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Walther Kabel: Sensationelle Kriminalprozesse (Deutscher Hausschatz, 20. Heft, 37. Jahrgang)

ein. Es half nichts. Abermals ward über Vingin das Todesurteil ausgesprochen. Der Verurteilte kam nun in eine der Delinquentenzelle, wurde stark gefesselt und erhielt einen ständigen Wärter. Dieser, Francois Beson, hatte so reichlich Gelegenheit, sich mit dem Todeskandidaten zu unterhalten. Durch diese Gespräche gewann der Gefangenaufseher von Tag zu Tag stärker die Überzeugung, daß Vingin unschuldig sein müsse. Der gutherzige Mann hielt sich für verpflichtet, seine Beobachtungen dem Gefängnisdirektor mitzuteilen. Dieser aber zuckte nur die Achseln. Er könne in der Sache nichts mehr tun. Da wandte sich Beson sogar an den Präsidenten des Gerichts, um wenigstens einen Aufschub der Vollstreckung des Urteils zu erreichen. Auch dieser Schritt war umsonst.

Der Morgen der Hinrichtung war gekommen. Auf dem Gefängnishofe stand das Blutgerüst, waren die Bürger versammelt, die dem traurigen Akt als Mengen beiwohnen sollten. Aber merkwürdigerweise erschien niemand von den Gerichtspersonen. Nachdem eine Viertelstunde über die festgesetzte Zeit verstrichen war, überbrachte ein Beamter den Wartenden die Nachricht, die Vollstreckung müsse verschoben werden, da das von Kaiser Napoleon III. unterzeichnete Todesurteil aus dem Bureau des Gefängnisses auf unerklärliche Weise verschwunden sei und nach dem Gesetz die Hinrichtung nur nach Verlesung dieses Urteils stattfinden dürfe. – Auch die sofort eingeleitete Untersuchung ergab keine Anhaltspunkte dafür, wo die in einem versiegelten Umschlag eingeschlossene Urkunde, welche wie üblich in einem besonderen Schrankfach aufbewahrt worden war, geblieben sein könne. Nachdem so drei Tage hingegangen waren, ließ das Gericht dem Kaiser eine neue Anfertigung des Urteils zur Unterschrift, zugleich mit einem eingehenden Bericht des Geschehenen vorlegen. Hierdurch wurde der Kaiser auf diesen Kriminalfall besonders aufmerksam. Er ließ sich die Akten einreichen und begnadigte Vingin dann zu lebenslänglichem Zuchthaus, da es an tatsächlichen Beweisen für die Schuld des Verurteilten mangele. –

Nach einem halben Jahre wurde in Lyon ein Mann festgenommen, der einem Juwelier einen wertvollen Brillantring zum Kauf angeboten und sich dabei durch ein scheues, ängstliches Wesen verdächtig gemacht hatte. Bei der Leibesvisitation auf der nächsten Polizeiwache fand man bei dem Betreffenden noch verschiedene Pretiosen, die, wie bald festgestellt wurde, damals bei dem Raubmorde in der Rue Herbert in Paris gestohlen waren. Da der Verhaftete jede Auskunft darüber verweigerte, wie er in Besitz der Kostbarkeiten gelangt war, transportierte man ihn zur weiteren Untersuchung der Angelegenheit nach Paris. Hier wurde er dann Jaques Vingin gegenübergestellt, und dieser sagte ohne Zögern auf die Frage, ob er den Mann vielleicht kenne, es sei derselbe, der ihm seinerzeit die Uhr zum Versetzen übergeben habe. Nunmehr wurde ein neues Verfahren eröffnet, welches mit der Freisprechung Vingins und der Verurteilung des wahren Mörders, eines vielfach vorbestraften Einbrechers, endete. Dieses Urteil brachte aber noch eine größere Überraschung: denn jetzt meldete sich der Gefängnisaufseher Francois Beson und gestand ein, damals das Todesurteil aus dem Bureau des Gefängnisses in der Nacht vor der Hinrichtung entwendet und verbrannt zu haben. Er habe auf diese Weise verhindern wollen, daß ein Justizmord geschehe, da er von der Unschuld Vingins felsenfest überzeugt gewesen sei und da er auch gehofft habe, der wahre Täter würde vielleicht inzwischen entdeckt werden. – Napoleon III. beschenkte Beson mit einer großen Summe und übertrug ihm zugleich die Verwalterstelle in dem kaiserlichen Jagdschlößchen Surenne, während Vingin, der gelernter Gärtner war, ebendort Parkaufseher wurde und gleichfalls eine reichliche Geldentschädigung für die ausgestandene Todesangst und die zu Unrecht verbüßten sechs Monate Zuchthaus erhielt.

