Eine schweizer Landesgemeinde

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Autor: Jodocus Donatus Hubertus Temme
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Titel: Eine schweizer Landesgemeinde
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 46–48, S. 661–664, 677–680, 690–692
Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1858
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[661]
Eine schweizer Landesgemeinde.
Brief an den Herausgeber der Gartenlaube vom Dr. A. J. D. H. Temme in Zürich.

Ich war sechs Jahre in der Schweiz und hatte noch keine Landesgemeinde gesehen. So oft war ich gefragt: Sind Sie noch auf keiner Landesgemeinde gewesen? Ich hatte verneinen müssen. So oft ich mich auch danach gesehnt hatte, eine zu besuchen, es war mir nicht gelungen. Wie viele Hindernisse treten Einem meist gerade bei Kleinigkeiten entgegen! Und eine Reise zu der nächsten Landesgemeinde war eine so große Sache nicht.

Da besuchten Sie, mein lieber Keil, mich in diesem Sommer. Und wie wir von Allerlei in der schönen, freien Schweiz sprachen, so sprachen wir auch von den Landesgemeinden, und auch Sie fragten mich, ob ich noch auf keiner gewesen sei, und wunderten sich, daß ich Ihnen nein antworten mußte. Aber erzählen mußte ich Ihnen, was ich davon wußte, und wie wenig ich auch aus eigener Anschauung davon erzählen konnte, es kam doch heraus, in Deutschland wußte man von der Sache fast gar nichts. Sie forderten mich daher dringend auf, die nächste Landesgemeinde in der Schweiz zu besuchen und Ihnen davon für die Leser Ihrer Gartenlaube eine Beschreibung zu geben. Ich versprach es Ihnen.

In Ihrem ersten Briefe nach Ihrer Rückkehr in die Heimath erinnerten Sie mich an mein Versprechen. „Vergessen Sie „„die Hündli““ nicht,“ schrieben Sie mir.

„Die Hündli!“ Ich hatte Ihnen die Geschichte erzählt. Aber die Leser Ihrer Gartenlaube kennen sie nicht, und da Sie denn doch diesen Brief mittheilen wollen, so muß ich sie hier wohl noch einmal erzählen.

Vor einigen Jahren wollten die regierenden Herren des Landes Glarus eine Hundesteuer einführen. Gott weiß, wie sie auf den modernen staatsmännischen Gedanken kamen. Noch verwunderlicher war es, daß die Mehrheit der bedeutenderen Fabrikanten des Cantons — der Canton Glarus gehört zu den verhältnißmäßig gewerbreichsten Cantonen der östlichen Schweiz — für die Sache war. Die Regierung machte daher für die nächste Landesgemeinde die Vorlage, und man war um so gewisser, daß kein Widerspruch erfolgen werde, als außerhalb jener gewerbreichen Orte nur wenige Hunde gehalten wurden, die Steuer auch eine geringe war. Die nächste Landesgemeinde kam. Der regierende Landammann brachte den Antrag vor. Er machte ihn in einem populären Vortrage seinen „lieben Mitlandleuten“ plausibel. Er sprach die Hoffnung aus, daß Jeder, der einen Hund zu halten vermöge, auch gern die paar Centimes zu einer Steuer bezahlen werde, die zu wohlthätigen, von ihm näher auseinandergesetzten Zwecken verwendet werden solle.

Es entstand kein Widerspruch. Keine Stimme wurde gegen [662] den Vorschlag laut. Schon wollte der Landammann die Abstimmung vornehmen lassen.

Da erhob sich ganz, ganz hinten auf dem Bretergerüste ein altes, graues, dürres Bäuerlein.

Es hatte sich lange Zeit verwundert umgesehen, ob denn Keiner ein Wort gegen die Sache habe, die ihm nicht gefallen zu wollen schien. Keiner hatte ein Wort unter allen den sieben- bis achttausend Männern rund um den alten Mann. Aber dafür hatte jetzt das alte Männlein kernige und körnige Worte.

„Herr Landammann, meine Herren von der Regierung und meine lieben Mitlandleute,“ erhob es sich, wie es die Form der Sitte und des Herkommens erheischte. Und es bat die „liebe Landslüt’,“ daß es seine Meinung über die Sache sagen dürfe. Es sei zwar nur ein „einfältig Hirtenmännli“ hinten aus dem Gebirge, und es wisse nicht den hundertsten Theil von allem dem, was die gelehrten Herren im Hauptort Glarus, und all’ die reichen und vornehmen Fabrikherrn des Landes in und außer dem Lande gelernt hätten. Aber er habe doch auch so seine Gedanken, auch in dieser Sache, über die „Hündli.“ Alle jene Herren mochten sich recht viele Hündli halten können, für ihr Plaisir, und die Steuer möge für sie auch eine geringe sein. Das sei aber wohl nicht so für manche andere Leute im Canton. Ihm zum Beispiel sei sein Hündli sein Freund, und einen Freund müsse der Mensch haben. Und er könne seinen Freund nun einmal gar nicht gut entbehren, denn er wohne hinten im einsamen Gebirge, viertausend Fuß hoch und noch höher, und auf eine halbe Stunde rund um ihn herum wohne kein anderer Mensch. Und wenn nun, nach dem Sinne der gelehrten und reichen Herren, die Hundesteuer eingeführt werden solle, die er, als ein armer Hirtenmann, nicht bezahlen könne, so müsse er sein Hündli „wirklich“ abschaffen, und er habe da oben in seiner Einsamkeit keinen Freund und keinen Beschützer mehr. Und wie ihm, so ergehe es gewiß manchem seiner braven „Mitlandslüt’“. Und – darauf schloß das Männlein – so sei denn seine Meinung an den Herrn Landammann, und an seine hochgeachteten Herren von der Regierung und an seine lieben Mitlandleute:

„Lasset die Hündli leben!“

Und da – ja, die Glarner sind das lebhafteste Völkchen der Deutschen Schweiz – da riefen auf einmal Tausende und Tausende von Stimmen:

„Lasset die Hündli leben!“

Und die regierenden Herren wußten nun schon, bevor sie das „Mehr“ aufnehmen ließen, wie es ausfallen werde, und als sie es aufnehmen ließen, fiel ihr Antrag gegen eine große Mehrheit.

Ich habe Ihnen Wort gehalten, lieber Keil. Die erste Landesgemeinde seit Ihrem Hiersein war vorgestern, am Sonntag, den dritten October, im Appenzellerlande, und ich bin hingereist, und habe ihr beigewohnt, und setze mich heute hin, sie Ihnen zu beschreiben.

Theile ich Ihnen dabei zugleich Manches mit, was nicht strenge und nicht unmittelbar zur Sache gehört, so halten Sie und Ihre Leser es ja wohl einem Manne zu gut, der in seinen älteren Tagen noch ein Stück von einem deutschen Professor geworden ist; ein deutscher Professor kann nun einmal nicht wohl anders, als in die einfachste Sache hundert andere Sachen hineinbringen; er nennt das: seinen Gegenstand gründlich nach allen Seiten erschöpfen.

Zuerst lassen Sie mich Ihnen Einiges von meiner Reise erzählen. Es gehört vielleicht mit zur Sache, wenigstens in jenem Sinne des deutschen Professorenthums.

Ich reiste am Sonnabend von Zürich ab. Das Wetter war anfangs zweifelhaft, aber in Herisau, dem Hauptorte von Appenzell-Außerrhoden, wo ich übernachtete, prophezeite man zum folgenden Tage gutes Wetter. Und so traf es ein. Am andern Morgen um sechs Uhr weckte mich Musik. Ich sah zum Fenster hinaus. Der Himmel war klar, auf den Spitzen der Berge rund umher kündigte sich mit goldnem Glanze die Morgensonne an.

Die Musik durchzog bis sieben Uhr den Flecken Herisau; sie war zur Feier des Tages, der Landesgemeinde, des jährlichen wichtigsten politischen Tages im Lande. Es war die Musik des Cadettencorps des Orts.

Des Cadettencorps? fragen Sie und Ihre Leser! Doch nein. Da fällt mir eben ein, daß ja unser Freund Roßmäßler vor einigen Jahren in der Gartenlaube mitgetheilt hat, was Cadetten und Cadettencorps in der Schweiz sind. Vielleicht mache ich Sie und Ihre Leser ein andermal noch näher damit bekannt.

Um sieben Uhr machte ich mich von Herisau auf den Weg nach Hundwyl, wo die Landesgemeinde sich versammelte. Hundwyl ist ein altes, kleines Dorf, starke anderthalb Stunden (Schweizer-Stunden) von Herisau entfernt. Welch’ ein schönes Stück der Erde, welch’ ein schönes Stück Schweizerland sah ich da!

Die Sonne war goldenklar aufgegangen, wie sie sich angekündigt hatte. Keine Wolke war am Himmel, kein Nebel in der Luft. Nur hin und wieder hatten einzelne feine, schneeweiße Nebelstreifen an den Rand wie Berge sich gelagert, oder in eine Felsschlucht sich zurückgezogen.

In diesem klaren Sonnenmorgen lag das schöne Land da, Berg an Berg, Thal an Thal. Und Alles bedeckt mit den frischesten, grünen Matten. So weit das Auge reichte, grüne Weide, grüne Alpen, bis oben zu den Kämmen und Spitzen der Berge hinan, wo Tannen und Fichten und Birken sich anschlossen. Und wie voll, wie reich, wie üppig waren diese Matten!

Und überall waren sie wie besäet mit den frischen, braunen Bauernhäusern und den grauen Sennhütten. Und überall sah man das schöne, bunte Vieh grasen. Ueberall bis zu jenen mit den Tannen und Birken bedeckten Kämmen und Spitzen der Berge hinan, hörte man das Geläute der Glocken und Glöckchen, die die schönen Thiere trugen. Dazwischen das Geläute der Glocken von den fernen Thürmen der Dörfer, bald in der Tiefe der Thäler, bald von den Höhen der Berge.

