauen, welche sich über ein Paar tiefliegenden großen Augen wölbten, Augen, die in dieses Frühlingsgesicht gar nicht hinein zu gehören schienen: so traurig blickten sie in die Welt. Wenn die etwas schweren Lider gesenkt blieben, glich das schöngeformte Antlitz dem eines Kindes: so weich war der Zug um den schwellenden kleinen Mund, so thaufrisch die bleiche Haut, so zart die Rundung der Wangen. Hoben sich die Wimpern, so sagten die eigenthümlich grauen Sterne von Leid und trüber Erfahrung mit wahrhaft erschreckender Beredtsamkeit. Sie hieß Jascha im Institut; sie sprach das Deutsche mit einem eigenthümlichen Accent; ich hörte ihr weiches rollendes Zungen-R unendlich gern. Sie brachte es ohne jegliche Mühe hervor und wurde uns „sprachfaulen“ Andern, die so gern das R völlig ignorirten, in der Folge von dem alten Doktor Just als Muster aufgestellt. Der alte Mann konnte völlig in Begeisterung gerathen, las die weiche klingende Mädchenstimme eine Ballade. „Das ist Musik, liebstes Fräulein Jascha, Musik, meine Damen! Achten Sie auf dieses:

‚Hart stößt es auf am Strande –‘

Sie hören förmlich, wie der Uferkies knirscht, wie das Boot sich heran schiebt. Sie würden sämmtlich lesen: ,Hat stößt es auf am Stande‘ –“

Doktor Just blieb in der Folge so ziemlich der Einzige, der Jascha Ponianska Wohlwollen entgegentrug, uns blieb sie fast fremd, den Lehrerinnen auch, und der Frau Doktor, die sich sonst binnen wenigen Wochen die Herzen, auch der Sprödesten unter uns, zu gewinnen wußte, so daß wir sämmtlich mit schwärmerischer Begeisterung an ihr hingen, wollte dieses eine sich nicht zuwenden.

Jascha war stets ruhig; niemals gab ihr Benehmen zum Tadel Anlaß, nie aber that sie auch nur einen Schritt aus dieser Reserve heraus, und unsere für die Ewigkeit geschlossenen schwärmerischen Mädchenfreundschaften, das Raunen und Wispern, das herzerquickende Lachen, das Wichtigthun mit wirklichen oder eingebildeten höchst unschuldigen Geheimnissen, die kleinen muthwilligen Streiche, die wir ab und zu verübten, waren Dinge, für die sie kein Verständniß, nach denen sie kein Verlangen zu haben schien. Wir gaben es daher bald auf, sie für uns zu gewinnen, nannten sie „den polnischen Eiszapfen“ – sie kam aus der preußischen Provinz Posen – und kümmerten uns nicht mehr um sie als um ein Bild an der Wand.

Wenn wir in dem Pensionsgarten umhertollten, pflegte sie – denn hinaus mußte sie mit, um nach Vorschrift frische Luft zu genießen – an dem kleinen Weiher zu sitzen und in das Wasser zu starren, ein recht häßliches unheimliches Wasser, von dem die Sage ging, daß es keinen Grund habe. Es gehörte nicht mehr zu unserem Territorium, es lag bereits auf fürstlichem Gebiet, in dem verwilderten Park, der das Jagdschloß umgab, hier an die Gärten des Städtchens grenzte und nach jenseits in die Wälder überging, die sich meilenweit ausbreiteten. Und just hier hatte die hohe Buchenhecke unseres Gartens eine Lücke, und die Zweige schlugen manchmal über irgend eine helle Gestalt zusammen, wenn es Einer von uns gelüstete, dort am Weiher Vergißmeinnicht zu pflücken oder ein paar Wasserrosen, mit denen Ufer und See überreich geschmückt waren.

Nun, dort pflegte Jascha zu sitzen und wir ließen sie, denn sie war uns die Langweiligkeit in Person. Und Lotte von Dahlen, die mit ihr dasselbe Zimmer bewohnte, erklärte ganz offenherzig: es sei zum Verzweifeln, sie halte es nicht länger aus und werde Frau Doktor Degenhardt bitten, ihr eine andere Stube anzuweisen, sie habe nicht Lust, sich todt zu mopsen, wenn wir rechts und links in den Nebenstuben scherzten und kicherten.

Eines Tages, es war mittlerweile Hochsommer geworden, berathschlagten wir im Garten über die lebenden Bilder, die wir zu Frau Doktors Geburtstag stellen wollten, und da wir nothwendig noch eine Person gebrauchten für Vautier’s Tanzstunde und sie, nachdem sie uns ein Weilchen erstaunt angesehen ob dieser Zumuthung, den Kopf schüttelte und sagte: „Ich danke, ich möchte aber lieber nicht mitspielen, ich passe nicht dafür,“ brach bei uns Allen der Unmuth aus.

„Ja – nein – wie Sie wollen!“ – wir nannten uns mit Jascha „Sie“, gegen allen Komment – sei das Einzige, was diese polnische Prinzessin von sich gebe, erklärte Lotte, aber dafür weine sie sehr oft die halben Nächte hindurch, daß man kein Auge zuthun könne, und wenn man sie dann frage, was ihr fehle, schweige sie, oder es komme ein sanftes „O parrdon, störrte ich Sie? Ich habe wohl im Traume geweint. ich träume oft so schwer.“

„Und kurz und gut,“ schloß die niedliche Brünette und hob die schlanke Hand wie zum Schwur, „ich sage Euch, ich will nicht länger mit ihr wohnen, und wenn es Frau Doktor nicht auf meine Bitte ändert, so werde ich mich an Papa wenden, der wird schon dafür sorgen, daß –“

Wir standen alle Elf im Kreise um die Sprecherin – Numero Dreizehn, Jascha Ponianska, saß schon wieder am Weiher außer Hörweite – und waren sämmtlich einer Meinung mit Lotte von Dahlen. „Sie kann ja allein schlafen!“ fügte sie eben noch hinzu.

„Das wird sie nicht, Charlotte!“ scholl da die Stimme der Frau Degenhardt plötzlich in unsere Ohren. Blitzschnell hatten wir Front gemacht und sahen unsere vergötterte Pensionsmutter mit recht verlegenen Gesichtern an.

„Du, Charlotte,“ sagte diese mild, aber bestimmt, „wirst Dein Bette mit Mary tauschen, ich hoffe, sie wird duldsamer sein.“

Aller Blicke hatten sich nach mir gewendet bei Nennung meines Namens. Ich stand fast bestürzt da, und meine Augen füllten sich mit Thränen, es war so wunderschön gewesen bisher mit meiner geliebten Dora in einem Zimmer, und nun sollte das plötzlich Alles vorbei sein? Das heimliche Schwatzen von Bett zu Bett, wenn der Mond verstohlen ins Fenster blickte, das Ausmalen künftigen Glückes, die heimliche Lektüre unseres interessanten Romans, den wir uns bei einem Stearinnachtlichte mit gedämpfter Stimme vorlasen. Wir waren ja just in der Mitte und so recht in der spannendsten Verwickelung: wie sollte ich nun erfahren, was aus Leonore von Rothsattel würde in Freytag’s „Soll und Haben“?

Dora warf mir einen traurigen Blick zu, ich senkte den Kopf und unterdrückte ein Schluchzen, zu widersprechen wagte ich nicht.

„Geh jetzt, Mary,“ klang abermals das milde Organ unserer Vorsteherin, „und setze Johanna von dieser Aenderung in Kenntniß. Ich verlasse mich darauf, daß es freundlich geschieht, ich kenne ja Dein gutes Herz.“

[843] Ich machte eiligst Kehrt, warf mich außer Sehweite auf eine Bank, schluchzte mehrere Minuten lang inbrünstig ob dieser Tyrannei und ging dann in düsterer Stimmung dem Weiher zu, an dem ich Jascha zu suchen hatte.

Richtig, da saß sie. Ich betrachtete sie ein Weilchen von diesseit der Buchenhecke. Sie hatte die Hände im Schoß gefaltet und sah über die kleine Wasserfläche hinweg in die dichte Wirrniß der Bäume, durch welche nur hier und da der glühende Schimmer des Abendroths leuchtete. Es herrschte ein gedämpftes rosiges Licht, und rosig flimmerte es aus dem sonst so finstern Wasser zurück und wob sich rosig um das sonst so blasse Gesicht Jascha’s. Sie trug ihr blaues einfaches Wollkleid wie alle Tage und das schwarze Sammetband um den schlanken Hals, daran leise bebend ein goldenes Kreuz mit Türkisen besetzt hing, ohne welches ich sie noch nie erblickt hatte. Unbeweglich verharrte sie so, sie schaute sich auch nicht um, als ich mich durch die Hecke drängte und zu ihr hinüber schritt. Erst als ich sprach, blickte sie auf, und so sehr wirkten diese traurigen Augen auf mich, daß ich die mißmuthige Art meiner Anrede, welche ich beabsichtigt hatte, unterließ und nur sagte:

„Wir werden zusammen wohnen – von jetzt ab; ich soll es Ihnen mittheilen.“

„O, Sie sind sehrr freundlich!“ erwiederte sie, sich erhebend.

Wir standen dann eine ganze Weile stumm neben einander. Ich wußte Nichts mehr zu sagen, sie offenbar auch nicht. Endlich machte ich eine Bemerkung, daß der Platz hier sehr hübsch sei.

„O, err ist es!“ erwiederte sie, „es ist so friedevoll hierr.“

Dann wieder Pause; das Läuten der Eßglocke klang uns wie erlösend. Ohne ein Wort schlugen wir den Weg durch die Buchenhecke ein und folgten den Andern nach, die eben durch die Gänge eilten. Ich biß plötzlich die Zähne zusammen, vor uns flatterten aus dem Gebüsch wie ein Paar zärtlicher Vögelchen – Dora und Lotte; sie hielten sich um die Taillen gefaßt und schienen ein Herz und eine Seele. O, sie würde mich nicht einen Augenblick vermissen, die Falsche!

Von einem plötzlichen Impuls getrieben, legte ich meinen Arm in den Jascha’s, und ein gezwungen heiteres: „Wartet doch!“ rufend, erlangte ich, daß sich jene beiden umsahen und mich Arm in Arm mit Jascha erblickten.

Das Mädchen hatte meine Annäherung hingenommen, ohne sich zu sträuben, aber auch ohne sie zu erwiedern, sie hielt so höflich ihren Arm gebogen, wie ein schüchterner Jüngling auf dem ersten Ball. An der Hausthür angelangt, trat sie zurück und ließ den Arm sinken. Dora bemerkte es und lachte, und dieses Lachen brachte mich zu dem Gelöbniß, Jascha Ponianska näher zu kommen und sie womöglich als Freundin zu erobern. Aber das schien leichter, als es sich in Wirklichkeit erwies.

Als wir zusammen in das für mich neue Schlafzimmer traten, schickte ich mich zu der bewußten Eroberung an. Ich hatte bereits überlegt und beschlossen, sie feierlich anzureden, das heißt, mit der Thür ins Haus zu fallen, ihr zu sagen, da uns das Schicksal einmal zusammengeführt, wollten wir uns doch ferner nicht mehr so fremd gegenüber stehen, sondern versuchen, uns einander anzuschließen und verstehen zu lernen etc. Ich, als die um ein halbes Jahr Aeltere, die ich nur in der Pension verblieben war, weil mein alter Großvater – meine Eltern waren längst verstorben – fürchtete, daß sein Haus nicht der rechte Platz für ein junges, lebenslustiges Mädchen sei: ich, die heimlich verlobt war mit meinem Vetter Robert, der in zwei Jahren aus Rio zurückkehren würde, um das Geschäft seines Vaters in Hamburg zu übernehmen und mich dann heimzuführen; ich, die ich von Frau Doktor Degenhardt auf Großvaters Wunsch seit einem halben Jahre behandelt wurde wie eine völlig erwachsene Dame, ich konnte das thun; von der Aelteren muß ja stets die Anregung zur Vertraulichkeit ausgehen.

Es war eine warme Julinacht. Der Mond strahlte in das trauliche Gemach und zeigte die schneeweißen Bettvorhänge und einfachen Möbel in fast tagheller Beleuchtung. Jascha begann ihre Nachttoilette sofort, ich setzte mich angekleidet auf einen Stuhl an das offene Fenster und sah ihren Bewegungen zu, sie hatten etwas Langsames, Müdes, ohne der Grazie zu entbehren. Sie kam jetzt in ihrem leisen Schritt herüber und trat vor den Spiegel zwischen den beiden Fenstern, also in meine nächste Nähe; sie sah nicht in das Glas hinein, es mochte dieses Hintreten ganz mechanisch geschehen. Sie hob die beiden schlanken Arme, von denen die weißen weiten Aermel des Frisirmantels weit zurückfielen, zum Hinterhaupt empor und löste ihr Haar.

„Jascha,“ fing ich resolut an, dann verstummte ich, sie hatte, wie erschreckt über diese Anrede, den Kopf nach mir gewandt, und ihr Anblick, das blasse junge Gesicht mit den großen Augensternen, jetzt von einer wahren Goldfluth umwallt, die fast märchenhafte Schönheit dieses Mädchens wirkte so verblüffend auf mich, daß mir die Worte versagten.

„Sie riefen mich? Ja?“ fragte sie leise.

„Ich sagte – ich wollte –“ stotterte ich –. Meine schwungvolle Rede war vergessen, sie kam mir dumm und gesucht vor. Ich meinte plötzlich, daß ich warten müsse, bis dieses Herz sich mir freiwillig zuwende, daß es unzart sei, sich diesem Mädchen aufdrängen zu wollen, aus dessen Blicken ein auf Lebenserfahrung deutender Ernst sprach, der es um Vieles reifer machte, um Vieles höher stellte, als mich, die Aeltere, Unbedeutendere.

„Ist es Ihnen auch nicht störend, daß ich nun hier mit wohne, daß –“ begann ich endlich.

„Aber, ich bitte sehrrr!“ antwortete sie, und ich konnte bemerken, wie ein dunkles Roth über ihr Gesicht floß. Sie bückte sich rasch, nahm den Kamm auf, der ihr entglitten war, und begann die mächtigen Haarwellen zu durchkämmen.

„Setzen Sie sich,“ bat ich, „Sie haben so starkes Haar, es ist unmöglich, daß Sie es allein einflechten.“

„O, Sie sind sehrr freundlich; ich danke, ich thue es stets allein, jetzt. Früher –“

Sie brach ab, indem sie mir wehrte.

„Früher?“ sagte ich unwillkürlich.

„Meine Mut – –“ Diesmal wurde das R nicht ausgesprochen, das Wort blieb unvollendet. Es war, als sei es in einem Aufschluchzen erstickt.

„Jascha,“ fragte ich weich, „ist Ihre Mutter auch todt?“

„Todt!“ wiederholte sie wie abwesend. „Ja, ja!“ stieß sie dann hervor, „sie ist todt.“ Und die Hand, die den Kamm hielt, winkte heftig und abwehrend zu mir hin, als sollte ich schweigen. Eben so hastig barg sie das Haar in einem Netz, eilte ins Zimmer zurück und rüstete sich vollends zum Schlafen. „Gute Nacht!“ klang es gedämpft in mein Ohr. Im nächsten Augenblick lag sie in ihrem langen weißen Nachtkleide vor dem Bette auf den Knieen, die Hände gefaltet, den Kopf gesenkt, und betete.

Merkwürdig lange dünkte es mich, die ich, aus Besorgniß, sie zu stören, keinen Schritt zu thun wagte. Erst als sie sich niederlegte, suchte ich auch mein Lager auf. Schlafen konnte ich nicht, mir war hier Alles fremd, das Bett stand anders als drüben und Jascha’s Gesellschaft kam mir unheimlich vor. Ich wagte einen Blick zu ihr hinüber – sie lag dort, die Hände gefaltet über der Brust, die Augen geschlossen, wie man Todte zu lagern pflegt; ich hörte sie nicht einmal athmen; sie veränderte auch ihre Stellung nicht innerhalb der nächsten Stunden, während welcher ich vergeblich den Schlaf suchte, immer, wenn ich zu ihr hinüber sah, lag sie noch so.

Ich begann, mir allerhand wunderliche Sachen auszudenken in der Stille der Nacht, und alle drehten sich um Jascha. Je öfter ich hinüber sah, desto unheimlicher erschien mir diese unbeweglich ruhende Gestalt. Rasch klopfte mir das Herz, die Luft in dem Raum dünkte mich unerträglich schwül; ich zählte die Schläge der Thurmuhr, der immer gleich die Dielenuhr im Hause folgte, es war ein sonderbarer Zustand zwischen Schlafen und Wachen. Dann sah ich, wie Jascha sich plötzlich im Bett erhob und gleich darauf in ihrem langen Kleide durch das Zimmer wandelte, und ich konnte mich vor herzklopfender Angst nicht bewegen. Mir fielen schreckliche Geschichten ein von nachtwandelnden Personen, das Grauen kroch mir durch den ganzen Körper, und ich fühlte, wie mir die Zungenspitze so merkwürdig schwer im Munde lag.

Sie war an ihre Kommode gegangen, zog leise, ganz leise den Kasten auf und nahm Etwas heraus; in der nächsten Minute saß sie am Fenster, schob den Vorhang ein wenig zur Seite, und den Kopf tief herniederbeugend, schien sie in dem blassen Mondlicht etwas zu lesen. Nun, nachtwandelnde Personen – dachte ich mir – lesen nicht, wie ein Alp fiel es mir von der Brust; und sie schreiben auch nicht, und Jascha that es jetzt. Ich hörte deutlich das Kratzen ihrer Feder und nun auch ein leises Schluchzen; ich sah, wie sie mit der Hand an die Augen fuhr und dann hastig

[844]

Weihnachten im Verein.
Originalzeichnung von Fritz Bergen.

[845] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [846] weiterschrieb. Wohl eine halbe Stunde dauerte es, dann zerriß sie ein Papier, es machte Geräusch und sie blickte unwillkürlich zu mir herüber. Als ich mich nicht rührte, fuhr sie bedeutend vorsichtiger fort im Zerreißen.

„Jascha!“ rief ich plötzlich, „was thun Sie denn?“

Sie schrak empor, aber sie antwortete nicht.

„Warum sind Sie nicht im Bette?“ fuhr ich fort. „Sind Sie krank, oder – ?“

Sie kam herüber zu mir, die Papierfragmente noch in der Hand. „Verzeihen Sie – ich schrieb –“

„Ja, aber wie drollig, in der Nacht?“ warf ich unbarmherzig ein. „Wir haben doch wahrhaftig tagsüber Zeit dazu in Fülle!“

Sie entschuldigte sich nicht, sie stand wortlos mit gesenktem Kopfe, und ich sah, wie eine Thräne über die Wange floß.

„O Jascha, weinen Sie nicht,“ bat ich gerührt, „schreiben Sie, so viel Sie wollen –.“

Sie hob stolz den Kopf. „Ich weine nicht mehr, Miß Mary; bitte, glauben Sie mirr, ich thue nichts Unrechtes.“

„Davon bin ich überzeugt!“ versicherte ich.

