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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)

Hausstaat ausnahmslos „selbst gemacht“. Abends wurden dann wohl auch wieder die gesammelten Gänsefedern geschlissen, neue Betten damit zu füllen, aus dem ordinären Kaffee im Laden die besten Bohnen ausgesucht, zum Verkauf als Prima-Qualität, und die Linsen „gelesen“’ (gesäubert) zum Mittagsbrod des nächsten Tages. Im Spätsommer gab es wieder andere Beschäftigung. Obst wurde geschält, geschnitzt und gedörrt; auch Runkeln als Zusatz zum Kaffee wurden gedörrt, Sauerkraut und Gurken in Fässern, Preißelbeeren, Heidelbeeren und Weichseln in Töpfen eingemacht, denn davon wurde jährlich sehr viel verbraucht zur Labung armer Kranker, von denen man natürlich kein Geld nahm. Alles das hatten die Töchter zu machen gelernt und waren auch im Kochen perfect, d. h. sie konnten außer den gewöhnlichen Speisen auch Gastmähler bereiten, Serviettenklöße mit Rosinensauce, Pudding mit Hiftensauce tadellos herstellen, ohne Hülfe der Mutter. Nur den Schwarzenbeerwein, meinte diese, brächten ihre Kinder nicht so heraus, wie sie. Die alte Dame bildete sich auf ihren Wein eben so viel ein, wie der alte Herr auf seinen Magenbittern, „den kein Hofapotheker auch nicht so herausbrächte“, wie er versicherte.

Werfen wir noch einen Blick in das Comptoir, so sehen wir den alten Diener an seinem Pult, auf hohem Schraubstuhl sitzend, in alten Hausschuhen, abgetragenem, vergilbtem Tuchrock mit über die Aermel gezogenen grünleinenen „Schreibärmeln“. Auch er hat im Comptoir allerlei zur Kurzweil um sich herum. Ein Paar Eichhörnchen mit Hütte aus Rinde und Moos gebaut auf dem Fensterbret, zwei drollige Finkmeisen in großem Haus mit Tretmühle darin und einen fettgefütterten alten Kreuzschnabel (Krienitz), der „vor’s Rothlauf“ schützt. – Der alte Herr findet selbst Spaß an solcher Liebhaberei seines Michel’s und gönnt sie ihm.

Michel, so heißt der treue buckelige Diener, hält, genau wie sein Herr, auf zuverlässige Arbeit und ist deshalb wie jener sehr langsam. Ihm liegt ob: das Schreiben der Preiscorrente, der Facturen, der Avis- und Frachtbriefe, die Führung der Weißmacher- und Malerlieferbücher und des Packbuches. Auch überschreibt er die Waarenpaquete mit den Nummern und der Benennung des Inhaltes in der Einbindstube. – Am glücklichsten fühlt er sich, wenn die Töchter in der Einbindstube zur Aushülfe Spielsachen in Papier wickeln helfen, mit ihm scherzen oder ihm gar ein Liedlein singen, wenn der Vater nicht zu Hause ist.

Wir sehen also den Michel im Comptoir, zwar wie immer in seine Arbeit vertieft, aber diesmal, da der alte Herr „über Land“ gegangen ist, über einer Lieblingsbeschäftigung. Holzspähnchen und Handwerkszeug liegen um ihn herum, und treten wir näher, so sehen wir, daß er Vogelkäfige reparirt und eine Mausfalle schnitzt. Denn ihm, dem Michel, war der Mausefang im ganzen Hause anvertraut, von der Speisekammer bis hinauf unter’s Dach, wo die Spielwaaren lagerten. Und er besorgt ihn gewissenhaft und mit viel List, deren er sich unter seinen Collegen gern rühmte, denn die Mäuse waren die ärgsten Feinde eines jeden Sonneberger Spielwaarenhändlers. Sie strebten den Teigmassespielwaaren als Leckerfraß nach, weil die Teigmasse aus Brodmehl und Leim bestand, und so kam es nur zu häufig vor, daß Mäuse unter dem Schutze der Papierhüllen allen Reiterlein die Köpfe, Arme und Beine abgefressen hatten, wenn man diese für’s Ausland in Kisten verpacken wollte.

Wie oft exportirte Sonneberg zahlreiche Mäusefamilien lebendig in den Paqueten, worin sie „ihre Wohnung nebst Schlaf- und Speisekammer“ aufgeschlagen hatten und sich urgemüthlich befanden. Und wie ärgerten sich die Sonneberger Kaufherren, wenn der Besteller schrieb, daß man statt Reiterlein lebende Mäuse mit den Jungen geschickt habe, die während der Reise den Inhalt aufgezehrt hätten! – Nicht genug – die Teigmassespielwaaren hatten noch eine den Handel nicht minder gefährdende Eigenschaft. Auf dem Transporte zu Wasser verschimmelten sie leicht, und Milben erzeugten sich in der Teigmasse selbst. Solch Mäuse-Aergerniß war die einzige Veranlassung, daß dem alten Kaufherrn von Zeit zu Zeit ein derber Fluch über die Lippen fuhr, der den armen Michel jedesmal wie ein Blitzstrahl streifte. Darauf hin verspürte er nicht eher wieder frischen Lebensmuth, als bis er die Missethäter gefangen und dem alten Herrn lebendig ausgeliefert hatte.

