Seite:Was Tiere träumen.pdf/2

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Walther Kabel: Was Tiere träumen (Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens, Band 6)

Was Tiere träumen. – In dem Pariser Villenvorort Trunay, der sich unter schattigen Bäumen am linken Ufer der Seine hinzieht, haust seit einigen fünfundzwanzig Jahren ein Sonderling, der von alt und jung mit gleicher Achtung und Freundlichkeit behandelt wird, obwohl er jeglichen Verkehr meidet und sich auch nur selten auf den Straßen blicken läßt. Doktor Charles Bernhard ist sein Name. Bevor er sich das in einem weiten Park liegende Haus am Nordausgange des Ortes kaufte, war er Arzt in Marseille. Das ist aber auch das einzige, was man von seiner Vergangenheit bestimmt weiß. Alles übrige hat die Sage sich zusammengereimt – einen ganzen Roman, in dem freilich manches Körnlein Wahrheit enthalten sein mag. Doktor Bernhards Frau soll nach kaum dreijähriger Ehe auf und davon gegangen sein, weil der ernste, stille Mann ihr Leben nicht auszufüllen vermochte.

Man erzählt sich, der kaum dreißigjährige Arzt habe diesen Schlag nie verwinden können. Da ihn in Marseille zu vieles an die ungetreue Gattin erinnerte, verkaufte er seine Praxis und flüchtete in die idyllische Einsamkeit der kleinen Villenkolonie, wo er sich, vielleicht um seine Herzensleere auszufüllen, mit einer ganzen Menagerie einheimischer und ausländischer Tiere umgab, die er sorgfältig pflegte, und die ihm offenbar den Umgang mit Menschen bald völlig ersetzten.

Doktor Bernhard hat ein Buch erscheinen lassen, das trotz des eigenartigen Titels „Was Tiere träumen“ und trotz seines lehrreichen und vielseitigen Inhalts nicht beachtet, nicht gekauft und seltsamerweise nicht einmal übersetzt worden ist. Der Verleger konnte schon die erste Auflage nicht unterbringen, und schließlich wurde das Werk, das jedem Tierfreund Stunden stiller Freude bereiten muß, in einem Pariser Warenhaus neben Detektivgeschichten für zwanzig Sou angeboten.

„Ich liebe die Tiere, besser, ich habe sie lieben gelernt,“ steht im Vorwort zu lesen. „Ein Hund, den ich herrenlos, halbverhungert auf dem Felde fand und mit heimnahm, war das erste Geschöpf, das meine Einsamkeit teilte. Und wie hat dieses äußerlich so häßliche Tier mir meine Barmherzigkeit gedankt,

Empfohlene Zitierweise:
Walther Kabel: Was Tiere träumen (Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens, Band 6). Union Deutsche Verlagsgesellschaft, Stuttgart, Berlin, Leipzig 1916, Seite 203. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Was_Tiere_tr%C3%A4umen.pdf/2&oldid=- (Version vom 1.8.2018)