In einer nordamerikanischen Stadt war kürzlich ein angesehener Bürger namens Hopkins wegen Mordes unter Anklage gestellt worden[ws 1]. Er sollte seinen Geschäftsteilhaber, mit dem er ernstliche Differenzen gehabt hatte, nachts auf der Straße hinterrücks überfallen und niedergeschossen haben. Es fanden sich Zeugen, die in der Voruntersuchung unter ihrem Eide aussagten, sie hätten den schrecklichen Vorfall aus einiger Entfernung beobachtet und der Mörder hätte dem Angeschuldigten Hopkins in Gestalt und Kleidung völlig ähnlich gesehen. Hopkins bestritt jede Schuld. Er habe in jener Nacht noch bis ein Uhr morgens allein in seinem Kontor gesessen und die Geschäftsbücher nach falschen, von seinem inzwischen ermordeten Kompagnon bewirkten Eintragungen durchsucht. Zeugen für dieses sein Alibi könne er jedoch nicht angeben. – Erschwerend für Hopkins fiel ins Gewicht, daß man in seiner Wohnung einen offenbar erst kürzlich gereinigten fünfschüssigen Revolver entdeckte, dessen Kammer nur noch vier Patronen enthielt. Das Kaliber stimmte auch genau zu der tödlichen Schußwunde, in der man allerdings die Kugel selbst nicht mehr gefunden hatte. Sie war glatt durch den Brustkorb des Überfallenen hindurchgegangen und hatte sich wahrscheinlich in die neben der Straße liegenden Parkanlagen verirrt. – Am Tage der Gerichtsverhandlung beantragte der Verteidiger des Angeklagten ihm den beschlagnahmten Revolver zu einigen Schießversuchen auszuhändigen, die er im Beisein des Gerichts auf dem Hofe des Justizgebäudes vornehmen wollte. Er würde durch diese Versuche beweisen, daß die Tat unmöglich mit dem betreffenden Revolver ausgeführt sein könne. Auf dem Hofe wurden dann wirklich einer männlichen Leiche, die in ihren Größenverhältnissen genau dem Körper des Ermordeten entsprach und die der Advokat gegen eine hohe Summe für seine Zwecke angekauft hatte, dieselben Wäschestücke und Kleider angezogen, welche der Tote in jener verhängnisvollen Nacht getragen hatte, und auf den so präparierten Leichnam aus verschiedener Entfernung aus Hopkins’ Revolver drei Schüsse abgegeben. Hierbei zeigte es sich, daß die Kugeln aus der angeblichen Mordwaffe, einem billigen, schlechten Fabrikat, gar nicht die genügende Durchschlagskraft besaßen, um den seidengefütterten Paletot, Rock, Weste und Hemd zu durchdringen, noch viel weniger aber imstande waren, den bekleideten Körper glatt zu durchbohren, wie dies das tödliche Geschoß getan hatte. Nach diesen Vorführungen gab dann der Advokat aus einer modernen, gezogenen Mehrladepistole einen vierten Schuß auf den Leichnam ab. Und das Nickelmantelgeschoß dieser Waffe durchschlug wirklich den Körper und bohrte sich sogar noch ein Stück in eine dahinter stehende Mauer ein. – Nachdem so der Beweis erbracht war, dass die Tat mit Hopkins’ Revolver nicht vollbracht sein konnte, und da die anderen Indizienbeweise nicht zur Verurteilung genügten, wurde der Angeklagte freigesprochen. Er verdankte sein Leben nur seinem eifrigen Verteidiger, der tagelang die Durchschlagskraft aller möglichen Handfeuerwaffen durchprobiert und auf Grund der hierbei sich ergebenden Resultate die wichtigen Schießversuche an der Leiche beantragt hatte. Der wahre Mörder wurde dann wenige Wochen später in der Person eines Pferdehändlers entdeckt, den der Ermordete durch verschiedene betrügerische Geschäftsmanipulationen an den Bettelstab gebracht hatte. Die Tat stellte sich als ein wohlüberlegter Racheakt dar, den der Mörder am dem elektrischen Hinrichtungsstuhl büßte.


Anmerkungen (Wikisource)

  1. Die Geschichte des Bürger Hopkins wurde von Walther Kabel teilweise wortgleich auch in den Beitrag Gewissenhafte Advokaten eingearbeitet. Dieser erschien in: Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens, Jahrgang 1911, Bd. 12, S. 213–218
Empfohlene Zitierweise:
Walther Kabel: Sensationelle Kriminalprozesse (Deutscher Hausschatz, 20. Heft, 37. Jahrgang). Friedrich Pustet, Regensburg, Rom, New York, Cincinnati 1911, Seite 919. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Sensationelle_Kriminalprozesse.pdf/3&oldid=- (Version vom 1.8.2018)