Seite:Das zweite Gesicht.pdf/3

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Walther Kabel: Das zweite Gesicht. In: Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens, Jahrgang 1911, Bd. 8, S. 224–226

kühl: „Sie lächeln im Innern über mich, die das Unglück hat, unglückliche Ereignisse vorauszuahnen. Das weiß ich. Ich werde Ihnen morgen einen versiegelten Brief zuschicken, General. Öffnen Sie ihn aber auf Ihr Ehrenwort erst nach zwei Jahren!“

Kuropatkin, der das Schreiben wirklich erhielt, hatte den Vorfall in dem Salon der Gräfin W. trotz der inzwischen auf ihn einstürmenden Ereignisse nicht vergessen. Am 2. Dezember 1905, kurz nach Abschluß des Friedens mit Japan, fanden sich einer Verabredung gemäß alle jene Personen wieder bei der Gräfin W. ein, die vor zwei Jahren Zeugen der geheimnisvollen Worte der Frau v. Fursa gewesen waren. Als letzter erschien Kuropatkin. Vor aller Augen öffnete er den versiegelten Brief und las laut dessen Inhalt vor.

„Petersburg, den 2. Dezember 1903.

Vor einer Woche hatte ich, als ich nachts schlaflos in dem völlig dunklen Zimmer im Bett lag, folgendes Gesicht. Ich sah eine weite, endlose Wasserfläche, auf der sich zwei Kriegsflotten, in langsamer Fahrt aneinander vorübergleitend, mit Geschossen überschütteten. Deutlich erkannte ich die Flaggen der feindlichen Kriegschiffe, die russische und die japanische. Mehrere der russischen Panzer versanken. Dann verschwamm das Bild vor meinen Augen, bis die Nebelgebilde sich wieder zu einem einzigen, arg zerschossenen Fahrzeug mit drei Schornsteinen zusammenfügten, auf dem die russische Flagge wehte. Ich bemerkte mehrere japanische Offiziere, die das Fallreep emporstiegen, sah weiter, daß unsere Flagge heruntergeholt und eine andere gehißt wurde. Hiernach kann ich nur fürchten, daß wir in einem kommenden Kriege wenigstens zu Wasser besiegt werden.

Anna v. Fursa.“

Die Baronin hatte fraglos die unglückliche Seeschlacht bei Tsushima als zweites Gesicht geschaut. –

Die Freifrau v. S., deren Sohn mit zu dem Expeditionskorps gegen die Herero gehörte, war in den Kreisen ihrer Bekannten gleichfalls dafür bekannt, daß sie die Gabe des zweiten Gesichts besitze. Frau v. S. soll durch diese Fähigkeit, Ereignisse im Bilde voraussehen zu können, in ihrer ganzen

Empfohlene Zitierweise:
Walther Kabel: Das zweite Gesicht. In: Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens, Jahrgang 1911, Bd. 8, S. 224–226. Union Deutsche Verlagsgesellschaft, Stuttgart, Berlin, Leipzig 1911, Seite 225. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Das_zweite_Gesicht.pdf/3&oldid=- (Version vom 31.7.2018)