Und nun die Menschen! Aus allen den Häusern traten sie heraus, auf allen Wegen und Pfaden, die von den grünen Alpen, durch die üppigen Matten führten, sah man sie herniedersteigen und weiter schreiten. Nur Männer! Die Frauen und Kinder sahen ihnen aus den Häusern nach oder geleiteten sie einige Schritte. Alle waren festlich gekleidet, Alle in stiller, gemessener, feierlicher Haltung. Die Männer gingen zur Landesgemeinde!

Und über dem Allem schien die Sonne so warm und so klar, war der Himmel so heiter, so hell, so frei!

Es war ein wundervoller Sonntagmorgen. So schön habe ich noch keinen in der Schweiz erlebt; noch keinen in meinem Leben. Ach, mußte ich unwillkürlich denken, wärst du doch jetzt erst sechzehn Jahre alt, anstatt beinahe sechzig! Den Sonntag vergäßest du in deinem ganzen Leben nicht, und er thäte dir gut für dein ganzes Leben, noch nach sechzig Jahren! So ein schöner, klarer, sonniger Sonntagmorgen in Gottes freier großer Natur ist etwas Werth für das Leben.

Und frei und groß ist Gottes Natur in dem schönen Appenzellerlande. Diese sanft sich windenden Thäler, diese endlosen weichen Matten, diese reichen Alpen bis an die Spitze der Berge hinanreichend; diese hohen Berge, einer immer höher, als der andere, und über ihnen allen hervorragend der Säntis, der Bergriese des Appenzellerlandes! Dann plötzlich ein tiefer Riß durch die Berge, eine breite, weite Furche. Unten tief aus dem Grunde die Spitzen ungeheurer Bäume bis zu unseren Füßen heranreichend. Unter ihnen, an den Wurzeln ihrer Stämme ein helles, hastiges Rauschen. Auf einmal vor uns ein schmaler Steg, unter uns eine breite bedeckte Brücke. Wir sind an einer Schlucht, durch die der Rothbach sich drängt, die Sitter sich mühsam eine Bahn erkämpft, die wilde Urnäsch stolz und trotzig und gewaltsam die hohen Berge, die harten Felsen zerspalten und zerbrochen hat, um im schmalen, finsteren Bette fort und fort ihre grollenden Wellen weiter zu wälzen.

Am schönsten war der Anblick, als wir, nach Zurücklegung stark des halben Weges von Herisau nach Hundwyl eine neue bedeckte Brücke über die Urnäsch überschritten und jenseits auf steilem, manchmal keine zwei Fuß breitem, immer an dem tiefen Abgrunde entlang führendem Felsenpfade jenseits die Höhe des nächsten Bergkammes erreicht hatten.

Auf derselben Höhe mit uns, nur wenig tiefer, lag das Dorf Hundwyl, das Ziel unserer Reise, der diesjährige Versammlungsort der Landesgemeinde.

Rund um das Dorf herum erhoben sich höhere Berge. Wie es zwar oben auf einer Bergeshöhe lag, so lag es so dennoch in einem Kessel von Bergen vor uns.

Und von allen diesen Bergen liefen Pfade herunter nach dem Dorfe zu, und eben diese Pfade konnten wir übersehen. Und alle [663] waren von der Spitze bis zum Grunde mit Menschen bedeckt, die von allen verschiedenen Seiten nach dem Einen Mittelpunkte, dem alten Dorfe Hundwyl, herunterstiegen und zusammenströmten.

Das war auch ein Anblick, den man nie vergessen kann.

Ich erreichte das Dorf, eins der ältesten des Appenzellerlandes. Man sah ihm freilich sein Alter nicht sehr an. Altes und Verfallenes sah man wenigstens gar nicht darin. Die Bauart einiger Häuser schien zwar besonders eigenthümlich zu sein. Aber wenn es mir hier auffiel, so hatte ich wohl nur anderswo nicht so genau darauf geachtet. Die Bauernhäuser in den Schweizer- und besonders Appenzellerdörfern haben überall ihre eigenthümliche alterthümliche Bauart.

Andere Häuser, als die von Holz aufgeführten Bauernhäuser sah man in dem Dorfe nicht. Nur eins der Wirthshäuser war anders, neuer gebaut. Aber selbst das Pfarrhaus unterschied sich von den anderen Bauernhäusern nicht.

Ueberall aber sah man auch in diesem Appenzellerdorfe die Wohlhabenheit. Auch die Kirche zeigte sie. Sie war, mit ihrem Thurme, vor wenigen Jahren reparirt. Sie war so hübsch und freundlich, wie ich selten eine Dorfkirche gesehen habe. In der Evangelischen Schweiz gewiß nicht. Diese reformirten Kirchen, in denen man gar nichts sieht, als kahle, nackte, meist graue Wände und an einer der Wände einen schwarzen Gegenstand, der einer alten Tonne ähnlich sieht und die Kanzel ist, sie sind nicht mehr einfach, sie machen nicht den edlen, oft erhabenen Eindruck der Einfachheit; sie sind traurig einförmig und machen den Eindruck einer Wüste, in der man eben nichts findet, am allerwenigsten Liebe und Erhebung. Für mein Gefühl sind sie einmal so. Können Andere andere, bessere Eindrücke darin empfangen, desto besser.

Der Ort wimmelte schon von Menschen. Alle waren in ihrer festlichsten Sonntagstracht. Das Dorf selbst lag blos in dem Festschmucke des schönsten, klarsten, sonnigsten Herbstsonntagmorgens da. Nicht einmal eine einzige Fahne war zu sehen. Es fiel mir um so mehr auf, als man sonst in der Schweiz bei jeder Gelegenheit Fahnen sieht. In Zürich zum Beispiel findet keine Localfestlichkeit statt, ohne daß jedes Haus und in manchem Hause jedes Fenster seine rothweiße – die eidgenössische Farbe – und blauweiße (die Zürcherische) Fahne aufgesteckt hat.

Daß eine große Versammlung erwartet wurde, zeigten nur besonders eine Menge von Buden, die im Dorfe, namentlich in der Nähe der Kirche und der Wirthshäuser, aufgerichtet waren. Ungeheuer viele Kuchen und Cigarren waren da.

Auch ein Handelsmann mit Volksbüchern und Bildern. Er war aus dem würtembergischen Städtchen Friedrichshafen drüben vom Bodensee herübergekommen. Seine Bude war die am meisten umlagerte. Sie zog – ja, es muß heraus – selbst in diesem alten, schweizerischen, republikanischen, demokratischen Canton, die Leute heran, durch die europäischen Potentaten, die stolz und in prächtigen Farben, hoch zu Rosse, an einem Faden neben einander hoch für Alle sichtbar aufgehängt waren. Und hatte der Mann sie so absichtlich sinnreich neben einander aufgerichtet?

Zuerst kam „Ihro Kaiserliche Hoheit, Olga, Kronprinzessin von Würtemberg.“ Der Mann war ja Würtemberger, und er zeigte, daß der Schwabe eben so galant, wie patriotisch sein kann. Neben ihr hing, wie billig, ihr Gemahl, der Kronprinz von Würtemberg.

Dann kam – nicht der König von Würtemberg. Ach, der ist schon alt, er zählt schon seine 76 Jahre, und – war der Mann auch ein Höfling, der sich, um die untergehende Sonne unbekümmert, nur der aufgehenden zuwendet? Ja, ja, wenn es die Fürsten nur immer wissen wollten, der moderne Patriotismus besteht vielfach nur in solchem – Sonnendienste.

Neben dem Kronprinzen von Würtemberg hing der Kaiser Alexander II. von Rußland. „Unser Schwager“ sagten die Berliner früher von seinem Vater, dem Kaiser Nicolaus.

Auf den Kaiser von Rußland folgte der – türkische Sultan, und auf diesen die Königin Victoria von England. Und diese Aufstellung, mein lieber Freund, war äußerst sinnreich und gelungen. Der arme Sultan sah so schrecklich blaß und krank und elend aus, in der Mitte jener beiden Potentaten. Die Königin Victoria sprengte auf ihrem hohen Engländer so stolz auf ihn zu. Er fürchtete sich offenbar vor ihr. Er wollte ihr entfliehen. Er sah noch halb nach ihr zurück, er wollte sein Pferd in Galopp setzen. Da blickt er vor sich, und unmittelbar vor ihm sprengt von der anderen Seite, drohend, den Säbel geschwungen, der russische Kaiser auf ihn ein. Wohin soll der arme Sultan? Hier England, hier Rußland! Er konnte wohl blaß und kläglich aussehen.

Hinter der Königin Victoria kam der Kaiser Napoleon III. Sie hatten einander den Rücken zugedreht.

Dann kam der König Friedrich Wilhelm IV. von Preußen. Er war der Letzte. Er und der Kaiser Napoleon sahen sich etwas verwundert an.

Aber von den hohen Potentaten wieder zu der Republik, zu der einfachen Bauernrepublik.

Schelten Sie mich, wie Sie wollen, mein lieber Keil; ehe ich zu der Landesgemeinde des Appenzellerlandes komme, muß ich Ihnen doch noch Einiges über Land und Leute von Appenzell sagen.

Das Land Appenzell stand in früheren Zeiten unter der Grundherrschaft des Abtes von St. Gallen. Die Leute in Appenzell wurden von dem Abte behandelt, wie andere Klosterleute. Aber sie hatten früh einen freien, selbstständigen Sinn. Schon im Jahr 1367 standen sie auf gegen den Abt, um eine mildere Behandlung zu verlangen. Sie erhielten diese. Der Abt gab ihnen sogar, was früher nicht geschehen war, einheimische Amtmänner.

Es kam darauf an, den besseren Zustand sich zu sichern. Dazu schlossen sie, unter Vermittelung der ihnen befreundeten Stadt St. Gallen, eine Verbindung mit dem schwäbischen Städtebunde. Hierdurch war ihre Freiheit gesichert. Hieraus entstand auch zuerst ihre Landesgemeinde, die bis auf den heutigen Tag fortgewährt hat.

