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Walther Kabel: Das zweite Gesicht. In: Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens, Jahrgang 1911, Bd. 8, S. 224–226

Gemütsverfassung schwer geschädigt worden sein. Als ihr Sohn nach Südwest aufbrach, äußerte sie zu einer Freundin angstvoll: „Wenn ich nur davon verschont bliebe, Herberts Schicksal vorauszuahnen! Das könnte mein Tod sein.“

Einige Monate später befand sich Frau v. S. mit ihrem Gatten abends im Kurtheater von Kissingen. Man gab einen sehr übermütigen, modernen Schwank. Plötzlich mitten im zweiten Akt umkrampfte sie angstvoll den Arm ihres Gatten, stieß einen lauten Schrei aus und fiel in Ohnmacht. Erst in ihrem Hotelzimmer kam sie wieder zu sich. Zunächst wich sie den Fragen ihres Gatten nach der Ursache des schweren Anfalls aus. Dann erzählte sie schließlich auf sein Drängen hin zögernd, sie habe plötzlich auf der Bühne ein ganz anderes Bild geschaut – eine tropische Landschaft, die von Kämpfenden belebt war, darunter auch ihren Sohn, dem von einem Schwarzen mit einem Speer die Brust durchbohrt wurde.

Vierzehn Tage später trafen aus Südwest die neuesten Verlustlisten ein. Unter den Gefallenen befand sich auch Oberleutnant Herbert v. S. Er war wirklich an demselben Abend geblieben, als seine Mutter im Kissinger Kurtheater das zweite Gesicht hatte.

Frau v. S. starb wenige Tage darauf an einem heftigen Nervenfieber.

W. K.
Empfohlene Zitierweise:
Walther Kabel: Das zweite Gesicht. In: Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens, Jahrgang 1911, Bd. 8, S. 224–226. Union Deutsche Verlagsgesellschaft, Stuttgart, Berlin, Leipzig 1911, Seite 226. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Das_zweite_Gesicht.pdf/4&oldid=- (Version vom 31.7.2018)