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ein Gott, der seine Vollendung durch Schmerzen verwirklicht.

Die Entwicklung des Menschen ist langsam. Die Ungerechtigkeit der Menschen ist gross. Es war notwendig, dass das Leiden als Form der Selbstverwirklichung hingestellt wurde. Selbst jetzt ist an manchen Punkten der Welt die Botschaft Christi notwendig. Niemand, der im modernen Russland lebt, kann seine Vollkommenheit erreichen, es sei denn durch Leiden. Ein paar russische Künstler haben sich in der Kunst verwirklicht, in Romanen, die im Charakter mittelalterlich sind, denn ihr vorherrschender Zug ist die Verwirklichung der Menschen durch das Leiden. Aber für die andern, die keine Künstler sind, und für die es keine andere Form des Lebens gibt als das tatsächliche Leben der Wirklichkeit, ist das Leiden das einzige Tor zur Vollendung. Ein Russe, der sich unter dem gegenwärtigen Regierungssystem in Russland glücklich fühlt, muss entweder glauben, dass der Mensch keine Seele hat, oder dass sie, wenn er eine hat, nicht wert ist, sich zu entfalten.

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Oscar Wilde: Drei Essays. Karl Schnabel, Berlin 1904, Seite 95. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Drei_Essays_Oscar_Wilde.pdf/101&oldid=- (Version vom 31.7.2018)