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Noch ein Händedruck, und Harald Harst kehrte in sein Dienstzimmer zurück, wo er das Aktenstück „Luckner-Birt“ wegschloß und sich dann zum Ausgehen fertig machte. Er tat dies mit der ihm eigenen Sorgfalt, die er seinem äußeren Menschen stets schenkte. Es war ihm Bedürfnis, sich tadellos zu kleiden und die Gewißheit zu haben, daß jede Kleinigkeit an ihm selbst vor dem kritischsten Blick bestehen konnte. Er besaß dabei einen ausgesprochen vornehmen Geschmack, und nichts an seiner Erscheinung verriet, daß er aus einer sehr einfachen, wenn auch reichen Familie stammte. Seine schlanke, mittelgroße Gestalt und das frische, magere Gesicht mit dem kurz gestutzten blonden Bärtchen ließen ihn weit jünger erscheinen, als er es in Wirklichkeit war. Sein gemessenes Wesen, die Ruhe seiner Bewegungen und seine langsame, überlegte Art zu sprechen, seine unerschütterliche Gelassenheit und der kühle, scheinbar all und jedem gegenüber gleichgültige Blick der grauen, dunkelbewimperten Augen waren das Ergebnis strengster Selbstzucht. Sein Gesicht mit den vorspringenden Backenknochen, der allzu kräftigen Kinnpartie, der hohen, eckigen Stirn und der messerscharfen Hakennase durfte auf Schönheit keinen Anspruch erheben. Aber es war eines[1] von denen, die Eindruck machen, auffallen und dem Menschenkenner sofort überlegene Geistesgaben verraten. – Das war Harald Harst, den seine Kollegen oft den großen Schweiger nannten, da er wenig mitteilsam, ja sogar eine verschlossene, insichgekehrte Natur war.

Als er nun in den warmen Mittagssonnenschein hinaustrat, der den Platz vor dem Kriminalgericht in Berlin-Moabit in blendende Helle tauchte, war es genau 12 Uhr mittags. Um halb eins hatte er sich mit Marga vor dem Kaufhaus des Westens verabredet. Sie wollten dort gemeinsam einige Besorgungen erledigen. Er hatte also noch genügend Zeit, ein Stück zu Fuß durch den Tiergarten zu gehen. Inmitten der frischgrünen Lenzespracht schüttelte er gewaltsam alle Gedanken an dienstliche Angelegenheiten von sich ab, zwang sich, nur mit dem geliebten Wesen sich zu beschäftigen, das nun in kurzem sein Weib werden sollte.

Marga Milden war das einzige Kind des Senatspräsidenten

  1. Vorlage: einer
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Walther Kabel: Zwei Taschentücher. Verlag moderner Lektüre G.m.b.H., Berlin 1920, Seite 4. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zwei_Taschent%C3%BCcher.pdf/5&oldid=- (Version vom 1.8.2018)