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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

und des Geistes anzunehmen, die Verschiedenheit derselben zu ergrübeln. Durch die Annahme, der menschliche Geist solle sich stets so zeigen, wie er sich einmal gezeigt hat, sind viele große Männer in den Verdacht der Inconsequenz gefallen. Und doch ist diese Inconsequenz, bei Licht betrachtet, weiter nichts als die Blüthe der vollendeten geistigen Entwicklung. Skepticismus und Freidenkerei sind die Pfade, die zum Lichte der Wahrheit führen. Einige bringen längere, Andere kürzere Zeit auf diesen Wegen zu. Weshalb sich darüber wundern, daß es Menschen giebt, die, nachdem sie lange Zeit auf den Pfaden dieses Irrgartens gewandelt sind, endlich doch noch das Ziel erreichen?

Wenn man Heine von diesem Gesichtspunkte aus betrachtet, wird man ihn dann noch inconsequent nennen?

Heine ist als Dichter der Repräsentant einer Richtung des deutschen Geistes, die sich in ähnlicher Weise in der Philosophie und Politik offenbart. Nur das sind wahre Volksdichter, deren Poesie der Spiegel des Volksgemüthes ist, deren Gedichte dem Herzen des Volks entsprossen sind. Diese Dichter sind Erzeugnisse ihrer Zeit. Was Alles die Menschen bewegt, zu welchen Anschauungen sie sich hinneigen, Alles findet sich niedergelegt in der Brust des Dichters. Deshalb findet auch im Volke jeder wahre Dichter Anklang. Heine’s Popularität ist darum so groß, weil seine Gedichte, mit denen er zuerst vor das Forum der Öffentlichkeit trat, uns ein Bild geben von dem innersten Gemüthsleben des Volkes.

Heine ist in der Poesie der Vertreter der Hegel’schen Philosophie, doch nur als Lyriker, der entsprechende Dramatiker soll noch erst geboren werden. Betrachten wir Heine von diesem Standpunkte aus, so fallen uns die Gegensätze nicht mehr auf, die überall in seinen Poesien hervorblitzen. Der Verstand des Dichters ist angefüllt mit Hegel’schen Ideen; sein Gefühl aber will nichts davon wissen, es ist menschlich und wahr. Daher in seinen Gedichten das Hingezogenwerden zum Irdischen und das Sichzuwenden zum Himmlischen; diese Gemeinheit der fleischlichen Triebe und zugleich diese Reinheit, dieser Adel der Empfindung; diese Verletzung des Herkömmlichen und Gesetzlichen und diese Erhebung des Natürlichen; diese göttliche Tiefe der Gedanken und dieser teuflische Hohn der Lüste. Dies Alles giebt den Heine’schen Gedichten etwas Dämonisches. Ich kenne nur einen Dichter, mit dem Heine hierin die größte Aehnlichkeit hat. Es ist Byron. Man könnte Heine daher auch den deutschen Byron nennen. Nur ist Byron vielseitiger als Heine, der es nur in der lyrischen Poesie zur Meisterschaft gebracht hat.

Es ist, als wenn Heine am Herzen des deutschen Volkes gelegen und die geheimsten Gefühle, die es bewegten, ihm abgelauscht hätte. Bürger wurde Volksdichter, weil er es verstand, den im Munde des Volkes lebenden Sagen poetische Form zu geben; Schiller zog dasselbe Loos, weil die ganze damalige Richtung des deutschen Volkes sich dem Idealismus zuneigte; Heine gewann seine Popularität unter dem Volke daher, daß in seinen Gedichten sich das Schwanken zwischen Idealismus und Realismus ausprägt, welches mehrere Jahrzehnde hindurch der Stempel des durch die politischen Ereignisse zum Aufschwünge gekommenen Volksgeistes war.

Wenn wir Heine so auffassen, dann erklärt es sich von selbst, daß er so viele Nachahmer fand. Was man gewöhnlich Nachahmer nennt, sind sehr häufig auch Producte des Zeitgeistes; sie unterscheiden sich von ihrem Vorbilde zunächst dadurch, daß sie die Form von dem entlehnten, der es zuerst verstanden hatte, den Volksgeist in seiner Tiefe aufzufassen und in geeigneter Weise zu reproduciren. Ist einmal der Grundton der Octave angeschlagen, dann ergeben sich die übrigen Töne von selbst; dem aber bleibt das Verdienst, der den Grundton angab. Heine war der Erste, welcher die Gefühle, welche damals das deutsche Volk bewegten, in sich concentrirte und abspiegelte. Unter seinen zahlreichen Nachfolgern sind einzelne bedeutende Talente, welche, aus dem Geiste der Zeit entsprossen, Heine blos die Anregung verdanken. „Denn zur Zeit der Reife fallen die Früchte in verschiedenen Gärten zu der nämlichen Zeit auf die Erde.“ – Die Nachahmer Heine’s lassen sich in zwei Classen eintheilen. Den Meister zu erreichen ist keinem Einzigen geglückt. Der eine Theil ist von der in den Heine’schen Gedichten athmenden Sentimentalität angezogen worden. Sie haben geglaubt, ihn zu übertreffen, indem sie die Sentimentalität zum höchsten Grad steigerten. Wenn diese Classe sich gleichsam nur das Ideale der Heine’schen Poesie zum Gegenstand ihrer Nachahmung erwählte, so hat die andere Classe die entgegengesetzte Richtung eingeschlagen. Sie haben blos das Frivole, Irdische in Heine aufgefaßt. Keiner von ihnen hat begriffen, daß der ganze Zauber der Heine’schen Poesie gerade darin besteht, daß in ihr Himmel und Erde fortwährend Küsse tauschen.