Nämlich am 22. Mai 1378 empfahl ein Bundestag der Schwäbischen Reichsstädte, zu Ulm versammelt, die Gemeinden, „Lendlin,“ von Appenzell der besonderen Aufsicht und Fürsorge der zwei benachbarten Städte St. Gallen und Constanz, und beschloß zugleich, daß jene aus ihrer Mitte dreizehn Männer erwählen möchten, welche die gewöhnlichen Steuern und andere gemeine Ausgaben unter sämmtliche Landleute nach Markzahl ihres Vermögens zu vertheilen und dafür zu sorgen hätten, daß dem Bunde die nöthige Hülfe geleistet werde. Diese dreizehn Männer wurden alle Jahre von den zu diesem Zwecke zusammentretenden Gemeinden des Landes gewählt und so entstand die jährliche „Landesgemeinde,“ und der erste Anfang der noch jetzt in dem Canton bestehenden demokratischen Verfassung.

Fast unmittelbar darauf, seit dem im Jahre 1379 erfolgten Tode des Abtes Georg von St. Gallen erhoben sich nun aber auch fortwährende Uneinigkeiten und Reibungen mit dem Grundherrn, dem Kloster zu St. Gallen, die zuletzt zu einem langwierigen Kriege führten, in welchem auf Seiten der Appenzeller ihre Eidgenossen, darunter auch schon Schwyz, Unterwalden und Glarus, auf Seiten des Klosters aber mehrere mit ihm verbündete Reichsstädte standen. Am 14. Mai 1403 erlitt das Heer des Klosters und dieser Reichsstädte bei Vögelinseck eine schimpfliche Niederlage. Die Reichsstädte verließen darauf den Abt, der sich nun mit dem Herzoge von Oesterreich verbündete. Das hatte neue Bündnisse der Appenzeller mit ihren Nachbarn zur Folge, und so entstand der berühmte „Bund ob dem See“ (Bodensee), zur Festhaltung der Freiheit und der volksthümlichen Verfassung auf beiden Seiten des Rheines oberhalb des Sees. Nach der Schlacht am Stoß, 17. Juni 1405, die das Kloster wieder verlor, stand das kleine Appenzell gar an der Spitze dieses Bundes. Im Jahre 1421 kam demnächst auch ein Vergleich mit dem Kloster St. Gallen zu Stande, durch welchen, unter Vorbehalt mancher Rechte des Klosters, das Land Appenzell als ein Freistaat ausdrücklich anerkannt wurde.

Im Jahre 1513 wurde Appenzell, als „dreizehnter Ort“ in die schweizerische Eidgenossenschaft aufgenommen.

Das Land hatte nun Freiheit, Friede und Sicherheit. Der Friede sollte ihm bald wieder genommen werden. Die Lehre des Friedens, der Liebe, die so oft gerade von ihren Priestern zu Unfrieden, zu Hader und blutigem Streit mißbrauchte Lehre der christlichen Religion, war die Veranlassung, auch dem friedlichen Lande einen Hader zu bringen, der es für immer, bis auf die gegenwärtige Zeit hinab, getrennt hat. Die neue Lehre Zwingli’s drang auch in das Appenzellerland, aber nur in die äußeren Rhoden, die von dem Orte Appenzell entfernteren, äußeren Bezirke des Landes. Die inneren Rhoden, die Bezirke mit und um Appenzell herum, blieben bei dem alten Glauben. Die Glaubensverschiedenheit wurde zum Glaubensstreit; der Glaubensstreit wurde zum [664] Staats-, Volks- und Lebensstreit zwischen Land und Leuten. Von außen wurde der Streit genährt. Endlich kam im September 1597 ein Vergleich zu Stande, freilich ein Vergleich, der nicht vereinigte, sondern zerriß, völlig zerriß. Das Land Appenzell blieb zwar in der Eidgenossenschaft ein Ganzes, Eines. Im Innern aber war es fortan in zwei vollständig geschiedene selbstständige Ländergebiete getrennt, die nichts weiter mit einander gemein hatten, nicht Verfassung, nicht Lasten, nicht Rechte, nicht Behörden, auch nicht Landesgemeinde. Die Trennung wurde als eine so rein confessionelle aufgefaßt und durchgeführt, daß die einzelnen katholischen Leute, die sich noch in Außerrhoden befanden, nach Innerrhoden, dagegen die protestantischen Einwohner der inneren Rhoden nach den äußeren Rhoden ausgetauscht wurden. Nur zwei Klöster, Wonnenstein und Grimmenstein, konnten nicht über die Grenze transportirt werden; man mußte sie in den äußeren Rhoden lassen.

Die Trennung ist, wie gesagt, geblieben. Der jetzige eidgenössische Canton Appenzell, in der Eidgenossenschaft nur Ein Canton, zerfällt in die beiden „Halbcantone“ Außerrrhoden und Innerhoden. Dieser ist auch seitdem streng katholisch, jener protestantisch geblieben.

Der Größe nach hat Innerhoden vier Quadratmeilen mit 16,000 Einwohnern, Außerrhoden hat sechs Quadratmeilen 44,000 Bewohnern.

Wir haben es hier nur noch mit Außerrhoden zu thun.

Daß es ein schönes Land, das fruchtbarste Weideland ist, habe ich schon gesagt. Aber darum hat es nicht blos Viehzucht, und seine Bewohner sind nicht blos Viehhirten und Käsefabrikanten, Schon seit einer Reihe von Jahren hat ein anderer Gewerbszweig durch das ganze Land sich verbreitet: Baumwollenweberei und Stickerei. Die Appenzeller Stickereien haben sich in der ganzen Welt berühmt gemacht. In jedem Bauernhause sind Weber und Stickerinnen. Die Viehzucht läßt ihnen Zeit genug zu diesen Beschäftigungen. Herisau, der Hauptort des Cantons, ist ein bedeutender Fabrikort geworden. Teufen nicht minder. Auch anderswo im Lande findet man größere Fabriken zerstreut. Die Fabrikherren sind mitunter sehr reiche Leute, Millionäre. Wohlhabenheit sieht man im ganzen Lande.

Auch auf der Landesgemeinde versammelt sich daher nicht blos ein Volk von Bauern und Hirten. Sie sind da; aber mit ihnen sind auch Fabrikanten und Kaufleute da, die nicht nur an Reichthum, sondern auch an Bildung und Kenntnissen Niemandem ihres Standes anderswo nachstehen. Sie haben wieder andere, weitere, selbst gelehrte Bildung in das Land hineingezogen. Ich habe bei Gelegenheit der Landesgemeinde ältere und jüngere Aerzte, junge Rechtsgelehrte kennen gelernt, die auf den schweizerischen, aber auch auf den ersten deutschen Universitäten ihre Studien gemacht hatten und vielfach die Lieblinge der berühmtesten Lehrer geworden waren. In dem Director der Cantonschule zu Herisau fand ich einen tüchtigen Pädagogen, und der Appenzeller Grunholzer, hier in Zürich seit Jahren mein lieber Freund und Miteinwohner, ist der erste Pädagog und populärste Name in der Schweiz.

Was das Land Appenzell geworden ist, das ist es durch sich selbst, einzig und allein durch das Volk geworden, durch seine freie Verfassung. Auch diese Verfassung hat sich das Volk selbst gegeben.

Und wie einfach ist diese Verfassung! Wie einfach die ganze Gesetzgebung des Landes! Ich habe sie hier gedruckt vor mir liegen, die Verfassung und die sämmtlichen Gesetze des Landes. Und was meinen Sie, mein lieber Freund, wie viele Bände es wären?

Ein einziges Bändchen ist es, klein Octav, groß gedruckt, und 440, sage vierhundert und vierzig Seiten stark.

Aber von dieser Verfassung der Appenzeller muß ich Ihnen nun noch Einiges mittheilen, ehe ich Ihnen von der Landesgemeinde am 3. October dieses Jahres erzählen kann. Ich könnte Ihnen sonst von dieser eben nicht viel Verständliches sagen.

In der Schweiz sind jetzt noch vier Cantone, die ihre uralte Verfassung beibehalten haben, und zwar in der Art, daß das gesammte Volk alljährlich zu der Landesgemeinde zusammentritt, um seine Obrigkeit zu wählen, die Verwaltung der abgehenden Obrigkeit zu prüfen und, wenn es nöthig sein sollte, sich neue Gesetze zu geben. Nach dieser rein demokratischen Verfassung werden sie besonderlich „die Schweizerischen Demokratien“ genannt. Es sind die Cantone Uri, Unterwalden, Glarus und Appenzell. Ein paar andere Cantone führen gleichfalls noch den Namen. Aber sie haben sich in neuerer Zeit mehr eine Repräsentativverfassung gegeben.

Die anderen Cantone wurden früher bekanntlich durch einzelne privilegirte Städte oder Familien regiert. Jetzt sind aber auch sie sämmtlich demokratisch, sie haben nur keine allgemeine Urversammlung, keine Landesgemeinde. Sie üben Wahlen und Gesetzgebung durch Abgeordnete aus, freilich nicht immer alle Wahlen, wie z. B. in Genf. Die Landesgemeinde bildet also das wesentlichste Kennzeichen jener Demokratien.

In Appenzell-Außerrhoden besteht sie aus allen „Landleuten“ (Cantonsbürgern), „die den Religionsunterricht erhalten und das 18. Jahr erreicht haben.“ Ausgeschlossen sind nur die, „welche ehr- und wehrlos, d. h, unter Scharfrichters Hand gewesen sind.“ Sie wird alle Jahre gehalten, am letzten Sonntag Aprils, abwechselnd in den Dörfern Hundwyl und Trogen. „Sie ist die oberste Gewalt im Lande; was sie erkennt, soll keine Behörde abändern oder aufheben mögen.“ Sie wählt alle Landesbeamte; ihr allein kommt es zu, neue Gesetze zu machen und alte abzuändern oder abzuschaffen, Sie ertheilt das „Landrecht“ (Staatsbürgerrecht). Die Jahresrechnungen (der Landesverwaltung) werden ihr vorgelegt. Das ist die ordentliche Landesgemeinde.