„Ich danke Ihnen, Miß Mary!“ Sie sagte es mit einem Aufathmen und setzte wie entschuldigend hinzu. „Es ist nicht mein Geheimniß.“

„Bitte, Jascha – Sie können doch selbstverständlich in Ihrem Tagebuche schreiben –.“

„O, Sie haben Recht, Miß Mary, mein Tagebuch. Verzeihen Sie, wenn ich Sie weckte, gleich soll Ruhe herrschen.“

Ich sah, wie sie ein Schreiben kouvertirte und mit der Adresse versah und, den Brief in der Hand, wieder ihr Bett aufsuchte. Ein leises: „Verzeihung!“ klang noch einmal herüber, dann ward es still und ich schlief ein.

Es war am andern Morgen etwas später als gewöhnlich, als ich erwachte. Jascha’s Bett war bereits leer, sie hatte das Zimmer schon verlassen. Am Boden vor meinem Bette lag ein Zettelchen; ich hob es gedankenlos auf und las es gähnend:

„Jascha, mein Leben, mein Glück, verlaß mich nicht! Komm zur bestimmten Zeit an die bewußte Stelle, süßes Kind, daß ich Dich küssen und herzen kann –“

Ich saß mit einem Ruck empor und starrte diese feste große Handschrift an, wirr erinnerte ich mich der Erlebnisse der letzten Nacht, diesen Zettel verlor sie, als sie mit dem zerrissenen Brief an mein Bett trat. Sollte diese Jascha, diese stille theilnahmlose Jascha, dennoch Etwas zu verbergen haben?

Ja natürlich! Jascha hat ein Liebesverhältniß, ein heimliches Liebesverhältniß! Weßhalb würde sie sonst so verstohlen während der Nacht schreiben? O, es ist ja abscheulich! Und mit der sollte man in einem Zimmer – –. Die überstrenge Moral meiner achtzehn Jahre, die ganze Unduldsamkeit dieses Alters, welches das Leben noch nicht kennt, empörte sich in mir. Ich überlegte, während ich mich rasch ankleidete. ob ich zu Frau Doktor gehen solle, um ihr Alles zu entdecken! Natürlich, es wäre das Beste, denn man will doch nicht mit „Einer“ zusammen wohnen, die – – es ist ja nicht auszudenken! Was würde Großmama sagen, was Robert, wenn er es erführe? Robert, der immer zu citiren pflegt: „Sage mir, mit wem Du umgehst, und ich will Dir sagen. wer Du bist!“ Und die Pension! Ihr Ruf wäre dahin.

In der Eile und mit zitternden Händen konnte ich mit meiner Haarfrisur nicht zu Stande kommen. Die Glocke, die uns zum Frühstück rief, läutete hell, und noch immer stand ich und riß die Nadeln aus den Flechten und fuhr mit dem Kamm von Neuem durch die widerspenstigen Haare.

Plötzlich that sich leise die Thür auf und Jascha trat ein. Sie schien erhitzt, warf Hut und Sonnenschirm auf ihr Bett und lief, ohne mich zu bemerken, an ihren Waschtisch, kühlte sich das brennende Gesicht mit dem kalten Wasser, ordnete eilig das Haar und verschwand. Sie hatte ausgesehen, als ob sie einen weiten Weg in der heißen Morgensonne gemacht habe.

Als ich in den Speisesaal mit der üblichen, diesmal wahren Entschuldigung trat, daß ich die Nacht wenig geschlafen und wider Willen das Versäumte am Morgen nachgeholt habe, saß sie schon bleich und still am Tische, vielleicht sogar ungewöhnlich bleich. Wir hatten unsern Platz einander gegenüber und ich bemühte mich, sie garnicht anzusehen; es gelang aber nicht, denn neben mir lag ein Sträußchen Vergißmeinnicht und Farnkräuter, so reizend gewunden und so thaufrisch, als wären sie eben gebrochen. Unwillkürlich sah ich hinüber, ein langer Blick traf mich, ein Blick, der um Schweigen zu bitten schien und heiße Dankbarkeit versprach. Was lag für ein Zauber in diesen Augen, wie kinderrein und traurig blickten sie aus diesem kummerschweren Gesichtchen! – Ich konnte nicht anders, ich mußte bejahend den Kopf neigen, und damit theilte ich, nach meinem Empfinden, ihre Schuld, und Gott weiß, wie schreckliche Stunden ich dadurch erlebt habe. Scheu vor ihr und unerklärliches Mitleid, eine förmliche Sucht, ihren Schritten nachzuspüren, dann wieder mein Stolz, der mich davon zurückhielt, und der echt mädchenhafte Widerwille gegen unlautere Gesinnung. Mir war es, als könne ich sie nicht dulden in dem Raume, wo ich athmen mußte, und zu allem Diesem ein böses Gewissen gegen Frau Doktor. Alles schuf mir schlaflose Nächte und Stunden schwerer Seelenkämpfe.

Ich konnte nach nicht entschließen, mit ihr freundlich zu sprechen, und jetzt war sie die Bittende und Werbende. Sie versuchte alle jenen kleinen Künste, mit denen man ein Menschenherz zu rühren vermag. Das stolze schöne Geschöpf war von einer so sanften Demuth meinen Launen gegenüber, die mich in ihrer Nähe wider Willen befielen als natürliche Folge meines Gemüthszustandes. Schonungslos konnte ich ihr böse Worte ins Gesicht schleudern, und wenn sie mich dann so fragend und traurig ansah, hätte ich ihr auf den Knieen abbitten mögen. Sie hatte sich aber dann bereits abgewandt und war in irgend ein stilles Eckchen gegangen, um sich auszuweinen, während ich schluchzend zurück blieb.

Eines Tages verbarg sie, als ich eintrat, irgend Etwas in ihrem Kommodenschub. Es war grad’ wieder eine von meinen bösen Stunden; wir, d. h. Dora, Olga und ich, hatten uns eben über sie unterhalten Dora hatte sich glücklich gepriesen, nicht mehr in ihrer Nähe zu sein, und Olga gemeint, irgend Etwas sei mit ihr nicht richtig; sie glaube, diese Jascha sei von ihren Verwandten hierher gebracht, um irgend einen tollen Streich abzubüßen; sie hoffe, sie komme noch dahinter. Es sei aber ein starkes Stück, unser Haus hier als Besserungsanstalt zu betrachten; sie begreife Frau Doktor nicht.

„Wie kommst Du darauf?“ war meine hastige Frage gewesen, und da hatte denn Olga flüsternd erzählt, sie habe Jascha vor Kurzem Abends mit „Jemand“ am Weiher gesehen. Es sei spät, nach dem Abendessen gewesen. Sie, Olga, habe ihre Handarbeit im Garten vergessen gehabt, sei eiligst hinunter gelaufen und zum Tod erschrocken gewesen, als sie, an der bewußten Lücke in der Buchenhecke vorüberkommend, Flüstern und Küssen gehört habe und Jascha’s Stimme: „Leb wohl! Auf Wiedersehen!“

„Ihr wißt,“ hatte Olga hinzugefügt, „Klatschen hasse ich; aber sollte einmal mit Frau Doktor die Rede auf Jascha’s Wunderlichkeit kommen, so sage ich es, verlaßt Euch darauf.“

Also soweit war es! Mit diesen Gedanken trat ich in unser Zimmer und ertappte Jascha beim Verbergen eines Gegenstandes. „Geniren Sie sich doch nicht,“ kam es verächtlich über meine Lippen, „mich interessirt Ihr heimliches Gethue so wenig, wie Ihre heimliche Korrespondenz, diese Sachen liegen denn doch zu tief unter –“

Sie sah, bleich bis in die Lippen, zu mir herüber. „O, Miß Mary, Sie sind hart! Ich – wenn ich es sagen könnte –“

„Bitte, bitte! Ich mag von diesem Lügengewebe Nichts wissen.“

„Lügengewebe?“ fragte sie und stand vor mir mit flammenden Augen. „Beweisen Sie mir eine Lüge, Mary!“ Ihre ganze Gestalt zitterte, und ihre Augen waren unheimlich groß geworden.

Ich dachte nach und fand Nichts. Aergerlich darüber wandte ich ihr achselzuckend den Rücken.

„Sie können es nicht,“ sprach sie, „denn ich log nicht.“

„Aber vielleicht beweise ich Ihnen eines Tages etwas Schlimmeres als Lüge,“ brauste ich auf. „Hüten Sie sich. treiben Sie es nicht auf die Spitze! Sie könnten früher entlarvt dastehen, als Sie es ahnen.“

Sie senkte den Kopf und schwieg eine lange Zeit. „Ich glaubte, Sie würden barmherziger sein als die Andern,“ sprach sie endlich.

„Fräulein von Ponianska, was denken Sie eigentlich von mir?“ rief ich beleidigt.

„Miß Mary,“ bat sie und trat mir mit gefalteten Händen einen Schritt näher, „stoßen Sie mich nicht zurück, heute nicht; [847] ich bin so ganz auf Ihre Nachsicht angewiesen; die Noth zwingt mich zu einer so schrecklichen Bitte – meine Großmutter hält mich so knapp mit Geldmitteln; zu Frau Doktor kann ich nicht gehen, sie würde es Großmama schreiben, – leihen Sie mir eine Kleinigkeit!“

Ich sah in höchstem Erstaunen auf die Bittende. Sie stand da, hoch aufgerichtet, aber die Wimpern gesenkt, und auf dem schönen Gesicht jagte sich Röthe und Blässe im raschen Wechsel.

„Ich habe augenblicklich so gar Nichts mehr,“ flüsterte sie und ihre zitternde Hand faßte nach dem Sammetband am Halse, an dem heute zum ersten Male das Kreuz fehlte, „und ich gebrauche so nothwendig –“

Ich ging zu meiner Kommode hinüber, schloß auf und nahm die kleine Schatulle heraus, die mir Großpapa mit lauter funkelnagelneuen Silberstücken gefüllt zum letzten Geburtstag verehrt hatte. „Wie viel?“ fragte ich über die Schulter.

„Wie viel?“ wiederholte sie. „Mein Gott, Miß Mary, zehn Thaler – verzeihen Sie –“

Das Geld glitt in ihre Hand; sie sah mich dabei nicht an; sie starrte auf die Schatulle, dankte auch nicht. Ihre kleine Hand ballte sich um das Geld zur Faust, und so stand sie noch, als ich, den Schub schließend, mich umwandte und ohne ein weiteres Wort das Zimmer verließ.

(Fortsetzung folgt.)




Skizzen von einer Sängerfahrt nach Amerika.

Von Herm. Mohr (Königl. Musikdirektor in Berlin).
II.0 BuffaloChicago.

Ein glücklicher Zufall brachte mich noch einige Stunden vor Abgang des Zuges, der uns nach dem Westen führen sollte, mit dem Bassisten Herrn Max Heinrich vom Metropolitan Theater in New York zusammen, der als Solist beim Sängerfest in Milwaukee mitzuwirken hatte und den ich bereits im „Liederkranz“ kennen und schätzen gelernt. Rasch entschlossen erklärte er sich bereit, die Reise gemeinschaftlich mit uns zu machen, und das war wieder sehr erwünscht, denn er war ein braver Dolmetscher, wenn unsere Weisheit zu Ende war. Durch die freundlichen Bemühungen des Eichenkränzlers Herrn Kremer waren mir von Milwaukee aus die Eisenbahntickets für mich und meine Tochter zugegangen; der Reisekoffer war durch die Expreßcompagnie bereits nach dem Depot befördert, und voller Erwartung einer ersten und zwar längeren Eisenbahnfahrt in der neuen Welt betraten wir bei eingetretener Dunkelheit den Bahnhof. Gegen Vorzeigung des Fahrbilletts wurde eine Blechmarke, mit einer Nummer und der Angabe des Bestimmungsorts versehen, an meinem Koffer befestigt; eine gleichlautende Marke, Check genannt, wurde mir eingehändigt, und das war die einzige Mühe, die ich vor dem Einsteigen hatte. Vom Wiegen des Gepäcks, von Ueberfracht resp. Bezahlen derselben an der Kasse, von Trinkgeldern etc. war keine Rede, weil die Beförderung des Reisegepäcks einfach frei ist. Diese Einrichtung ist eine nicht hoch genug zu schätzende Erleichterung des Verkehrs auf den amerikanischen Eisenbahnen. Die noch gelösten Tickets zu je 2 Dollar berechtigten zur Benutzung des Schlafwagens, den wir somit bestiegen. Der Kondukteur forderte im letzten Augenblick die Mitfahrenden zum Einsteigen auf, und geräuschlos, ohne ein Glockenzeichen oder Pfeifen der Lokomotive, setzte sich der Zug 9 Uhr 15 Minuten langsam in Bewegung. Sprang irgend ein Passagier, der sich verspätet, auf das Trittbrett, so kümmerte dies weiter Niemand. Ueberhaupt herrscht auf den Eisenbahnzügen viel mehr Freiheit und Ungezwungenheit als bei uns. Man kann durch die Wagen hindurch gehen vom ersten bis zum letzten. Ein besonderer Waggon ist für Raucher reservirt: auch die Plattform der Wagen wird unter Umständen von diesen benutzt. An den Ausgängen der Wagen wird allerdings auf einer Tafel vor dem Aufenthalt auf der Plattform gewarnt; mein Kondukteur sagte mir jedoch, als ich den Wunsch äußerte, auf die Plattform des letzten Wagens hinaustreten zu dürfen: „Thun Sie, was Sie wollen! Sie haben hier zu Lande volle Freiheit; Sie können sogar herunterspringen; Sie sind eben nur gewarnt.“ Das Hinunter- und sogar Aufspringen auf den langsam fahrenden Zug macht der Amerikaner mit Geschick und Eleganz. Wenn der Zug oft meilenlang durch die Vorstädte einer größeren Stadt mitten durch belebte Straßen einfährt, springen Herren mit der größten Seelenruhe an den einzelnen Querstraßen vom Zug, während wiederum Zeitungsjungen sich überbieten, so schnell wie möglich den Wagen zu erklimmen, um die neuesten Nachrichten zuerst an den Mann zu bringen.

Was das Innere der Wagen betrifft, so muß ich bekennen, daß in denselben eine ungemeine Eleganz, sogar ein Luxus herrscht, wie man dies bei uns im Allgemeinen nicht kennt. Bis ins Kleinste ist für jeden Komfort gesorgt. Die Sitze sind mit Plüsch gepolstert oder mit Rohrgeflecht überzogen; die Fenster, in drei Abtheilungen, sind hoch und breit; Spiegel zieren die Mahagoniwände und in den Ecken der Wagen finden sich Blechsäulen mit Eiswasser nebst Trinkgeschirr. Wenn man bedenkt, daß der Fahrpreis auf den amerikanischen Bahnen durchaus nicht theurer als bei uns ist, daß die Wagen gewissermaßen nur eine Klasse haben, daß – abgesehen von der Benutzung der Schlafwagen und Pullman’schen Palastwagen, für welche noch eine Extravergütung zu entrichten ist – alle diese Annehmlichkeiten dem Unbemittelten sowie dem Reichen zugänglich sind, so hat man alle Ursache, diese humanen Einrichtungen lobend anzuerkennen.

Von den Anstrengungen des Tages ermüdet, vertrauten wir uns ziemlich sorglos unserem dahinbrausenden Schlafkabinet an, und wenn uns Etwas an dem ruhigen Schlummer hinderte, so war es nur das unleidliche Gequarre eines noch sehr jungen Yankee in einem Nebenkoupé.

Der Morgen war angebrochen; ich öffnete die Vorhänge des Wagenfensters, und vorüber flogen, von der Morgensonne glänzend beleuchtet, die freundlichsten Landschaften mit ihren Waldungen und Flüssen, mit den zerstreut umherliegenden Farmen, umgeben von Mais-, Getreide- und Kartoffelfeldern, von Wiesen und Triften mit weidenden Viehherden. Es waren dies herrliche Bilder, welche ich so recht ungestört auf meinem Lager genießen konnte. Wir machten Toilette, wozu alle Einrichtungen aufs Bequemste vorhanden waren, und bald begrüßten sich Bekannte und Unbekannte mit einem freundlichen „Good Morning“. Auf einer der nächsten Stationen fand ein kurzer Aufenthalt statt, um ein warmes Frühstück einnehmen zu können. Die Station hieß Syrakus.

„Ei, der Tausend! das ist ja ein klassischer Name,“ äußerte ich zu unserm Reisegefährten Herrn Heinrich.

„O, mein lieber Freund, wir befinden uns hier in der neuen Welt auf antikem Boden. Die Stationen Utica und Rome haben Sie nur unterwegs verschlafen.“

Nach vierzehnstündiger Fahrt lief unser Zug in den keineswegs schönen Bahnhof von Buffalo ein. Ueberhaupt habe ich selten einen amerikanischen Bahnhof entdeckt, der annähernd einen Vergleich mit unsern prachtvollen Bahnhofsbauten in Deutschland aushält. Zwischenstationen haben meistens nur unansehnliche Holzhäuser. Eine Depesche von New-Yorker Freunden hatte den Vorstand der vereinigten Sänger Buffalos von meiner Ankunft in Kenntniß gesetzt, aber irrthümlicher Weise die Station Suspension Bridge am Niagara als Ort meiner Ankunft bezeichnet, während wir auf einer andern Linie direkt nach Buffalo befördert wurden. Ein Herr vom Empfangskomité, der anwesend war, erzählte uns nun zu meinem Leidwesen, daß die übrigen Herren desselben sich alle nach Suspension Bridge, welches 18 Meilen entfernt lag, begeben hätten, um mich daselbst zu erwarten; er freue sich, daß seine Behauptung, wir müßten auf alle Fälle in Buffalo ankommen, die richtige sei. Unser Herr Kiekebusch, ein Landsmann aus Berlin, beförderte uns sofort nach Grüner’s Hôtel, in welchem unsere Zimmer bereits bestellt waren. Nach einigen Stunden, als wir in heiterer Stimmung noch bei Tisch saßen, erschienen die anderen Herren, zurückgekehrt von ihrer Irrfahrt, und hatten sehr rasch ihre trübe Laune vergessen. In zweien derselben lernte ich recht liebe Kollegen kennen, den Herrn Gelbcke, einen gemüthlichen Sachsen vom reinsten Wasser, Dirigent des „Orpheus“, und Herrn Mischka, einen geborenen Böhmen, Dirigent der „Liedertafel“.

