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Thietmar von Merseburg: Die Chronik des Thietmar von Merseburg

Brüder weithin verstreut und das Kloster der Kirche und dem Abt zu Heresfeld untergeben. 1015


23. In einem Kreise des Schwabenlandes, im Amtsbezirk des Grafen Becilin, ereignete sich etwas wunderbares und gar schreckliches. Eine verheirathete Frau starb eines plötzlichen Todes. Ihre Leiche ward, nachdem sie gewaschen und ordentlich besorgt war, von dem Trauergefolge in die Kirche gebracht. Plötzlich aber richtete sie sich von der Bahre empor, alle Anwesenden flohen hinweg; da rief sie ihren Mann und ihre übrigen Verwandten herbei und trug ihnen noch ein besonderes Anliegen auf, und tröstete sie mit sanften Worten; darnach aber entschlief sie wieder in Frieden. Wohl ist, was ich erzähle, wunderbar, allein ich erkenne dergleichen eben für Werke unseres wunderbaren Gottes, und damit man nicht Mißtrauen hege gegen die Wahrheit dieser Erzählung, so will ich ein untadelhaftes Zeugniß dafür vorbringen. Der obengenannte Graf Becilin hat es dem Kaiser für gewiß erzählt, und dieser hat es mir in Gegenwart vieler geistlicher Mitbrüder mitgetheilt. Allerdings ereignet es sich oft, daß der listige böse Feind dem Menschen unter der Gestalt Verstorbener erscheint, da er ihn auf gar mannigfache Art zu berücken versucht, und alle Thoren meinen, daß es auch mit diesem Vorfalle sich so verhalte. Aber wahrlich, ich erkläre hiemit allen Gläubigen, daß, nachdem die Seele ihrem Schöpfer wieder anheimgegeben und am Körper die Pflicht der Bestattung nach Christensitte sorgsam vollzogen ist, dieser entseelte Leib vor der Auferstehung alles Fleisches, die ohne allen Zweifel in Erfüllung gehen wird, durchaus nicht wieder aufersteht, wenn es nicht um der Verdienste des Verstorbenen willen auf eine Zeitlang geschieht; was allein dann eintritt, wenn der Verstorbene in der Welt durch seinen glorreichen irdischen Wandel sich ausgezeichnet hat. So, vermuthe ich, hat nun auch dieses Weib bei Gott viel gegolten, so daß ihr, nachdem sie bereits den Tod geschmeckt hatte, gestattet ward, eine billige Sehnsucht noch zu erfüllen, und dann ohne Schmerzen wieder in den Schlaf des Friedens zu versinken.

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Thietmar von Merseburg: Die Chronik des Thietmar von Merseburg. Verlag von Franz Duncker, Leipzig 1879, Seite 293. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Chronik_des_Thietmar_von_Merseburg.pdf/319&oldid=- (Version vom 6.10.2023)