RE:Geloni

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft
korrigiert  
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal Korrektur gelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
skythischer Stamm im westlichen Rußland
Band VII,1 (1910) S. 10141018
Bildergalerie im Original
Register VII,1 Alle Register
Linkvorlage für WP   
* {{RE|VII,1|1014|1018|Geloni|[[REAutor]]|RE:Geloni}}        

Geloni (Γελωνοί; bei Skylax und Ephoros im anonymen Periplus des Schwarzen Meeres § 49, offenbar im letzten Grunde nach Hekataios: Γέλωνες), skythischer Stamm, über den Herodot den wichtigsten Bericht gegeben hat. Nach dem von den landeskundigen hellenischen Kolonisten aufgestellten Stammbaum (Herodot. IV 10) sind Agathyrsos, Skythes (der Stammvater der eigentlichen Skythen = Skoloten mit einheimischem Namen) und Gelonos Brüder und Söhne des Herakles, d. h. den über die ethnologischen Verhältnisse Südrußlands sehr gut unterrichteten Griechen erschienen die G. als nächste Verwandte der arischen Skythen. Diese, im engeren Sinn, reichten von der Donaumündung bis zum Tanais (Don), westlich von ihnen saßen die Agathyrsen in Rumänien usw., im Osten jenseits des Tanais die G. Herodot erfuhr (IV 108f.), daß im Gebiet des ausgedehnten, zahlreichen Volkes der Budinoi (s. d., sicher in Perm, an der Wolga und der Kama anzusetzen) eine Stadt Gelonos liegt, die eine ungewöhnliche Größe hat, ganz aus Holz gebaut ist, mit einer riesigen hölzernen Mauer, mit Tempeln hellenischer Bauart, hellenischen Götterkulten, regelmäßig wiederkehrenden, dem Dionysos gefeierten orgiastischen Festen. Hier sind die G. ansässig, die ihrer Abkunft nach Hellenen und von den griechischen Handelsstädten am Schwarzen Meer gekommen sein sollen. Ihre Sprache sei halb skythisch, halb hellenisch. Jedenfalls unterschieden sich die G., wie ausdrücklich hervorgehoben wird, sowohl in ihrer Sprache wie in ihrem somatischen Typus, in der Haut- und Haarfarbe (ἰδέη und χρῶμα) usw. völlig von den umwohnenden Budinen; für erstere gelten offenbar die auf die nordische Rasse hinzielenden Angaben über helle, blaue Augen und rosige Gesichtsfarbe (γλαυκόν τε πᾶν ἰσχυρῶς ἐστι καὶ πυρρὸν ἔθνος), – indem hier Herodot selbst der gewöhnlichen Verwechslung der Budinen und G. verfällt, vor der er gleich darauf warnt. Auch das Kulturniveau beider Volkselemente ist so verschieden als nur möglich: die autochthonen Budinen stehen auf ganz primitiver Stufe, während die G. Ackerbau und Gartenkultur treiben. Die Budinoi gehören zweifellos zu den Wolgafinnen, die G. stellen einen arischen Stamm dar, der aus dem engeren skythischen Gebiet westlich vom Tanais frühestens im 7. Jhdt. in der Wolgaregion eingedrungen ist, nachdem er bereits unter hellenischen Kultureinflüssen gestanden hatte; möglicherweise wohnten unter ihnen in Gelonos auch griechische Kaufleute selbst. Dieser Wanderung vergleichen sich andere, vor allem die der Neuren (vielleicht zu den Urslaven gehörig; s. d.), die im 6. Jhdt. vom Quellgebiet des Hypanis (Bug) gleichfalls zu den Wolgafinnen (Budinen) nach Perm gezogen waren (Herodot. IV 105); die der Gerrhoi (s. d.), die sich in Daghestan zwischen den Ausläufern des Kaukasus und dem Kaspischen Meer niederließen und von dem Hauptstamm der Skoloten abstammten; noch viel weiter nach Nordosten war ein anderer Zweig der ,königlichen‘ Skythen vorgerückt (Σκύθαι ἄλλοι, ἀπὸ τῶν βασιληίων Σκυθέων ἀποστάντες) [1015] und hatten in der Nachbarschaft der finnischen Jyrkai (Jögra oder Ugrier) östlich vom Uralgebirge im Obgebiet neue Wohnsitze gefunden. Alle diese Wanderungen stehen deutlich in einem gewissen inneren Zusammenhang und bedeuten die letzten Nachzügler der großen arischen Wanderung nach dem Osten, welche die arischen Inder und Ostiranier eingeleitet hatten; sie sind noch unter den Augen griechischer Beobachter vor sich gegangen und darum historisch voll beglaubigt. In den späteren Jahrhunderten findet dann ein merkwürdiges Rückströmen dieser arischen Elemente nach Europa statt, verursacht und fortgesetzt von den uralaltaischen Völkern (s. Hunni). Damals sind auch die G. nach dem Westen zurückgeschoben worden (s. u.).