Zufälliger Weise war an diesem Tage der Beethoven-Männerchor aus New-York von einer Vergnügungsfahrt nach den Niagarafällen in Buffalo eingetroffen, und ihm zu Ehren wurde am [848] Nachmittage ein Kommers in dem sogenannten Paradehaus in der Nähe der Parkanlagen veranstaltet. Man hatte bereits eine Fahrt dorthin beschlossen, und es traf sich daher für mich günstig, einer Festlichkeit beiwohnen zu können, bei welcher ich die Gelegenheit hatte, die Vorstände und Mitglieder des gastgebenden „Orpheus“ sowie des New-Yorker Vereins kennen zu lernen. Auf der Fahrt dorthin wurde ich durch ein Schauspiel überrascht, welches für mich so originell war, daß ich den Anblick lange nicht vergessen konnte. Beim Einbiegen in eine Querstraße sah ich, daß man nichts weniger als ein ganzes zweistöckiges Haus in der Mitte des Fahrdammes fortbewegte. Dasselbe befand sich auf zahlreichen Rollen, und nur ein einziges Pferd, das ein starkes Seil um eine Winde drehte, war zu dieser Herkulesarbeit ausreichend. Nicht minder seltsam und komisch berührte mich die Thatsache, daß das Haus von seinen Bewohnern nicht verlassen war, wenigstens sah ich eine Frau beim Feuerherd beschäftigt, die vermuthlich die Absicht hatte, sich ihren Nachmittagskaffee zu brauen. Das Gebäude war allerdings ein Holzhaus, jedoch wurden mir auch massive Steinhäuser gezeigt, die, wenn ich nicht irre in Rücksicht auf Kanalisation, meterhoch in die Höhe gehoben, sogar auf andere Plätze gerückt worden waren, und es soll dieses sogenannte „moven“, das heißt Fortbewegen der Häuser, eben nichts Seltenes sein. In Chicago sind sogar die Häuser ganzer Straßen „gemuhft“ worden.

Als wir das Paradehaus erreicht hatten, waren die Herren Sänger bereits in sehr animirter Stimmung; man hatte sogar einen Bal champêtre arrangirt, zu welchem auch meine Tochter sofort hinzugezogen wurde. Mittlerweile war ich einer großen Anzahl von Sangesbrüdern vorgestellt worden, die mich herzlich begrüßten, deren Namen ich aber leider nicht alle behalten konnte. Bald zog man mich in ein Nebenzimmer, wo ich im Kreise einer kleinen, liebenswürdigen Gesellschaft bei funkelndem Rüdesheimer eine recht fröhliche Stunde verlebte. Indeß hatten sich die New-Yorker Sänger zum Aufbruch gerüstet und ihre Wagen, die sie zum Bahnhof führen sollten, bestiegen. Der herzliche Abschied, der jetzt zwischen den Sängern stattfand, machte auf mich einen tiefen Eindruck, und ich hatte die Empfindung, daß es ein festes Band ist, welches die deutschen Landsleute jenseit des Oceans in ihrem neuen großen Adoptivvaterlande umschließt.

Auch wir fuhren zurück nach der Stadt, diesmal durch den neuangelegten Park, der übrigens schon hübsche Punkte aufzuweisen hat. Vor Jahresfrist war die Halle der Sänger von Buffalo bekanntlich ein Raub der Flammen geworden. Wir kamen an dieser Stelle vorüber, schon hatte sich ein großartiger Neubau daselbst erhoben, der den Ausspruch meiner Begleiter kaum bezweifeln ließ, daß diese Sängerchalle nach ihrer Vollendung die größte und schönste in den Vereinigten Staaten werden würde.

Schon in Berlin hatte ich die Bekanntschaft eines liebenswürdigen Herrn aus Buffalo, Namens Fr. Carl, gemacht. Es war eine große Freude für mich an diesem Abend, in seine Familie eingeführt zu werden. Aber nicht ich allein mit meiner Tochter, sondern das ganze Komité und mein treuer Reisebegleiter, M. Heinrich, sowie einige Damen waren eingeladen. Die zarteste Aufmerksamkeit und Fürsorge dieser lieben Familie ließ es an Nichts fehlen, um den Abend für uns Alle zu einem genußreichen zu gestalten. In heiterer und freier Weise wurden die Zustände und Eigenthümlichkeiten der alten und der neuen Welt erörtert und beleuchtet, und verschiedene musikalische Vorträge, von denen die des hochbegabten Sängers M. Heinrich vor Allem begeisterten, würzten den schönen Abend. Ich kann nicht umhin, hierbei eine mir sympathische Persönlichkeit zu erwähnen, nämlich den älteren Bruder des Herrn Carl. Derselbe erzählte mir viel Hochinteressantes und Spannendes aus seinen jüngeren Jahren, in welchen er aus reiner Passion in den Prairien und Urwäldern ein jahrelanges Trapperleben geführt und mit Hilfe farbiger Diener unter manchen Gefahren und Entbehrungen zahlreiche Büffeljagden gemacht habe. Bei einer dieser Jagden hatte er das Unglück, zu stürzen und den linken Arm zu zersplittern. Drei Tage mußte er durch die Wildniß reiten, ehe er zu einem Arzt gelangte. Da war aber schon der Brand eingetreten und er hatte den Verlust des ganzen Armes zu beklagen.

Am folgenden Tage wurde eine von den Herren des Komités geplante Fahrt nach den Niagarafällen ausgeführt.

Es ist ein beruhigendes und wohlthuendes Gefühl, wenn man nach einem fremden Ort kommt und weiß, daß man von Bekannten freundlich empfangen wird. Dieses Gefühl steigert sich aber noch viel mehr, wenn man fern von der Heimath in weitem, fremdem Lande, wo man noch Niemand kennt, in Folge der liebenswürdigsten Einladung sich eines herzlichen Empfangs versichert halten darf.

Dies war in Chicago der Fall. Da kamen mir freudig die Herren entgegen, die vom Gesangverein Orpheus zu meinem Empfang deputirt waren. Unter herzlichem Händedrucke erfolgte die Vorstellung der Herren, sowie durch mich die meiner Tochter, des Herrn M. Heinrich und Fräulein Marianne Brandt, welche schon mit uns die Seereise auf der „Ems“ zurückgelegt hatte. Herr Overbeck, Besitzer des Germania-Hôtels, war ebenfalls erschienen und nahm uns speciell unter seine Obhut, um uns in seine gastlichen Räume zu geleiten. Ein gemeinschaftliches Souper daselbst vereinigte uns mit den Komitémitgliedern in ungezwungener Gemüthlichkeit. Auch hatte ich das Vergnügen, in diesem Kreise einen jungen Kapellmeister, Namens Saro, den Neffen unseres Musikdirektors Saro in Berlin, kennen zu lernen, sowie einen lieben Reisegefährten von der „Ems“, Herrn Sauerbier, wieder zu finden.

Beide Herren haben in der Folge das Möglichste gethan, uns den Aufenthalt in Chicago recht angenehm zu machen.

Wohl oder übel mußte ich noch in später Stunde der Aufforderung eines heißblütigen Sangesbruders, welcher Besitzer einer Weinhandlung war, Folge leisten, seine diversen in- und ausländischen Weine kennen zu lernen. Wir zogen natürlich in corpore nach seinen unterirdischen Lagerräumlichkeiten, und ich kam hier zu der Ueberzeugung, daß ich in kein Meeting der Temperenzler gerathen war, und daß bei herzlichem und begeistertem Zusammensein eine amerikanische Sängerkehle fast noch dauerhafter als eine deutsche sein kann.

Am andern Morgen waren Fräulein Brandt und Herr Heinrich nach Milwaukee zur Probe ihrer Sologesänge abgereist. Da meine Anwesenheit daselbst noch nicht erforderlich und ich überdies am Abend zu einer Probe der vereinigten Sänger Chicagos eingeladen war, in welcher ich meine Hymne, die in Milwaukee zur Aufführung kam, selbst leiten sollte, so kamen mir die Dispositionen des Komités, die Sehenswürdigkeiten Chicagos in Augenschein zu nehmen, recht erwünscht.

Chicago ist seit den großen Bränden in den Jahren 1871 und 1874, bei welchen fast die ganze Stadt ein Raub der Flammen geworden, mit unglaublicher Schnelligkeit neu und prächtig aus der Erde gewachsen. Durch ihre vorzügliche Lage für den allgemeinen Geschäftsverkehr, als Knotenpunkt eines ganz bedeutenden Eisenbahnnetzes, hat sie sich schon jetzt zur größten und volkreichsten Stadt des Westens emporgeschwungen. Der Verkehr in den Straßen ist fast so groß wie in New-York.

Von den zahlreichen Straßenbahnen erregten meine besondere Aufmerksamkeit die luftigen Sommerwagen, welche, zu zwei bis drei an einander gekoppelt, ohne Pferde oder Maschine geräuschlos vorüber fuhren. Es waren dies keine solche, die durch Elektricität, sondern durch ein unter dem Straßenpflaster permanent laufendes Seil, welches durch eine schmale Spalte mit dem Wagen korrespondirte, in Bewegung gesetzt wurden. Ich bewunderte die schnelle und sichere Funktion dieser Wagen selbst bei dem großen Menschengewühl und bei den öfteren Kurven, die in Querstraßen einbogen.

Noch etwas interessirte mich, was meines Wissens in Berlin nicht existirt, nämlich die Art der Weichenstellung der Pferdebahnen. Während dies bei uns der Kondukteur mit Umständlichkeit und Zeitverlust besorgt, geschieht es dort einfach durch die Pferde, beziehentlich den Kutscher. Zwischen den Schienen liegt eine große Eisenplatte, welche sich wie ein Wägebalken etwas nach rechts oder links senken kann. Will der Kutscher z. B. nach rechts ausweichen, so lenkt er beide Pferde so, daß das Pferd rechter Hand die Schiene überschreitet, während das andere Pferd über die rechte Hälfte der Platte schreitet, durch deren Senkung alsdann die Weiche gestellt wird. Nach der andern Seite ist die Manipulation die umgekehrte.

In Chicago bestehen bekanntlich die größten Schlächtereien der Welt. Millionen von Schweinen und Rindern aus den westlichen Staaten werden hier aufgekauft und nach den neuesten Feststellungen in der Saison allein 19000 Schweine täglich der Schlachtbank überliefert. Die Etablissements sollen in Bezug auf [849] Großartigkeit und innere Einrichtung höchst sehenswerth sein, und als erstaunlich schildert man die Schnelligkeit, mit der Alles, natürlich vermittelst der Dampfkraft, funktionirt. So soll die ganze Procedur von dem Augenblick an, in welchem das Schwein an einem Hinterfuß in die Höhe gezogen wird, bis zu dem Zeitpunkt, wo das Fleisch des Thieres gesalzen in die zum Versand bereit stehenden Fässer verpackt ist, nicht mehr als 12 Minuten in Anspruch nehmen. So interessant alle die Einrichtungen auch sein mochten: ich fühlte ein geheimes Grauen vor diesem Massenmord und lehnte daher eine Besichtigung derselben dankend ab. Jedenfalls hatte ich die Gewißheit, durch die am Nachmittag projektirte Fahrt nach dem berühmten Lincoln-Park reichlich entschädigt zu werden. Und dies war der Fall.

Mit Herrn Saro und Herrn Ehrhorn, dem liebenswürdigen Dirigenten der vereinigten Sänger Chicagos, durchkreuzten wir die herrlichen Anlagen dieses wunderhübschen dicht am Ufer des Michigansees gelegenen Parks. Derselbe unterscheidet sich von denen der andern größten Städte Amerikas durch seine sehenswerthen zahlreichen Blumenanlagen.

Das kaiserliche Schloß in Straßburg.


Ueberraschend ist die Kunst, mit welcher die seltensten Pflanzen und Gewächse in den verschiedensten Arabeskenformen angelegt sind, und wie peinlich sorgfältig wiederum Alles gepflegt wird. Wir möchten dabei hervorheben, daß die amerikanische Gartenkunst, eben so wie die amerikanische Industrie – wir erinnern nur an die von Röbling erbaute Brooklynbrücke – vielfach durch eingewanderte Deutsche gehoben wurde. An vielen Orten finden wir in den prächtigen Anlagen Spuren deutschen Fleißes und Kunstsinnes.

In der Weise des Berliner Zoologischen Gartens fanden sich an verschiedenen Punkten des Parks die eingehegten Aufenthaltsorte für alle möglichen Raubthiere, Vögel und Amphibien, und mir wurden besonders schöne Exemplare aus dem Süden, aus Mexiko, Südamerika und Australien gezeigt. Auch einige von unseren gefiederten Sängern, die von Deutschland importirt sind, sah ich lustig im Käfig mit kalifornischen Freunden sich herumtummeln. Viele Statuen, vor Allem die des hochverdienten Präsidenten Lincoln, erregten unsere Aufmerksamkeit. Umgeben von prächtigen Blumenanlagen präsentirte sich uns eine Schiller-Statue, welche genau nach dem Denkmal in Weimar modellirt sein soll und erst vor einigen Monaten errichtet worden war. Neu und interessant war mir die Mittheilung meines Kollegen Ehrhorn, daß bei der Enthüllungsfeierlichkeit unter den Klängen meines Weihegesangs „Am Altare der Wahrheit“, welcher unter seiner Direktion von den Sängern Chicagos mit Orchesterbegleitung aufgeführt wurde, die Hülle des Denkmals fiel.

Ein drohendes Gewitter veranlaßte uns, nach der Stadt zurückzufahren. Im Ausstellungsgebäude koncertirte zu dieser Zeit das rühmlichst bekannte Thomas’sche Orchester, dessen Ruf auch schon längst in Europa verbreitet ist. Es lag selbstverständlich in meinem Interesse, diese Kapelle zu hören. Von der unendlich großen Halle war ungefähr der dritte Theil durch Bäume und Gebüsch abgetheilt und zu einem großen und geschmackvollen Koncertsaal eingerichtet worden. Von den Orchesternummern hörte ich einen March movement von Raff und Wedding Music von Jensen, das letztere eine ganz reizende, fein gearbeitete Komposition in vier Sätzen.

Leider sollte uns der musikalische Genuß arg verkümmert werden. Das erwartete Gewitter hatte indeß begonnen, sich zu entladen, und ein andauernder Platzregen machte auf dem von Holz konstruirten Dach einen derartigen Rumor, daß man von der Musik bald gar Nichts mehr verstehen konnte. Das

[850] Orchester sah sich genöthigt, seine Thätigkeit nach dieser Nummer auf eine halbe Stunde zu vertagen. Da ich aber nach Ablauf dieser Zeit mich schon zu der erwähnten Probe begeben mußte, so schied ich zum Theil unbefriedigt aus den Räumen, nahm aber immerhin den Eindruck mit nach Hause, daß das aus ungefähr 60 Musikern bestehende Orchester unter der sicheren Leitung seines tüchtigen Dirigenten ein wohlgeschultes und jedenfalls hervorragendes ist. Das Programm enthielt außer dem Verzeichnisse der Musikstücke noch mannigfache Notizen über die Personen der betreffenden Komponisten und deren hervorragende Schöpfungen, auch Erläuterungen über den Inhalt der vorzutragenden Nummern, und ferner Annoncen jeglichen Inhalts und Kalibers. Eine solche Ausführlichkeit der Programme habe ich in Amerika fast immer gefunden. Hiesige Koncertinstitute haben diese Idee jüngst bei uns acceptirt; ja man ist noch weiter gegangen, indem man z. B. zu den Quartettsoiréen die Partituren an der Kasse auslegt, so daß das musikverständige Publikum die Musik sogar nachlesen kann.

In ihrem Uebungssaal fand ich die vereinigten Sänger Chicagos versammelt und wurde überaus herzlich von denselben empfangen. Die Abkühlung nach dem Gewitter war noch nicht bis in diese Räume gedrungen; daher sah ich mich genöthigt, die Probe zu meiner Hymne im Schweiße meines Angesichts und unter ähnlichen Wahrnehmungen bei den Herren Sängern zu leiten. Gott sei Dank, das Werk war tüchtig studirt; alle Nüancen kamen zu schöner Geltung, und die Klangfülle schien auf amerikanischem Boden noch intensiver zu sein. Somit war meine Arbeit eine leichte und kurze, und in warmer Anerkennung der Leistungen legte ich meinen Taktstab nieder.

Wie gut ein Seidel Bier nach einer heißen Probe schmeckt, wissen unsere Berliner Sänger ganz genau; aber wie ein Glas vom besten Chicagobier an der Quelle im Kreise deutscher Sänger und lieber Landsleute mundet, können sie höchstens ahnen. Ich habe zwar nicht nach der Uhr gesehen, aber spät mag es gewesen sein, als wir nach Hause kamen.




Der Unfried.

Eine Hochlandsgeschichte von Ludwig Ganghofer.
(Fortsetzung.)


Mit beiden Armen hatte Kuni sich an Götz geklammert, wie um ihn zu verhindern, auf Gregor loszustürzen; dazu sprach sie in wirren, stammelnden Worten zu ihm auf, als sollte nur der Klang ihrer Stimme jenen grausamen Spott übertönen: „Geh, mußt Dich net kümmern – und Gott sei Dank, jetzt is er ja fort!“ flüsterte sie, während jenes giftige Lachen verklang, als hätte sie Götz damit einen Trost gesagt. Da fühlte sie, daß er wankte. „Ja um Gotteswillen – was is Dir denn?“

„Nix – nix! ’s Stehn vermag ich nimmer – d’ Füß’ lassen mir aus.“

Erschrocken führte sie ihn zu den Brettern, auf denen sie gesessen, und drückte ihn darauf nieder. „Ja – gelt – ich weiß schon – ich hab’s ja heut’ selber g’spürt, wie’s Ein’ anpackt – so auf amal. Denn wie ich Dich heut’ Dein Unglück hab’ verzählen hören, da hab’ ich mir noch allweil net denken können, was ich auf d’ Letzt zum hören krieg’. Aber ’s Herz hat’s mir aufg’rührt bis in ’tiefsten Winkel ’nein – und doppelt deßwegen, weil Dein Unglück dem Unglück von Ei’m zum gleichen war, von dem mir mein’ Mutter selig auf ihrem Sterbbett ’s erste Wörtl g’sagt hat. Und wie ich nachher auf amal den Namen hör’, den s’ mir in ihrer letzten Stund’ ins Ohr ’nein g’wispert hat“ – Erschauernd barg sie das Gesicht in beide Hände. Dann wieder schluchzte sie vor sich hin: „Ja – jetzt – jetzt weiß ich, wie’s mir g’wesen is die ganze Zeit! Bald hab’ ich g’meint, als thät’ ich mich fürchten vor Dir; bald hab’ ich g’meint, ich müßt’ Dir gut sein, bald wieder, als müßt ich Dich hassen –0 – ’s Blut halt, ’s Blut is ’s g’wesen, wo sich g’rührt hat in mir – nur g’rad verstanden hab’ ich’s net.“

„Na – na – es kann net sein – ich kann’s ja net glauben!“ stöhnte Götz.

