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Walther Kabel: Was Tiere träumen (Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens, Band 6)

wie hat es schließlich verstanden, aus meinen Zügen, dem Ausdruck meiner Augen meine Seelenstimmung zu erraten. Oft wenn ich in schmerzlichem Sinnen an meinem Schreibtisch saß, drückte sich plötzlich sein buschiger Kopf in meine Hand – schmeichelnd, tröstend. So war ich nie allein; so begriff ich, wie wir Menschen unserem Dasein auch ohne unsersgleichen einen befriedigenden Inhalt zu geben vermögen, so wurde ich Tierfreund im großen. Meine Tierliebe umfaßt alles, was da kreucht und fleucht. Selbst an Geschöpfen, denen die Wissenschaft die häßlichsten Eigenschaften angedichtet hat, entdeckte ich gute Seiten – nur weil ich mir die Mühe gab, jedes Tier nach seiner besonderen Individualität zu behandeln … Und dann, als mir fünf Jahre in stillem Frieden dahingegangen waren, als ich bereits in Haus, Hof und Garten gegen dreihundert der verschiedenartigsten Tiere beherbergte, kam mir der Gedanke, alles das niederzuschreiben, was ich an kleinen interessanten Zügen an meinen Pfleglingen beobachten konnte.“

Aus einem Teil dieser Notizen sei hier erzählt:

„Wenn Träume eine höhere Intelligenz voraussetzen, so besitzen diese alle Tiere, soweit ich sie belauschen konnte; denn bei meinen sämtlichen Pfleglingen bemerkte ich im Schlaf gewisse Bewegungen, hörte ich bestimmte Laute, die nur als der Ausfluß einer regen Gehirntätigkeit zu deuten sind. Vom winzigen Kolibri bis hinauf zu einem würdevollen Steinadler träumen alle meine Vögel. Mit geschlossenen Augen sitzen sie nachts da. Einige halten die Köpfe unter den Flügeln verborgen, haben ihr Gefieder aufgeplustert und ähneln so bunten Federkugeln. Andere vergraben den Schnabel nur in die Brustfedern, wieder andere legen den Kopf auf den Rücken. An das milde Licht einer halbverschleierten Lampe, mit der ich mich ihnen nahe, sind sie längst gewöhnt. Sie wachen nicht mehr auf, wenn der schwache Lichtschein sie trifft. Hier und da hebt eines im Schlaf den Fuß, bewegt die Flügel. Leises Piepen wird vernehmbar. Die kleinen Singvögel sind’s. Dann krächzt der Adler mißtönend in seinem großen Käfig. Sein Gefieder sträubt sich raschelnd. Und doch bleiben seine Augen von den hellen Lidern

Empfohlene Zitierweise:
Walther Kabel: Was Tiere träumen (Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens, Band 6). Union Deutsche Verlagsgesellschaft, Stuttgart, Berlin, Leipzig 1916, Seite 204. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Was_Tiere_tr%C3%A4umen.pdf/3&oldid=- (Version vom 1.8.2018)