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Am Morgen des neuen Jahres.[1]

Wie die Augen der Knechte auf die Hand
ihres Herrn, wie die Augen der Magd auf
die Hand ihrer Gebieterin, so schauen unsere
Augen auf zu Gott, unserm Herrn.
 (Ps. 123, 2.)

Wie wir das alte Jahr unter Thränen und Gebet geschlossen, Herr, vor dir, so finden uns auch die ersten Stunden des jungen Jahres wieder in deinen heiligen Hallen versammelt, um dir unsere ersten Gefühle zu weihen und vor deinem Vaterauge unsere Herzen zu öffnen.

Wie Vieles, o Gott, haben wir von dir zu erbitten und zu erbeten zum neuen Jahre! Wie das Kind dem Vater nahen wir dir und öffnen dir Herz und Seele, vertrauen wir dir all unser Weh und Leid, unser Denken und Empfinden. Was verborgen und geheim uns niederdrückt, was die Seele sich scheut auf die Lippen zu legen, das erzählt dir heute die glühende Thräne unsres Auges, das thun wir dir heute unter Seufzen und bitterm Weinen kund. – Doch was uns vor Allem die Seele bewegt, ist das Bewußtsein, daß heute der Tag des Gedächtnisses ist, daß heute vor dich hintritt das verlebte Jahr mit all unserm Thun und Wirken, um für oder gegen uns zu zeugen. Mit Angst und Zagen blicken wir darauf zurück, und mit Bangen und Beben fragen wir uns: Was wird das verlebte Jahr von uns aussagen? Haben wir es zum Guten und Segensreichen angewendet? Haben wir seine Tage zu unserm ewigen Heile, zu unserer Veredelung und Besserung benützt, oder haben wir sie leichtsinnig vergeudet in der eiteln Mühe, nur die vergängliche Frucht des Lebens zu erhaschen, oder sind sie uns verflogen wie der Traum, vorübergezogen wie die Wolke, ohne Werth und Bedeutung, ohne Nutz und Frommen? – Das Jahr ist unwiederbringlich hin, aber das Werk des Menschen, das er geschaffen, das gute wie das böse, das bleibt zurück, und schwer und schmerzlich legt sich das Gedächtniß unsres


  1. Am 1. Tischri beginnt im jüdischen Kalender ein neues Jahr. Dieser Tag ist daher als „Gedenktag” (יום הזכרון‎) der göttlichen Wohlthaten, die uns aus dem alten Jahr ins neue Jahr hineingeleiten, dem innigsten Danke und den ernstesten Betrachtungen geheiligt.
Empfohlene Zitierweise:
Fanny Neuda: Stunden der Andacht. Wolf Pascheles, Prag 1858, Seite 42. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Neuda-Stunden_der_Andacht-1858.pdf/54&oldid=- (Version vom 1.8.2018)