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einmal fahren zu lassen? Welches Genie liest das andere so? – Mitten im hellesten Anschaun der Zaubermächte des andern und ihren Wirkungen und Stössen auf sein Herz, dringen Millionen unberufene Gedanken – dein Blatt Kritik – dein unvollendeter Roman – dein Brief – oft bis auf die Wäsche hinunter – weg sind die süssen Illusionen, da zappelt er wieder auf dem Sande, der vor einem Augenblicke im Meere von Wollust dahin schwamm. Und wenn das Genie so liest ω πωποι[WS 1] wie liest der Philister denn? Wo ist da lebendige Vorstellung der tausend großen Einzelheiten, ihrer Verbindungen, ihres göttlichen ganzen Eindrucks? Was kann der Epopeendichter thun, unsere Aufmerksamkeit fest zu halten, an seine Galeere anzuschmieden und dann mit ihr ’von zu fahren? Einen Vorrath von Witz verschütten, der sich tausendmal erschöpft (siehe Fielding und andere) oder wie Homer, blind das Publikum verachten und für sich selber singen? Der Schauspieldichter hats besser, wenn das Schicksal seine Wünsche erhören wollte. Schlimmer, wenn es sie nur halb erhört. Werd ich gelesen und der Kopf ist

so krank oder so klein, daß alle meine Pinselzüge unwahrgenommen vorbey schwimmen, geschweige in ein Gemählde zusammenfliessen – Trost! ich wollte nicht gelesen

Anmerkungen (Wikisource)

  1. griechisch, ungefähr: „o weh!“, griechischer Klageruf.
Empfohlene Zitierweise:
Jakob Michael Reinhold Lenz: Anmerkungen übers Theater. Weygandsche Buchhandlung, Leipzig 1774, Seite 32. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Anmerkungen_%C3%BCbers_Theater.pdf/32&oldid=- (Version vom 31.7.2018)