Als hätte Kuni seine Worte überhört, so sprach sie mit raunender Stimme weiter. „G’wiß – ich mein’ schier, als sähet ich mein Mutterl wieder daliegen vor mir, mit ihrem weißen, traurigen G’sicht, wie s’ mich bei der Hand nimmt und zieht mich hin zu ihr und sagt mir ins Ohr: ‚Gelt, Miedei, das versprichst mir, wenn Dich unser Herrgott mit ihm amal z’sammführen sollt’, so sagst es ihm, daß ich mein’ Lieb’ zu ihm mit ’nübernimm in d’ Ewigkeit!‘ Und völlig reden hör’ ich s’ noch, mit ihrer müden ’brochenen Stimm’, wie s’ mir Alles verzählt hat – ihr Glück und Elend. Wie s’ Dich so lieb g’habt hat – lieber als gut und recht war. Und wie nachher aus’blieben bist, Tag um Tag – und wie s’ von ihre Leut’ nix Anders net erfahren hat als Schimpf und Schläg’ und Vorwürf’, weil sie sich hinhängt an Ein’, der nix is und nix hat. Und wie der Vater nach a paar Tag’ schon mit ei’m Hochzeiter daher ’kommen is – und wie sie sich g’wehrt hat z’erst mit Händ und Füß’ – und wie sie sich dann hat dreingeben müssen, weil s’ g’hört hat, daß man Dich zu die Soldaten nimmt und daß auf sieben Jahr’ lang nimmer heim kommst. Und nachher, da hat s’ mir verzählt vom Morgen nach derselbigen Nacht, – wie s’ schiergar g’meint hat, sie müßt’ vor Leid und Elend ihren Verstand verlieren – und wie s’ ihr Vater am selbigen Tag noch fortg’schafft hat, weit fort, zu seiner Schwester – und wie man s’ da verheirath’t hat, schiergar von ei’m Tag auf den andern – an den, zu dem ich neunzehn Jahr hab’ Vater sagen müssen.“

Schwerathmend verstummte Kuni. Da hörte sie an ihrer Seite ein dumpfes Schluchzen. Schweigend verschlang sie die Hände im Schoß und starrte in die Nacht hinaus. Sie schien auf ein Wort von Götz zu harren. Und als sie ihn nur schluchzen hörte, hätte sie ihm so gerne ein Wort des Trostes gesagt, hätte so gerne den Arm um seinen Nacken gelegt. Aber sie fand nicht den Muth dazu. Nur die nasse, zitternde Wange lehnte sie an seine Schulter, während sie in leidenschaftlicher Erregung wieder zu sprechen begann. Sie erzählte von ihrer Mutter, erzählte von dem martervollen Leben, das die arme Frau an ihres Mannes Seite hatte tragen müssen. Sie erzählte von sich selbst, von ihrer bitteren freudlosen Jugend und schießlich von ihrer Flucht. Geraden Wegs wäre sie nach der Heimath ihrer Mutter gewandert.

„Ich hab’ net lang auf unsern Herrgott g’wart’t – ich selber, hab’ ich g’meint, ich selber müßt’ Alles dazuthun, daß ich die Botschaft ausrichten könnt’, wo mir mein Mutterl selig auf’tragen hat in ihrer letzten Stund! So hab’ ich Dein’ Heimath aufg’sucht! In Dei’m Ort aber hat mir kein Mensch net sagen können, wo ich Dich finden müßt’. Platz um Platz bin ich Dir nach’gangen, bis ich z’letzt aufs Ung’wisse hin erfahren hab’, wie wann vor lange Jahr’ über’s Wasser fort wärst nach Amerika.“

„Ah ja – was Anders hast ja net erfahren können, so schön und heimlich war Alles g’macht. Jetzt aber, jetzt verwünsch’ ich den Zufall, den ich vor elf Jahr’ als mein’ höchste Wohlthat ang’sehn hab’: daß ich selbigsmal an mein’ Kameraden hing’laufen bin! Denn wenn ich mein’ Namen b’halten hätt’, so hättst mich finden müssen – und wie ’s auch mir nachher ’gangen wär’ – Dein Leben hätt’ sich anders g’wendt – und anders thäst jetzt dastehn vor die Leut’ – und vor Dir selber. Ich weiß, mein Reden muß Dir weh thun – aber ich kann net anders – ich kann net!“

„Macht nix! Von Dir – von Dir lass’ ich mir Alles sagen – Alles!“ erwiederte Kuni in leidenschaftlicher Hast, während sie mit zitternden Händen seinen Arm an ihren Busen preßte. „A ungut’s Wort von Dir is mir hundertmal lieber als a Schmeichelred’ von jedem Andern! Und hast auch Recht – und ich will mich vor Dir net schöner machen, als ich bin! Aber anhalten will ich mich an Dich – und wann mir Dein’ Lieb’ net gern vergönnst, so will ich mir’s verzwingen! Jetzt hat ja mein Leben wieder an Sinn und a Ziel – und anders soll’s werden – anders!“

„Wenn’s nur net z’ spät is jetzt!“

„Na, g’wiß net! Zum Guten is ja allweil Zeit! Und an den Gori, an den will ich mit kei’m zornigen Gedanken mehr [851] denken, denn wer kann sagen, ob ich ohne ihn im Leben noch g’funden hätt’, was mir der heutige Abend ’bracht hat.“

„Ja, unser Herrgott sucht sich manchmal g’spaßige Helfer aus!“ fiel Götz mit rauher Härte ein. „Aber Eins, Kuni, g’rad Eins noch sag’ mir! Zwar sollt’ ich nach der Art und Weis’, in der ich Dich reden hab’ hören mit ihm, kein’ solche Frag’ mehr stellen – aber sag’ mir – is der Gori auch g’wiß kein Anderer g’wesen als wie der, für den er sich im Pointnerhof mit Namen aus’geben hat?“

Kuni schwieg und schaute mit starren Blicken in das finstere Gesicht des Knechtes. Dann jählings schlug sie beide Hände vor das Gesicht, und weinend stammelte sie:

„Na, wie muß ich die ganze Zeit her dag’standen sein vor Deine Augen, daß Du so ’was glauben hast können von mir!“

Götz machte eine Bewegung, als wollte er ihr die Hände vom Gesichte ziehen, und dennoch that er es nicht; er fuhr sich nur mit den Fäusten an die Stirn und athmete tief auf.

So saßen sie eine stumme Weile neben einander, bis Kuni mit leisen Worten wieder zu sprechen begann:

„Mein Bruder – ah ja – mein Bruder is er freilich bloß dem Namen nach g’wesen, aber net aus Blut oder G’fühl. Und das hat er mir auch zum merken ’geben, so bitter, daß ich Dir’s schier net sagen kann! Ich hab’ ja kaum die richtigen Wort’ dafür, was ich als Kind schon leiden hab’ müssen von ihm und von dem Andern! Und wie ich selbigs Mal fort bin aus Lengries, da hab’ ich g’meint, es hätt’ mein’ Leidenszeit amal an End’! Im ärgsten Traum net hätt’ ich mir denken mögen, auf was für Weg’ ich noch amal an einander g’rath’ mit Ei’m von meine Brüder! Derweil ich in Deiner Heimath nach Dir g’sucht hab’, sind die paar Groschen drauf ’gangen, wo ich g’habt hab’. Aber a Dienst für mich is net schwer zum finden g’wesen. G’litten hat’s mich freilich an kei’m Platz net lang – ich hab’ halt net die rechte Ruh’ und Freud’ zur Arbeit g’habt. So bin ich z’letzt auf Rosenheim ’kommen, als Kellnerin – das war noch ’s Einzige, was ich verstanden hab’ und was ich g’wöhnt war. Mein Wirth war allweil z’frieden mit mir – ich hab’ ihm ja Leut’ in sein’ leere Stuben ’bracht – aber kannst mir’s glauben: was ihm Geld ein’tragen hat, hat mir kein’ gute und kein’ ungute Stund’ net ’bracht. Auf Schritt und Tritt sind mir die Burschen nachg’stiegen – no mein, ich hab’ mir’s g’fallen lassen, das g’hört ja halb und halb zum G’schäft – aber um Kein’ hab’ ich mich ’kümmert, und Keiner is mir mehr g’wesen als der Ander’. Schier z’wider war mir a Jeder gleich von Anfang an, weil ei’m Jeden schon im ersten Blick aus die Augen z’ lesen war – auf was er ausgeht. Es hat sich halt a Jeder ’denkt, so a Deandl in seiner verlassenen Einschicht’ wär’ a billig’s Haben für seine g’näschigen Wünsch’. Und überhaupt – wenn a Deandl lernen will, recht grundschlecht von die Menschen denken, so braucht’s g’rad a Kellnerin machen – und da is ’s kein Wunder net, wenn auch diemal an ihr was haften bleibt, was net zum besten ausschaut.“

In überquellender Bitterkeit hatte Kuni diese Worte vor sich hingestoßen; nun schwieg sie und starrte wie in Gedanken vor sich nieder; dann wieder fuhr sie seufzend auf und sprach in hastiger Rede weiter:

„Was das für a Leben g’wesen is, Tag um Tag, ich kann Dir’s net sagen – es steigt mir ’s Grausen schon auf bis in Hals, wann ich nur dran denk’! Diemal freilich hat mich der Uebermuth ’packt, und da hab’ ich mich ’zahlt g’macht bei die Leut’ und hab’ s’ zum Narren g’halten, wie’s mir g’rad eing’fallen is. In der Nacht aber, wenn ich d’ Müdigkeit so im Herzen g’spürt hab’ und in alle Glieder, da hab’ ich mir fürg’stellt, wie verlassen und verloren als ich bin, und g’weint hab’ ich oft die ganze Nacht durch, bis der Tag ins Fenster ’graut hat. Und da war nachher mein einziger Trost, daß ich an mein Mutterl ’denkt hab’, und an den, von dem s’ mir in ihrer Sterb’stund’ g’sagt hat, daß er mein Vater is. Und da war’s wie a Beten für mich, daß ich so ’träumt und vor mich hin sinnirt hab’, wie schön das wär’, wenn jetzt mein Mutterl noch leben thät’, und der Vater wär’ mit ihr bei ’nander, und ich dabei – in Glück und Fried’ und Freud’. Wenn’s aber nachher wieder Tag worden is, da hab’ ich mein lieb’s Erinnern in mein Herz verschließen und mein’ Kammer zusperren müssen, wie der Meßner sein’ Kirchen zusperrt vor der Nacht. Manchmal aber sind mir meine Gedanken nach’gangen in d’ Stuben ’nunter, und da bin ich oft den ganzen Tag lang g’wesen, daß mich d’ Leut’ schier nimmer ’kennt haben. Ja – und g’rad auf so an Tag hat’s ’troffen – da komm’ ich amal ’nein in d’ Stuben, und eiskalt lauft’s mir übern ganzen Leib, wie ich hinterm Tisch den Gori sitzen sieh’. Aufg’stiegen is mir gleich Alles vor die Augen, wie er mich ’plagt und g’martert hat als Kind, er und die zwei Andern, und wie s’ meiner armen Mutter mitg’spielt haben – und da hat mich der Zorn anpackt, und zu’gangen bin ich auf ihn, hab’ ihm ’s Bier wegg’rissen, wo ihm der Wirth schon ’geben hat – und hab’ ihm d’ Stuben verwiesen. Er aber hat mich ang’schaut und hat so g’spaßig g’lacht – und gar so stolz wär’ ich worden, hat er g’spöttelt – gar so stolz, wie sich’s doch g’wiß net schicken thät’ für die Tochter – von einer solchen Mutter. Und noch a Wort hat er g’sagt – und schau, Vater, da hab’ ich mich nimmer aus’kennt – wie a Messer is mir das Wort ins Herz ’nein’gangen, und da bin ich auf ihn zug’fahren in der Wuth und hab’ ihn mit der Faust ins G’sicht ’neing’schlagen!“

Schluchzend verstummte Kuni; doch als sie fühlte, daß ein Arm sich schwer und zitternd um ihre Schultern legte, athmete sie wie getröstet auf, fuhr sich über die Augen, und in bebenden Worten sprudelte es von ihren Lippen:

„Zur Stuben bin ich ’naus; er aber is hinter mir drein, und am Arm hat er mich ’packt und hat mir ins G’sicht ’neing’schrieen: den Schlag, den thät’ er sich net g’fallen lassen, und vor ’s G’richt thät’ er mich bringen. ‚Und einsperren müssen s’ Dich,‘ hat er g’schrieen, ‚und ehnder gieb’ ich kein Ruh’ net, ehvor ich Dich net auch da drin weiß, wo Dein Vater g’sessen is, der Zuchthäusler, der Ein’ um’bracht hat!‘ Da hab’ ich g’meint, es wird mir alles Blut zu Eis vor lauter Schrecken – und wie er weiter g’redt hat, hab’ ich g’merkt, daß er Alles weiß, wie’s mit der Mutter g’wesen is und mit Dir. Wie er’s erfahren hat, ob im Zufall, ob er hinter der Thür g’standen is, wie mir mein Mutterl Alles anvertraut hat oder ob er a Bißl ’was vermerkt und nachher alles Andere ausspionirt hat, das hab’ ich bis heutigen Tags noch net erfahren. Ich hab’ auch selbigs Mal net lang darnach g’fragt – ich hab’ nur g’spürt in mir, daß jetzt mein einziger heiliger Schatz, mein Andenken an Mutter und Vater, in G’fahr is – und da hab’ ich mich an seine Arm’ hing’hängt, und ’bettelt hab’ ich und g’weint – was an Geld in meiner Taschen war, hab’ ich ihm zug’schoben und hab’ ihm Alles versprochen, was er haben möcht’, bloß daß er net reden sollt’ und daß er mein einzigs Gut und Heiligthum, den Nam’ von meine Eltern, unter die Leut’ net umtragen möcht’ in Schand’ und Spott!“

Wie in Erschöpfung erloschen ihr die Worte; frierend schauerte sie zusammen und schmiegte sich zitternd an Götz, der in stummer Bewegung seinen Arm noch enger um ihre Schultern schlang.

„Und g’schwiegen hat er – ja – aber jetzt hat er mich g’habt, wo er mich hat haben wollen, und aus’lassen hat er nimmer. Jeden Tag is er dag’wesen, auf meine Kosten hat er ’zehrt und ’praßt, den letzten Kreuzer hat er ’rausdruckt aus mir – und wenn mir ’s Geld aus’gangen is, so hat er in der Wirthsstuben vor die Leut’ sein Spötteln und Aufziehen ang’fangt – und allweil hab’ ich zittert in der Angst, daß er dengerst amal noch Alles ’rausreden könnt’. Was ich mir z’sammg’spart hab’ an Trinkgelder und an Lohn – Alles hab’ ich ihm ’geben – denn wer sonst gar nix hat, als an Einzigs g’rad, wo ihm lieb und werth is, Du lieber Himmel, was giebt so Einer net, daß ihm das Einzige doch erhalten bleibt! Aber Alles is ihm z’ wenig g’wesen, und oft hab’ ich g’meint, als könnt’ ich mir schon gar nimmer helfen. Amal, da hab’ ich schon g’hofft, ich werd’ von ihm erlöst. Da is in der Nacht Einer ang’fallen worden und da haben s’ den Gori in Verdacht g’habt; er aber hat an Zeugen bringen können, der auf sein’ Unschuld g’schworen hat. Und wie er wieder da war, hat er’s noch ärger mit mir ’trieben, als von Anfang. Und nach’geben hab’ ich, allweil nach’geben – und allen Zorn und Haß, den ich vor ihm in mich ’neindrucken hab’ müssen, den hab’ ich an die andern Leut’ wieder aus’lassen – und wo ich an Menschen hab’ lachen sehen in Freud’ und Zufriedenheit, gegen den is der Neid in mir aufg’stiegen, daß er mich oft ’brennt hat in der Seel’. Und allweil ärger hat’s der Gori ’trieben – und wie ich ihm schon [852] gar nix mehr hab’ geben können, da hat er g’meint, ich könnt’ mir ja leicht vom Wirth sei’m Biergeld a Bißl ’was auf d’ Seiten räumen. Aber na – zum Stehlen hat er mich net ’bracht – da hab’ ich schon lieber mein’ guten Dienst, mein G’wand und Alles im Stich ’lassen – und in der Nacht amal bin ich auf und davon, so weit mich meine Füß’ haben tragen können.“

Götz athmete auf, als hätte er die willkommene Antwort auf eine Frage vernommen, die er auszusprechen nicht den Muth gefunden.

„So hab’ ich mich ’um’trieben a paar Monat’ lang, in die abg’legensten Dörfer, von ei’m Dienst in andern. An kei’m Platz net hab’ ich’s ausg’halten; all mein Denken is Sorg’ und Unruh’ g’wesen, und nie net hat mich d’ Angst verlassen, daß der Gori jetzt in der Wuth erst recht Alles ausg’redt hat, was er reden hat können. Und wissen hab’ ich’s müssen – und z’ruck’trieben hat’s mich nach Rosenheim. Völlig aufg’schnauft hab’ ich, wie ich gehört hab’, daß sich der Gori bald nach meiner fortg’macht hat, kein Mensch hat sagen können, wohin. Und gar nix muß er aus’plauscht haben – kein Wörtl net hab’ ich g’hört – freilich, über mich, da haben d’ Leut’ recht g’spaßig g’redt, aber ganz was Anders, als ich g’forchten hab’. Du mein, über so ’was hab’ ich g’lacht – ich hab’ mein’ alten Dienst wieder ang’nommen und hab’ jetzt d’ Leut’ erst recht zum Narren g’halten, und gar kein’ größere Freud’ net hab’ ich g’habt, als wann ich so an Verruckten recht ins Herz ’nein plagen und ärgern hab’ können. Aber allweil hab’ ich dabei die Sorg’ in mir um einander ’tragen, daß über Nacht amal der Gori wieder da sein könnt’. So hab’ ich z’letzt in der Angst vor ihm mein’ Dienst aufg’sagt – und bin davon! Ins Reichenhall hab’ ich ’nüberwollen –“

„Und im Holz da droben hast Dich verirrt,“ fiel Götz mit schmerzlich bewegter Stimme ein, „und im ersten Haus, wo man Dich aufg’nommen hat in Güt’, bist ’blieben und hast den Unfried’ ’neing’setzt zwischen Leut’, von denen nix Anders net erfahren hast als gute Wort’!“

„Ja – ja – ich muß mir’s g’fallen lassen! Ich hab’ mir’s ja selber schon hundertmal g’sagt in die letzten Tag’, die mir der Herrgott mit’m Gori wieder g’schickt hat als a Straf’! Aber g’wiß – von Anfang an hab’ ich kein’ unguten Gedanken net g’habt dabei. Halb bin ich ’blieben in der Müdigkeit über mein Leben und ’leicht a Bißl aus Uebermuth – halb bin ich ’blieben und hab’ selber net g’wußt warum. Und wie’s mir nach und nach so heimlich ’worden is, wie’s mir so gut ’gangen is, und wie mir mein Schaffen und mein Umeinanderkramen im Haus da so g’fallen hat, und wie mir nach und nach a narrischer Gedanken, mit dem ich an Ein’ im Haus da denkt hab’, zum halben Ernst ausg’schlagen is – da hab’ ich g’meint, an den müßt’ ich mich anhalten, und ich könnt’ mir a Heimstatt für a richtig’s und a ruhiges Leben schaffen, bei dem ich auch amal ’was sein und gelten möcht’! Und das hat sich so ’neing’setzt in mich – und nimmer aus’lassen hat’s mich, so daß ich g’meint hab’, ich müßt’s im Schlechten verzwingen, weil’s im Guten net gehn hat wollen. Und wie’s mir fehlg’schlagen is – g’rad so, wie’s mir zug’hört hat – da hab’ ich mich in der Wuth und im gachen Zorn zu ’was überreden lassen –“

„Sei stad, Kuni – sei stad! Brauchst mir nimmer sagen, was ich lang schon weiß!“ fuhr Götz mit bebenden Worten auf.