Es können aber auch außerordentliche Landesgemeinden gehalten werden: „so oft die Obrigkeit es nöthig findet“, oder auch, wenn „Landleute sie verlangen“. In dem letzteren Falle kann Jeder sich an die Obrigkeit wenden und diese muß entweder dem Antrage entsprechen oder unverzüglich außerordentliche „Kirchhören“ (Gemeindeversammlungen) anordnen. „Wenn dann wenigstens zehn Kirchhören dafür sind, so soll die Landesgemeinde außerordentlich versammelt werden, und zwar ebenfalls an einem der beiden Orte, wo die ordentlichen Landesgemeinden stattfinden, jedoch ohne Rücksicht auf diese.“

Einer solchen außerordentlichen Landesgemeinde wohnte ich am 3. October in Hundwyl bei.

[677] Die Veranlassung zu dieser außerordentlichen Landesgemeinde war eine der wichtigsten, die es für das Land und Volk geben konnte. Es handelte sich eben um eine neue Landesverfassung, in welcher mehrere der allerwichtigsten Bestimmungen der bisherigen Verfassung abgeändert werden sollten.

Mit dem ganzen Detail, das in Frage stand, werde ich Sie nicht belästigen.

Nur drei Punkte muß ich hervorheben. Sie sind zugleich die erheblichsten und führen Sie mitten in den eigenthümlichen Charakter des staatlichen Lebens von Land und Leuten hinein.

Das Land wird durch einen kleinen Fluß oder Bach, die Sitter, durchschnitten. Es wird dadurch das Land vor der Sitter und das hinter der Sitter unterschieden. Die oberste Landesbehörde hatte nun bisher aus jedem Districte gleichmäßig besetzt werden müssen, aus jedem mit einem Landammann u. s. w. Das führte manche Uebelstände mit sich. Die neue Verfassung sollte diese Scheidung aufheben. Das war der erste Punkt.

Noch wichtiger war der zweite. Bisher hatte das Land kein besonderes Obergericht. Eine zudem complicirt zusammengesetzte oberste Verwaltungsbehörde, der sogenannte „große Rath“, entschied zugleich in letzter Instanz, sowohl Civil- als Criminalsachen. Die neue Verfassung wollte Trennung der Justiz von der Verwaltung, Aufstellung einer selbstständigen höchsten Gerichtsbehörde.

Wichtiger nach meiner Ansicht war ein dritter Punkt. In allen schweren Straffällen hatte nach der bisherigen Verfassung in erster und letzter Instanz jener große Rath das Urtheil zu fällen gehabt. Gerade für die wichtigsten Rechtssachen war also nur eine einzige Instanz gegeben. Diesem Uebelstande soll nach der neuen Verfassung in folgender Weise abgeholfen werden: Es wird für das Land ein „Criminal- und Polizeigericht“ errichtet, hat jedoch keine Strafcompetenz, sondern hat einzig und allein sich darüber auszusprechen, ob und welches Verbrechens der Angeklagte schuldig sei, und sodann die Verhandlungen an den ordentlichen Richter des Wohnortes des Angeklagten zur Fällung des Endurtheils abzugeben. Gegen seine Entscheidungen kann nicht nur an das Obergericht appellirt werden, das Obergericht kann dieselben auch dadurch von Amtswegen vernichten, daß es in Fällen eines Verbrechens oder eines schwereren Vergehens nach seinem Ermessen von sich aus eine neue Proceßverhandlung vor seiner Gerichtsstelle anordnet.

Die Stellung des neugeschaffenen Gerichts ist also die eines modificirten und zugleich complicirten Geschworenengerichts, dessen Wahrsprüche aber durch Rechtsmittel, gar von Amtswegen, durch eine höhere Gerichtsbehörde vernichtet werden können. In dieser Weise kann allerdings das neue Gericht die erheblichsten Bedenken gegen sich herausfordern, mit denen ich Sie und Ihre Leser nicht weiter behelligen will. Die Schaffung zweier Instanzen für Strafrechtsfälle muß aber unzweifelhaft als ein Fortschritt der neuen Verfassung betrachtet werden.

Das waren die wichtigsten Punkte der neuen Verfassung. Sie waren als solche auch allgemein anerkannt, von der „Obrigkeit“, von den „Landleuten“, in der Presse. Das meiste Gewicht wurde auf das Obergericht gelegt. Schon vor dreißig Jahren hatten sich Stimmen für dasselbe, für die Trennung der Gewalten, im Lande erhoben. Stets war namentlich die „Obrigkeit“ des Landes selbst dafür gewesen. Die Landesgemeinden hatten sich jedoch eben so entschieden dagegen erklärt. Die Obrigkeit war beharrlich geblieben. Auflösen konnte sie – eine Landesgemeinde nicht. Aber zum Oefteren hatte sie den Gegenstand bei der Landesgemeinde von Neuem in Anregung gebracht.

Sollte er auch am 3. October dieses Jahres fallen? Die Spannung war allgemein; nicht nur im Appenzellerlande, auch im übrigen Schweizerlande sah man vielfach nach Hundwyl.

Freilich war man in Appenzell selbst auch in Betreff der beiden anderen obengenannten Punkte nicht ohne Bedenken.

Wie der Schweizer überhaupt, so hängt der Appenzeller besonders mit großer Zähigkeit an dem Ererbten, Hergebrachten. Dazu kam in Betreff der Aufhebung jener Scheidewand zwischen dem Lande vor und hinter der Sitter, daß es sich in den Augen der Masse nur gar zu leicht um Hintansetzung, um Unterdrückung eines Landestheiles gegen den anderen handeln konnte. Und in Betreff des Criminal- und Polizeigerichts kann man es den einfachen Landleuten schwerlich verdenken, wenn die in dem Vorschlage liegende Unklarheit auch ihnen nicht klar werden wollte. Dennoch herrschte unter dem Volke selbst in Betreff der ganzen Verfassungsrevision eine bewunderungswürdige Ruhe. Keine Gleichgültigkeit!

Ich machte den Weg von Herisau nach Hundwyl mitten zwischen den zur Landesgemeinde gehenden Landleuten, und zwar an der Seite des Gemeindeschreibers, früher langjährigen Landschreibers Grunholzer von Herisau, an den ich von seinem in Zürich lebenden Bruder empfohlen war, eines Mannes, der in seiner Heimath Appenzell eben so geachtet ist, wie sein Bruder in der ganzen Schweiz. Er machte mich mehr mit den Zuständen und Verhältnissen, mit Land und Leuten bekannt, und führte mich mitten in diese hinein.

Aus keinem Munde vernahm ich über die Neuerungen nur ein einziges lebhaftes oder gar aufgeregtes Wort, nicht einmal untereinander, noch weniger gegen mich. Die Meisten sprachen gar nicht über die Sache. Sie gingen in dem sicheren und ruhigen Bewußtsein, daß sie über den Gegenstand genug nachgedacht, vielleicht auch gesprochen hätten, und nun darüber völlig im Klaren seien.

So war es auch, als wir in Hundwyl ankamen, wo schon Tausende von Menschen versammelt waren, und von Minute zu Minute immer mehrere eintrafen. Ueberall, in den Straßen des Dorfes, auf dem Platze, wo die Landesgemeinde abgehalten werden sollte, in den Wirthshäusern, herrschte die größte Ruhe und Ordnung, ja sogar Stille. Nirgends ein überlautes Wort, nirgends ein Disputiren, Streiten oder Zanken. Man kann sagen, daß über die Verfassung gar nicht gesprochen wurde. Höchstens wurde, wenn ein paar Bekannte sich begegneten, gefragt: Was meinen Sie? Wird die Revision durchgehen? Wird die neue Verfassung angenommen? Man wußte es nicht. Man hoffte oder fürchtete, je nach dem Standpunkte des Antwortenden.

[678] Bemerken muß ich übrigens, daß der Entwurf der neuen Verfassung mit erläuternden Bemerkungen schon seit August dieses Jahres in Aller Händen war, und daß seitdem auch namentlich die Presse des Landes ihn für und wider fast unablässig besprochen hatte. Die Leute hatten sich also wohl ein Urtheil bilden können. Und die es sich etwa noch nicht klar gebildet hatten, warteten ruhig ab, was ihnen in der Landesgemeinde noch vor der Abstimmung der regierende Landammann in seiner über den Gegenstand zu haltenden Rede sagen werde.

Daß diese große Ruhe und Sicherheit des Volkes etwas Imponirendes hatte, brauche ich Ihnen wohl nicht zu sagen. Man sah den Leuten an, einerseits das klare, felsenfeste Bewußtsein: Um unsere Freiheit handelt es sich nicht, die nimmt uns Niemand und nichts in der Welt. Es kommt eben nur auf eine oder ein paar neue Formen an, die ihr Gutes haben mögen, die aber auch ihre Gebrechen haben können, ohne die übrigens unsere Vorfahren fertig geworden sind. Man sah dann aber auch andererseits das Bewußtsein: Jedenfalls sind wir selbst und wir allein es, die darüber zu bestimmen haben, wie es werden soll; kein Fremder, kein Dritter, kein anderer Mensch in der Welt hat uns drein zu reden! –

Aber, Erbarmen! werden Sie zum öftern ausgerufen haben, mein lieber Freund! Erbarmen, wann kommt denn endlich die Appenzeller Landesgemeinde?

Geduld, jetzt kömmt sie wirklich!

Um neun Uhr Morgens waren schon mindestens sechs- bis siebentausend Appenzeller Männer in dem Dorfe Hundwyl versammelt. Zwölftausend „ehr- und wehrhafte Männer,“ welche das achtzehnte Jahr erreicht haben, zählt das Land Appenzell-Außerrhoden. Zehn- bis elftausend konnten also erwartet werden.

