Entstehung der Arten (1876)/Drittes Capitel

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Zweites Capitel Über die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl oder die Erhaltung der begünstigten Rassen im Kampfe um's Dasein (1876)
von Charles Darwin
Viertes Capitel


[82]
Drittes Capitel.
Der Kampf um’s Dasein.
Seine Beziehung zur natürlichen Zuchtwahl.Der Ausdruck im weiten Sinne gebraucht.Geometrisches Verhältnis der Zunahme.Rasche Vermehrung naturalisirter Pflanzen und Thiere.Natur der Hindernisse der Zunahme.Allgemeine Concurrenz.Wirkungen des Clima.Schutz durch die Zahl der Individuen.Verwickelte Beziehungen aller Thiere und Pflanzen in der ganzen Natur.Kampf um’s Dasein am heftigsten zwischen Individuen und Varietäten einer Art, oft auch heftig zwischen Arten einer Gattung.Beziehung von Organismus zu Organismus die wichtigste aller Beziehungen.

Ehe wir auf den Gegenstand dieses Capitels eingehen, muß ich einige Bemerkungen voraussenden, um zu zeigen, wie der Kampf um’s Dasein sich auf die natürliche Zuchtwahl bezieht. Es ist im letzten Capitel gezeigt worden, daß die Organismen im Naturzustande eine individuelle Variabilität besitzen, und ich wüßte in der That nicht, daß dies je bestritten worden wäre. Es ist für uns unwesentlich, ob eine Menge von zweifelhaften Formen Art, Unterart oder Varietät genannt werde; welchen Rang z. B. die 200–300 zweifelhaften Formen britischer Pflanzen einzunehmen berechtigt sind, wenn die Existenz ausgeprägter Varietäten zulässig ist. Aber das bloße Vorhandensein individueller Variabilität und einiger weniger wohlausgeprägter Varietäten, wenn auch nothwendig als Grundlage für die Arbeit, hilft uns nicht viel, um zu begreifen, wie Arten in der Natur entstehen. Wie sind alle jene vortrefflichen Anpassungen von einem Theile der Organisation an den andern und an die äußeren Lebensbedingungen und von einem organischen Wesen an ein anderes bewirkt worden? Wir sehen diese schöne Anpassung außerordentlich deutlich bei dem Specht und der Mistelpflanze und nur wenig minder deutlich am niedersten Parasiten, welcher sich an das Haar eines Säugethieres oder die Federn eines Vogels anklammert; am Bau des Käfers, welcher in’s Wasser untertaucht; am befiederten Samen, der vom leichtesten Lüftchen getragen wird; kurz wir sehen schöne Anpassungen überall und in jedem Theile der organischen Welt.

Ferner kann man fragen, wie kommt es, daß die Varietäten, [83] welche ich beginnende Arten genannt habe, sich zuletzt in gute und distincte Species verwandeln, welche in den meisten Fällen offenbar unter sich viel mehr, als die Varietäten der nämlichen Art verschieden sind? Wie entstehen diese Gruppen von Arten, welche das bilden, was man verschiedene Genera nennt und mehr als die Arten dieser Genera von einander abweichen? Alle diese Resultate folgen, wie wir im nächsten Abschnitte sehen werden, aus dem Kampfe um’s Dasein. In diesem Wettkampfe werden Abänderungen, wie gering und auf welche Weise immer sie entstanden sein mögen, wenn sie nur einigermaßen vortheilhaft für die Individuen einer Species sind, in deren unendlich verwickelten Beziehungen zu anderen organischen Wesen und zu den physikalischen Lebensbedingungen die Erhaltung solcher Individuen zu unterstützen und sich gewöhnlich auf deren Nachkommen zu übertragen neigen. Ebenso wird der Nachkömmling mehr Aussicht haben, leben zu bleiben; denn von den vielen Individuen dieser Art, welche von Zeit zu Zeit geboren werden, kann nur eine kleine Zahl am Leben bleiben. Ich habe dieses Princip, wodurch jede solche geringe, wenn nur nützliche Abänderung erhalten wird, mit dem Namen „natürliche Zuchtwahl“ belegt, um seine Beziehung zum Wahlvermögen des Menschen zu bezeichnen. Doch ist der oft von Herbert Spencer gebrauchte Ausdruck „Ueberleben des Passendsten“ zutreffender und zuweilen gleich bequem. Wir haben gesehen, daß der Mensch durch Auswahl zum Zwecke der Nachzucht, durch die Häufung kleiner, aber nützlicher Abweichungen, die ihm durch die Hand der Natur dargeboten werden, große Erfolge sicher zu erzielen und organische Wesen seinen eigenen Bedürfnissen anzupassen im Stande ist. Aber die natürliche Zuchtwahl ist, wie wir nachher sehen werden, eine unaufhörlich zur Thätigkeit bereite Kraft und des Menschen schwachen Bemühungen so unermeßlich überlegen, wie es die Werke der Natur überhaupt denen der Kunst sind.

Wir wollen nun den Kampf um’s Dasein etwas mehr im Einzelnen erörtern. In meinem späteren Werke über diesen Gegenstand soll er, wie er es verdient, in größerer Ausführlichkeit besprochen werden. Der ältere DeCandolle und Lyell haben des weiteren und in philosophischer Weise nachgewiesen, daß alle organischen Wesen im Verhältnisse einer harten Concurrenz zu einander stehen. In Bezug auf die Pflanzen hat Niemand diesen Gegenstand mit mehr Geist und Geschick behandelt als W. Herbert, der Dechant von Manchester, [84] offenbar in Folge seiner ausgezeichneten Gartenbaukenntnisse. Nichts ist leichter, als in Worten die Wahrheit des allgemeinen Wettkampfes um’s Dasein zuzugestehen, aber auch nichts schwerer, als – wie ich wenigstens gefunden habe – dieselbe beständig im Sinne zu behalten. Bevor wir aber solche dem Geiste nicht fest eingeprägt haben, wird der ganze Haushalt der Natur, mit allen den Thatsachen über die Vertheilungsweise, die Seltenheit und den Reichthum, das Erlöschen und Abändern in derselben nur dunkel oder ganz unrichtig begriffen werden. Wir sehen das Antlitz der Natur in Heiterkeit strahlen, wir sehen oft Ueberfluß an Nahrung; aber wir sehen nicht oder vergessen, daß die Vögel, welche um uns her sorglos ihren Gesang erschallen lassen, meistens von Insecten oder Samen leben und mithin beständig Leben zerstören; oder wir vergessen, wie viele dieser Sänger oder ihrer Eier oder ihrer Nestlinge unaufhörlich von Raubvögeln und Raubthieren zerstört werden; wir behalten nicht immer im Sinne, daß, wenn auch das Futter jetzt im Ueberfluß vorhanden sein mag, dies doch nicht zu allen Zeiten jedes umlaufenden Jahres der Fall ist.