„Was – was weißt?“ stotterte sie erschrocken.

„Was mir der Karli verzählt hat – und was ich drüber ’naus leicht hab’ errathen müssen. Kuni – Kuni! Nur g’rad das Eine wann net ’than hättst – das Eine net! Was für a Freud’ könnt’ ich haben in der jetzigen Stund’, wann g’rad das Einzige net g’schehen wär’!“

Mit einem schluchzenden Athemzug in sich versinkend, schlug Kuni die Hände vor die Stirn.

Stumm und regungslos saß Götz an ihrer Seite und starrte mit nassen Augen in die Nacht hinaus.

Vor ihnen, von dem Rande des weit vorspringenden Daches, ging ein leises Triefen und Rieseln nieder. Es hatte längst zu regnen begonnen. Und gleich unter die ersten fallenden Tropfen hatten sich weiße Flocken gemischt.

Leiser und leiser wurde das Rieseln und Triefen; mehr und mehr versiegte der Regen; immer größer und reichlicher fielen die im kalten Wind durch einander wirbelnden Flocken auf die Erde und überall begann schon der Schnee zu haften, und das Dunkel der Nacht verwandelte sich in graue Dämmerung.

Ein Schauer rüttelte Kuni’s Schultern. Schwer athmend richtete sie sich auf und stieß mit tonloser Stimme vor sich hin: „Schier kann ich’s net denken, daß Alles weißt – Alles! Aber a härtere Straf’ hätt’ mir unser Herrgott dafür net schicken können, als daß ich vor Dir so sitzen und fürchten muß: Du weißt es – kein’ härtere Straf’ net, als Dein’ letzte Red’. Aber wie’s auch sein mag jetzt, ein Trost is dengerst dabei, und an den halt’ ich mich an.“ Ihre Stimme hob sich zu festem, fast zornigem Ton. „Mir hab’ ich a Heimath schaffen wollen – und Dir soll’s bleiben. Was mir zum Uebel g’rathen is, soll wenigstens Dir zum Guten sein!“

„Na, Kuni – na! Wie kannst an Augenblick g’rad denken, daß ich mein’ Heimath finden möcht’ unter ei’m Dach, unter das mein eigens Kind den sündhaften Unfried’ ’neing’sät hat mit offene Händ’.“

„Jesus Maria! Du willst net bleiben?“

„Na, Kuni, jetzt schon gar nimmer! Und net an einzigen Tag mehr! Jetzt muß ich Deinetwegen schon gehn!“

„Vater!“ stammelte sie mit versagender Stimme.

„Mußt mich net falsch verstehn!“ erwiederte Götz mit hastigen Worten, in deren zitterndem Klang sich seine Thränen verriethen. „Für mich war so wie so kein Bleiben nimmer. Und wenn ich’s auch schon verwinden könnt’, das Anschaun mit die g’wissen Blick’ und das g’wisse Wispeln hinter Ei’m – und sonst noch alles Andere – ich könnt’ net bleiben mit der ewigen Lug’, daß wir zwei fremd sind zu einander, und daß ich’s net zeigen dürfet, was ich Dir gelten möcht’.“

„Warum denn net – warum sollst es net zeigen dürfen? Jeder soll’s wissen – a Jeder! Und morgen gleich in aller Fruh’ –“

„Laß gut sein, Kuni,“ unterbrach er ihre sprudelnden Worte; „ich denk’ ja net an Dich, und daß Dich ’leicht meinetwegen schamen könntst! Denn wann schon Dei’m Vater z’lieb den Gori vertragen hast – aber ja – was ich sagen will – schau, ich hab’ Dir noch net amal a Vergelt’s Gott g’sagt dafür! So sag’ ich Dir’s halt jetzt – und sag’ Dir’s von ganzem Herzen. Aber daß wir weiterreden – schau – ich muß an die Andern denken – und denk’ an die Bäuerin auf der Point, wo vor die Leut’ kein’ Vater net haben darf, der im Zuchthaus g’sessen is – gleichviel, warum!“

„Jetzt – ja – jetzt wird mein’ Straf’ erst ganz!“ stammelte Kuni unter heftigem Schluchzen. „Aber g’schieht mir schon recht! Hätt’ ich nur mei’m ersten Gedanken g’folgt – g’reut hat’s mich ja so wie so von der ersten Stund’ an! Jeden Tag is mir’s g’wesen, als müßt’ ich auf und davon laufen. Aber da hab’ ich an Brief abg’fangt – ’s schlechte G’wissen hat mich ’trieben dazu – vom Karli war er – und wie ich drin g’lesen hab’, daß er mir d’ Schand’ ins G’sicht ’neinschimpft von wegen mei’m Vater, den ich nie net ’kennt hab’ – da is der Zorn über mich ’kommen und ich hab’ mir g’sagt: jetzt g’rad mit Fleiß! Und jetzt – jetzt muß ich’s büßen an mei’m Vater g’rad! Aber na – na –“

Schluchzend warf sie sich über Götz und schlug in heißer Leidenschaft die Arme um seinen Hals.

„Kuni – Kuni –“

„Na, na, und ich laß’ Dich net fort, und wann ich Dich halten müßt’ mit mei’m Leben! Soll ich Dich g’funden haben in der heutigen Nacht, daß uns der morgige Tag wieder von einander reißt? Na – und ich laß’ Dich net fort und Du därfst net gehn – Du, der Einzig’, an den ich a Recht hätt’ zum halten und lieben! Oder – oder wenn’s net anders sein kann, so nimm’ mich fort mit Dir! Ueberall – überall geh ich hin! Wir zwei, wir brauchen uns, wie’s Feuer a Holz! D’ Händ’ will ich Dir unter d’ Füß’ legen, an die Augen will ich Dir Alles abschauen, und blutig schinden will ich mich für Dich – bloß daß ich mir Dein’ Lieb’ verdien’ – und ’s Bleiben bei Dir. Hundertmal lieber is mir ’s Leben mit Dir, und wenn’s in Noth und Elend wär’, als wie a wohligs Leben in dem Haus da, in das ich net ’neing’hör’, in das ich mich ’neindrängt hab’ mit Schlechtigkeit, in dem ich Alles in Unfried’ ’bracht hab’, was zu einander g’hört! Laß mich mit Dir gehn, Vater – laß mich – laß mich!“

„Um Gotteswillen, Kuni, was redst denn jetzt da daher!“ stammelte Götz und drückte Kuni’s Gesicht, als möchte er ihr krampfhaftes Schluchzen ersticken, mit zitternden Händen an seine Brust. „So sei doch g’scheit – so gieb Dich doch z’frieden!

[853]

Vor dem Friedensrichter.
Nach dem Oelgemälde von C. Häberlin.

[854] So ’was laßt sich doch net ausreden in einer Stund’ – und in der gachen Hitz’! Schau – laß Dir sagen –“

„Na – na – und ich laß’ Dich net fort – und ich thu’ mir ’was an – oder – oder ich lauf’ Dir nach auf Schritt und Tritt!“

„Aber, Kuni! Um Gotteswillen, so nimm doch g’rad Verstand an!“

„Ja! Hast Recht. Ich will Verstand annehmen! Und ich thu’s auch gern! Ich muß mir’s selber schon sagen, daß net bleiben kannst. Der Gori wird net schweigen – jetzt redt er schon aus Wuth über mich und Dich!“

„Sorg’ Dich net, Kuni! Dem will ich ’s Reden schon verlegen, dem!“

„Du kennst ihn net! Und ’leicht is morgen auch schon für Alles z’spät, ’leicht hat er jetzt im Wirthshaus drüben schon Alles ausposaunt! Und wie d’ Leut’ über manches denken – soll ich Dir a Beispiel sagen? Denk’ an den Spinner-Veit! Und ich, Vater, ich soll das ertragen können, daß Dir a Jeder aus’m Weg geht auf der Straßen und daß Dir die Buben nachlaufen mit G’spött und G’lachter! Na, na, da springet ich schon ins Wasser, eh’ daß ich so ’was tragen möcht’! Es is für Dich kein Bleiben nimmer! Ich sieh’s ja selber ein, daß D’ fort mußt, fort, und heut’ noch in der Nacht! Aber ich laß Dich net gehn allein – ich geh mit Dir – und anhängen thu’ ich mich an Dich – und kein’ Schritt nimmer laß’ ich Dich von meiner Seit’ –“

„Aber, Deandl[1], Du lieber Himmel,“ stammelte Götz, durch die wilde Leidenschaft dieser schluchzenden Worte in hilflose Bestürzung versetzt. „So nimm’ doch g’rad an Rath an – sei doch g’scheit! Es wird sich ja Alles noch rechten und schlichten lassen! Geh weiter, schau, jetzt schlafen wir z’erst amal drüber! Da heraußen is ja doch kein Bleiben nimmer! Schau nur g’rad ’naus in d’ Nacht, wie’s thut! Zitterst ja schon als a ganzer – und es muß Dich ja frieren – hast ja schier nix an – und d’ Nässen muß Dir ja schaden! Komm’ – sei g’scheit – und geh jetzt ’nein ins Haus – und –“

In tonlosem Stottern erloschen seine Worte. Es war ihm eine Erinnerung gekommen, bei der ihm vor jähem Schreck die Sprache verging. Fester noch schlangen sich seine Arme um den Hals des schluchzenden Weibes, und wortlos starrte er eine Weile hinaus in das dichte, weiße Gestöber.

„Ja, Kuni – wer weiß – ob Du net ’s einzig’ Rechte g’funden hast!“ murmelte er mit heiserer Stimme. „Für mich is kein Bleiben nimmer – und im Guten auch net für Dich! Ins Haus kannst nimmer ’nein in Ruh’ – drin warten s’ ja schon auf Dich – ich selber hab’ Dir den Weg verlegt. Zwar hab’ ich Dir Unrecht ’than damit – drin aber werden s’ Dich fragen, wo g’wesen bist. Und da mußt entweder an Verdacht auf Dir liegen lassen, den Keiner weniger auf Dir wissen möcht’ als ich, oder Du mußt die ganze Wahrheit sagen. Und Eins wie’s Andere geht net an. Denn wann der Pointner nach Allem, was er heut’ am Abend g’hört hat, schon wegen ei’m Knecht auf die Leut’ ihr Reden passen und auf ihr Achselzucken schauen muß – hast es ja hören können von ihm – was möcht’ er erst sagen zu so ei’m Schwiegervater! Ja, Kuni, ja, wir zwei, wir haben bloß noch an einzigen Weg! Wir zwei, wir g’hören z’samm’! Ich hab’ mein Leben verloren – Du hast das Deinige verspielt – wir zwei, wir thäten schon zu einander taugen, und wenn ich auch net Dein Vater wär’ und Du mein Deandl net. Und daß ich Dir’s sag’ – ich fang’s zum spüren an – wir brauchen einander wie a Feuer ’s Holz! Und wenn’s Dir ernst war, Kuni – mit’m Fortgehn – ich nimm’ Dich mit!“

„Da hast mich, Vater – da hast mich!“

„Aber sagen muß ich Dir’s – ich kann Dir net viel Gutes zum hoffen geben. Der silberne Ring, den am Finger tragst, der schließt Dein Leben ab – und das einzige Glück, das Dir noch zusteht, is d’ Ruh in Dir und ’s Zufriedensein bei der Arbeit.“

„Na, Vater – net wahr is! Mir steht a Glück noch zu, wo mir lieber is als jedes andere – ’s Bleiben bei Dir – und Dein Lieb’ – Dein Lieb’!“

„Kuni – Deandl!“ stammelte Götz, und heiße Thränen schossen ihm über die Wangen. „In mir – da sollst Dich g’wiß net täuschen! Was ich Dir schaffen und bieten kann, das soll Dir sicher sein!“ Eine zitternde Erregung überkam ihn, und seine Worte begannen sich zu überstürzen: „Und jetzt, Kuni – schau – jetzt kann ich mir’s schon gar nimmer denken, daß ich fort hätt’ sollen – ohne Dich.“

„Ich hätt’ Dich net ’lassen – nie net – nie!“ schluchzte sie und preßte ihr nasses, heißes Gesicht an seine Wange.

„Und mag’s a Unrecht sein, daß ich Dich fortnimm – a Unrecht gegen dem Pfarrer sein heiligs Wort – ich mach’ ja a größers Unrecht gut damit – und da is mit einer Stund’ alles g’löscht und g’hoben, was unter dem Dach da drüben durch lange Jahr’ a unguts Dauern hätt’ haben müssen. Und mir – mir schaff’ ich an Trost für meine letzten Jahr’ – und mag mir’s unser Herrgott verzeihen, daß ich a Bißl an mich selber denk’. Und gar so harb, Kuni – gar so harb sollst es auch net haben bei mir. Ich hab’ schon a Bißl ’was, wo ich mir in elf Jahr’ lang z’samm’g’spart hab – das hilft uns übern Winter fort – und bis zum Frühjahr, da will ich uns schon an Arbeit g’funden haben, und a Platzl zum Bleiben. Aber weit fort müssen wir, weit fort – daß uns keiner mehr erfragt!“

„Ja, Vater, ja!“

„Und heut’ noch müssen wir fort, jetzt in der Nacht!“

„Ja, Vater, ja!“

„In der jetzigen Stund’ noch – aber – aber na – es geht ja net – so kannst ja net fort – hast ja schier nix an! Aber wart’ – mir fallt ’was ein! Ich schaff’ Dir a G’wand!“

In zitternder Erregung löste er sich aus ihren Armen, stieß die schweren Schuhe von den Füßen und eilte davon.

Als er sein Stübchen im Gesindehaus erreichte, verrieth ihm ein lautes Schnarchen, daß er von Stoffel’s Ohren Nichts zu fürchten hatte. Lautlos sperrte er seinen Koffer auf, grub zu unterst einen strotzenden Beutel hervor, den er mit scheuer Sorge an seiner Brust verwahrte. In zitternder Eile schnürte er verschiedene Kleidungsstücke zu einem Pack zusammen, drückte sich eine wollene Mütze aufs Haar und nahm einen faltigen Mantel über die Schulter. So verließ er das Stübchen, eilte quer über den beschneiten Hof nach der Hinterseite des Wohnhauses und warf, was er trug, zu Füßen der Mauer auf die Erde. Wieder kletterte er über das aufgeschichtete Scheitholz empor. „Karli – Karli!“ rief er mit halblauter Stimme, und als er keine Antwort erhielt, schwang er sich durch das offene Fenster. Drinnen in der leeren Kammer machte er Licht, trat in den Flur hinaus und lauschte mit verhaltenem Athem über die Treppe hinunter. Aus der Stube herauf meinte er den murmelnden Klang einer hastig redenden Stimme zu vernehmen. Geräuschlos öffnete er die Thür des nebenanliegenden Stübchens und riß einen Kasten auf, der mit Frauenkleidern angefüllt war. Er nahm, was ihm zuerst in die Hände fiel – ein schwarzes Leibchen, einen gestreiften Rock, und unten aus einem Winkel ein Paar Tuchschuhe mit baumelnden Quästchen.

Auf dem gleichen Wege, auf dem er gekommen, verließ er wieder das Haus. Als er die Rückseite des Gesindetraktes erreichte, kam ihm Kuni schon mit ausgestreckten Armen entgegen. Betroffen starrte sie ihn an, als sie beim falben Schneelicht das Gewand erkannte, das er brachte – das Gewand, in welchem sie an jenem Sonntag den Pointnerhof betreten hatte. Während sie sich bekleidete, stand er wortlos abgewandt. Dann riß er das wollene Tuch von seinem Halse und band es ihr über Stirn und Haare. Auch mußte sie dulden, daß er seinen Mantel um ihre Schultern legte.

„Komm! So komm halt jetzt! Und der liebe Herrgott mag uns gut sein auf unserm heimlichen Weg!“

Laut weinend warf sich Kuni an seinen Hals. Er aber wehrte sie sanft von sich ab, faßte sie bei der Hand und zog sie mit sich hinaus auf die beschneite Wiese und in das dichte Gestöber.

Sie gingen den gleichen Weg, den Kuni einst gekommen.

Als sie den steilen Hang hinter dem Garten überwunden hatten, hielt Götz schwer athmend inne und wandte die Augen nach dem Gehöft zurück.

„So b’hüt Euch Gott halt,“ schluchzte er, „und b’hüt Dich Gott, Du Haus, Du liebs – vom Unfried’ bist erlöst – mag jetzt der Frieden wieder Einkehr halten unter Dei’m Dach!“

Nun schritten sie wortlos bergwärts durch den weißen Schnee und hinter ihnen löschten die fallenden Flocken die Spur ihres Weges.


(Fortsetzung folgt.)


  1. Deandl, vom Vater zur Tochter gebraucht, hat nur die Bedeutung von „Kind!“.


[855]

Im Kinderhospital.

Ein Skizzenblatt von Elise Polko.
„Schaffet die Thränen und  
Schmerzen der Kinder ab!“ 
Jean Paul.0  

Ein Kinderhospital! So lange ich denken kann, erfüllt mich die Sehnsucht, zu sehen, daß für kranke, verlassene Kinder Heilstätten errichtet werden, womöglich in jeder Stadt, in jedem Dorf: ich dachte mir’s so leicht, derartige Asyle einzurichten! Wenn ich nun in meiner Weise davon redete, sagte mein herrlicher, mildherziger Vater, der Alles hingab für die Armen, scherzend: „Warte, bis Dein Taschengeld dazu reicht!“ – Damals reichte es nur zum Freikauf von allerlei einheimischen Singvögeln, die auf den Wochenmärkten Leipzigs in engen niederen Holzkäfigen trübselig auf ihrem Stengel saßen, oder angstvoll, mit einer herzbeklemmenden Gleichmäßigkeit hin und her hüpften, so gut es eben gehen wollte. Ich fühle sie noch heute, jene Seligkeit, wenn wir nach abgeschlossenem Handel, einer meiner Brüder und ich, mit unserm Eigenthum abzogen und an irgend einer abgelegenen Stelle in den Anlagen, mit bebender Hand die Thürchen öffneten. Ein leichter Schrei – ein hastiges halb Flattern, halb Stürzen bis zum nächsten Ast, dann ein Schütteln und Spreizen der Federn, ein zweiter Schrei – ein Hinaustaumeln in die Luft, dann ein Auffliegen hoch in den blauen Aether!

Die Jahre schwanden – das Taschengeld reichte nie, bis zur Stunde nicht!

Ein Kinderhospital! Wie viele Zeit verging, ehe ich den Traum meiner Jugend zum ersten Male verwirklicht sah – zwar damals noch in einfacher Art, aber meine Augen blickten doch in ein Segensasyl, das sich jenen kleinen hilflosen Wesen erschloß, die im Banne der Schmerzen seufzten. Ein Kind ist für uns die Verkörperung der sorglosen Fröhlichkeit, des unbewußten Glücks; wir möchten uns ein Kind nicht anders denken, als von zärtlicher Sorge umgeben, wohl behütet, weich gebettet, lachend und jauchzend. Deßhalb zerreißt uns der Anblick eines traurigen, kranken, darbenden Kindes das Herz. Der große Shakespeare führt das Mitleid ein in Gestalt eines kleinen Kindes. Wie tief uns auch der Anblick der Noth und des Elends der Menschen erschüttert – Kindesleid rührt und ergreift uns doch am meisten.