Die sämmtlichen Anwesenden waren in ihrer festlichsten Kleidung. „Festliche Kleidung“ verordnet das Gesetz. Die Kleidung, in der man zum Abendmahl geht, schreibt das uralte Herkommen vor. Alle trugen dunkle, die bei weitem Meisten schwarze Röcke und Beinkleider. Beinahe Alle den schwarzen runden Hut (Cylinder). Tief hinten aus dem Lande waren auch noch alte Männer mit dem Dreimaster da. Aus anderen Gegenden wieder Andere mit dem czakoähnlich von unten nach oben immer weiter sich ausdehnenden runden Hute der ersten Zeit des französischen Kaiserreichs.

Jeder ohne Ausnahme trug ein Seitengewehr. Es war das Zeichen ihrer „Ehr- und Wehrhaftigkeit“, sein Tragen war im Gesetze geboten. Ohne den Degen an der Seite hätte Keiner stimmen dürfen. Man sah Seitengewehre aller Art und Zeit. Die meisten trugen ihre Infanteriedegen, beziehungsweise Cavalleriesäbel des schweizerischen Heeres.

Jeder Schweizer-Soldat (Landwehrmann) hat seine Waffen stets bei sich zu Hause. Landwehrzeughäuser, worin sie, wie in Preußen, aufbewahrt würden, kennt man in der Schweiz nicht. Andere trugen Hirschfänger, noch Andere Patentdegen. Manches Gewehr mochte seine zwei- bis dreihundert Jahre alt sein.

Um elf Uhr Vormittags sollte die Landesgemeinde beginnen. Um neun Uhr fand der erste officielle Act zu ihrer Vorbereitung statt: ein Sonntagmorgengottesdienst in der Dorfkirche. Die Behörden des Landes, die „Regierung“, mußten Theil daran nehmen. Von den Anderen konnten sich so viele anschließen, als die Kirche faßte. Es mögen nicht viel über tausend gewesen sein. Die Glocken des Kirchthurms riefen wenige Minuten vor neun zu der Kirche. In demselben Momente stellten sich Musiker vor dem Wirthshause zur Krone auf.

In dem Wirthshause zur Krone, nicht weit von der Kirche, befanden sich, des Rufes zur Kirche harrend, die „Herren von der Regierung.“ Sie waren in einem besonderen Zimmer versammelt.

Hinter der Musik stellte sich die Ehrenwache der Regierung auf, Wächter und Wärter aus dem Dorfe, gekleidet wie die anderen Männer, nur daß sie außer ihren Seitengewehren große alterthümliche Lanzen trugen.

Als die Glocke neun schlug, begann die Musik einen Marsch zu blasen. Augenblicklich traten die Herren von der Regierung aus dem Wirthshause hervor.

Zuerst die beiden Landammänner, sie gingen paarweise. Ihnen folgten die Anderen nach dem Range; alle gleichfalls paarweise. Hinter der höchsten Corporation, dem sogenannten „zweifachen Landrathe“, gingen drei „Weibel“, voran der „Landweibel.“ Mit Ausnahme dieser drei Weibel und des einen Landammanns zeichnete sich keiner durch seine Kleidung vor den übrigen Landleuten aus. Der „regierende“ Landammann trug einen einfachen schwarzen Mantel und einen hohen dreieckigen Hut, den „Landammannsmantel“ und den „Landammannshut.“ Die drei Weibel trugen Mäntel, von denen die ganze eine Seite weiß, die andere schwarz war.

Weiß und schwarz sind die Appenzeller Landesfarben, oder wie es hieß, „Standestracht.“

Die drei Männer sahen sonderbar genug darin aus. Sah man sie links, so waren sie von unten bis oben schwarz, sah man sie rechts, so sah man nur die weiße Seite des Mantels. Alle hatten die Häupter entblößt. So ging der Zug feierlich in die Kirche. Alle Umstehenden entblößten gleichfalls ihre Häupter.

Was, wie gesagt, in die Kirche mit hinein konnte, ging mit hinein. Aber nur Männer der Landesgemeinde. Ich trug keinen Degen; ich konnte nicht mit hinein. Ich kann Ihnen daher auch nichts über den Gottesdienst sagen, zumal da ich wahrhaftig später vergessen habe, mich darnach zu erkundigen. Es wird wohl der gewöhnliche Sonntagsgottesdienst gewesen sein, mit Bezug in der Predigt auf die politische Wichtigkeit des Tages. In der Schweiz wird dadurch ein Gottesdienst nicht zu einem politischen Verein.

Um zehn Uhr war die Kirche zu Ende. Die Regierungsherren kehrten nicht in das Wirthshaus zurück; sie begaben sich in das Pfarrhaus, in welchem zugleich eine Etage zu dem von der Gemeinde zu liefernden Gerichtshause diente.

Um halb elf Uhr wurde darauf die Landesgemeinde feierlich zusammengerufen. Dies geschah in folgender Weise:

Zwei Trommler und ein Pfeifer durchzogen dreimal die Gassen des Dorfes. Eine Schutzwache von jenen Lanzenträgern begleitete sie. Trommler und Pfeifer trugen wieder die „Standesfarbe,“ eine Art Militairfracks, die zur einen Hälfte weiß, zur anderen schwarz waren. Bis vor einigen Jahren hatten sie auch Westen und Beinkleider so von verschiedener Farbe getragen, so daß das eine Bein schwarz, das andere weiß bekleidet war. Sie sahen auch jetzt noch sonderbar aus, auf der einen Seite Arm, Brustlatz, Rockschoß schwarz, auf der andern Alles weiß.

Nachdem der dritte Umzug der Trommler und des Pfeifers beendigt war, erschien ein Sängerchor von vierzig bis funfzig Männern auf dem Landesgemeindeplatze. Sie sangen zwei „Landesgemeindelieder“: „Ode an Gott“ (Alles Leben strömt aus Dir) und „Dem Vaterlande“ (Rufst du, mein Vaterland).

Die ganze Landesgemeinde war unterdeß auf dem Platze versammelt. Es waren über elftausend Männer. Während des letzten Liedes erschienen die Herren von der Regierung, von Musik begleitet und in demselben Zuge, wie sie vorhin zur Kirche sich begeben hatten.

Aber vorerst muß ich Ihnen den Landesgemeindeplatz beschreiben. Ich kann es mit wenigen Worten. Mitten im Dorfe, an der Hauptgasse, liegt ein weiter, grüner, offener Rasenplatz. An seiner Rückseite und rechten Seite stehen kreisförmig Häuser des Dorfes. Links stößt die Kirche an ihn. Nach vorn läuft er ohne Beschränkung eine hohe Wiesenanhöhe hinan. Es waren zwei Tribünen auf ihm errichtet, die eine, kleinere, dicht an der Dorfgasse, mit dem Rücken nach den hinter dem Platze stehenden Dorfhäusern, die zweite, größere, der ersteren gegenüber, ungefähr fünfzig Schritte von ihr entfernt. Jene erstere war einzig und allein für den regierenden Landammann bestimmt, dem der Landschreiber und die oben genannten drei Weibel in ihren halb schwarzen und halb weißen Mänteln folgten. Die größere Tribüne sollte die sämmtlichen übrigen Landesbehörden mit Einschluß des „stillstehenden“ Landammanns aufnehmen.

Wie für die Landesgemeinde keine Sitze da waren, so mußten auch sämmtliche Beamte stehen, der regierende Landammann nicht ausgenommen. Es war Alles einfach. Die Beamten nahmen, so wie sie erschienen, ohne weiteres Ceremoniell ihre Plätze ein.

Sobald der regierende Landammann oben auf der Tribüne angelangt war, nahm er seinen „Landammannshut“ ab. Einer der Weibel nahm ihn von ihm in Empfang. In demselben Augenblicke entblößten die Mitglieder der Behörde ihm gegenüber und alle Tausend Männer auf dem weiten Platze ihre Häupter. Ebenso Alles, was auf und neben dem Platze, in den Fenstern der benachbarten Häuser und auf der Gasse, selbst auf dem Dache der Kirche, an Zuschauern da war.

Sie fragen mich, wo ich mich befand?

Ich war mit dem Herrn Grunholzer gekommen, den Alle kannten. Ich konnte mich hinstellen, wohin ich wollte. Ich durfte mich [679] mitten in die Versammlung stellen, in die Nähe der Tribüne des Landammanns, wo ich Alles hören und übersehen konnte.

Bezüglich der Abstimmung und deren Controlirung hätte auch eine Anwesenheit Mehrerer zwischen den Stimmenden keine Verwirrung hervorbringen können. Mitstimmen durfte nur, wer seinen Degen an der Seite trug. Hierin konnte Jeder seinen Nachbar controliren. Wehe dem, der ohne das Zeichen der Ehr- und Wehrhaftigkeit mitgestimmt hätte! Er wäre sofort jenen Lanzenwächtern überliefert worden. Nun wurde aber abgestimmt durch Aufhebung der Hand, und es wurde bei jeder einzelnen Frage Probe und Gegenprobe gemacht, so daß das Resultat immer mit Sicherheit übersehen werden konnte, gleichviel ob Fremde in der Versammlung waren oder nicht.

Hier muß ich noch eine Bemerkung einschalten. Das Appenzeller Recht bestraft jeden Exceß, jedes Vergehen, jedes Verbrechen, die am Tage der Landesgemeinde vorfallen, mit verhältnißmäßig weit härterer Strafe, wie sonst. Der Landesgemeinde ist ein ganz besonderer Friede geboten. –

Der regierende Landammann trat an die Schranke der Tribüne.

Es war ein schöner Mann, dem Anscheine nach einige vierzig Jahre alt. Das Gesicht war sehr ausdrucksvoll, etwas kränklich. Er ist Kaufmann in einem kleinen Dorfe vor der Sitter, Bühler. Sein Name ist Sutter. Wohin ich hörte und gehört hatte, sprach man mit der größten Hochachtung von ihm, von seinem Verstande, von seinem Charakter, von seiner ungeheuchelten Liebe für das Vaterland. Alle waren darin einig, mochten sie für oder gegen die Revision der Verfassung sein. Wie sehr der Mann diese allgemeine Achtung verdiente, sollte auch sein heutiges Auftreten und Verhalten zeigen.