Zunächst finden wir aber Spuren der G. in ältester Zeit auch an der kaukasischen Steilküste des Schwarzen Meeres. Hier erwähnt sie der Periplus des Skylax (§ 79f.; diese Partie des Werkes gehört dem ältesten, um 470 geschriebenen Teile an! beachte die Namensform Gelones, die auch Hekataios-Ephoros im Gegensatz zu Herodot haben) zusammen mit wahrscheinlich finnischen Melanchlanai, deren Hauptteil nach Herodot zwischen dem Mittellauf des Dnjepr und dem Don sitzt: also auch hiernach ist die ursprüngliche Heimat der G. in der Nachbarschaft der Melanchlainen im eigentlichen Skythien westlich vom Tanais zu suchen. Sie haben sich anscheinend, als sie von hier auswanderten, ähnlich wie die königlichen Skythen oder Gerrhoi (s. d.), getrennt, eine Abteilung ist vermischt mit Melanchlainen über den westlichen Kaukasus nach Kolchis vorgedrungen. Denn nach Skylax sitzen die G. und Melanchlainen östlich von den Koraxoi und Koloi, die nach Hekataios zu dem um 500 bestehenden Staat Kolchis gehören. Auch Skylax hat davon Kunde, wenn er Kolchis bis Dioskurias ausdehnt, aber er begeht den Fehler, daß er trotzdem die in der Nachbarschaft dieser Stadt (vgl. Plin. VI 15) wohnenden Koraxoi und die folgenden Stämme, darunter auch die G. und Melanchlainen gesondert neben Kolchis ansetzt, weil er nicht zwischen dem eigentlichen Volk der Kolcher und dem weiter reichenden Staat Kolchis unterscheidet. Diesem gehörten auch die zugewanderten Skythen an, sie müssen nach Skylax schon in der Nähe des Phasis gesessen haben, es liegt darum nahe, sich diese Zuwanderung als eine Eroberung von Kolchis und diesen Staat als eine Gründung der skythischen Gelonen zu denken. Hierzu vergleicht sich die Tatsache, daß auch ein Zweig der am unteren Tanais ansässigen Sauromaten, die Epageriten (s. d.) oder Agoritai, sich am Korax niedergelassen hatten, wie die Vergleichung von Plin. VI 16, Ptolemaios und Ammian. Marc. XXII 8, 29 ergibt, – also in nächster Nähe der G., da jener Fluß (heute Kador) auf dem Elburs (Koraxberg) entspringt und unmittelbar westlich von Dioskurias (heute noch Kap Iskurija) mündet. Die an dem Fluß ansässigen und nach ihm benannten Koraxoi müssen von den Epageriten unterworfen worden sein; bezieht sich darauf Hesychios: Kόραξοι ἔθνος Σχυθίας ? Man kann jedenfalls nicht zweifeln an einer Einwanderung arischer Skythen der Tanaisregion im westlichen Kaukasus und in Kolchis, spätestens am Ende des 6. Jhdts., demnach [1016] ungefähr gleichzeitig mit der G.-Wanderung an die Wolga.

