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Walther Kabel: Die Aschenurne. In: Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens, Jahrgang 1911, Bd. 8, S. 180–188

Weile fuhr er fort, immer in demselben müden Tone: „Gestern abend habe ich Ellinors Briefe aus unserer Brautzeit nochmals gelesen. Darüber war es spät geworden. Ich saß auf meinem alten Platz, in dem Klubsessel an dem kleinen Tischchen. Die Lampe hatte ich fast ganz verhüllt, so daß nur ein kleiner Lichtkreis die nächste Umgebung erhellte. Da schlug die Standuhr im Eßzimmer mit ihrem tiefen Gongton langsam zwölf. Zufällig blickte ich in demselben Augenblick nach der Urne hin, und da hob sich mit einem Male langsam der Deckel, ein tiefer Nebel quoll aus dem Innern hervor und sank träge wie dicker Rauch an der Wand auf den Fußboden herab. Immer mehr verdichtete sich diese Dunstmasse, ballte sich nach oben höher hinauf und – – nahm allmählich menschliche Formen an. Erst glaubte ich zu träumen, schaute hierhin und dorthin, um zu prüfen, ob ich tatsächlich wach war. Als meine Augen dann scheu zu der halbdunklen Stelle zurückkehrten, wo eben noch etwas wie ein unklares Nebelgebilde geschwebt hatte, da – da stand Ellinor dort, Ellinor mit einem wehmütigen Lächeln um die Lippen. Ich sah sie so deutlich, sah jeden Zug ihres lieben Gesichts. Nur ihr Gewand war wie ein langer, weiter Mantel und umfloß faltenreich ihre Gestalt … Als ich ihr so in das teure Antlitz blickte, da fühlte ich, daß in mein schmerzzerrissenes Herz milder Friede einzog. Eine linde, wohlige Wärme erfüllte mein Inneres, ein seit langem nicht mehr gekanntes Empfinden ergebungsvoller Ruhe. Leise, ganz leise wagte ich dann ihren Namen zu flüstern. Zart wie ein Hauch kam mein Name zurück, aber doch im zitternden Tone tiefster Zärtlichkeit. Und dies trieb mir die Tränen urplötzlich mit aller Macht in die Augen. Meine Blicke verdunkelten sich. Ich weinte, wie ich noch nie im Leben geweint

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Walther Kabel: Die Aschenurne. In: Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens, Jahrgang 1911, Bd. 8, S. 180–188. Union Deutsche Verlagsgesellschaft, Stuttgart, Berlin, Leipzig 1911, Seite 185. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Aschenurne.pdf/7&oldid=- (Version vom 31.7.2018)