Die Landesgemeinde begann mit der Eröffnungsrede des Landammanns.

Sie dauerte fast eine halbe Stunde. Er hatte darin die Veranlassung der außerordentlichen Landesgemeinde zu bezeichnen und die Vorlage für dieselbe, also den neuen Verfassungsentwurf im Ganzen und in seinen einzelnen Bestimmungen, namentlich den Hauptpunkten, der Versammlung näher zu erläutern, und dabei besonders hervorzuheben, von welchen Grundsätzen und Gesichtspunkten man bei den neuen Vorschlägen des Entwurfs ausgegangen sei.

Der einfache Kaufmann entwickelte in seiner Rede ein Talent, Kenntnisse, staatsmännische, wie selbst juristische; er sprach mit einer solchen Klarheit, ja mit einer solchen Eleganz des Ausdrucks, und dabei zugleich so allgemein verständlich und so volksthümlich; er zeigte überall eine solche ehrliche, treue, wahre Wärme für seinen Gegenstand, eine solche Liebe für sein Vaterland und dessen freie Institutionen; es drückte in jedem seiner Worte, in seinem ganzen Wesen eine solche edle Erhebung und Begeisterung neben voller Klarheit und Mäßigung sich aus, daß man unwillkürlich von Bewunderung für den Mann hingerissen und mit und von ihm für seinen Gegenstand mit fortgerissen wurde.

Ich habe in meinem Leben viele Reden angehört und anhören müssen, amtliche Reden früher als Beamter, parlamentarische Reden in Nationalversammlungen wie in Kammern, in demokratischen, wie in nicht demokratischen, von Demokraten und ihren Gegnern, von Abgeordneten und von Ministern. Glänzender mochte manche sein, mehr Kunst mochte sie entwickeln, – wie oft freilich die Kunst der Perfidie! – mehr Feuer der Begeisterung – wie oft auch wildes Feuer! – mochte in ihr brennen und flackern; aber wahrhaftig, mein lieber Freund, in Beziehung auf Klarheit, auf Eleganz und zugleich Popularität des Ausdrucks, auf besonnene Wärme, ehrliche Vaterlandsliebe, und vor Allem auf redliche Wahrheit, stelle ich die Rede des einfachen Kaufmannes auf der Appenzeller Landesgemeinde keiner Rede nach, die ich jemals gehört habe.

Er erhob seine Stimme unter der tiefsten, feierlichsten Stille. Nach seinen ersten Worten war auf dem weiten Platze unter all den elftausend Menschen keiner mehr, der nicht jede Sylbe hätte verstehen können. Er sprach frei. Er begann, nach altem Brauche, an seinen „stillstehenden“ Collegen, an die Landesbehörden, an das gesammte Volk sich wendend:

„Herr Landammann, meine Herren, liebe und getreue Mitlandleute und Bundesgenossen!“

Wie die Eidgenossenschaft durch Bündnisse der einzelnen Cantone („Stände“), so sind wieder die meisten einzelnen Cantone, namentlich Appenzell, ursprünglich durch die freie Verbindung einzelner Gemeinden entstanden, daher noch immer die alte Anrede: „Bundesgenossen.“

Er fuhr dann wörtlich fort: „An der letzten Frühlingsgemeinde habt Ihr eine Commission beauftragt, die nöthigen Verbesserungen unserer Cantonalverfassung vorzunehmen. Diese Commission ist dem ihr gegebenen Auftrage mit thunlicher Beförderung nachgekommen. Sie hatte zum voraus Euch eingeladen, ihr Eure Wünsche mitzutheilen. Sie hat diese Einladung wiederholt, nachdem sie den Entwurf unter möglichster Berücksichtigung der eingegangenen Wünsche vorberathen und Euch denselben zur Kenntniß gebracht hatte. Als sie dann endlich mit ihrer Arbeit zum Abschluß gelangte, übergab sie dieselbe dem ehrsamen großen Rathe, und damit auch Euch, getreue, liebe Mitlandleute und Bundesgenossen. Sowohl die Revisionscommission, als auch der große Rath haben Euch ihre Ansichten, Bemerkungen und Rathschläge darüber offen und freimüthig dargelegt, und diese beiden Körper, gebildet aus Männern des Volks, aus Männern Eures Vertrauens, empfehlen Euch alle die Vorschläge, welche nun heute an Eure Abstimmung gelangen, zur Annahme.

„Wenn solche Collegien, wie Eure Landesobrigkeit und Eure Revisionscommission, wenn solche erfahrene, biedere Männer des Volks gesprochen haben, könnte ich wohl schweigen und zur Abstimmung schreiten. Doch Euer Zutrauen hat mich an die Spitze dieser hohen Landesbehörde gestellt. Daher soll auch ich, und zwar von Angesicht zu Angesicht, treuherzig und offen zu Euch, getreue, liebe Mitlandleute und Bundesgenossen, sprechen. Ja, ich will zu Euch sprechen, einfach und schlicht, nach denjenigen Erfahrungen, die ich während meines Amtslebens, dem ich mit gewissenhafter Hingebung mich gewidmet habe, zu machen Gelegenheit hatte.“

Der Redner ging nun in den neuen Verfassungsentwurf ein.

„Vorab kann ich Euch mittheilen, daß die Revisionscommission von dem Grundsatze ausgegangen ist, das Gute und Brauchbare an der bisherigen Verfassung, als ehrwürdiges und schätzbares Erbgut unserer Väter, beizubehalten, und das Neue, das der fortschreitende Zeitgeist, das veränderte Verhältnisse, das eine gehörige Garantie für persönliche Freiheit und Rechtssicherheit fordern, unserer einfachen patriarchalischen Verfassung eben so einfach anzureihen.

„Immerhin wird die neue Verfassung wohl Manchem doch nicht gefallen. Dem Einem wird sie, trotzdem, daß die Abänderungen sich nur auf das Allernothwendigste beschränken, schon zu viel Neues enthalten; sie würden lieber gar nichts ändern, und das Alte, gerade so wie es ist, fortbehalten. Sie übersehen dabei, daß alles Menschliche in der Welt, was immer wir haben und sehen, von Zeit zu Zeit der Verbesserung, der Auffrischung bedarf, daß die Zeit nicht mit uns geht, sondern wir eben mit der Zeit gehen müssen. – Andern hingegen wird unsere Verfassung zu wenig Neues, und zu viel Altes enthalten. Möchten diese aber nicht übersehen, daß jede Verbesserung die Sanction des Volkes haben muß, und daß ein Volk auch unter einfachen patriarchalischen Verfassungsformen glücklich sein kann, vorausgesetzt, daß das Wesen in den Verfassungsbestimmungen, daß der Schutz der Rechte und Freiheiten des Einzelnen wie der Gesammtheit gesichert sind, wie dieses Alles in dem neuen Entwurfe nun ja der Fall ist. Noch Andere aber, und täusche ich mich nicht, so dürften diese wohl die große Mehrheit bilden, werden in dem Vorgeschlagenen der Hauptsache nach das erblicken, was Eure Landesobrigkeit wiederholt als dringendes Bedürfniß Euch empfohlen hat. Sie werden darin ersehen, daß nicht nur alle die Freiheiten, all das Schätzbare in der alten Verfassung auf das Gewissenhafteste wieder in die neue Verfassung übergetragen sind, sondern daß auch namentlich das köstliche Gut persönlicher Freiheit und Rechtssicherheit dadurch neue Stützen, eine weit sicherere Grundfeste erhalten haben; und wenn allfällig einzelne Formen, wenn Nebensachen nicht gerade in aller Beziehung so wären, wie jeder Einzelne für sich es vorziehen würde, so werden sie gleichwohl nicht das Wesen selbst, die Perlen, die darin liegen, beseitigen, wohl wissend, daß doch nicht allen Wünschen entsprochen werden kann.“

Der Redner wandte sich dann zu den hauptsächlichsten Einzelnheiten des Entwurfs. Es waren die nämlichen, die ich oben hervorgehoben habe.

Was er darüber sagte, werde ich hier nicht mittheilen. Es war – der Natur der Sache nach – von der einen Seite zu rein technisch, von der anderen zu speciell örtlich.

[680] Mit besonderer Wärme und, wie es schien, mit besonderer Vorliebe verweilte der Redner bei der neuen Institution des Criminal- und Polizeigerichts, und der dadurch auch für Strafsachen neu geschaffenen zweiten Instanz. Wie er hier, gerade durch seine Wärme, einen gefährlichen Weg betreten hatte, davon nachher noch. Er schloß über diesen Punkt mit folgenden schönen Worten:

„Wie oft übersieht doch der Mensch etwas, und geräth in Irrthum! Ja, getreue, liebe Mitlandleute, der Pfad des Rechtsganges ist oft schlüpfrig und schmal, der Abgrund rechts und links aber schauerlich, sowohl für den gewissenhaften Richter, als für die zu Richtenden. Sichern und schützen wir diesen wichtigen Pfad mit jenen Schutzwehren, die wir zu geben im Stande, die wir zu geben verpflichtet sind! Und wissen wir der Freiheit neue Stützen zu verleihen, wissen wir die Rechte des Menschen und dessen Freiheiten zu sichern und zu befestigen, so möge doch Keiner solches ungeprüft nur aus Vorurtheil verhindern!“

Der so einfach vorgetragene und darum um so tiefer ergreifende Schluß der ganzen Rede lautete:

„Herr Landammann, meine Herren, getreue, liebe Mitlandleute und Bundesgenossen! Es war mir ein wahres Wohlthun, zur Erreichung besserer Rechtsmittel, zur Beruhigung so mancher Unglücklichen, zum Schutz und Troste der Unschuldigen das Meinige gewissenhaft beizutragen; – und in Wahrheit, ich habe das nun nach Möglichkeit gethan –, ich habe gesagt, was mir meine innere Stimme, mein Gewissen geboten hat. Mir ist nun leicht! – an Euch liegt der Entscheid. Stimmet, stimmet frei, wie nach reifer Prüfung auch Euer Gewissen Euch gebietet! Dazu verleihe Gott nun seinen Segen! Ja, um diesen wollen wir ihn, den Höchsten, in stillem Gebete bitten!“

Nach diesen Worten trat der Redner von der Brustwehr der Tribüne zurück. Er neigte sich und verblieb in stillem Gebete. Die ganze Versammlung folgte seinem Beispiele. Das Gebet dauerte fünf Minuten. Dann trat der Landammann wieder vor. Er hatte sich von dem Weibel seinen Hut zurückgeben lassen und bedeckte jetzt sein Haupt.