Der Ausdruck, Kampf um’s Dasein, im weiten Sinne gebraucht.

Ich will vorausschicken, daß ich diesen Ausdruck in einem weiten und metaphorischen Sinne gebrauche, unter dem sowohl die Abhängigkeit der Wesen von einander, als auch, was wichtiger ist, nicht allein das Leben des Individuums, sondern auch Erfolg in Bezug auf das Hinterlassen von Nachkommenschaft einbegriffen wird. Man kann mit Recht sagen, daß zwei hundeartige Raubthiere in Zeiten des Mangels um Nahrung und Leben mit einander kämpfen. Aber man kann auch sagen, eine Pflanze kämpfe am Rande der Wüste um ihr Dasein gegen die Trocknis, obwohl es angemessener wäre zu sagen, sie hänge von der Feuchtigkeit ab. Von einer Pflanze, welche alljährlich tausend Samen erzeugt, unter welchen im Durchschnitte nur einer zur Entwickelung kommt, kann man noch richtiger sagen, sie kämpfe um’s Dasein mit andern Pflanzen derselben oder anderer Arten, welche bereits den Boden bekleiden. Die Mistel ist abhängig vom Apfelbaum und wenigen anderen Baumarten; doch kann man nur in einem weit hergeholten Sinne sagen, sie kämpfe mit diesen Bäumen; denn wenn zu viele dieser Schmarotzer auf demselben Baume wachsen, so wird er verkümmern und sterben. Wachsen aber mehrere Sämlinge derselben dicht auf einem Aste beisammen, so kann man in zutreffenderer Weise [85] sagen, sie kämpfen mit einander. Da die Samen der Mistel von Vögeln ausgestreut werden, so hängt ihr Dasein mit von dem der Vögel ab und man kann metaphorisch sagen, sie kämpfen mit andern beerentragenden Pflanzen, damit sie die Vögel veranlasse, eher ihre Früchte zu verzehren und ihre Samen auszustreuen, als die der andern. In diesen mancherlei Bedeutungen, welche in einander übergehen, gebrauche ich der Bequemlichkeit halber den allgemeinen Ausdruck „Kampf um’s Dasein“.


Geometrisches Verhältnis der Zunahme.

Ein Kampf um’s Dasein tritt unvermeidlich ein in Folge des starken Verhältnisses, in welchem sich alle Organismen zu vermehren streben. Jedes Wesen, welches während seiner natürlichen Lebenszeit mehrere Eier oder Samen hervorbringt, muß während einer Periode seines Lebens oder zu einer gewissen Jahreszeit oder gelegentlich einmal in einem Jahre eine Zerstörung erfahren, sonst würde seine Zahl zufolge der geometrischen Zunahme rasch zu so außerordentlicher Größe anwachsen, daß keine Gegend das Erzeugte zu ernähren im Stande wäre. Da daher mehr Individuen erzeugt werden, als möglicher Weise fortbestehen können, so muß in jedem Falle ein Kampf um die Existenz eintreten, entweder zwischen den Individuen einer Art oder zwischen denen verschiedener Arten, oder zwischen ihnen und den äußeren Lebensbedingungen. Es ist die Lehre von Malthus in verstärkter Kraft auf das gesammte Thier- und Pflanzenreich übertragen; denn in diesem Falle ist keine künstliche Vermehrung der Nahrungsmittel und keine vorsichtige Enthaltung vom Heirathen möglich. Obwohl daher einige Arten jetzt in mehr oder weniger rascher Zahlenzunahme begriffen sein mögen: alle können es nicht zugleich, denn die Welt würde sie nicht fassen.

Es gibt keine Ausnahme von der Regel, daß jedes organische Wesen sich auf natürliche Weise in einem so hohen Maße vermehrt, daß, wenn nicht Zerstörung einträte, die Erde bald von der Nachkommenschaft eines einzigen Paares bedeckt sein würde. Selbst der Mensch, welcher sich doch nur langsam vermehrt, verdoppelt seine Anzahl in fünfundzwanzig Jahren, und bei so fortschreitender Vervielfältigung würde die Welt schon in weniger als tausend Jahren buchstäblich keinen Raum mehr für seine Nachkommenschaft haben. Linné hat schon berechnet, daß, wenn eine einjährige Pflanze nur zwei Samen [86] erzeugte (und es gibt keine Pflanze, die so wenig productiv wäre) und ihre Sämlinge im nächsten Jahre wieder zwei gäben u. s. w., sie in zwanzig Jahren schon eine Million Pflanzen liefern würde. Man sieht den Elephanten als das sich am langsamsten vermehrende von allen bekannten Thieren an. Ich habe das wahrscheinliche Minimalverhältnis seiner natürlichen Vermehrung zu berechnen gesucht; die Voraussetzung wird die sicherste sein, daß seine Fortpflanzung erst mit dem dreißigsten Jahre beginne und bis zum neunzigsten Jahre währe, daß er in dieser Zeit sechs Junge zur Welt bringe und daß er hundert Jahre alt wird. Verhält es sich so, dann würden nach Verlauf von 740–750 Jahren nahezu neunzehn Millionen Elephanten, Nachkömmlinge des ersten Paares, am Leben sein.