Es ist ein erhebendes Gefühl, daß unsere Zeit für die armen verlassenen Kinder sorgt: es öffnen überall, an allen Orten und Enden, große und kleine Asyle ihre Pforten um sie aufzunehmen; es strecken sich fort und fort warme Hände nach ihnen aus. Und doch – wie viel giebt es hier noch zu sorgen, zu hoffen und zu wünschen, wie Manches ließe sich noch erreichen durch Opferwilligkeit!

*               *
*

Das erste Kinderhospital erschloß sich mir in München. Es stand damals unter dem Protektorat der jetzt so schwergeprüften Königin-Mutter, geborenen Prinzessin von Preußen. Freiwillige Beiträge und Legate sowie die uneigennützigste Aufopferung des ärztlichen Leiters, des berühmten Kinderarztes Geheimerath Dr. Hauner, und der treuen Pflegerinnen, der barmherzigen Schwestern, ermöglichten das Bestehen.

Im ersten Jahre wurde das Kinderhospital mit nur zwölf Betten in einer gemietheten Wohnung eröffnet. Als ich es sah, hatte es schon sein fünfundzwanzigjähriges Jubiläum gefeiert, und es waren einige dreißig Betten aufgestellt in dem kleinen Hause in der Jägerstraße, das man gekauft.

Es war ein herrlicher Sommertag; der Menschenstrom wogte an uns vorüber hinaus in den englischen Garten, um den jungen schönen König zu sehen, der um diese Zeit dort spazieren fahren sollte. Equipagen rollten an uns vorüber mit ihren eleganten Insassen; überall heitere Gesichter, fröhliches, bewegtes Leben. Lachende Kinder an der Hand glücklicher Mütter hüpften daher. Und dort – jenseit der Mauer – wie viel Jammer und zugleich – wie viel rührende Sorge! Eine Art Gärtchen war angelegt – angefüllt mit verschiedenen kleinen Tischen, Stühlen und Krankenwagen. Da saß und lag denn die kleine Schar blasser Patienten, Knaben und Mädchen, unter der Aufsicht der barmherzigen Schwestern, die mit ihnen spielten. Die Kinder waren alle sauber gekleidet; Wäsche und Decken in den Wagen schimmerten in blendender Weiße. Ihre Pflegerinnen wandelten zwischen ihnen hin und her, brachten hier einem Durstigen Milch, theilten dort Brot aus, banden ein Schürzchen zu oder bückten sich nach einem gelösten Schuhband, lockerten einen Verband, rückten eben zurechtgelegte Kissen von Neuem, glätteten verschobene Decken mit sanfter Hand, lächelten den Frohen zu und trösteten die Traurigen – unermüdlich dienend und helfend heute wie gestern und morgen.

Auf unsere Frage nach der Oberin trat uns auf der Schwelle der Eingangsthür des bescheidenen Hauses eine schlanke Frauengestalt in der einfachen Ordenstracht entgegen mit dem gütigsten Antlitz. Unter ihrer Führung durften wir alle Räume durchwandern. In die Zimmer der kranken Knaben traten wir zuerst. Nie vergesse ich den herzergreifenden Anblick der kindlichen Leidensgesichter in ihren Gitterbettchen. – Ein reizender zweijähriger Junge richtete sich lustig krähend immer wieder auf; die großen Augen lachten in heller Freude trotz der Blässe der Wangen; er streckte die Arme nach der Oberin aus und – nach unsern kleinen Kuchen.

„Diesen Vormittag erst hat er eine Operation überstanden wie ein Held,“ sagte unsere Führerin und streichelte das lockige Köpfchen. „Könnte ihn jetzt seine Mutter sehen! Sie ist weit draußen auf dem Lande auf Arbeit, aber wir haben ihr einen Boten geschickt!“

Da lag vielleicht eben jetzt auf freiem Felde ein armes Weib auf den Knieen, im brünstigsten Gebet für ihr Kind, das sie selber in ihrem elenden Daheim nicht hatte hegen und pflegen können und dürfen und das es nun so gut hatte „wie ein Prinz“. Was sie wohl darum gegeben hätte, ihren kleinen Jungen so jauchzen zu hören! –

Das war der erste Eindruck eines Kinderhospitals. – Später saß ich gar manches Mal in jenem stillen kleinen Asyl der Kinderpflege-Anstalt der barmherzigen Schwestern in Minden und war Augenzeugin der Geduld und Liebe jener treuesten Hüterinnen verwahrloster und elender Kinder, die hier eine Zuflucht fanden und sich aus der dumpfen Stickluft eines dunklen, armseligen Daseins in eine reine Atmosphäre voll Sonnenschein und Frieden versetzt sahen.

Ein Asyl aber, wie man es nicht schöner träumen kann, betrat ich zuletzt in Köln. Die Hand einer einzigen Frau hat es errichtet – einer Trauernden, die den geliebten Gatten verlor. Es erscheint so natürlich, daß ein Frauenherz, von einem tiefen Schmerz betroffen, Trost sucht in der Linderung des Wehes Anderer – und doch, wie selten tritt dies in so strahlender Weise zu Tage, als eben hier!

Die jüngst verstorbene Baronin Abraham von Oppenheim hat sich und zugleich ihrem verklärten Gefährten, einem der edelsten, weit und breit bekannten Wohlthäter, durch ihr großartiges Kinderhospital ein unvergängliches Denkmal gesetzt. Glücklich, wer so geben kann – und doch finden sich verhältnißmäßig wenige unter den mit Reichthum Gesegneten, die in solcher Weise ihren leidenden Mitmenschen Gutes thun!

Seltsam erschien mir der Kontrast zwischen dem Prachtbau in der Severinstraße der alten Rheinstadt und jenem Kinderasyl in München.

Eine schöne edle Treppenhalle, erleuchtet von einer mächtigen Ampel, die ihr Licht durch bunte Scheiben ausstrahlte, empfing uns hier an jenem rauhen Novemberabend, als wir das Oppenheim’sche Kinderhospital betraten. Ueberall wohlthuendste Stille und gleichmäßige Wärme; der Schritt bleibt unhörbar auf dem mit Teppichen und Matten belegten Boden. Eine barmherzige Schwester – fünf versehen dort den Dienst – begrüßte uns als unsere Führerin; ihr mildes freundliches Gesicht mit den lieben Augen mußte den Kranken wie den Gesunden sympathisch sein.

In dem unteren Empfangszimmer, das zugleich ein großes prächtiges Spielzimmer war, schaute das lebensgroße und lebensvolle Bildniß Abraham von Oppenheim’s auf uns nieder; in [856] der Fülle der Kraft und Gesundheit, mit einem sinnenden Ausdruck von Geist und Güte blickt er in die Ferne. Und zu seinen Füßen liegt die kleine und doch so große Welt der kranken und genesenden Kinder!

Durch eine Glasthür erhält man den Einblick in zwei zusammenhängende Säle: in dem ersten liegen die kranken Mädchen, in dem zweiten die Knaben. Da stehen sie, die zierlichen hellen Eisenbettstellen mit den blank geputzten, wie Gold leuchtenden Knöpfen, mit den blüthenweißen Kissen und Decken, jedes Bett mit einer Art von hängendem Tisch versehen, der nach Belieben hin- und hergeschoben werden kann. Er dient zum Speise-, Arbeits- und Spieltisch. Und in jedem dieser Bettchen, in ein faltiges Nachtkleidchen von rothem Parchent gehüllt, lag eine größere oder kleinere Leidensgestalt.

„Es sind die Operirten,“ flüsterte die Schwester.

Welche Verschiedenheit des Ausdrucks in den Kindergesichtern! Wie alt einige von ihnen erschienen – als ob auch hier die sogenannten Kriegsjahre, die Zeiten des stillen Kämpfens, Darbens und Leidens, doppelt zählten! Wie aus Vogelaugen, furchtlos und vertrauend, schaute es uns an – aber manche der kleinen Dulderinnen hob nur müde die Wimpern für einen Augenblick, während wir mit beklemmendem Herzweh an ihrem Lager standen und dem Bericht unserer Führerin lauschten: Ein schönes Kind der Armuth lag mit glühenden Wangen regungslos in tiefstem Schlaf – das blonde Lockenhaar floß weithin über die Kissen.

„Es wurde diesen Morgen erst operirt,“ erzählte die Schwester, „jetzt fiebert es stark,“ und die weiche Hand der treuen Pflegerin berührte sanft die Stirn der Schläferin. Glückliches Kind, es entbehrt die Mutterhand nicht!

Die breite Flügelthür des Knabensaales stand weit offen – hier lagen lustige Plauderer zwischen stillen, ernst blickenden Duldern. Wie hell und doch sanft das Licht, wie rein die Luft, welche peinliche Sauberkeit überall, wie hoch die weiten Räume! Und hier wie dort glitten zwischen den Bettchen die Gestalten der irdischen Engel der Barmherzigkeit lautlos auf und nieder, geduldig jedem Rufe folgend, heiter tröstend, beschwichtigend, helfend Tag und Nacht, Jahr aus Jahr ein.

Im obern Stockwerk, neue Leidensstationen – die kleinsten der kranken Kinder, dieselben schönen Säle und – dasselbe Leid, derselbe Jammer – kranke, hinsiechende, zum Theil hoffnungslose Kinder! Da lag hier und dort ein Spielzeug auf der Decke, das Entzücken jedes gesunden Kindes. Ach, die matten Händchen hatten die Kraft verloren, nach ihm zu greifen! Und doch – ein süßer Trost schleicht sich in unser Herz: es ist eben unmöglich, daß den jugendlichen Märtyrern das Leiden, Genesen und selbst das Sterben leichter gemacht werden kann auf Erden, als es eben hier geschieht. Jede Einrichtung im ganzen Hause war darauf berechnet, alle Errungenschaften der Wissenschaft waren zum Besten der Kinder gleichsam in den Dienst genommen worden.

Wir haben alle Räume dieses großartigen Asyls gesehen; alle Schränke wurden geöffnet; man zeigte uns die reichen Vorräthe der Hausapotheke, die großen und kleinen Badewannen blitzend von Sauberkeit, auf Rollen gehend, damit sie bis zu jedem Bettchen geschoben werden können, die verschiedenen Fahrstühle, in denen man die kleinen Patienten auf jene breite bedeckte Terrasse schiebt, die das Haus von drei Seiten umgiebt: ein vollkommen geschützter Platz, wo sie vom frühen Morgen an, wenn es die Jahreszeit nur irgend erlaubt, frische Luft genießen dürfen, mit dem Blick auf Gärten und Baumgruppen.

Im Operationszimmer waren wir, wo alle die verschiedenen Heilinstrumente hinter den blanken Scheiben der Schränke leuchteten, als hätten sie nur lustige Geschichten zu erzählen und kämen eben aus der Werkstatt ihres Meisters. Es schalten und walten übrigens auch bewährte Meister hier, die Oberärzte des Kölner Bürgerhospitals, Professor Dr. Bardenheuer und Professor Dr. Leichtenstern; ein jüngerer Arzt, bekannt als ausgezeichneter Kinderarzt, wohnt im Oppenheim’schen Hospital selbst.

Das ärztliche Sprechzimmer liegt vor dem Operationsraum; überall Luft, Licht und Komfort!

Was nun die verschiedenen Küchen-, Speisekammer- und Wäschevorräthe betrifft, so schienen sie unter der geheimnißvollen Aufsicht der berühmten Kölnischen Heinzelmännchen zu stehen, jener fleißigen kleinen Unterirdischen, die sofort jede Lücke wieder füllten.

Im oberen Stockwerk liegt auch ein Betzimmer mit geschmücktem Altar, wo die Mutter des Weltheilandes thront, der seine Arme ausbreitete und rief: „Lasset die Kindlein zu mir kommen!“

Daneben befindet sich ein schönes Gemach mit einigen Kinderbetten für solche Kranke, die um eine besondere Aufnahme bitten und dafür zahlen, was eben in Ausnahmefällen gestattet wird.

Und an das Hauptgebäude schmiegt sich auch ein kleiner ernster Bau, die Todtenkammer für jene Kleinen, die still und unbewußt dahingingen in Frieden, die, sanft gebettet von weichen Frauenhänden, einschlummerten für immer unter den frommen Gebeten ihrer Pflegerinnen.

Alles – Alles ist eben da!

Nur an Sonntagen ist es den Angehörigen erlaubt, die kleinen Kranken zu sehen, und ist ein Kind vollständig genesen, so erhalten die Eltern die Nachricht, daß sie das Genesene abholen dürfen. Ach, diese Botschaft muß nicht selten mehrere Male wiederholt werden – die Eile, das Kind wieder zu sich zu nehmen, ist meist sehr gering. Und ob bei den Sonntagsbesuchen die Angehörigen der Kleinen voll Dank und Freude dies herrliche Asyl verlassen?

Die Menschenkenner sagen: Nein!

Die Stadt Köln hat auf Wunsch der edlen Stifterin die Verwaltung des Kinderhospitals übernommen. Dasselbe ist jedoch nicht nur einzig und allein aus den Mitteln der Geberin gestiftet, sondern wird auch ausschließlich aus eben diesen Mitteln erhalten. Die edle Wohlthäterin hat Hunderttausende von Mark zur Gründung und Unterhaltung des Hospitals verausgabt. Es sollen im Ganzen 30 nicht zahlende Kinder dort aufgenommen werden; einige zahlende können dann noch hinzukommen.

Wie viele andere großartige Spenden diese seltene Frau ausgetheilt, für wie viel Gemeinnütziges sie auch in ihrem Testament Sorge getragen hat: für die Herzen der Frauen ist und bleibt doch ihr herrliches Asyl für kranke Kinder die interessanteste und rührendste aller Wohlthaten. Und ich meine, die Frauen und Mädchen aller Stände und Konfessionen sollten sich mühen, ihr Scherflein, groß oder klein, beizutragen, daß auch in den kleinsten Orten ein solches Asyl sich aufthue für unsere armen kleinen Hilflosen.

Nicht an jene großartige Stiftung, an den Prachtbau des Kinderhospitals mit 30 Betten in der alten Rheinstadt denke ich bei diesem Wunsche – in der Isarstadt war damals auch Alles nur eng und klein. Wenn es nur drei Bettchen sind – tausendfältig ist der Segen, den sie bringen! Der Wind trägt ja das Samenkorn auch weit, weit ins Land hinein und legt es an irgend einem Plätzchen nieder, daß es keime: so geschieht es auch mit dem bittenden, anregenden Wort und mit der kleinsten That. –

Die Lichter des Weihnachtsbaumes zittern von fern durch den Nebel, während ich dies schreibe, und im Kinderhospital der nun selig entschlafenen Frau von Oppenheim erzählt man den aufhorchenden Kleinen die heilige Mär vom Christkindchen. Die gütige Fee dieses Asyls der Liebe bringt ihnen Allen, wenn sie selber auch nicht mehr auf Erden weilt, doch noch zum Feste reiche Gaben, und in die matten Kinderaugen kehrt dann für eine Weile der alte Glanz zurück – – und manches Kind unter den kleinen Kranken nimmt vielleicht diese Freude mit, als süßen Traum, in den letzten Schlaf.

Die Sylvesterglocken werden bald läuten und unter den heißen Wünschen für das neue Jahr, die in meinem Herzen stehen, ist einer der heißesten: das Aufblühen der Pflegstätten für kranke Kinder überall, wo es Noth thut. Und wo thäte es nicht Noth?!

Segen Allen, die dazu helfen! Und ehrendes Andenken für jene großherzige heimgegangene Wohlthäterin am Rhein, die in solcher Weise „die Thränen und Schmerzen der Kinder“ abschaffen half.


[857]

Der erste Generalpostmeister des Deutschen Reichs.

Wer im Jahre 1871 den Einzug unserer siegreich heimkehrenden Truppen in Berlin mit angesehen hat, der erinnert sich vielleicht noch, wie aus dem waffenblitzenden Triumphzuge heraus plötzlich Posthornklänge ertönten und eine schmucke Kavalkade in den historischen Farben der preußischen Post, von da ab der wiedererstandenen deutschen Reichspost, sichtbar wurde. „Das ist unsere Feldpost,“ hieß es, und lauter wurde der Jubel, brausender ertönten die Zurufe aus den Reihen der dichtgedrängten Zuschauer. Begeistert stimme auch ich mit ein in den Jubel und rufe mein Hurrah so kräftig wie Einer; denn ich habe ja selber in dem großen Einheitskriege mitgerungen und schulde den Zoll der Dankbarkeit jenen Männern, die durch die prompte Beförderung meiner Feldpostkarten dem alten Mütterchen in der fernen Heimath die bange Zeit der Erwartung so oft abgekürzt haben. Wie Vielen gleiche Wohlthaten zu Theil geworden, das wurde mir freilich erst klar, als ich später den officiellen Ausweis zu Gesicht bekam, nach welchem vom Juli 1870 bis zum März 1871 nicht weniger als 90 Millionen Briefe und Postkarten, ferner Geldsendungen im Werthe von 180 Millionen Mark, zweieinhalb Millionen Zeitungen und etwa zwei Millionen Packete von der deutschen Feldpost befördert worden sind, das heißt täglich mehr als 450 000 Gegenstände!

Damals hörte ich zum ersten Male den Namen Stephan als den des Mannes nennen, der diese großartige Organisation ins Leben gerufen und am Leben erhalten hatte, und solche, die es wissen konnten, fügten hinzu, daß derselbe Mann auf dem Gebiete des Verkehrswesens bald mehr von sich hören lassen werde. Seitdem sind sechzehn Jahre ins Land gegangen, und jene Prophezeiungen haben, wie Jedermann weiß, sich glänzend erfüllt. Da lohnt es sich denn wohl, das an Arbeit und Mühen, aber auch an beispiellosen Erfolgen so reiche Leben des hervorragenden Mannes in, wenn auch nur knappen, so doch auf thatsächlichen Wahrnehmungen beruhenden Zügen zu schildern.

Staatssekretär Dr. Heinrich v. Stephan.

Jedes Konversationslexikon giebt uns darüber Auskunft, daß der Generalpostmeister Dr. von Stephan am 7. Januar 1831 zu Stolp in Pommern geboren, nach bestandener Abgangsprüfung auf dem Gymnasium seiner Vaterstadt ins Postfach eingetreten ist, auf dem von ihm beschrittenen Gebiete Stufe um Stufe erklommen hat und bereits im April 1870 – 39 Jahre alt – an die Spitze des deutschen Postwesens berufen worden ist. – Drei Jahre vorher war sein Name zum ersten Male in weiteren Kreisen genannt worden, als er, von der preußischen Regierung zur Ablösung der Taxis’schen Postgerechtsame nach Frankfurt am Main entsandt, in der alten Kaiserstadt erschien und sein Werk damit begann, daß er kurz entschlossen Hand auf die Registratur der Taxis’schen Post legte und dieselbe, um Irrungen vorzubeugen, durch eine Kompagnie Soldaten besetzen ließ. Mit sicherem Blick griff er die Dokumente, welche über die Geschäftsführung und die finanziellen Ergebnisse des Taxis’schen Unternehmens Aufschluß zu geben geeignet waren, heraus und brachte das unsagbar mühselige Werk in verhältnißmäßig kurzer Zeit zu ersprießlichem Ende: schon zu Anfang Januar 1867 war der letzte Rest der mittelalterlichen Feudalpost auf deutschem Boden beseitigt.