Die ganze Versammlung bedeckte sich nach ihm.

Bedeckten Hauptes wurde alles Folgende verhandelt.

Es wurde sofort zur Abstimmung über den Entwurf geschritten; er wurde nach der in der Schweiz üblichen Ausdrucksweise „ins Mehr gesetzt“.

[690] Eine Debatte der Landesgemeinde über das Gesetz fand nicht weiter statt. Der Entwurf war, nach Vorschrift der Verfassung, längere Zeit vorher – die Verfassung fordert mindestens vier Wochen – nicht nur von allen Kanzeln des Landes verlesen, sondern auch durch den Druck in Jedermanns Hände gebracht. Die Regierung hatte außerdem durch Druckschriften in speciell eingehender Weise ihre Ansicht darüber kund gegeben. Die verschiedenen Zeitungen des Landes hatten über die einzelnen Artikel nach allen Seiten sich ausgesprochen. Die Landesgemeinde hatte, nach dem Referate des Landammanns, nur noch abzustimmen, zu mehren, anzunehmen oder abzuwerfen.

Der Landammann verkündete vorab, welche Fragen, und in welcher Reihenfolge, gestellt werden sollten.

Die erste Frage war, ob der Verfassungsentwurf im Ganzen oder artikelweise ins Mehr gesetzt werden solle. Danach hatten die weitern Fragen sich zu richten. Die Revisionscommission sowohl als die Regierung hatten aus mehreren Gründen eine artikelweise Abstimmung gewünscht und vorgeschlagen. Der Landammann unterstützte den Wunsch. Der hauptsächlichste Grund war, daß so Keiner in der Manifestirung seiner freien Ueberzeugung irgendwie beschränkt werde.

Nachdem der Landammann die nöthigen Erläuterungen hierüber gegeben, erklärte er, daß der Landweibel nunmehr „das Mehr über die zu stellenden Fragen aufnehmen werde.“ Sofort trat in seinem halb schwarzen und halb weißen Mantel der zur Seite hinter ihm stehende Landweibel an die Schranke vor, und stellte in folgenden Worten die erste Frage ins Mehr:

„Wem es wohlgefallt („Wem’s wohlg’fallt“, sprach er es aus), daß der Entwurf in seiner Gesammtheit, und daß nicht jeder einzelne Artikel desselben ins Mehr genommen werden soll, der hebe die Hand auf.“

Die Hände der für die Frage Stimmenden erhoben sich.

Es mußte die Gegenprobe gemacht werden.

„Wem es wohl gefallt, daß nicht der Entwurf in seiner Gesammtheit, sondern daß jeder einzelne Artikel besonders ins Mehr genommen werden soll, der hebe die Hand auf.“

Die Hände der dazu Stimmenden erhoben sich.

Das Resultat der Abstimmung war zweifelhaft. Der Landammann erklärte das, und daß er die Fragen noch einmal zur Abstimmung werde bringen lassen.

Dies geschah ganz in der vorigen Weise. Das Resultat war wiederum zweifelhaft.

Es wurde noch einmal verfahren, wie vorher. Ein klar erkennbares Mehr ergab sich diesmal für die Abstimmung des Ganzen, und der Landammann verkündete es.

Der Landweibel trat wieder vor:

„Wem es wohlgefallt, daß der der Landesgemeinde vorgelegte Entwurf der Verfassung noch besonders vorgelesen werden soll, der hebe die Hand auf.“

Keine Hand erhob sich. Bei der Gegenfrage erhoben sich alle Hände.

Der Landammann verkündete das Resultat.

Der Landweibel rief die Hauptfrage auf:

„Wem es wohlgefallt, daß der Entwurf zu einer Verfassung, wie er von der Revisionscommission ausgearbeitet und der Landesgemeinde vorgelegt worden ist, angenommen werden soll, wem das gefällig ist, der hebe die Hand auf.“

Auf dem weiten Platze unter allen den Tausenden von Menschen herrschte eine Stille, daß man einen Apfel zur Erde hätte fallen hören. Die Versammlung dieser beinahe zwölftausend freien Männer gewährte in diesem Augenblicke einen feierlichen, erhabenen und erhebenden Anblick. Ein Jeder war sich seiner Freiheit bewußt, war sich bewußt, daß er in der Ausübung eines der erhabensten Rechte für Freiheit sich befand.

Zwei Drittheile der Anwesenden erhoben die Hände.

Das freie Volk von Appenzell hatte sich eine neue Verfassung gegeben. Freilich nur neue Formen für die bessere Erhaltung seiner Freiheit. Denn die Freiheit selbst hatte es, unangetastet und ungeschmälert, schon seit Jahrhunderten.

Der Landammann verkündete das Resultat. Es wurde mit der vollen, bewußten Ruhe aufgenommen, unter der es entstanden war.

Es war nur noch die Frage zu stellen, wann, ob namentlich mit der nächsten ordentlichen Landesgemeinde im Frühjahre 1859, die neue Verfassung in Kraft treten, und der große Rath die hierauf hin besehenden Anordnungen treffen solle?

Die Frage wurde gestellt, wie die vorigen, und einstimmig bejaht. Damit waren die Geschäfte der Landesgemeinde beendigt. Noch einmal trat der Landammann vor. Er entblößte sein Haupt. Alle Anwesenden nahmen ihre Hüte ab. Der Landammann sprach:

„Herr Landammann, meine Herren, liebe, getreue Mitlandleute und Bundesgenossen! Ihr habt ein wichtiges Gesetz beschlossen. Ihr habt als freie Männer, als freie Eidgenossen, Euch eine neue Verfassung gegeben. Möge nun dieses neue Gesetz lange Zeit Gutes für und unter Euch wirken! Möge es Eure Freiheit und [691] Euren Sinn für Freiheit befestigen, bis einst ein glückliches Fortschreiten Eurer Zustände und Verhältnisse und der mit ihnen stets fortschreitende und sich entwickelnde Geist des Guten wieder neue, bessere Institutionen für das Land fordert. Das walte Gott!

„Und hiermit erkläre ich diese außerordentliche Landesgemeinde für geschlossen!“

Er bedeckte sich. Mit ihm alle Andern.

Die Landesbeamten zogen in dem frühern Zuge zum Pfarrhause zurück.

Die Landesgemeinde löste sich auf.

Es war auf der Kirchuhr noch nicht zwölf Uhr, und das Ganze hatte mithin keine Stunde gedauert.

Ein wichtiges Gesetz war in der Stunde beschlossen, ein großes Werk war gethan.

„Die Augen von Europa sind auf uns gerichtet!“ Wie oft hörte man und hört man noch die Phrase in deutschen und anderen Kammern und Kämmerchen!

Kein Mensch in Appenzell dachte daran, daß Europa auf die Landesgemeinde in Hundwyl vom 3. October sehen werde. Noch weniger wurde ein Wort darüber laut. Europa sah auch nicht dahin; außerhalb der nächsten Cantone der Schweiz kein Mensch in der Welt. Europa wird auch ferner nicht daran denken, dem kleinen Cantone zu seiner „Errungenschaft“ Glück zu wünschen.

Aber Europa hätte wohl auf den grünen Rasenplatz in dem Alpendorfe Hundwyl, auf den klaren Sonntagmorgen, auf die hohen Berge und Alpen ringsum, und auf die zwischen diesen Bergen auf der grünen Matte versammelten „ehr- und wehrhaften“ und freien elf- bis zwölftausend Appenzeller Männer die Augen richten mögen, wie sie so klar, so ruhig, so besonnen, so frei, ihr großes Werk der Freiheit begannen, durchführten und beschlossen.

Auch ein Volk klein an Zahl kann groß sein!

Die Landesgemeinde war beendigt. Aber ich muß Ihnen doch noch Einiges von ihr erzählen.

Die bei weitem größte Mehrzahl der Anwesenden begab sich unmittelbar nach der Auflösung auf den Rückweg nach Hause. Nur verhältnißmäßig sehr Wenige bliebe noch im Dorfe zurück.

Ich wollte den Tag noch bis zu dem hübschen St. Gallen, das ich seit mehreren Jahren nicht gesehen hatte, und ich nahm deshalb Abschied von meinem freundlichen Begleiter Grunholzer, um, gleichfalls ohne weiteren Aufenthalt, meine Wanderung durch das Gebirge anzutreten.

Mein Weg führte mich in den größten Zug der Zurückkehrenden, durch und vorbei an den belebten Dörfern Stein, Teufen und so weiter. Ich hatte noch einzelne Begleiter bis in St. Gallen hinein; sie waren aus dem Badeorte Heiden jenseits St. Gallen.

Von den wunderbar schönen, fruchtbaren, reichen Gegenden, von den wilden Schluchten, durch welche Bäche und kleine Flüsse tief unten im Grunde rauschten, von den grünen Wiesen, Weiden und Alpen, von den hohen Bergen, malerischen Dörfern, Sennhütten und so weiter, von dem Allen, was ich auch auf diesem Wege so herrlich sah, will ich Ihnen nichts erzählen; ich könnte fast nur wiederholen, was ich Ihnen von dem Wege nach Hundwyl gesagt habe.