Doch wir haben bessere Belege für diese Sache, als bloße theoretische Berechnungen, nämlich die zahlreich aufgeführten Fälle von erstaunlich rascher Vermehrung verschiedener Thierarten im Naturzustande, wenn die natürlichen Bedingungen zwei oder drei Jahre lang ihnen günstig gewesen sind. Noch schlagender sind die von unseren in verschiedenen Weltgegenden verwilderten Hausthierarten hergenommenen Beweise, so daß, wenn die Behauptungen von der Zunahme der sich doch nur langsam vermehrenden Rinder und Pferde in Süd-America und neuerlich in Australien nicht sicher bestätigt wären, sie ganz unglaublich erscheinen müßten. Ebenso ist es mit den Pflanzen. Es ließen sich Fälle von eingeführten Pflanzen aufzählen, welche auf ganzen Inseln in weniger als zehn Jahren gemein geworden sind. Mehrere der jetzt auf den weiten Ebenen des La-Plata-Gebietes am zahlreichsten verbreiteten, Flächen von Quadratmeilen an Größe fast mit Ausschluß aller andern bedeckenden Pflanzen, wie die Artischoke und eine hohe Distel, sind von Europa eingeführt worden; und ebenso gibt es, wie ich von Dr. Falconer gehört, in Ost-Indien Pflanzen, welche jetzt vom Cap Comorin bis zum Himalaya verbreitet und doch erst seit der Entdeckung von America von dorther eingeführt worden sind. In Fällen dieser Art, – und es könnten zahllose andere angeführt werden –, wird Niemand annehmen, daß die Fruchtbarkeit solcher Pflanzen und Thiere plötzlich und zeitweise in einem irgendwie merklichem Grade zugenommen habe. Die handgreifliche Erklärung ist, daß die äußeren Lebensbedingungen sehr günstig, daß in dessen Folge die Zerstörung von Jung und Alt geringer und daß fast alle Abkömmlinge im Stande gewesen sind, sich fortzupflanzen. In solchen [87] Fällen genügt schon das geometrische Verhältnis der Zahlenvermehrung, dessen Resultat stets in Erstaunen versetzt, um einfach die außerordentlich schnelle Zunahme und die weite Verbreitung naturalisirter Einwandrer in ihrer neuen Heimath zu erklären.

Im Naturzustande bringt fast jede erwachsene Pflanze jährlich Samen hervor, und unter den Thieren sind nur sehr wenige, die sich nicht jährlich paarten. Wir können daher mit Zuversicht behaupten, daß alle Pflanzen und Thiere sich in geometrischem Verhältnisse zu vermehren streben, daß sie jede Gegend, in welcher sie nur irgendwie existiren könnten, sehr rasch zu bevölkern im Stande sein würden, und daß dieses Streben zur geometrischen Vermehrung zu irgend einer Zeit ihres Lebens durch zerstörende Eingriffe beschränkt werden muß. Unsere genauere Bekanntschaft mit den größeren Hausthieren leitet zwar, wie ich glaube, unsere Meinung in dieser Beziehung ganz irre, da wir keine große Zerstörung sie treffen sehen; aber wir vergessen, daß Tausende jährlich zu unserer Nahrung geschlachtet werden, und daß im Naturzustande wohl ebenso viele irgendwie beseitigt werden müßten.

Der einzige Unterschied zwischen den Organismen, welche jährlich Tausende von Eiern oder Samen hervorbringen, und jenen, welche deren nur äußerst wenige liefern, besteht darin, daß diese letzteren ein paar Jahre mehr brauchen, um unter günstigen Verhältnissen einen Bezirk zu bevölkern, sei derselbe auch noch so groß. Der Condor legt zwei Eier und der Strauß deren zwanzig, und doch dürfte in einer und derselben Gegend der Condor leicht der häufigere von beiden werden. Der Eissturmvogel (Procellaria glacialis) legt nur ein Ei, und doch glaubt man, daß er der zahlreichste Vogel in der Welt ist. Die eine Fliege legt hundert Eier und die andere, wie z. B. Hippobosca, deren nur eines; diese Verschiedenheit bestimmt aber nicht die Menge der Individuen, die in einem Bezirk ihren Unterhalt finden können. Eine große Anzahl von Eiern ist von Wichtigkeit für diejenigen Arten, deren Nahrungsvorräthe raschen Schwankungen unterworfen sind; denn sie gestattet eine Vermehrung in kurzer Frist. Aber die wirkliche Bedeutung einer großen Zahl von Eiern oder Samen liegt darin, daß sie eine stärkere Zerstörung, welche zu irgend einer Lebenszeit erfolgt, ausgleicht; und diese Zeit des Lebens ist in der großen Mehrheit der Fälle eine sehr frühe. Kann ein Thier in irgend einer Weise seine eigenen Eier und Jungen schützen, so mag es deren [88] nur eine geringere Anzahl erzeugen: es wird doch die ganze durchschnittliche Anzahl aufbringen; werden aber viele Eier oder Junge zerstört, so müssen deren viele erzeugt werden, wenn die Art nicht untergehen soll. Wird eine Baumart durchschnittlich tausend Jahre alt, so würde es zur Erhaltung ihrer vollen Anzahl genügen, wenn sie in tausend Jahren nur einen Samen hervorbrächte, vorausgesetzt, daß dieser eine nie zerstört und mit Sicherheit auf einen geeigneten Platz zur Keimung gebracht würde. So hängt in allen Fällen die mittlere Anzahl von Individuen einer jeden Pflanzen- oder Thierart nur indirect von der Zahl ihrer Samen oder Eier ab.

Bei Betrachtung der Natur ist es nöthig, die vorstehenden Betrachtungen fortwährend im Auge zu behalten und nie zu vergessen, daß man von jedem einzelnen organischen Wesen sagen kann, es strebe nach der äußersten Vermehrung seiner Anzahl, daß aber jedes in irgend einem Zeitabschnitte seines Lebens in einem Kampfe begriffen sei, und daß eine große Zerstörung unvermeidlich in jeder Generation oder in wiederkehrenden Perioden die jungen oder alten Individuen befalle. Wird irgend ein Hindernis beseitigt oder die Zerstörung um noch so wenig gemindert, so wird beinahe augenblicklich die Zahl der Individuen zu jeder Höhe anwachsen.


Natur der Hindernisse der Zunahme.