Dieser beeilte sich alsdann seine alte Katze zu wecken, die zumeist auf dem Lehnsessel beim Ofen schlafend lag. Er hielt ihr die geöffnete Mausfalle vor Nase und Augen, auf daß sie die Maus erhasche. Die alte Katze aber war zu unbehend und zu faul geworden: – die Mäuse entwischten ihr regelmäßig. – Nun waren sie im Comptoir dem alten Herrn erst recht zum Aergerniß, denn jetzt war auch sein Frühstück, Schwarzbrod mit Speck, im Schubfache seines Pultes nicht mehr sicher vor ihnen, und er schwor Rache den vermaledeiten Mäusen, die erst seine Reiterlein und zum Dessert auch seinen Speck verzehrten. Das ganze Geschäftspersonal wurde zur Mäusejagd in das Comptoir gerufen; jedes Löchlein wurde verstopft und jede Person erhielt einen Besen zum Zuschlagen, wenn die Maus ihr nahe käme.

Der Leser wolle über unsere Mäusegeschichte nicht voreilig urtheilen und sie belächeln, denn: waren die capitolinischen Gänse für Rom ein Sporn zur Wachsamkeit, so waren die die Teigspielwaaren fressenden Mäuse für Sonneberg eine Ursache der Strebsamkeit und des Nachdenkens und dadurch mittelbar ein Hebel seines Fortschritts.




Bis zur Schwelle des Pfarramts.


Von Heinrich Lang in Zürich.


IV.[WS 1] 3. Die religiöse Frage.
Motto: Gott bekehre dich zu der heiteren
Religion eines Herder, Jakobi, Kant!
(Jean Paul in einem Briefe an seinen Sohn.)


Näher und näher rückten wir unserem Ziele, der Theologie. Nach der allgemeinen philosophischen Grundlegung kam die Religion an die Reihe. Ein eigenes Semester war den Untersuchungen über ihren Ursprung und ihr Wesen gewidmet. Schon in die bisherigen Studien hatte ihre geheimnißvolle Gestalt auf alle Weise hineingespielt. Alle die großen Denker, Spinoza, Leibnitz, Kant, Fichte, Hegel, Schleiermacher, Feuerbach, hatten sich irgendwie mit ihr auseinandergesetzt; jedes philosophische System hatte eine bedeutsame Stelle für sie offen gelassen.

Freilich, die Religion, die man aus diesen Händen empfing, war nicht die Religion der Kirchen. In den stillen Werkstätten des deutschen Geistes wurde an einer Reformation gearbeitet, welche nicht weniger eingreifend war, als diejenige des sechszehnten Jahrhunderts, ja geradezu als die zeitgemäße Fortsetzung des damals Begonnenen erscheinen mußte.

Ich will versuchen, in der Kürze die Veränderungen anzugeben, welche in diesen Arbeitsstätten der Wissenschaft mit der Religion vorgenommen wurden.

Wenn man zuvörderst fragte: woher stammt die Religion? so antwortete die Kirche: vom Himmel, aus einer übernatürlichen Offenbarung Gottes, welche in Thaten, wie in Worten für alle Zeiten niedergelegt ist in einem auf wunderbarem Wege entstandenen, unfehlbaren Buche, der einzigen Quelle, wie der unverrückbaren Norm der wahren Religion. Die Wissenschaft sagte: nein, die Religion ist ein Erzeugniß des menschlichen Geistes, wie der Staat, wie die Kunst, wie die Wissenschaft, daher rein menschlichen Ursprungs und göttlichen nur soweit, als alles wahrhaft Menschliche zugleich göttlich ist, sofern sich im Menschengemüthe das Göttliche offenbart. Im Menschen liegt ein Verlangen nach einer festen Ordnung für sein getheiltes und zerfahrenes Wollen und nach einem unbedingten Maßstabe für den Werth seiner Handlungen, eine unabweisbare innere Forderung, sein Dasein und Schicksal, sein Wohl und Wehe, sein Dulden und Arbeiten in einen lebendigen Zusammenhang mit dem Weltganzen und den darin waltenden Mächten zu stellen, ein Streben, wie Goethe sich ausdrückt, sich einem Höheren, Reinen, Unbekannten freiwillig hinzugeben. Aus diesem Verlangen, aus dieser Nöthigung entspringt Alles, was unter den Menschen irgendwo als Religion erscheint, alle Bilder, welche

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: VI.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 148. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_148.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)