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und in dem ungemessenen All zu behaupten. Die Wissenschaft, welche die unabsehbaren Tiefen der Welt vor uns aufdeckt, leitet uns zu den Grundgedanken des Christentums hin, zu Demut und Vertrauen. Und wie jene zuletzt zum Segen der Christenheit wirkt, so dürfen wir Gutes auch von ihrem Zweig, der Theologie, für die Kirche erwarten. Wir können uns beide nicht ohne einander denken; wäre jene nicht gottgewollt, so wäre ihre bald 1900jährige Thätigkeit ein grausamer Irrtum gewesen. Aber sie hat die Aufgabe, die religiöse Auffassung in das gesamte Geistesleben einzugliedern; sie stehet mit diesem in stetem Austausch der Gaben; sie erhält den Glauben gesund und bewahrt ihn vor schwärmerischen Auswüchsen, in die er leicht hinauswuchert; sie entwickelt die Erkenntnis weiter und macht sie reiner und klarer. Auch sie steht nicht in der Hand persönlicher Willkür; auch ihr darf nicht grundsätzliche Feindschaft gegen die überlieferten Vorstellungen der Kirche gebucht werden; sie folgt ihrem eigenen Triebe. Das Wort Chr. Ferd. Baurs besteht zu Recht: „Die Geschichte der christlichen Dogmen erscheint, je tiefer man in sie eindringt, um so mehr auch als die eigene innere Kritik derselben, die mit unwiderstehlicher Macht fort und fort weiter treibt und dem denkenden Bewußtsein immer wieder eine neue Aufgabe vorhält, nach deren Lösung erst zu ringen ist.“ Für uns evangelische Christen giebt es nur eine Autorität, die der Wahrheit, und diese ist nicht immer bei den äußeren Autoritäten, die gern den erworbenen Besitz der Erkenntnis als Abschluß betrachten, während die Erkenntnis der Wahrheit ebenso in stetem Werden steht, wie das Christsein. Der Apostel Paulus war ein Protestant gegenüber den Aposteln in Jerusalem; wenn irgendwer, so konnten diese unmittelbaren Jünger Christi ihre Meinung als die maßgebende hinstellen. Paulus berief sich gegen sie auf die Glaubenserfahrung, zu der ihn die Erscheinung Jesu in himmlischer Herrlichkeit vor Damaskus führte. Und diese Erfahrung ward ihm zu teil nach der Zeit, da die Jünger in leiblichem Verkehr mit dem Erlöser gestanden hatten. Der erhöhete Herr wirkt aber in der ganzen Geschichte seine Christenheit; das Lauschen auf diese weltgeschichtliche Arbeit

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Friedrich Meyer: Die Kirche und die moderne Zeit. Georg Wigand, Leipzig 1898, Seite 21. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Friedrich_Meyer_-_Die_Kirche_und_die_moderne_Zeit.pdf/21&oldid=- (Version vom 10.7.2016)