Was für Hindernisse es sind, welche das natürliche Streben jeder Art nach Vermehrung ihrer Individuenzahl beschränken, ist sehr dunkel. Betrachtet man die am kräftigsten gedeihenden Arten, so wird man finden, daß, je größer ihre Zahl wird, desto mehr ihr Streben nach weiterer Vermehrung zunimmt. Wir wissen nicht einmal in einem einzelnen Falle genau, welches die Hindernisse der Vermehrung sind. Dies wird jedoch Niemanden überraschen, der sich erinnert, wie unwissend wir in dieser Beziehung selbst bei dem Menschen sind, welcher doch so ohne Vergleich besser bekannt ist als irgend eine andere Thierart. Dieser Gegenstand ist bereits von mehreren Schriftstellern ganz gut behandelt worden, und ich hoffe denselben in einem späteren Werke mit einiger Ausführlichkeit behandeln zu können, besonders in Bezug auf die wildlebenden Thiere Süd-America’s. Hier mögen nur einige wenige Bemerkungen Raum finden, nur um dem Leser einige Hauptpunkte in’s Gedächtnis zu rufen. Eier oder ganz junge Thiere scheinen im Allgemeinen am meisten zu leiden, doch ist dies nicht [89] ganz ohne Ausnahme der Fall. Bei Pflanzen wird zwar eine gewaltige Menge von Samen zerstört; aber nach mehreren von mir angestellten Beobachtungen scheint es, als litten die Sämlinge am meisten dadurch, daß sie auf einem schon mit andern Pflanzen dicht bestockten Boden wachsen. Auch werden die Sämlinge noch in großer Menge durch verschiedene Feinde vernichtet. So notirte ich mir z. B. auf einer umgegrabenen und rein gemachten Fläche Landes von 3′ Länge und 2′ Breite, wo keine Erstickung durch andere Pflanzen drohte, alle Sämlinge unserer einheimischen Kräuter, wie sie aufgiengen, und von den 357 wurden nicht weniger als 295 hauptsächlich durch Schnecken und Insecten zerstört. Wenn man Rasen, der lange Zeit immer gemähet wurde (und der Fall wird der nämliche bleiben, wenn er durch Säugethiere kurz abgeweidet wird), wachsen läßt, so werden die kräftigeren Pflanzen allmählich die minder kräftigen, wenn auch voll ausgewachsenen, tödten; und in einem solchen Falle giengen von zwanzig auf einem nur 3′ zu 4′ großen Fleck gemähten Rasens wachsenden Arten neun zu Grunde, da man den anderen nun gestattete, frei aufzuwachsen.

Die für eine jede Art vorhandene Nahrungsmenge bestimmt natürlich die äußerste Grenze, bis zu welcher sie sich vermehren kann; aber sehr häufig hängt die Bestimmung der Durchschnittszahlen einer Thierart nicht davon ab, daß sie Nahrung findet, sondern daß sie selbst wieder einer andern zur Beute wird. Es scheint daher wenig Zweifel unterworfen zu sein, daß der Bestand an Feld- und Haselhühnern, Hasen u. s. w. auf großen Gütern hauptsächlich von der Zerstörung der kleinen Raubthiere abhängig ist. Wenn in England in den nächsten zwanzig Jahren kein Stück Wildpret geschossen, aber auch keine solchen Raubthiere zerstört würden, so würde, nach aller Wahrscheinlichkeit der Wildstand nachher geringer sein als jetzt, obwohl jetzt hundert Tausende von Stücken Wildes jährlich erlegt werden. Andererseits gibt es aber auch manche Fälle, wo, wie beim Elephanten, eine Zerstörung durch Raubthiere gar nicht stattfindet; denn selbst der indische Tiger wagt es nur sehr selten, einen jungen, von seiner Mutter geschützten Elephanten anzugreifen.

Das Clima hat ferner einen wesentlichen Antheil an Bestimmung der durchschnittlichen Individuenzahl einer Art, und wiederkehrende Perioden äußerster Kälte oder Trockenheit scheinen zu den wirksamsten aller Hemmnisse zu gehören. Ich schätze, hauptsächlich nach [90] der geringen Anzahl von Nestern im nachfolgenden Frühling, daß der Winter 1854–55 auf meinem eigenen Grundstücke vier Fünftheile aller Vögel zerstört hat; und dies ist eine furchtbare Zerstörung, wenn wir denken, daß bei dem Menschen eine Sterblichkeit von 10 Procent bei Epidemien schon ganz außerordentlich stark ist. Die Wirkung des Clima scheint beim ersten Anblick ganz unabhängig von dem Kampfe um’s Dasein zu sein; insofern aber das Clima hauptsächlich die Nahrung vermindert, veranlaßt es den heftigsten Kampf zwischen den Individuen, welche von derselben Nahrung leben, mögen sie nun einer oder verschiedenen Arten angehören. Selbst wenn das Clima, z. B. äußerst strenge Kälte, unmittelbar wirkt, so werden die mindest kräftigen oder diejenigen Individuen, die beim vorrückenden Winter am wenigsten Futter bekommen haben, am meisten leiden. Wenn wir von Süden nach Norden oder aus einer feuchten in eine trockene Gegend wandern, werden wir stets einige Arten immer seltener und seltener werden und zuletzt gänzlich verschwinden sehen; und da der Wechsel des Clima zu Tage liegt, so werden wir am ehesten versucht sein, den ganzen Erfolg seiner directen Einwirkung zuzuschreiben. Und doch ist dies eine falsche Ansicht; wir vergessen dabei, daß jede Art selbst da, wo sie am häufigsten ist, in irgend einer Zeit ihres Lebens beständig durch Feinde oder durch Concurrenten um Nahrung oder um denselben Wohnort ungeheure Zerstörung erfährt; und wenn diese Feinde oder Concurrenten nur im mindesten durch irgend einen Wechsel des Clima begünstigt werden, so werden sie an Zahl zunehmen und da jedes Gebiet bereits vollständig mit Bewohnern besetzt ist, so muß die andre Art zurückweichen. Wenn wir auf dem Wege nach Süden eine Art in Abnahme begriffen sehen, so können wir sicher sein, daß die Ursache ebensosehr in der Begünstigung anderer Arten liegt, als in der Benachtheiligung dieser einen, ebenso, wenn wir nordwärts gehen, obgleich in einem etwas geringeren Grade, weil die Zahl aller Arten und somit aller Mitbewerber gegen Norden hin abnimmt. Daher kommt es, daß, wenn wir nach Norden gehen oder einen Berg besteigen, wir weit öfter verkümmerten Formen begegnen, welche von unmittelbar schädlichen Einflüssen des Clima herrühren, als wenn wir nach Süden oder bergab gehen. Erreichen wir endlich die arktischen Regionen, oder die schneebedeckten Bergspitzen oder vollkommene Wüsten, so findet das Ringen um’s Dasein fast ausschließlich gegen die Elemente statt.

