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6. Kapitel.
Zwei Briefe und zwei Enttäuschte.

Der Briefträger, der die Aspernstraße in München zu besorgen hatte, wunderte sich nicht wenig, daß heute wirklich einmal ein Brief für das hübsche Fräulein mit unter den Postsachen war, welches in Nr. 19 bei der freundlichen Frau Deprouval als Erzieherin nun schon seit Jahren wirkte, ohne daß jemals auch nur ein einziges Schreiben, keine Postkarte, – einfach nichts, garnichts, an das liebreizende Persönchen zu bestellen gewesen wäre.

Der biedere Beamte klingelte jetzt bei Frau Deprouval, die in der ersten Etage zur linken Hand eine elegante Vierzimmerwohnung innehatte.

Dem öffnenden Mädchen bedeutete er dann, daß für Fräulein Rita Meinas ein Einschreibebrief da sei und daß die junge Dame den Empfang bestätigen müsse.

Ritas Augen weiteten sich vor Schreck, als das Mädchen ihr die Bestellung ausrichtete und hinzufügte, der Briefträger warte im Flur.

Und dann saß sie in ihrem Stübchen mit den freundlichen hellen Möbeln und starrte nur immer auf den großen Briefumschlag aus starkem Papier, der ihre Adresse trug … Ein Irrtum war ausgeschlossen. Da stand es klar und deutlich – „Rita Meinas bei Frau Deprouval, München, Aspernstraße 19, 1. Etge.“ … Wer – wer konnte nur an sie geschrieben haben, an sie, die alle Beziehungen zu der Vergangenheit abgebrochen, die keine Freunde besaß, die nur auf den Verkehr mit ihres Zöglings Mutter, der gütigen Frau Deprouval, angewiesen war? …

Endlich raffte sie sich auf. Vorsichtig schnitt sie

Empfohlene Zitierweise:
W. von Neuhof: Das graue Gespenst. Verlag moderner Lektüre G.m.b.H., Berlin 1920, Seite 43. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Das_graue_Gespenst.pdf/44&oldid=- (Version vom 25.7.2016)