Die Erinnerung daran hat sich auch bei Plin. VI 14f. und Mela I 110 erhalten, die hier auf dieselbe griechische Quelle zurückgehen und beide unter den Stämmen der Nordostküste des Pontus Melanchlaeni und Phthirophagi bringen. Ihre Vorlage hat natürlich aus Skylax geschöpft, aber Herodots Angaben mitverarbeitet; denn die Phthirophagi stehen offenkundig für die G., die den Budinen gleichgesetzt zu werden pflegten, diese sind aber Phtheirophagen (Herodot. IV 109: φθειροτραγέουσι μοῦνοι τῶν ταύτῃ. Hierher gehören auch die Melanchlainen, die Ptolemaios mit den Hippischen Bergen zu weit nordwärts vom Kaukasus ansetzt, in Wahrheit aber in diesen selbst gehören; dagegen sind Phtheirophagen (= Budinoi!) auf der Ptolemaioskarte nach Herodot an der Wolga (Rha) angesetzt, die Budinen selbst aber nach Westen verschoben (s. u.). An anderer Stelle (I 116) verzeichnet Melas Vorlage gleichfalls nach Herodot die Budini mit der urbs lignea Gelonion noch östlich vom Tanais in den alten Sitzen; ebenso Ammian. Marc. XXXI 2, 13. Es wurde schon bemerkt, daß die römischen und griechischen Quellen der Kaiserzeit schließlich G. auch noch im westlichen Rußland diesseits des Tanais kennen; zugleich teilen sie neue ethnographische Züge über das Volk mit. Diese allein schon schließen die Möglichkeit aus, daß die westlichen Sitze nur aus irriger Interpretation der älteren Nachrichten angenommen seien. Auch zahlreiche andere Völkernamen sind auf den spätantiken Karten sehr beträchtlich nach Westen verschoben. Es ist das eine Erscheinung, der erkennbar bedeutsame Völkerbewegungen und Wanderungen in Rußland zugrunde liegen, die im ganzen als einheitlicher Prozeß aufzufassen sind; wie schon oben angedeutet, als ein Rückströmen der dem iranischen Zweige nächstverwandten arischen Skythen, die sich Jahrhunderte lang nach dem Osten ergossen hatten und nunmehr durch die sich regenden westtibetanischen, hunnischtürkischen und mongolischen Völker aufgehalten und allmählich wieder zurückgedrängt wurden (vgl. Skythai). Der bekannte Einbruch westtibetanischer Stämme in Sogdiana und Baktrien (Westturkestan) in der zweiten Hälfte des 2. Jhdts. v. Chr. darf als Anfangstermin dieser Rückwärtsbewegung angesprochen werden. So haben an ihr teil die Issedonen (s. d.), die im 6. und 5. Jhdt. weit westlich vom Uralgebirge saßen, jetzt aber nach der gemeinsamen griechischen Quelle Melas (II 2) und Plinius (VI 21) usque ad Maeotida reichen; Melas Vorlage hat die älteren Nachrichten Herodots und die neue Kunde irrig kombiniert und gibt den Issedonen eine ungeheure Ausdehnung von der Maiotis bis in den äußersten Osten. Issedonen und Aorsen haben Anfang des 1. Jhdts. v. Chr. die Masse der sarmatischen Stämme, die sich seit dem 6. Jhdt. östlich des Tanais immer mehr ausgebreitet hatten, in Bewegung gesetzt und über den Tanais weit nach Westen, in ihren letzten Ausläufern bis zur Donau vorgeschoben. An der Maiotis zwischen Tanais und Borysthenes setzt sich der sarmatische Stamm der Roxolanen fest, in Rumänien und an den transsilvanischen Alpen hin nomadisieren [1017] die sarmatischen Iazygen (Strab. VII 306), bis sie endlich im 1. Jhdt. n. Chr. (Plin. IV 80) zwischen Donau und Theiß dauernde Wohnsitze finden. Für diese ethnographischen Veränderungen in Rußland westlich des Tanais sind besonders wichtig die Völkerreihen, die sich ziemlich übereinstimmend bei Dionysios perieg. 304–310. Plin. IV 80. Ammian. Marc. XXII 8, 31 (der aber XXXI 2, 13 Alanen, Neuren, Budinen und Gelonen östlich des Tanais und an der Wolga ansetzt, hier also genau Herodot folgt) und auf der Karte des europäischen Sarmatiens im Ptolemaios-Atlas finden: Iazygen, Roxolanen, Alanen, Melanchlainen, Neuren, Gelonen, Budinen, Agathyrsen, Aorsen, Pagyriten (= Epageriten oder Agoriten; diese und die Aorsen hatten ihre Hauptsitze nördlich vom Kaukasus und Kaspischen Meer, waren also teilweise über den Tanais nach Westrußland vorgerückt). Da in dem Bericht Ammians die sarmatischen Iazygen noch neben den Roxolanen nahe der Maiotis sitzen, muß ihm eine Quelle älter als Strabon zugrunde liegen, zweifellos Poseidonios; die genannten