[91] Daß die Wirkung des Clima vorzugsweise eine indirecte und durch Begünstigung anderer Arten eintretende sei, ergibt sich klar aus der außerordentlichen Menge solcher Pflanzen in unseren Gärten, welche zwar vollkommen im Stande sind unser Clima zu ertragen, aber niemals naturalisirt werden können, weil sie weder den Wettkampf mit unsern einheimischen Pflanzen aushalten noch der Zerstörung durch unsere einheimischen Thiere widerstehen können.

Wenn sich eine Art durch sehr günstige Umstände auf einem kleinen Raume zu übermäßiger Anzahl vermehrt, so sind Epidemien (so scheint es wenigstens bei unseren Jagdthieren gewöhnlich der Fall zu sein) oft die Folge davon, und hier haben wir ein vom Kampfe um’s Dasein unabhängiges Hemmnis. Doch scheint selbst ein Theil dieser sogenannten Epidemien von parasitischen Würmern herzurühren, welche durch irgend eine Ursache, vielleicht durch die Leichtigkeit der Verbreitung auf den gedrängt zusammenlebenden Thieren, unverhältnißmäsig begünstigt worden sind; und so fände hier gewissermaßen ein Kampf zwischen den Schmarotzern und ihren Nährthieren statt.

Andererseits ist in vielen Fällen ein großer Bestand von Individuen derselben Art im Verhältnis zur Anzahl ihrer Feinde unumgänglich für ihre Erhaltung nöthig. Man kann daher leicht Getreide, Rapssaat u. s. w. in Masse auf unseren Feldern erziehen, weil hier deren Samen im Vergleich zu den Vögeln, welche davon leben, in großem Übermaße vorhanden sind; und doch können diese Vögel, wenn sie auch mehr als nöthig Futter in der einen Jahreszeit haben, nicht im Verhältnis zur Menge dieses Futters zunehmen, weil die ganze Anzahl im Winter wieder beeinträchtigt wird. Dagegen weiß jeder, der es versucht hat, wie mühsam es ist, Samen aus ein paar Pflanzen Weizen oder andern solchen Pflanzen im Garten zu erziehen. Ich habe in solchen Fällen jedes einzelne Samenkorn verloren. Diese Ansicht von der Nothwendigkeit eines großen Bestandes einer Art für ihre Erhaltung erklärt, wie mir scheint, einige eigenthümliche Fälle in der Natur, wie z. B. daß sehr seltene Pflanzen zuweilen auf den wenigen Flecken, wo sie vorkommen, außerordentlich zahlreich auftreten, und daß manche gesellige Pflanzen selbst auf der äußersten Grenze ihres Verbreitungsbezirkes gesellig oder in großer Zahl beisammen gefunden werden. In solchen Fällen kann man nämlich glauben, eine Pflanzenart vermöge nur da zu bestehen, wo die Lebensbedingungen [92] so günstig sind, daß ihrer viele beisammen leben und so die Art vor äußerster Zerstörung bewahren können. Ich muß hinzufügen, daß die guten Folgen einer häufigen Kreuzung und die schlimmen einer reinen Inzucht ohne Zweifel in einigen dieser Fälle mit in Betracht kommen; doch will ich mich über diesen verwickelten Gegenstand hier nicht weiter verbreiten.


Complicirte Beziehungen aller Pflanzen und Thiere zu einander im Kampfe um’s Dasein.

Man führt viele Beispiele auf, aus denen sich ergibt, wie zusammengesetzt und wie unerwartet die gegenseitigen Beschränkungen und Beziehungen zwischen organischen Wesen sind, die in einerlei Gegend mit einander zu kämpfen haben. Ich will nur ein solches Beispiel anführen, das mich, wenn auch einfach, interessirt hat. In Staffordshire auf dem Gute eines Verwandten, wo ich reichliche Gelegenheit zur Untersuchung hatte, befand sich eine große äußerst unfruchtbare Haide, die nie von eines Menschen Hand berührt worden war. Doch waren einige hundert Acker derselben von genau gleicher Beschaffenheit mit den übrigen fünfundzwanzig Jahre zuvor eingezäunt und mit Kiefern bepflanzt worden. Die Veränderung in der ursprünglichen Vegetation des bepflanzten Theiles war äußerst merkwürdig, mehr als man gewöhnlich wahrnimmt, wenn man von einem ganz verschiedenen Boden zu einem andern übergeht. Nicht allein erschienen die Zahlenverhältnisse zwischen den Haidepflanzen gänzlich verändert, sondern es gediehen auch in der Pflanzung noch zwölf solche Arten, Ried- u. a. Gräser ungerechnet, von welchen auf der Haide nichts zu finden war. Die Wirkung auf die Insecten muß noch viel größer gewesen sein, da in der Pflanzung sechs Species insectenfressender Vögel sehr gemein waren, von welchen in der Haide nichts zu sehen war, welche dagegen von zwei bis drei andern Arten solcher besucht wurde. Wir bemerken hier, wie mächtig die Folgen der Einführung einer einzelnen Baumart gewesen, indem sonst durchaus nichts geschehen war, außer der Abhaltung des Viehs durch die Einfriedigung. Was für ein wichtiges Element aber die Einfriedigung sei, habe ich deutlich in der Nähe von Farnham in Surrey gesehen. Hier waren ausgedehnte Haiden, mit ein paar Gruppen alter Kiefern auf den Rücken der entfernteren Hügel; in den letzten 10 Jahren waren ansehnliche Strecken eingefriedigt worden, und innerhalb dieser Einfriedigungen schoß in Folge von Selbstaussaat eine Menge junger Kiefern auf, so dicht beisammen, [93] daß nicht alle fortleben konnten. Nachdem ich mich vergewissert hatte, daß diese jungen Stämmchen nicht gesäet oder gepflanzt worden, war ich so erstaunt über deren Anzahl, daß ich mich sofort nach mehreren Aussichtspunkten wandte, um Hunderte von Ackern der nicht eingefriedigten Haide zu überblicken, wo ich jedoch außer den gepflanzten alten Gruppen buchstäblich genommen auch nicht eine einzige Kiefer zu finden vermochte. Als ich mich jedoch genauer zwischen den Pflanzen der freien Haide umsah, fand ich eine Menge Sämlinge und kleiner Bäumchen, welche aber fortwährend von den Heerden abgeweidet worden waren. Auf einem ein Yard im Quadrat messenden Fleck, mehrere hundert Yards von den alten Baumgruppen entfernt, zählte ich 32 solcher abgeweideten Bäumchen, wovon eines mit 26 Jahresringen viele Jahre hindurch versucht hatte, sich über die Haidepflanzen zu erheben, aber vergebens. Kein Wunder also, daß sobald das Land eingefriedigt worden war, es dicht von kräftigen jungen Kiefern überzogen wurde. Und doch war die Haide so äußerst unfruchtbar und so ausgedehnt, daß niemand geglaubt hätte, daß das Vieh hier so dicht und so erfolgreich nach Futter gesucht haben würde.