Aber von den Menschen, die von der Landesgemeinde zurückkehrten, habe ich Ihnen noch Einiges zu berichten.

Als wir die Höhe zwischen Hundwyl und Stein erreicht hatten, sah man sie rund umher auf allen Anhöhen, in allen Thälern in unübersehbaren Zügen auf den schmalen Bergpfaden dahingehen. Wie am Morgen alle die Menschenströme nach dem Einen Punkte von den hohen Bergen sich ergossen hatten, so stiegen sie jetzt von dem Einen Punkte aus nach allen Seiten und Richtungen die hohen Berge wieder hinan. Noch stundenlang konnte man durch neue Thäler, auf neuen Anhöhen diese Ströme verfolgen.

Und Alle waren sie eben so ordentlich und ruhig, wie auf dem Hinwege und auf der Versammlung selbst. Fast Jeder trug seinen Degen, um leichter in den Bergen marschiren zu können, in der Hand. Es waren in den Zügen der Heimkehrenden viele junge Leute. Aber nirgends sah man auch nur ein Fechten oder Handthieren mit dem Gewehre, nirgends ein Rennen, Ringen, Necken oder dergleichen, nirgends hörte man ein wüstes Schreien, nur ein überlautes Wort.

Und man sah es den Leuten an, nicht etwa die Furcht vor dem Gesetze, das Excesse und Verbrechen am Tage der Landesgemeinde mit doppelt schweren Strafen bedroht, wirkte auf sie ein, die feierliche Stimmung des Tages war es vielmehr, das bewußte oder unbewußte Gefühl des schönen Tages, des großen Werkes, das sie als freie Männer ausgeführt hatten.

Dabei war die Achtung auffallend, die die jüngeren Männer vor den älteren hatten. Ein ganz alter Greis ging mit in dem Zuge. Er war noch körperlich rüstig, aber den Geist hatte das Alter wohl etwas angegriffen. Er mußte die Andern von mir haben sprechen hören, und so machte er sich an mich heran.

„Der Herr ist aus Elbling?“ fragte er mich.

Er meinte die Stadt Elbing.

Ich antwortete ihm „Nein.“

Ein paar junge Männer waren dicht bei uns. Sie lächelten, so wie er die Frage an mich richtete. Aber gutmüthig, leise, daß er es ja nicht merken sollte. Einer von ihnen zog mich auch so auf die Seite:

„Er ist ein alter Soldat, der mit den Franzosen in Rußland war. Sein drittes Wort ist Elbling.“

Der alte Soldat erzählte mir nun selbst, wie er im Jahre 1812, aus der Russischen Campagne zurückgekehrt, in Elbing krank geworden und längere Zeit im Quartiere gelegen habe. Und trotz meines Verneinens blieb er dabei, ich müsse aus Elbling und gar ein Sohn aus dem Hause sein, in dem er im Quartiere gelegen habe.

„Das sagt er zu jedem Fremden,“ flüsterte der junge Mann mir wieder zu. „Sonst ist er ein braver Mann.“

Das war Alles, was über den Mann bemerkt wurde. Wo anders in der Welt hätten mitten in einem Volkshaufen die kindischen Worte des Greises nicht Spott und lautes Gelächter hervorgerufen? –

Eins war auf dem Rückwege anders, als auf dem Hinwege. Es wurde jetzt überall von der Landesgemeinde gesprochen, von ihrem Resultate, von den einzelnen Artikeln. Mit der Annahme der Verfassung waren Alle einverstanden, die ich hörte. Mit einzelnen Artikeln nicht, und sehr Viele hätten deshalb eine artikelweise Abstimmung lieber gesehen. Aber ein Streiten hörte man auch jetzt nicht. Nirgends traten die Leute aus ihrer Ruhe heraus.

Sie wandten in ihren Gesprächen sich auch an mich.

„Der Herr war mit dem Herrn Grunholzer gekommen? Der Herr hatte noch keine Landesgemeinde gesehen?“

„Nein, noch niemals.“

„Nun, wie hat es dem Herrn denn bei uns gefallen?“

So konnte ich Theil nehmen, und ich hörte manches Interessante. Gegen die Schaffung des Obergerichtes hatten sie vorzüglich einzuwenden, daß wieder mehr Beamte gewählt werden müßten.

„Zu viele Beamte taugen nicht,“ bemerkten s«. „Sie meinen sonst zuletzt, sie seien die Herren im Lande.“

Bei dem Criminal- und Polizeigericht hatte das Wort Polizei sie gestoßen. Sie kannten das Wort bisher nur in Beziehung auf Bettler und Vagabunden und auf den Wirthshausbesuch nach der nächtlichen Polizeistunde.

„Zu viele Polizei im Lande taugt nicht,“ hieß es auch hier, „und der Richter soll gar nichts mit der Polizei zu thun haben; er soll nach den Rechten über die Landleute zu Gericht sitzen. Wir sind aber keine Vagabunden, die man aus dem Lande transportiren kann.“

Welch ein richtiges, bewußtes Gefühl lag überall den Urtheilen zu Grunde!

Am interessantesten waren mir folgende Bemerkungen. Sie fanden bei Gelegenheit des Gesprächs über die Criminal- und Polzeigerichte statt.

Ich habe schon oben gesagt, wie der Landammann über und für sie in seiner Rede mit besonderer Wärme gesprochen hatte. Das hatte nicht ich allein, das hatten alle Anwesenden bemerkt. Aber auf die Andern hatte es einen Eindruck gemacht, von dem ich keine Ahnung gehabt hatte.

Ein alter schlichter Landmann sprach sich auf dem Rückwege zuerst darüber aus und Alle ohne Ausnahme stimmten ihm bei.

„Ja,“ sagte der alte Mann kopfschüttelnd, „was der Herr Landammann über die Criminal- und Polizeigerichte sagte, das war nicht so ganz recht.“

Ich bemerkte ihm, daß mir gerade das besonders gefallen habe. Der Landammann habe mit den einleuchtendsten Gründen und auf durchaus klare Weise die Nothwendigkeit einer zweiten Instanz in Strafsachen hervorgehoben.

[692] „Das mag sein, Herr. Aber der Herr Landammann sprach zu eifrig für die Sache.“

„Wie? Zu eifrig?“

„Ja, Herr, man sah es ihm an, daß er da nicht mehr für das Volk, sondern für sich sprach, und der Herr Landammann, wenn er auch unsere erste Obrigkeit ist, ist immer nur für das Volk da, und wenn er auf dem Landammannsstuhle in der Landesgemeinde ist, dann soll er ganz und gar nicht für sich, sondern nur für das Volk sprechen.“

Ich sah den Mann verwundert an. Ich verstand nur halb, was er sagte. Ein Schullehrer aus einem benachbarten Dorfe ging mit, er nahm erläuternd das Wort.

„Wir ehren und achten unsere Obrigkeit; aber wir halten vor Allem auf unsere Freiheit, und besonders auf der Landesgemeinde wollen wir, daß jeder Einzelne nur nach seinem eigenen, freien Urtheile beschließen soll. Am allerwenigsten soll sich unsere Obrigkeit herausnehmen dürfen, auf das Urtheil der Leute einwirken zu wollen. Ich gebe zu, daß der Herr Landammann heute nur für eine gute Sache und nur Gutes gesprochen hat; aber er zeigte doch offenbar, daß er die Leute überreden wollte, in seinem Sinne zu stimmen. Das wollen wir nicht; das soll er nicht. Wie er heute für eine gute Sache überreden wollte, so könnte es ein ander Mal kommen, daß er etwas durchsetzen wollte, was nicht zum Wohle des Landes gereichte.“

Das war es, was der alte Landmann gemeint hatte, als er sagte, der Landammann habe nicht mehr für das Volk, sondern für sich gesprochen, und das dürfe nicht sein. Er bestätigte es, mit ihm alle Anderen.

Was sagen Sie dazu, mein lieber Freund?

Die Leute erläuterten ihre Worte noch durch eine Thatsache. Ein anderer alter Landmannn erzählte sie mir:

„Vor mehreren Jahren war Landammann der Herr Zellweger. Er war einer der tüchtigsten Landammänner, die das Land gehabt hat. Aber einmal vergaß er sich. Es war auch auf einer Landesgemeinde. Es handelte sich darum, ob der Soldat (Landwehrmann) sich, wie bisher, seine Waffen selbst anschaffen solle, oder ob sie, wie ein neuer Vorschlag gemacht war, auf Kosten des Landes ihm geliefert werden sollten. Der Landammann Zellweger war gegen den neuen Vorschlag, besonders aus dem Grunde, weil dadurch eine neue Steuer für das Land herbeigeführt werde, und weil nichts bedenklicher und gefährlicher für das Land sei, als die Schaffung einer neuen Steuer. Auf die erste folge die zweite, auf die zweite die dritte u. s. w. Das Alles war recht und gut. Aber er brachte es mit einem Eifer vor, daß man merkte, es sei ihm daran gelegen, daß die Leute nach seinem Willen stimmten, er wolle die Leute überreden, er wolle seinen Willen durchsetzen. Und was geschah da, Herr? Er hatte, wie ich sage, Recht. Es war daher auch fast die ganze Landesgemeinde auf seiner Seite, und der neue Vorschlag wurde verworfen. Ich selbst stimmte auch so. Die ganze Landesgemeinde hatte aber auch auf der Stelle die Ueberzeugung gewonnen, daß ein Landesbeamter, der nicht für das Volk, sondern für sich spreche, der das Volk nach seinem Willen leiten wolle, nicht mehr unsere Obrigkeit, nicht mehr unser Landammann sein könne. Als nachher die neue Obrigkeit für das folgende Jahr gewählt wurde, wurde er nicht wieder gewählt. Ich selbst stimmte gegen ihn.“

Und hiermit schließe ich meinen Bericht.

Sie sehen, lieber Keil, ist ein Volk auch noch so klein, es kann durch seine Tüchtigkeit, durch seine charakterfeste Liebe für Gesetz und Freiheit doch groß sein.