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seinen Stuhl mit dem Rücken nach dem Tische zu umdreht. Diese Verschiedenheit kann vielleicht dem Umstande zugeschrieben werden, daß das Weinen in einem vorgeschritteneren Alter, wie wir sofort sehen werden, in den meisten Fällen mit Ausnahme des Kummers unterdrückt wird, aber auch dem anderen Umstande, daß die Fähigkeit eines solchen Zurückdrängens auf eine frühere Lebensperiode überliefert wird als auf die, in welcher sie zum ersten Male ausgeübt wurde.

Bei Erwachsenen und besonders denen des männlichen Geschlechts hört das Weinen bald auf, durch körperlichen Schmerz verursacht zu werden oder solchen auszudrücken. Dies kann dadurch erklärt werden, daß es für schwächlich und unmännlich gehalten wird, wenn Männer, sowohl civilisirter als barbarischer Rassen, körperlichen Schmerz durch irgend welche äußerliche Zeichen zu erkennen geben. Mit dieser Ausnahme weinen Wilde aus sehr unbedeutenden Ursachen reichlich, für welche Thatsache Sir J. Lubbock[1] Beispiele gesammelt hat. Ein Häuptling auf Neuseeland „weinte wie ein Kind, weil die Matrosen seinen Lieblingsmantel mit Mehl gepudert hatten“. Ich sah im Feuerlande einen Eingebornen, welcher vor Kurzem einen Bruder verloren hatte; er weinte abwechselnd in hysterischer Heftigkeit und lachte dann wieder über irgend etwas, was ihn amüsirte, herzlich. Auch bei civilisirten Nationen Europas besteht in der Häufigkeit des Weinens ein großer Unterschied. Engländer weinen selten, ausgenommen unter dem Drucke des heftigsten Kummers, während in einigen Theilen des Continents die Menschen viel leichter und reichlicher Thränen vergießen.

Geisteskranke geben bekanntlich allen ihren Gemüthserregungen mit nur geringer oder gar keiner Zurückhaltung nach; Dr. J. Crichton Browne hat mir nun mitgetheilt, daß für einfache Melancholie selbst im männlichen Geschlechte nichts characteristischer ist, als eine Neigung, bei der allergeringsten Veranlassung oder auch aus gar keiner Ursache zu weinen. Solche Patienten weinen auch ganz unverhältnismäßig beim Eintritt irgend einer wirklichen Ursache des Kummers. Die Länge der Zeit, durch welche manche Patienten weinen, ebenso die Menge von Thränen, welche sie vergießen, ist zuweilen staunenerregend. Ein melancholisches Mädchen weinte einen ganzen Tag und


  1. The Origin of Civilization, 1870, p. 355.
Empfohlene Zitierweise:
Charles Darwin: Der Ausdruck der Gemüthsbewegungen bei dem Menschen und den Thieren. E. Schweizerbart'sche Verlagshandlung (E. Koch), Stuttgart 1877, Seite 140. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DarwinAusdruck.djvu/148&oldid=- (Version vom 31.7.2018)