Wir sehen hier das Vorkommen der Kiefer in absoluter Abhängigkeit vom Vieh; in andern Weltgegenden ist das Vieh von gewissen Insecten abhängig. Vielleicht bildet Paraguay das merkwürdigste Beispiel dar; denn hier sind Rinder, Pferde oder Hunde niemals verwildert, obwohl sie im Süden und Norden davon in verwildertem Zustande umherschwärmen. Azara und Rengger haben gezeigt, daß die Ursache dieser Erscheinung in Paraguay in dem häufigeren Vorkommen einer gewissen Fliege zu finden ist, welche ihre Eier in den Nabel der neugebornen Jungen dieser Thierarten legt. Die Vermehrung dieser so zahlreich auftretenden Fliegen muß regelmäßig durch irgend ein Gegengewicht und vermuthlich durch andere parasitische Insecten gehindert werden. Wenn daher gewisse insectenfressende Vögel in Paraguay abnähmen, so würden die parasitischen Insecten wahrscheinlich zunehmen, und dies würde die Zahl der den Nabel aufsuchenden Fliegen vermindern; dann würden Rind und Pferd verwildern, was dann wieder (wie ich in einigen Theilen Süd-America’s wirklich beobachtet habe) eine bedeutende Veränderung in der Pflanzenwelt veranlassen würde. Dies müßte nun ferner in hohem Grade auf die Insecten und hierdurch, wie wir in Staffordshire gesehen, auf [94] die insectenfressenden Vögel wirken, und so fort in immer verwickelteren Kreisen. Es soll nicht gesagt sein, daß in der Natur die Verhältnisse immer so einfach sind, wie hier. Kampf um Kampf mit veränderlichem Erfolge muß immer wiederkehren; aber auf die Länge halten auch die Kräfte einander so genau das Gleichgewicht, daß die Natur auf weite Perioden hinaus immer ein gleiches Aussehen behält, obwohl gewiß oft die unbedeutendste Kleinigkeit genügen würde, einem organischen Wesen den Sieg über das andre zu verleihen. Demungeachtet ist unsre Unwissenheit so tief und unsre Anmaßung so groß, daß wir uns wundern, wenn wir von dem Erlöschen eines organischen Wesens vernehmen; und da wir die Ursache nicht sehen, so rufen wir Umwälzungen zu Hülfe, um die Welt zu verwüsten, oder erfinden Gesetze über die Dauer der Lebensformen.

Ich werde versucht durch ein weiteres Beispiel nachzuweisen, wie solche Pflanzen und Thiere, welche auf der Stufenleiter der Natur am weitesten von einander entfernt stehen, durch ein Gewebe von verwickelten Beziehungen mit einander verkettet werden. Ich werde nachher Gelegenheit haben zu zeigen, daß die ausländische Lobelia fulgens in meinem Garten niemals von Insecten besucht wird und in Folge dessen wegen ihres eigenthümlichen Blüthenhaues nie eine Frucht ansetzt. Beinahe alle unsere Orchideen müssen unbedingt von Insecten besucht werden, um ihre Pollenmassen wegzunehmen und sie so zu befruchten. Ich habe durch Versuche ermittelt, daß Hummeln zur Befruchtung des Stiefmütterchens oder Pensée’s (Viola tricolor) fast unentbehrlich sind, indem andre Bienen sich nie auf dieser Blume einfinden. Ebenso habe ich gefunden, daß der Besuch der Bienen zur Befruchtung von mehreren unserer Kleearten nothwendig ist. So lieferten mir z. B. zwanzig Köpfe weißen Klee’s (Trifolium repens) 2290 Samen, während 20 andere Köpfe dieser Art, welche den Bienen unzugänglich gemacht waren, nicht einen Samen zur Entwickelung brachten. Ebenso ergaben hundert Köpfe rothen Klee’s (Trifolium pratense) 2700 Samen, und die gleiche Anzahl gegen Hummeln geschützter Stöcke nicht einen! Hummeln allein besuchen diesen rothen Klee, indem andere Bienenarten den Nectar dieser Blume nicht erreichen können. Auch von Motten hat man vermuthet, daß sie zur Befruchtung des Klee’s beitragen; ich zweifle aber wenigstens daran, daß dies mit dem rothen Klee der Fall ist, indem sie nicht schwer genug sind, die Seitenblätter der Blumenkrone niederzudrücken. Man [95] darf daher wohl als sehr wahrscheinlich annehmen, daß wenn die ganze Gattung der Hummeln in England sehr selten oder ganz vertilgt würde, auch Stiefmütterchen und rother Klee sehr selten werden oder ganz verschwinden würden. Die Zahl der Hummeln in einem Districte hängt in einem beträchtlichen Maaße von der Zahl der Feldmäuse ab, welche deren Nester und Waben zerstören. Oberst Newman, welcher die Lebensweise der Hummeln lange beobachtet hat, glaubt, daß durch ganz England über zwei Drittel derselben auf diese Weise zerstört werden. Nun hängt aber, wie Jedermann weiß, die Zahl der Mäuse in großem Maße von der Zahl der Katzen ab, so daß Newman sagt, in der Nähe von Dörfern und Flecken habe er die Zahl der Hummelnester größer als irgendwo anders gefunden, was er der reichlicheren Zerstörung der Mäuse durch die Katzen zuschreibe. Daher ist es denn völlig glaublich, daß die Anwesenheit eines katzenartigen Thieres in größerer Zahl in irgend einem Bezirke durch Vermittelung zunächst von Mäusen und dann von Bienen auf die Menge gewisser Pflanzen daselbst von Einfluß sein kann.