Durch eine Eigenthümlichkeit unterscheidet sich Heine leicht von allen übrigen lyrischen Dichtern. Er ist als Lyriker zugleich Kritiker. Des Dichters theologische, philosophische und politische Schriften haben nur in kritischer Beziehung einen Werth. Dieses sein Talent für die Kritik hat ihn auch besonders zu Lessing hingezogen, dem er die unbedingteste Hochachtung zollt. Lessing steht in der Literatur einzig und allein als solcher da, der durch Hülfe seiner Kritik poetische Werke schuf, die dem Borne eines poetischen Genies entflossen zu sein scheinen, während er selbst eingesteht, daß er kein Dichter ist. Heine zeigt umgekehrt bei seiner lyrischen Begabung einen so kritischen Geist, daß man ihn den besten Kritikern der Neuzeit beizählen darf. Die Kritik Heine’s unterscheidet sich aber wesentlich von der Lessing’schen. Darin kommen sie überein, daß sie beide gewürzt sind durch das verzehrende Gift der Satire – sie ist für die Kritik das, was das Salz für die Speisen ist – Heine aber schießt seine vergifteten Pfeile meistens auf die Personen ab und glaubt dadurch auch ihr geistiges Wirken zu treffen, während Lessing sich um die Personen nicht bekümmert, sondern nur ihre Werke zur Zielscheibe seiner Kritik wählt. Heine’s Kritik ist ein anfressendes äußerliches Aetzmittel, die Kritik Lessing’s ein verzehrendes inneres Gift, welches freilich den ganzen Organismus zerstört, aber zugleich einen neuen an die Stelle des zerstörten setzt. Wenn Heine bitter ist, so kommt man in Versuchung zu denken, ein Gallenfieber habe sich seines Geistes bemächtigt und lasse alle Gegenstände ihm in ähnlichem Zustande erscheinen; wenn aber Lessing tadelt, so zeigt er uns das Falsche und Verzerrte eines Gemäldes und hilft durch geeignete Pinselstriche dem Falschen ab oder stellt ganz neue Cartons an dessen Platz.

Ob Heine vielleicht durch, seinen eigenen Zustand zum Glauben an einen persönlichen Gott zurückgeführt und ein Apostat wurde der Hegel’schen Philosophie, der er so lange Weihrauch gestreut hatte? Ich weiß nicht, doch scheint es mir ziemlich wahrscheinlich. Die Macht des Geistes über den Körper und dadurch auch die Superiorität desselben war bei ihm zum vollen Bewußtsein gekommen. Eines Tages, als er in den heftigsten Krämpfen lag, sagte er zu mir: „Mein einziger Trost ist der, daß ich nie den Gedankengang verliere, daß mein Verstand stets klar ist. Ich halte dies für so wesentlich, daß ich mich während meiner ganzen Krankheit beständig geistig beschäftigt habe, obgleich meine Aerzte es mir als schädlich abrathen. Ich aber glaube im Gegentheil, daß es bedeutend dazu beigetragen hat, meinen Zustand nicht zu verschlimmern. Denn niemals verspürte ich durch angestrengtes Denken eine nachtheilige Wirkung auf meinen Körper; es wirkte vielmehr ebenso wohlthätig wie Freude und Aufheiterung.“

Stets wird mir der Tag in Erinnerung bleiben, an welchem ich Abschied von Heine nahm. Jedes Mal, wenn ich ihn bisher besuchte, hatte ich ihn im Bette getroffen, entweder in Gesellschaft seiner Frau oder seines Vorlesers. Dieses Mal traf ich ihn allein, mit einem langen, schwarzen Talar angethan, in einem Fauteuil am Fenster sitzend. Die Krämpfe hatten sich mit solcher Heftigkeit eingestellt, daß er es im Bette nicht mehr hatte aushalten können. Die Gardinen waren von den Fenstern weggezogen, und die herbstliche Sonne umstrahlte das Haupt des Dichters und vergoldete die Silberlocken seines Haares. Als ich eintrat, zog er mit matter Hand seine Augenlider empor. Er konnte kaum sprechen. Der Anblick war für mich höchst erschütternd. Ich habe manchen Kranken mit dem Tode ringen, auf Schlachtfeldern die Opfer der Kriegsfurie das Schrecklichste erleiden sehen, – mein Herz wurde tief ergriffen – niemals aber hatte ich eine Empfindung wie die, als ich den Dichter in diesem Zustande sah. Er erinnerte mich an den sterbenden König von Thule. Die Sonne selbst schien Mitleid mit dem Kranken zuhaben; sie lächelte so mild und verklärte das gramgefurchte Gesicht des Dichters wie mit einem Heiligenschein. Als er mir die Hand zum Abschiede reichte, die durch das lange Krankenlager sich so weich wie Sammet anfühlte, rief er aus: „Grüßen Sie meine Freunde in Deutschland von mir!“

Vier lange Jahre mußte Heine noch diese entsetzlichen Leiden ertragen, bis der Tod ihm die Ruhe brachte, die er im Leben vergeblich gesucht hatte.



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verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 489. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_489.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)