Völkerlisten gehen sehr wahrscheinlich im wesentlichen auf diesen zuverlässigen Berichterstatter zurück; Poseidonios hat zuerst authentische Nachrichten über die bedeutsamen Völkerverschiebungen in Rußland gegeben, die danach in ihrem Beginn wirklich um die Wende des 2. und 1. Jhdts. gehören. Damals sind auch die G. als Glied in der Reihe in das cistanaitische Gebiet zurückgewandert, und es kann nicht überraschen, in ihrer Nähe sowohl auf der Ptolemaioskarte wie bei Plin. VI 88 Budinen verzeichnet zu finden: beide hatten gemeinsame Sitze an der Wolga und Kama gehabt und waren nun vereint über den Tanais vorgerückt. Im Rahmen der geschilderten Völkerbewegungen sind jene Angaben in diesem Sinn auszulegen und keineswegs als verworrene Reminiszenzen aus Herodot, Ephoros usw. aufzufassen. Die Budinen erscheinen hier als die Vorläufer der Ungarn, die ihnen auf das nächste verwandt waren und sich ebenfalls von den Wolgafinnen abzweigten. Aber wie weit sie ihre finnische Rasse und Sprache bewahrt oder umgekehrt die arischen G. beeinflußt hatten, ist nicht zu unterscheiden. Die von den G. berichtete Sitte setzt wenigstens die Tatsache der Beeinflussung außer Zweifel: (G. hostium cutibus equos seque velant, illos reliqui corporis, se capitum (Mela II 14; ganz übereinstimmend auch Ammian. Marc. XXXI 2, 13 und Solin. 15, 3). Diese scheußliche Sitte, aus der Haut getöteter Feinde Pferdedecken oder Sättel herzustellen und die Skalps als Kriegstrophäen an sich herumzutragen, ist so unarisch als möglich und erinnert lebhaft an ähnliche barbarische Neigungen der ältesten Ungarn.

Das Wiedererscheinen der G. im westlichen Rußland wird schließlich durch die römischen Dichter der Kaiserzeit bezeugt. Ihre gelegentlichen Anspielungen setzen voraus, daß jenes Volk in jüngster Zeit unter den unruhigen Stämmen an der römischen Reichsgrenze nicht selten genannt wurde. Horaz od. II 9, 23 rechnet es zu den Taten des Augustus, das bald hier, bald da auftauchende Reitervolk der (pharetrati III 4, 35) G. in feste Grenzen gebannt zu haben. II 20, 17ff. erwähnt er sie neben den Daken als ultimi [1018] des Erdkreises, d. h. nördlich von Dakien zuäußerst gegen das Weltmeer. Damit stimmt auffällig Vergil, wenn er (Georg. II 115) die G. gleichfalls die äußersten Menschen nahe dem nördlichen Ozean oder (Georg. III 461) zusammen mit thrakischen Stämmen nennt; Aen. VIII 725: sagittiferi. Aus den Dichterstellen ist zu folgern, daß sich die G. wie die sarmatischen Iazygen an den dakischen Grenzen hin- und herbewegten; jene erklären aber auch die merkwürdige Zeichnung der sarmatischen Karte des Ptolemaios, wo die G. sehr nahe an den sarmatischen Ozean (die Ostsee) herangerückt werden. Wie Horaz die G. zusammen mit den Daken nennt, so erscheinen sie in den oben genannten Völkerlisten des Dionys, Plinius, Ptolemaios, Ammian, Solinus regelmäßig neben den Agathyrsen, offenbar nach der Angabe des Poseidonios. Am stärksten und fast gleichlautend (also nach derselben letzten Vorlage) wird diese Nachbarschaft von Solin. 15, 3 und Ammian. XXII 8, 31. XXXI 2, 14 betont, von letzterem so sehr, daß er an der zweiten Stelle den G. zuliebe die Agathyrsen sogar in den fernen Osten versetzt. Die Agathyrsen entsprechen den Daken, deren Gebiet sie nach Herodots Erkundungen einnahmen; damit werden wiederum die Sitze der G. an der dakischen Nord-, bezw. Nordostgrenze bezeugt. So wird auch Vergils Bemerkung (Georg. II 115: picti G.) über die von der G. geübte Tatauierung eine richtige Beobachtung zugrunde liegen, weil die G. diese Sitte von den dakischen Nachbarn sehr leicht angenommen haben konnten; über die Tatauierung der Daken-Agathyrsen und ihren Brauch, das Haar blauschwarz zu färben, hatte anscheinend Poseidonios ausführlich berichtet (Ammian. und Solin. a. a. O. Mela 2, 10. Plin. IV 88. Avien. orb. terr. v. 446). Noch bei den spätrömischen Dichtern werden die G. wiederholt genannt (von Lucan. Valerius Flaccus, Statius bis zu Claudian, Ennodius, Sidonius); sie scheinen danach noch lange als besonderer Stamm sich erhalten zu haben, bis sie die Stürme der Völkerwanderung hinwegfegten.