Bei jeder Species thun wahrscheinlich verschiedene Momente der Vermehrung Einhalt, solche die in verschiedenen Perioden des Lebens, und solche die während verschiedener Jahreszeiten oder Jahre wirken. Eines oder einige derselben mögen im Allgemeinen die mächtigsten sein: aber alle zusammen werden dazu beitragen, die Durchschnittszahl der Individuen oder selbst die Existenz der Art zu bestimmen. In manchen Fällen läßt sich nachweisen, daß sehr verschiedene Ursachen in verschiedenen Gegenden auf die Häufigkeit einer und derselben Species einwirken. Wenn wir Büsche und Pflanzen betrachten, welche ein dicht bewachsenes Ufer überziehen, so werden wir versucht, ihre Arten und deren Zahlenverhältnisse dem zuzuschreiben, was wir Zufall nennen. Doch wie falsch ist diese Ansicht! Jedermann hat gehört, daß, wenn in America ein Wald niedergehauen wird, eine ganz verschiedene Pflanzenwelt zum Vorschein kommt, und doch ist beobachtet worden, daß die Bäume, welche jetzt auf den alten Indianerruinen im Süden der Vereinigten Staaten wachsen, deren früherer Baumbestand abgetrieben worden sein mußte, jetzt wieder eben dieselbe bunte Mannigfaltigkeit und dasselbe Artenverhältnis wie die umgebenden unberührten Wälder darbieten. Welch ein Kampf muß hier Jahrhunderte lang zwischen den verschiedenen Baumarten stattgefunden haben, deren jede ihre Samen jährlich zu Tausenden abwirft! [96] Was für ein Krieg zwischen Insecten und Insecten, zwischen Insecten, Schnecken und andern Thieren mit Vögeln und Raubthieren, welche alle sich zu vermehren strebten, alle sich von einander oder von den Bäumen und ihren Samen und Sämlingen, oder von jenen andern Pflanzen nährten, welche anfänglich den Grund überzogen und hierdurch das Aufkommen der Bäume gehindert hatten! Wirft man eine Hand voll Federn in die Luft, so müssen alle nach bestimmten Gesetzen zu Boden fallen; aber wie einfach ist das Problem, wohin eine jede fallen wird, im Vergleich zu der Wirkung und Rückwirkung der zahllosen Pflanzen und Thiere, die im Laufe von Jahrhunderten Arten und Zahlenverhältnis der Bäume bestimmt haben, welche jetzt auf den alten indianischen Ruinen wachsen!

Die Abhängigkeit eines organischen Wesens von einem andern, wie die des Parasiten von seinem Ernährer, findet in der Regel zwischen solchen Wesen statt, welche auf der Stufenleiter der Natur weit auseinander stehen. Dies ist gleichfalls oft bei solchen der Fall, von denen man auch im strengen Sinne sagen kann, sie kämpfen mit einander um ihr Dasein, wie grasfressende Säugethiere und Heuschrecken. Aber der Kampf wird fast ohne Ausnahme der heftigste sein, der zwischen den Individuen einer Art stattfindet; denn sie bewohnen dieselben Bezirke, verlangen dasselbe Futter und sind denselben Gefahren ausgesetzt. Bei Varietäten der nämlichen Art wird der Kampf meistens eben so heftig sein, und zuweilen sehen wir den Streit schon in kurzer Zeit entschieden. So werden z. B. wenn wir verschiedene Weizenvarietäten durcheinander säen und ihren gemischten Samenertrag wieder aussäen, einige Varietäten, welche dem Clima und Boden am besten entsprechen oder von Natur die fruchtbarsten sind, die andern besiegen und, indem sie mehr Samen liefern, schon nach wenigen Jahren gänzlich verdrängen. Um einen gemischten Vorrath selbst von so äußerst nahe verwandten Varietäten aufzubringen, wie die verschiedenfarbigen Lathyrus odoratus sind, muß man sie jedes Jahr gesondert ernten und dann die Samen in erforderlichem Verhältnisse jedesmal aufs Neue mengen, wenn nicht die schwächeren Sorten von Jahr zu Jahr abnehmen und endlich ganz ausgehen sollen. So verhält es sich ferner mit den Schafrassen. Man hat versichert, daß gewisse Gebirgsvarietäten derselben andere Gebirgsvarietäten zum Aussterben bringen, so daß sie nicht zusammen gehalten werden können. Dasselbe Resultat hat sich ergeben, wenn man verschiedene Varietäten [97] des medicinischen Blutegels zusammen hielt. Man kann selbst bezweifeln, ob die Varietäten von irgend einer unserer domesticirten Pflanzen- oder Thierformen so genau dieselbe Stärke, Lebensweise und Constitution besitzen, daß sich die ursprünglichen Zahlenverhältnisse eines gemischten Bestandes derselben (unter Verhinderung von Kreuzungen) auch nur ein halbes Dutzend Generationen hindurch zu erhalten vermöchten, wenn man sie in derselben Weise wie die organischen Wesen im Naturzustande mit einander kämpfen ließe und der Samen oder die Jungen nicht alljährlich in richtigem Verhältnisse erhalten würden.


Kampf um’s Dasein am heftigsten zwischen Individuen und Varietäten derselben Art.

Da die Arten einer Gattung gewöhnlich, doch keineswegs immer, viel Ähnlichkeit mit einander in Lebensweise und Constitution und immer in der Structur besitzen, so wird der Kampf zwischen Arten einer Gattung, wenn sie in Concurrenz mit einander gerathen, gewöhnlich ein härterer sein, als zwischen Arten verschiedener Genera. Wir sehen dies an der neuerlichen Ausbreitung einer Schwalbenart über einen Theil der Vereinigten Staaten, welche die Abnahme einer andern Art veranlaßt hat. Die neuerliche Vermehrung der Misteldrossel in einigen Theilen von Schottland hat daselbst die Abnahme der Singdrossel zur Folge gehabt. Wie oft hören wir, daß eine Rattenart in den verschiedensten Climaten den Platz einer andern eingenommen hat. In Rußland hat die kleine asiatische Schabe (Blatta) ihren größeren Verwandten überall vor sich hergetrieben. In Australien ist die eingeführte Stockbiene im Begriff, die kleine einheimische Biene ohne Stachel rasch zu vertilgen. Man weiß, daß eine Art Feldsenf eine andere verdrängt hat; und so noch in anderen Fällen. Wir können dunkel erkennen, warum die Concurrenz zwischen den verwandtesten Formen am heftigsten ist, welche nahezu denselben Platz im Haushalte der Natur ausfüllen; aber wahrscheinlich werden wir in keinem einzigen Falle genauer anzugeben im Stande sein, wie es zugegangen ist, daß in dem großen Wettringen um das Dasein die eine den Sieg über die andere davongetragen hat.

