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Hugo Friedländer: Interessante Kriminal-Prozesse von kulturhistorischer Bedeutung, Band 10

von den Müllers ausgeführt waren. Die Vertreter der Künstlerlinie waren allmählich zur Porträtmalerei und später zur architektonischen Kunst übergegangen, durch Degeneration war die Familie von höchster Höhe zu dem jetzigen Stande heruntergekommen, und weil die außergewöhnliche Begabung und Intelligenz sämtlicher Männer ihnen hohe Einkünfte brachte und sie dem Leichtsinn nachhingen, Unsummen zu verspielen und zu vergeuden. Sie selbst hatte, zart besaitet, diesen Niederschlag schwer empfunden und ernst an sich gearbeitet, den eventuell ererbten Leichtsinn zu unterdrücken. Wiederholt hatte sie mich dringend gemahnt, daß ich auch eine Müller sei und meine Intelligenz nur zu gutem Tun verwenden dürfte. Diese Tante nun wünschte mich nach meiner Einsegnung bei sich zu haben, und so ging ich mit 14 Jahren zu ihr. Sie starb, nachdem sie ihre Freundin gebeten, mich im Auge zu behalten.

Aus Pietät der Toten gegenüber blieb ich ein halbes Jahr bei der neuen Tante, die dann auf Reisen ging. Ich sollte nun etwas lernen, und zwar wurde, da ich häufig ganz guten Geschmack bewiesen, die Schneiderei als günstiger Beruf angesehen. Ich arbeitete nun praktisch ein Jahr bei einem ersten Gesellen meiner Tante, die in den achtziger Jahren mit zu den Inhabern erster Ateliers gehörte. Es stellte sich aber bald heraus, daß die Entwürfe, die der Kopf brachte, von den Händen nicht ausgeführt werden konnten, also ein Brotverdienen damit, wenigstens in jungen Jahren, nicht möglich war. Inzwischen heiratete die Tante, die sich an ein Alleinsein nicht gewöhnen konnte, einen gleichalterigen Jugendgespielen. Sie zogen nach Niederlehme bei Königswusterhausen in das Landhaus des Mannes und luden mich ein, mich bei ihnen, wenn ich wollte, zu erholen, da ich sehr durch meine Schneiderei körperlich heruntergekommen war. Ich nahm die Einladung an und richtete mich sehr gut dort ein.

Hedwig Müller schilderte dann ihren Aufenthalt in Niederlehme

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Hugo Friedländer: Interessante Kriminal-Prozesse von kulturhistorischer Bedeutung, Band 10. Hermann Barsdorf, Berlin 1914, Seite 209. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Friedlaender-Interessante_Kriminal-Prozesse-Band_10_(1914).djvu/213&oldid=- (Version vom 15.2.2023)