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Hugo Friedländer: Interessante Kriminal-Prozesse von kulturhistorischer Bedeutung, Band 6

Leute in sich aufzunehmen. Es ist doch eine bekannte Tatsache, daß jeder sogenannte Kavalier Kredit bei dem Lieferanten in Anspruch nimmt und Geld bei den Schiebern sucht. Die ersten Firmen Unter den Linden haben zu diesem Zwecke ein ständiges großes Verlustkonto. Eine bekannte Anekdote erzählt folgendes: Bei Ausbruch des Krieges 1870/71 sei der einzige große Militärschneider zum alten Kaiser Wilhelm gegangen und habe ihm sein Leid geklagt, daß er bankerott machen müßte, wenn die Offiziere erschossen werden würden; so ständen sie bei ihm in der Kreide. Der alte Kaiser Wilhelm hat nicht, wie der Staatsanwalt konsequent hätte tun müssen, die Offiziere ins Gefängnis gesteckt, sondern durch das Kriegsministerium die Garantie für die Offiziere dem Schneider gegenüber geleistet. Der Verteidiger beleuchtete darauf die einzelnen Fälle vom juristischen Standpunkte und schloß: Eine Verurteilung des Angeklagten würde einen argen Fehlspruch, ja einen Rechtsbruch darstellen, wie ihn die preußische Justiz noch nicht erlebt hat. – Verteidiger R.-A. Dr. Alsberg beleuchtete die scharfe Gegensätzlichkeit, die in der Verhandlung unaufhörlich hervorgetreten sei. Es sei ja nichts Außergewöhnliches, daß Gericht und Verteidigung mit ganz verschiedenen Empfindungen in den Gerichtssaal kämen. Die Richter brächten die Eindrücke mit, die aus dem toten und oft einseitig gesammelten Aktenmaterial stammten, die Verteidiger dagegen die Empfindungen, die sie aus den vertrauensvollen Besprechungen mit ihren Klienten gewonnen hätten. In diesem Prozeß sei aber noch etwas hinzugekommen, was den ursprünglichen und vielleicht unvermeidlichen Zwiespalt zwischen Gericht und Verteidigung in einem ungewöhnlichen Maße verschärfte. Die Anklagebehörde, die Schwesterbehörde der Gerichtsbehörde, erlebe ein nicht gerade erfreuliches Fiasko, wenn der Angeklagte in diesem Verfahren wegen Betruges freigesprochen werde. Auf einem allzu geringen Verdacht hin sei die Auslieferung des Angeklagten

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Hugo Friedländer: Interessante Kriminal-Prozesse von kulturhistorischer Bedeutung, Band 6. Hermann Barsdorf, Berlin 1912, Seite 253. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Friedlaender-Interessante_Kriminal-Prozesse-Band_6_(1912).djvu/257&oldid=- (Version vom 30.12.2022)