Im Jahre 1870 Generalpostdirektor des Norddeutschen Bundes geworden, ging der große Postreformer eben an die Verwirklichung des Gedankens, auf dem Gebiete des Verkehrs eine die Gesammtheit der Kulturvölker umfassende Vereinigung herbeizuführen, als der Ausbruch des Krieges das Friedenswerk störte.

Nachdem der Krieg das Reich neu geeint hatte, vollbrachte der nun zum Generalpostmeister Ernannte das Einigungswerk auch auf dem Gebiete der Post, indem die norddeutschen Postinstitute zu einer einheitlichen Postgemeinschaft verschmolzen wurden. Seitdem gilt für die „deutsche Reichspost“ eine einheitliche Gesetzgebung vom Rhein bis zur Memel, von den Alpen bis zum Meer.[1]

Und nun begann eine Thätigkeit, die hier zu schildern selbstverständlich unmöglich ist; einige Kapitelüberschriften müssen genügen, als da sind: der einheitliche Postpackettarif, Postkarte, Postanweisung und Postauftrag, die Vereinigung der Telegraphie mit der Post, die Rohrpostanlagen, das unterirdische Kabelnetz, die Verbesserung des Landpostdienstes, die Vermehrung der Verkehrsanstalten, die Telephoneinrichtungen; gekrönt aber hat unser Generalpostmeister alle diese und noch viele andere Werke, von denen einige später noch Erwähnung finden werden, durch die Gründung des Weltpostvereins.

Die für den Austausch von internationalen Postsendungen früher maßgebenden Grundsätze waren, kurz gesagt, lediglich durch die fiskalischen Interessen und durch die Selbstsucht jeder Nation und jedes Natiönchens diktirt. Die Folge war ein stetes Markten um den Werth der gegenseitigen Leistungen und ein Ringen nach finanziellen Vortheilen, das dem internationalen Verkehre unerträgliche Hemmnisse bereitete. Diesem Gebahren setzte Stephan seinen kühnen Gedanken entgegen: durch Einführung eines einheitlichen Portos und gemeinsamer Grundsätze in der Leitung und Behandlung der Korrespondenz die Kulturvölker der Erde in einer postalischen Gemeinschaft zu einigen für die ersprießlichen Werke des Friedens. Eben so groß, wie diese Idee war, eben so zahlreich und schier unüberwindlich waren auch die Schwierigkeiten, die sich ihrer Ausführung von allen Seiten entgegenstellten; aber sie vermochten dem energischen Willen, der maßgebenden [858] Fachkenntniß Stephan’s nicht Stand zu halten. Am 9. Oktober 1874 unterzeichneten in der schweizerischen Bundeshauptstadt Bern die Bevollmächtigten von 22 Staaten, welche vier Erdtheile umfaßten – Australien allein war ausgeblieben – den internationalen Vertrag, der eine innige Völkervereinigung von einem bis dahin unerhörten Umfange in sich schloß, denn schon in seinem Entstehen repräsentirte der Allgemeine Postverein ein Gebiet von ungefähr 37 Millionen Quadratkilometer mit nahezu 350 Millionen Einwohner. Diese Kulturerrungenschaft allerersten Ranges ist es vornehmlich gewesen, welche den Namen ihres Urhebers weit über die Grenzen des Heimathlandes hinaus getragen und ihm eine Volksthümlichkeit verschafft hat, die in Hunderten von Zuschriften aus allen Ländern der Erde, in Anliegen aus allen Weltgegenden, von Angehörigen der verschiedensten Nationen, in unzähligen Zeitungs- und Zeitschriftenartikeln des In- und Auslandes, in Wort und Bild zum Ausdruck gekommen ist. Alle, selbst die gegen deutsche Sitte und deutsche Art sprödesten Völker priesen die Verwirklichung des großen Gedankens, von dem sie vorher lediglich als von einem idealen Wunsche Notiz zu nehmen sich herbeigelassen hatten.

Auf einmal stand Deutschland an der Spitze der Weltpost, dasselbe Deutschland, das früher so oft wegen der Buntscheckigkeit und Unbeholfenheit seiner Post sich hatte bespötteln lassen müssen. Welche Wandlung seit jener Zeit, da ein Börne in gerechtem Zorn die deutsche Postschnecke dem Fluche der Lächerlichkeit preisgab! Damals ein Verkehrswesen, zerklüftet im Innern, ohnmächtig nach außen; jetzt ein mächtiger Organismus, festgefügt aus einem Guß, ein Stolz des neuen Reiches, ein Gegenstand der Bewunderung dem Auslande. Auf die Initiative des deutschen Reichspostmeisters weht in fernen Meeren auf deutschen Reichspostdampfern die deutsche Flagge; hilfesuchend wendet sich eine Handelskammer des stolzen Albion – die von Liverpool – vertrauensvoll an den deutschen Generalpostmeister mit der Bitte, er möge für eine bessere telegraphische Verbindung zwischen Liverpool und dem europäischen Festlande sorgen; die Einwohner der englischen Industriestadt Bradford richten ein Dankschreiben an Dr. von Stephan, „dessen unermüdlicher Energie die Einrichtung des internationalen Postpacketdienstes, deren wohlthätige Wirkungen er fortwährend vor Augen geführt habe, hauptsächlich zu danken sei“; der französische Finanzminister Léon Say bekundet öffentlich, „daß vom Eintritt Frankreichs in den Weltpostverein die neue Aera der französischen Finanzen datire!“

Ueber der Errichtung des Weltpostvereins sowie der Reorganisation des heimischen Verkehrswesens hat der Schöpfer dieser Werke keineswegs der näher liegenden menschlichen Rücksichten vergessen. Neben dem weiten Ausblick auf das nationale Wohl hat er die Hebung des materiellen und geistigen Wohles seiner Beamtenschaft stets unverrückt im Auge behalten. Zwar hatte sein energischer Charakter ihm den Ruf eines Tyrannen eingetragen, und Mancher sah seiner Amtsführung in der obersten Stelle der Post mit Bangen entgegen. Aber es währte nicht lange. da schwand die Voreingenommenheit; man gewann Vertrauen zu dem neuen Chef, als derselbe unzweifelhafte Beweise seiner Herzensgüte gab. Bald wußte man zu erzählen, daß er keine größere Freude kenne, als Anderen Freude zu machen, daß er es durchaus nicht liebe, zu strafen, aber freilich, wenn es noth thue, auch nachdrücklich zu strafen verstehe, indessen auch zu vergeben und zu vergessen wisse. „Fehler sind nicht mehr da, wenn man sie einsieht,“ war sein Grundsatz, nach welchem Mancher trotz einer Verirrung wieder zu Ehren gekommen ist, der sich nach früherem Brauche bereits für einen abgethanen Mann halten mußte.

Daß es bei platonischen Aeußerungen nicht geblieben ist, dafür zeugt die an positiven Ergebnissen überreiche Thätigkeit Stephan’s auf dem inneren Gebiete des Postlebens. In materieller Beziehung wären hier anzuführen: die gegen vielfache Hemmnisse durchgesetzten Gehaltsaufbesserungen, die Fürsorge für Wittwen und Waisen, die durch Abkommen mit verschiedenen Gesellschaften herbeigeführte Erleichterung zur Abschließung von Lebensversicherungen, die Einrichtung von Spar- und Vorschußvereinen, ferner die Kaiser-Wilhelm-Stiftung, aus deren Mitteln den Familien der Beamten und den Hinterbliebenen Unterstützungen, befähigten Söhnen und Töchtern von Beamten Studienbeihilfen, geeigneten Beamten Stipendien zu Reisen ins Ausland und zum Studium fremder Sprachen gewährt werden. Durch reichlich ausgestattete Bibliotheken und durch Lehreinrichtungen, deren Krone die in Berlin gegründete Postakademie bildet, ist der geistigen Ausbildung der Beamten gebührend Rechnung getragen worden, während das Bestreben, für die treulich wirkenden Männer der Postwelt bequeme und gesunde Arbeitsräume zu schaffen, in der Errichtung würdiger, meist in edeln Formen ausgeführter Posthäuser seinen Ausdruck gefunden hat.

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Lange wollte mir der seit Jahren gehegte Wunsch, die persönliche Bekanntschaft des von mir hochverehrten Mannes zu machen, nicht in Erfüllung gehen. Keiner von denjenigen, die ihm näher standen, konnte oder wollte die Vermittlerrolle übernehmen; ja, Niemand fand sich, der mir auch nur diejenige zuverlässige Auskunft gegeben hätte, die allein von Nutzen sein kann, wenn es sich darum handelt, etwas Besseres als bloße Legende oder unzusammenhängende Anekdoten zu erzählen.

Wäre ich Amerikaner, Engländer oder Franzose, so hätte ich meinen Mann einfach „interviewt“ und hätte dann mit möglichstem Geschick und orientalischer Phantasie aus dem, was er mir mitgetheilt, mehr noch aus dem, was er mir nicht mitgetheilt, nach berühmten Mustern einen „authentischen“ Bericht geschrieben; aber als biederem deutschen Mann von der Feder widerstrebte es mir, aus einigen mehr oder minder entgegenkommenden Redensarten ein Phantasiebild aufzubauen, und ich wartete meine Zeit ab. Da spielte mir der Zufall eine in der Oeffentlichkeit wenig bekannt gewordene Rede in die Hand, die der Generalpostmeister im Jahre 1879 bei der Einweihung des neuen Posthauses in Stolp, seiner Vaterstadt, gehalten hatte.

Damit waren wenigstens einige Bruchstücke von unzweifelhafter Glaubwürdigkeit gefunden, die zugleich als allgemeine Charakteristik hier von Interesse sein dürften. Der Herr Generalpostmeister erzählt über seine Jugendzeit Folgendes:

„Mit tiefbewegtem Herzen habe ich meine geliebte Vaterstadt nach langen Jahren gestern wieder begrüßt. Da ragt der alte Thurm der Kirche, in welcher ich die Taufe und Einsegnung empfing; da steht mein elterliches Haus, klein und bescheiden, aber eigen und spiegelblank; da sehe ich meine gute Mutter, wie sie vor dem mächtigen alterthümlichen Schranke wirthschaftet in der schimmernden Wolle und dem schneeweißen Lein. Wer das Glück hat, wenn er auf die Welt kommt, in pommersche Leinwand gewickelt zu werden, der wird gerade! … Dann ging es in die lateinische Schule. Noch steht sie da – eigentlich sollte ich in Anbetracht ihres baulichen Zustandes sagen: leider steht sie noch so da – aber ich will im Hinblick auf die anwesenden hohen städtischen Körperschaften dieser Stunde schönes Gut durch den Trübsinn einer Erinnerung an Budget und Kommunallasten nicht verkümmern. Anfangs behagte sie mir nicht sehr. Wir zogen es vor, auf dem vor ihren Mauern gelegenen Kirchplatz, auf welchem das neue Reichspostgebäude sich erhebt, unsere Schlachten zu schlagen, bei denen es oft scharf herging. Wir kamen mit dem Bürgermeister Arnold in Konflikt. Der selige Oberlehrer Decker, den gewiß noch die meisten Anwesenden gekannt haben, schleuderte mir ein ‚Geierjunge‘ entgegen. Das war der erste Titel, der mir höheren Orts verliehen wurde.

Mein verehrter väterlicher Freund und unvergeßlicher Lehrer, der Herr Professor Berndt, der zu meiner unendlichen Freude mich heute auch durch sein Erscheinen geehrt hat, hielt uns eindringliche Standreden. Als ich ihn bei einer derselben einst daran erinnerte, daß er uns ja erst an demselben Morgen aus dem Seneca den Satz citirt hätte: ‚Vivere est militare‘ (Leben heißt kämpfen), fand er diese Auslegang der Klassiker doch sehr sonderbar und rief mir mit einem eigenthümlichen Blick zu: ‚Aus Dir wird entweder Viel, oder gar Nichts.‘ Das ließ, gleichwie die alten Orakel, jedenfalls recht entgegengesetzte Chancen offen. Aber ich warf mich nun, möglicherweise um ihn zu ärgern, ich stehe für Nichts, mit einem wahren Ingrimm auf das Lernen. Anderthalb Jahre rang ich mit meinem hier zu meiner großen Freude anwesenden Schulkameraden Gustav Fritze mannhaft um den primus omnium, und ich konnte, wie in jenem hübschen Geschichtchen, sagen: bald lag er oben, bald ich unten. Mit Rührung sehe ich das Dach des alten Schulhauses, unter dem ich [859] Wohlthaten empfangen habe, die für meine ganze Lebenszeit entscheidend gewesen sind. –0

Von höchstem Werth ist für mein geistiges Leben die Art gewesen, wie Professor Berndt uns in die Naturwissenschaften einführte und die Mathematik lehrte, insbesondere, wie er es verstand, bei seinem Unterricht die Eigenart der Einzelnen von uns zu behandeln, uns heranzunehmen oder frei gehen zu lassen. Er weiß, daß, als ich am 1. Mai 1870 meine jetzige Stellung antrat, die erste Feder, die ich in derselben ansetzte, ihm galt, um ihm in einem Dankbriefe zu sagen, welche Kraft ich in vielen Lagen meines Lebens aus dem Studium der Natur und der alten Klassiker geschöpft hatte.“

Mit diesen Bruchstücken einer Art Selbstbiographie hatte ich wenigstens einige allgemeine Züge gewonnen, deren Vervollständigung ich mir eifrig angelegen sein ließ. Endlich fügte es auch ein günstiger Zufall, daß ich mich dem Gegenstande meiner Forschungen persönlich nähern durfte und, ihm selbst unbewußt, in seiner Häuslichkeit, in seinem Privatverkehr ihm diejenigen Züge ablauschen konnte, die zur Vollständigkeit eines Lebensbildes unumgänglich nothwendig sind.

(Schluß folgt.)




Blätter und Blüthen.

Weihnachtsbüchertisch. Zur neuen deutschen Kunstgeschichte liefert Adolf Rosenberg einen willkommenen Beitrag in seiner Schrift: „Die Münchener Malerschule in ihrer Entwicklung seit 1871“ (Leipzig, E. A. Seemann). Die Einleitung behandelt Karl von Piloty und Fr. A. von Kaulbach, während der reiche Stoff sich in folgende Abschnitte gliedert: „Die älteren Genremaler und die Landschaft“, „Die Schule Piloty’s“, „Wilhelm Lindenschmit und seine Schule“, „Wilhelm Diez und die Seinigen“, „Fritz von Uhde und die religiöse Malerei“. Als Weihnachtsgeschenk eignet sich das prächtige Buch durch die Wiedergabe der vorzüglichsten Erzeugnisse der Münchener Schule, theils in Radirungen und Kupferlichtdrucken, theils in Textillustrationen. Die Portraits der hervorragendsten Maler: Piloty, Makart, Gabriel Max, Franz Lenbach u. A. gereichen ihm zur besonderen Zierde; neben reizenden Genrebildern finden sich auch historische und besonders religiöse Gemälde. Von der Tüchtigkeit und Strebsamkeit der deutschen Kunst an der Isar und von ihrer ganzen Bedeutung legt diese Schrift ein vollgültiges Zeugniß ab.

Von der rühmlich bekannten „Gustav Freytag-Galerie“, welche Edwin Schloemp in Leipzig herausgiebt, ist eine billige Jubiläumsausgabe erschienen; sie enthält 20 Blätter mit begleitenden Texten nach den Originalgemälden und Kartons der ersten Meister der Jetztzeit; sehr reichhaltig sind die Bilder aus den „Ahnen“, die zwar in poetischer Hinsicht hinter den andern Dichtwerken Freytag’s zurückstehen, aber bei der diskreten Farbengebung des Dichters der malenden und zeichnenden Kunst einen desto größeren Spielraum gönnen. Das Titelbild ist ein wohlgetroffenes Portrait Gustav Freytag’s. Aus der verschollenen Sammlung seiner Jugendgedichte „In Breslau“ wird hier ein phantasievoll illustrirtes Gedicht „Die Schöpfung der Künstler“ mitgetheilt. Der Text erläutert die Illustrationen in ansprechender Weise. Was die äußere Ausstattung betrifft, so machen wir auf den geschmackvollen Ledereinband aufmerksam. Wenn bisher Ledereinbände nur bei kostbaren Prachtwerken üblich waren, weil die bisherige Technik eine kostspielige genannt werden mußte, so ist es dem Buchbinder F. A. Barthel gelungen, mittels Präparation eines billigen Leders und durch Doppelplattendruck zum ersten Male das altdeutsche Lederrelief für einen billigen Preis herzustellen. So wird der Einband der „Freytag-Galerie“ bei allen Freunden des Kunstgewerbes Interesse erregen.

Werthvolle Kunstschätze enthält die „Spitzweg-Mappe“, welche hervorragende Gemälde des Meisters in Kupferdruck reproducirt. Eugen Spitzweg hat sie herausgegeben (München, Braun und Schneider), Friedrich Pecht eine Vorrede dazu geschrieben, in welcher er den großen Humoristen Jean Paul den geistigen Pathen des Malers nennt. In der That ist der Humor desselben nicht derjenige der heutigen Tageshumoristen mit ihren fliegenden Blättern und Skizzen aus dem realen Leben; diese oft seltsamen Gestalten tragen bisweilen das Gepräge sinniger und tiefer Weltbetrachtung oder des von Jean Paul gerühmten Vollglücks der Idylle. Rosenberg sagt in seiner „Münchener Malerschule“: „Karl Spitzweg (1808 bis 1885) hatte sich als Autodidakt durch das Studium der Niederländer eine malerische Auffassung angeeignet, welche seinen theils romantischen, theils humoristischen Bildern ein durchaus modernes Gepräge gab und dieselben bis in die letzte Zeit des Meisters hinein stets frisch und lebendig erscheinen ließ. Wie sein Freund Schwind suchte er gern die Plätze und Gäßchen alterthümlicher Städtchen auf, welche er mit drolligen Gestalten, mit Zollwächtern, Polizisten, Stadtsoldaten, Nachtwächtern, Bürgergardisten, mit Guitarrespielern, die im Mondschein der Dame ihres Herzens ein Ständchen bringen, mit Invaliden u. dergl. m. belebte. Originell und bizarr wie die Umgebung, in der diese halbverschollenen Philister ihr vertrauliches Leben führten, war auch ihre äußere Erscheinung, welche in jedem Zuge von schärfster Beobachtung sprach. Gelegentlich behandelte Spitzweg in derselben detaillirenden Manier kleine Waldpartien und felsige Einöden, die er mit Klausnern, Mönchen, Jägern, kämpfenden Rittern u. dergl. m. staffirte.“ Die „Spitzweg-Mappe“ giebt interessante Proben dieser eigenartigen Stoffe und der nicht minder eigenartigen Behandlungsweise.