Aus den vorangehenden Bemerkungen läßt sich ein Folgesatz von größter Wichtigkeit ableiten, nämlich, daß die Structur eines jeden organischen Gebildes auf die wesentlichste aber oft verborgene Weise zu der aller andern organischen Wesen in Beziehung steht, mit welchen [98] es in Concurrenz um Nahrung oder Wohnung kommt, oder vor welchen es zu fliehen hat, oder von welchen es lebt. – Dies erhellt eben so deutlich aus dem Baue der Zähne und der Klauen des Tigers, wie aus der Bildung der Beine und Krallen des Parasiten, welcher an des Tigers Haaren hängt. Zwar an dem zierlich gefiederten Samen des Löwenzahns wie an den abgeplatteten und gewimperten Beinen des Wasserkäfers scheint anfänglich die Beziehung nur auf das Luft- und Wasserelement beschränkt zu sein. Aber der Vortheil gefiederter Samen steht ohne Zweifel in der engsten Beziehung zu dem Umstande, daß das Land durch andre Pflanzen bereits dicht besetzt ist, so daß die Samen in der Luft erst weit umher treiben und auf einen noch freien Boden fallen können. Den Wasserkäfer dagegen befähigt die Bildung seiner Beine, welche so vortrefflich zum Untertauchen eingerichtet sind, mit anderen Wasserinsecten in Concurrenz zu treten, nach seiner eigenen Beute zu jagen und anderen Thieren zu entgehen, welche ihn zu ihrer Ernährung verfolgen.

Der Vorrath von Nahrungsstoff, welcher in den Samen vieler Pflanzen niedergelegt ist, scheint anfänglich keine Art von Beziehung zu anderen Pflanzen zu haben. Aber aus dem lebhaften Wachsthum der jungen Pflanzen, welche aus solchen Samen (wie Erbsen, Bohnen u. s. w.) hervorgehen, wenn sie mitten in hohes Gras gesäet worden sind, darf man vermuthen, daß jener Nahrungsvorrath hauptsächlich dazu bestimmt ist, das Wachsthum des jungen Sämlings zu begünstigen, während er mit andern Pflanzen von kräftigem Gedeihen rund um ihn her zu kämpfen hat.

Man betrachte eine Pflanze in der Mitte ihres Verbreitungsbezirkes, warum verdoppelt oder vervierfacht sie nicht ihre Zahl? Wir wissen, daß sie recht gut etwas mehr oder weniger Hitze oder Kälte, Trocknis oder Feuchtigkeit ertragen kann; denn anderwärts verbreitet sie sich in etwas wärmere oder kältere, feuchtere oder trockenere Bezirke. In diesem Falle sehen wir wohl ein, daß, wenn wir in Gedanken der Pflanze das Vermögen noch weiterer Zunahme zu verleihen wünschten, wir ihr irgend einen Vortheil über die andern mit ihr concurrirenden Pflanzen oder über die sich von ihr nährenden Thiere gewähren müßten. An den Grenzen ihrer geographischen Verbreitung würde eine Veränderung ihrer Constitution in Bezug auf das Clima offenbar von wesentlichem Vortheil für unsere Pflanze sein. Wir haben jedoch Grund zu glauben, daß nur wenige Pflanzen- oder Thierarten [99] sich so weit verbreiten, daß sie durch die Strenge des Clima allein zerstört werden. Erst wenn wir die äußersten Grenzen des Lebens überhaupt erreichen, in den arktischen Regionen oder am Rande der dürresten Wüste, hört auch die Concurrenz auf. Mag das Land noch so kalt oder trocken sein, immer werden noch einige wenige Arten oder die Individuen derselben Art um das wärmste oder feuchteste Fleckchen concurriren.

Daher können wir auch einsehen, daß, wenn eine Pflanzen- oder eine Thierart in eine neue Gegend zwischen neue Concurrenten versetzt wird, die äußeren Lebensbedingungen meistens wesentlich verändert werden, wenn auch das Clima genau dasselbe wie in der alten Heimath bliebe. Wünschten wir das durchschnittliche Zahlenverhältnis dieser Art in ihrer neuen Heimath zu steigern, so müßten wir ihre Natur in einer andern Weise modificiren, als es in ihrer alten Heimath hätte geschehen müssen; denn wir würden ihr einen Vortheil über eine andre Reihe von Concurrenten oder Feinden, als sie dort gehabt hat, zu verschaffen haben.

Es ist ganz gut, in dieser Weise einmal in Gedanken zu versuchen, irgend einer Form einen Vortheil über eine andere zu verschaffen. Wahrscheinlich wüßten wir nicht in einem einzigen Falle, was wir zu thun hätten, um Erfolg zu haben. Dies sollte uns die Überzeugung von unserer Unwissenheit über die Wechselbeziehungen zwischen allen organischen Wesen verschaffen: eine Überzeugung, welche eben so nothwendig als schwer zu erlangen ist. Alles was wir thun können, ist: stets im Sinne zu behalten, daß jedes organische Wesen nach Zunahme in einem geometrischen Verhältnisse strebt; daß jedes zu irgend einer Zeit seines Lebens oder zu einer gewissen Jahreszeit, in jeder Generation oder nach Zwischenräumen um’s Dasein kämpfen muß und großer Vernichtung ausgesetzt ist. Wenn wir über diesen Kampf um’s Dasein nachdenken, so mögen wir uns mit dem vollen Glauben trösten, dass der Krieg der Natur nicht ununterbrochen ist, daß keine Furcht gefühlt wird, daß der Tod im Allgemeinen schnell ist, und daß der Kräftige, der Gesunde und Glückliche überlebt und sich vermehrt.

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