Mehr keck aus dem modernen Leben herausgegriffen sind die allerliebsten Bildchen: „Aus A. Hendschel’s Skizzenbuch“, Lichtdruck von Martin Rommel u. Cie. in Stuttgart (M. Hendschel, Frankfurt am Main). Es sind das meistens Kinderbilder, alle mit köstlichem Humor entworfen; Alles leibt und lebt: dieser Konditorjunge, dieser Kampf mit dem Drachen, diese Schlittenfahrt, welche der Alten mit ihren auf dem Kopfe aufgethürmten Körben so gefährlich wird, und viele andere Genrebildchen aus der Kinderwelt. Daneben finden sich auch Skizzen aus dem Leben der Erwachsenen, Sonntagsraucher, das drastische Bild „Frisch angestrichen“, auch einige liebliche Mädchenköpfe, das Mädchen, das Rosen pflückt, Aschenbrödel am Herd, Schneewittchen im Sarge: Alles ungezwungen, von sieghafter Natürlichkeit.

Zwölf Phototypen nach Originalgemälden von Robert Beyschlag, Franz von Defregger, Theodor Grosse, Hermann Kaulbach u. A. hat die Verlagsanstalt für Kunst und Wissenschaft in München unter dem Titel „Für Herz und Gemüth“ herausgegeben. Für den Werth der Bilder spricht der Name der Meister: die Auswahl hat wohl vorzugsweise den Gesichtspunkt ins Auge gefaßt, schöne Frauengestalten und anmuthige Kinder in erster Linie vorzuführen. Einen eigenartigen Reiz gewinnt die Sammlung durch die erläuternden Gedichte von Julius Grosse, der als echter Dichter nirgends handwerksmäßig nichtssagende gereimte Glossen schreibt, sondern sich von den stimmungsvollen Bildern theils zu schwunghaften Ergüssen begeistern läßt, theils die schalkhaften Andeutungen des Malers in gleichgestimmten Versen wiedergiebt.

Ein reizendes Festgeschenk sind Heinrich Seidel’sNatursänger“ mit 110 Originalzeichnungen von Giacomelli (Leipzig, Verlag von B. Elischer). Wer liebt nicht unsere Singvögel? „In dem kleinen Singvogel,“ sagt die Einleitung, „gewinnt die Natur gleichsam eine liebliche Stimme und spricht in allgemein verständlichem Tone zu uns. Wie wundervoll paßt der schmetternde Schlag des Buchfinken zu den hohen Buchenhallen, durch deren frühlingsgraues Laubgewölk kleine Wölkchen des blauen Himmels hindurchschimmern! Wie stimmt das etwas schwerfällige melodische Rufen der Amsel zu einem sanften Frühlingsabend, wenn hinter schweren Tannenwipfeln allmählich das Abendroth verdämmert! Glaubt man nicht, der raschelnde Rohrwald habe eine Stimme bekommen, wenn das knarrende Geschwätz der Rohrsänger aus ihm hervortönt? Und wenn das lieblich flötende, dahinrieselnde Lied der Grasmücke aus duftendem Gesträuche erschallt, da möchte man denken, die blühenden Büsche sängen selber. Ueber die weithin wogenden Kornfelder ist ein eben so großer Himmel von lauter Lerchenmusik ausgespannt und kein Fleck in der Welt ist so öde, daß nicht im Frühling dort ein kleiner Vogel lieblich sänge.“ Heinrich Seidel hat dem trefflichen Portraitalbum dieser kleinen Künstler, in welchem ihre charakteristischen Züge mit großer Lebenswahrheit ausgeführt sind, einen Text in Prosa und Versen beigefügt: die Prosa bringt das Wissenswerthe über die kleinen begabten Geschöpfe, der lyrische Steckbrief ist stets geschmackvoll abgefaßt und viele der Verse athmen einen echt poetischen Hauch. Wer daher eine Galerie dieser zierlichen Sänger von der Nachtigall, den Goldhähnchen, den Grasmücken bis zum Stieglitz, den Drosseln, den Schmätzern besitzen will: dem können wir mir empfehlen, das Seidel’sche Werk sich anzuschaffen.

Eine interessante Weihnachtsgabe ist eine Dichtung von Georg Ebers: „Elifên, ein Wüstentraum“ (Stuttgart und Leipzig, Deutsche Verlags-Anstalt). Ein junger Künstler bricht den Bann der priesterlichen Kunstlehre und wird durch eine Geliebte, ein schönes Mädchen aus wilder Völkerschaft, begeistert, das Höchste in der Kunst zu leisten:

„Natur allein ist wahr, die Formeln lügen.“

Das Gedicht zeigt uns den Schöpfer der beliebten ägyptischen Romane auch als Meister künstlerischer Form: alle diese Stanzen sind wohl und regelrecht gebiidet, volltönend und zwanglos in ihrem Vollklang; das ägyptische Kolorit ist farbenreich und einzelne schlagkräftige Sentenzen prägen sich dem Gedächtniß ein. †     


Der evangelische Bischof der Siebenbürger Sachsen. (Mit Portrait S. 841.) Ein deutscher Gruß zu seinem siebzigsten Geburtstage! In der Reihe der Ritter des deutschen Kampfgeistes wird einst der evangelische Bischof der Siebenbürger Sachsen Georg Daniel Teutsch seinen Platz in der deutschen Geschichte einnehmen.

In dem schweren nationalen Vertheidigungskampf geht er den 263 Gemeinden seines Volkes als evangelischer Bischof seit zwanzig Jahren und als Forscher und Verkünder der Sachsengeschichte weit über ein Menschenalter mit nie gebeugtem Muthe voran.

Er ist der Sohn eines Seifensieders in Schäßburg, am 12. December 1817 geboren. Er besuchte die Schule und das treffliche Gymnasium seiner Vaterstadt und bezog 1837 die Universität Wien. Im Jahre 1842 nahm er die Stelle eines dritten Lektors am Gymnasium seiner Vaterstadt an. Alle amtsfreie Zeit widmete er seitdem der Erforschung und volksthümlichen Darstellung der Geschichte des Sachsenlandes; er ist der Johannes von Müller seines Volkes geworden.

Im Jahre 1848 wurde Teutsch in den Klausenburger Landtag gewählt, im Sommer 1858 zum Rektor seines Gymnasiums ernannt, das er in jeder Beziehung zu einer Musteranstalt zu erheben suchte; in der Oeffentlichkeit wahrte er die Interessen des Volks nach Möglichkeit, ließ sein Hauptwerk: „Geschichte der Siebenbürger Sachsen für das sächsische Volk“ (2. Aufl. Leipzig 1874, Hirzel) in die Welt gehen und setzte seine geschichtlichen Arbeiten so eifrig und tapfer fort, daß ihn sogar einmal der Staatsanwalt, jedoch vergeblich, zu fassen suchte.

Das österreichische Februarpatent von 1861 weckte die Nationalitäten wieder zum Wettkampf auf. Teutsch wurde zunächst als Abgeordneter [860] in die Nationsuniversität und 1863 in den Landtag nach Hermannstadt gewählt, betrat denselben als am 20. April gewählter Pfarrer von Agnethlen und als solcher 1864 bis 1865 den Reichstag in Wien. Hier stiegen die drohendsten Wolken für das Sachsenland abermals empor: die Zweitheilung des Reiches und die Einverleibung Siebenbürgens in Ungarn – und dazu die magyarische Staatsidee. Er kämpfte dagegen mit aller Entschiedenheit, bis der parlamentarische Sieg der Ungarn gelungen war und er selbst der Königskrönung in Ofen beigewohnt hatte. Es war nur eine Verlegung seiner patriotischen Thätigkeit auf ein weiteres Gebiet, als er am 19. September 1867 von der sächsischen Landeskirchenversammlung zum Superintendenten oder evangelischen Landesbischof Augsb. Bekenntn. gewählt und ihm als solchem am 12. November 1868 Hermannstadt als Amtssitz angewiesen wurde. Tapfer hat Bischof Teutsch im Verlaufe dieser zwanzig Amtsjahre für sein Herzenskleinod, die deutsche Schule, gekämpft.

Das Portrait, welches wir mitgeben, ist gut, aber es ist doch nur ein Holzschnitt, aus welchem kein Auge leuchtet. Denke man sich dieses Haupt auf eine hohe Gestalt, an deren fester und doch vornehmer Haltung die Jahre Nichts geändert haben, sehe man den ernsten und scharfen und doch so freundlichen Blick der Augen und höre den Vollklang der Stimme, der man anmerkt, daß sie von Herzen zu Herzen zu reden gewohnt ist: dann erst wird das wahre Bild des Mannes vor unserer Seele lebendig werden. Friedrich Hofmann.     

Weihnachten im Verein. (Mit Illustration S. 844 und 845.) Die Vereinsmitglieder sind in einer glücklichen Lage: erst kommt die Bescherung „daheim“ an die Reihe, das reizvolle, fröhliche Fest im Kreise der Familie, und dann schließt sich ein zweites Weihnachtsfest an: das „im Verein“. Oft schon viele Wochen vorher pflegen die schwierigen Berathungen stattzufinden, wie, wann und wo das wichtige Fest gefeiert werden, wer es leiten und wer alles Nöthige zum strahlenden Christbaum besorgen soll: die buntfarbigen Kerzen, die Lichtehalter, den Gold- und Silberflitter, die Süßigkeiten etc. Und ist der erwartete Abend endlich da, so stellen sich auch die sonst saumseligsten Mitglieder des Vereins mit ihren Frauen und erwachsenen Kindern rechtzeitig ein und nehmen an der herrschenden lebhaften Stimmung heiteren Antheil. Ein reiches Mahl, mit Humor gewürzte Toaste und Tafellieder befestigen die gute Laune, und sie erreicht ihren Höhepuukt, wenn’s an die Plünderung des Baumes geht und ein Zweig nach dem andern an den „Meistbietenden“ versteigert wird – zu wohlthätigen Zwecken oder zum Besten der „nimmersatten“ Kasse des Vereins. Diesen Moment stellt unser Bild dar. Die bedienende Kellnerin und die großen Maßkrüge lassen leicht erkennen, daß der in München lebende Künstler den Stoff zu seinem Bilde aus seiner nächsten Umgebung geschöpft hat. Mag aber auch das Fest in der schönen Isarstadt in manchen Aeußerlichkeiten ein besonderes Gepräge tragen: ähnlich gehoben und festesfroh geht es überall zu, wo „Weihnachten im Verein“ gefeiert wird. * *      

Das kaiserliche Schloß in Straßburg. (Mit Illustration S. 849.) Dieser Palast erhebt sich im Norden der alten Stadt und ungefähr in der Achse derselben von Süden gegen Norden. Er bildet mit den neuen Universitätsgebäuden den Mittelpunkt der Stadterweiterung am linken Ufer der Ill, wie die Universität für das Gebiet am rechten. – Die Façaden der beiden Gebäude sind sich einander zugewendet. Es wird eine stolze Straße sein, wenn einmal die monumentale Brücke über die Ill führen und die Straßenzeile ausgebaut sein wird, an deren beiden Eckquadraten gegen den Kaiserpalast hin sich öffentliche Gebäude – man spricht vom Landesausschußgebäude und der Landesbibliothek – erheben werden. Der Bau des Kaiserpalastes steht unter der Leitung des verdienten Landbaumeisters Eggert, der sich bei den Universitätsbauten als tüchtiger, allen Schwierigkeiten seiner Aufgabe gewachsener Architekt gezeigt hat. Er konnte den Bau vor etwa drei Jahren beginnen. Die für einen Kaiserpalast etwas geringen Verhältnisse – wir zählen ungefähr 75 Meter Façade auf 50 Meter Tiefe ohne Apsis – bemessen sich nach den finanziellen Mitteln, die vom Reichstage gefordert und von diesem bewilligt wurden. Der Stil ist der des toskanischen Palastbaues der Frührenaissance.

Eine mächtige Kuppel, die auf den Hauptraum im Innern deutet, überragt den gedrungenen Bau, der bis an das Gesims Rusticamauern zeigt. Die Nischen über dem Eingange sind mit trefflich ausgeführten allegorischen Figuren gefüllt; reiches Cartouchenwerk schmückt die Strebewände zwischen den Fenstern. Eine Eigenthümlichkeit des Baues ist die Dachbedeckung, die nach altgriechischem Muster aus mannigfach geformten Thonziegeln sich zusammensetzt und von „Villeroy und Boch“ geliefert wurde. Die Bauarbeit war von der bekannten Firma Holtzmann in Frankfurt a. M. übernommen worden, welche bei dem Universitätsbau ihre Leistungsfähigkeit in so glänzender Weise erprobt hatte.

Ein banges Gefühl erfüllt heute die Seele des Vorüberwandernden. Im vorigen Jahre, als wir bei den glänzenden Kaisermanövern unsern Kaiser und an seiner Seite den Kronprinzen in Straßburg sahen, dachten wir an die stolzen Tage des nächsten Kaiserbesuches im Kaiserpalast – und heute? Mögen, wenn das Kaiserbanner zum ersten Male über dem Gebäude schwebt, unsere Befürchtungen zerronnen sein, wie dichter Herbstnebel vor der siegenden Sonne!

Vor dem Friedensrichter. (Mit Illustration S. 853.) Auch bei dem glücklichen Volk der Gefilde, das, wie der Dichter singt, noch nicht zur Freiheit erwacht ist, spielen Ehestreitigkeiten eine große Rolle: hier sehen wir einen älteren Bauersmann mit seiner Frau vor dem Friedensrichter; sie führt offenbar das große Wort und droht durch ihre Beredtsamkeit den alten Mann, der ihr andächtig mit gefalteten Händen zuhört, ganz in den Hintergrund zu drängen. Der Friedensrichter, der sich seine Brille putzt, wahrscheinlich, um klarer in dem Fall zu sehen, wendet seine ganze Aufmerksamkeit der mit solchem Eifer und, wie es scheint, mit solcher Siegesgewißheit plaidirenden Bäuerin zu. Nach ihrer Tracht zu urtheilen, ist sie eine württembergische Oberländerin, denn sie trägt die sogenannte Radhaube. Diese besteht aus einem Drahtgestell, auf das ein schwarzer Spitzengrund und in der Mitte farbige Bänder aufgezogen sind; der Theil, der den Hinterkopf umschließt, besteht aus Goldstoff mit schwarzem Spitzenstoff überzogen und hat auf der hintern Radfläche eine Fortsetzung, den sogenannten Boden der Haube, der etwa handgroß aus reicher Goldstickerei mit farbigen Steineinlagen besteht; die Haube wird durch farbige Bänder unter dem Kinn festgehalten. Der schlichte Bauer wird schon durch den landesüblichen bunten Aufputz seiner Ehehälfte in den Schatten gestellt. Wie auch das Urtheil des Friedensrichters ausfallen mag: der Ehemann wird auf dem Heimweg keine besonders gute Stunde verleben. †      

Lohmeyer’s „Deutsche Jugend“. Wieder einmal wendet sich der beste, gediegenste Freund der deutschen Kinderwelt an die Kinder – die Eltern – mit der Ermunterung: wünscht – kauft! Er thut es zunächst im weihnachtlichen Gewande, in Buchform gesammelt. Durch viele Jahre hat er seinen Rang als werthvollste Jugendzeitschrift, als eines der erwünschtesten Buchwerke für den Weihnachtstisch behauptet; die Empfehlung, welche die Kritik ihm immer neu auf den Weg mitgiebt, ist nicht lauer geworden; die bedeutsamsten Anregungen zur Hebung unserer Jugendlitteratur – ja der Jugendlitteratur des gesammten Auslandes sind der mustergültig vornehmen Haltung dieser Schöpfung des unermüdlich für die Jugend arbeitenden und sorgenden Julius Lohmeyer zu danken. Einst mehr dem jüngeren Alter zugeneigt, hat sich der Inhalt immer mehr der reiferen Jugend zugewendet; minder mannigfaltig, ist er jetzt um so ausgiebiger für die Jahre vom 10. ab gerechnet. Auch das äußere Gewand ist neuerdings ein etwas anderes geworden, das Format handlicher, bezüglich der Illustration eine Wandelung in so fern eingetreten, als unter Würdigung der großen Vervollkommnung, welche neuerdings andere Vervielfältigungsarten neben dem Holzschnitte erfahren, sowie der wachsenden Vorliebe für die Farbe, der früher einzig und in hoher Vollkommenheit für das Blatt verwendete Holzschnitt zum Theile durch Benutzung anderer Technik und durch die Beigabe von Buntdrucken ersetzt erscheint. Hat sich damit der illustrative Theil auf der Höhe der Konkurrenz erhalten, so ist der textliche dem alten Motto des Blattes treu geblieben: „Für die Jugend ist das Beste gerade gut genug.“

Hochwillkommen ist sicherlich die Herabminderung des Preises auf die Hälfte des früheren. Diese dankenswerthe Maßregel der jetzigen Verlagsfirma Leonhard Simion, Berlin, macht die „Deutsche Jugend“ Kreisen zugänglich, welche sich einst die Anschaffung derselben versagen mußten, zum Vortheil einer weit geringwerthigeren Jugendlitteratur. Möchte über der Buchausgabe nicht vergessen werden, daß auch ein Abonnement auf das Blatt zu den Weihnachtsspenden zählt, welche des Dankes sicher sind!


Inhalt: Jascha. Von W. Heimburg. S. 841. – Skizzen von einer Sängerfahrt nach Amerika. Von Herm. Mohr. II. Buffalo-Chicago. S. 847. – Der Unfried. Eine Hochlandsgeschichte von Ludwig Ganghofer (Fortsetzung). S. 850. – Im Kinderhospital. Ein Skizzenblatt von Elise Polko. S. 855. – Der erste Generalpostmeister des Deutschen Reichs. Mit Portrait. S. 857. – Blätter und Blüthen: Weihnachtsbüchertisch. S. 859. – Der evangelische Bischof der Siebenbürger Sachsen. Von Friedrich Hofmann. S. 859. Mit Portrait. S. 841. – Weihnachten im Verein. S. 860. Mit Illustration S. 844 und 845. – Das kaiserliche Schloß in Straßburg. S. 860. Mit Illustration S. 849. – Vor dem Friedensrichter. S. 860. Mit Illustration S. 853. – Lohmeyer’s „Deutsche Jugend“. S. 860.



Soeben erschienen und durch alle Buchhandlungen zu beziehen:
Anleitung zur Pflege der Zähne und des Mundes
nebst einem Anhang: Ueber künstliche Zähne
von Dr. Wilhelm Süersen senior.
Königlich Preußischer Geheimer Hofrath und Hofzahnarzt in Berlin.
Gekrönte Preisschrift, herausgegeben vom Central-Verein deutscher Zahnärzte.
Zehnte, neu durchgesehene Auflage. Preis broschirt M. 2.—, elegant gebunden M. 2.50.
Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig.

Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von A. Wiede in Leipzig.

  1. Bayern und Württemberg haben nur für ihren eigenen inneren Verkehr eigene Bestimmungen. Die deutsche Postgesetzgebung gilt für sie wie für die übrigen deutschen Staaten. Dem Ausland gegenüber vertritt die deutsche Reichspost auch Bayern und Württemberg.