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Morgen begann bereits zu grauen – stand ich vor dem gemauerten, tempelähnlichen Erbbegräbnis der Grafen von Lippstedt. Ich drückte ein Oberfenster ein und kletterte in die kleine Kapelle hinein, stieg in die eigentliche Gruft hinab und – fand hier den Deckel eines Eichensarges beiseite gestellt. Dieser Sarg enthielt einen zweiten aus verlötetem Zinkblech, und – dieser zweite war an den Deckelnähten von sehr ungeübten Händen etwa zur Hälfte gewaltsam geöffnet worden. Die Werkzeuge – Blechschere, Stemmeisen und Hammer – waren in dem Sarge des Vaters des Grafen Erwin versteckt. – Wären Sie nun nicht ebenfalls auf die Vermutung gekommen, meine Herren, daß das Paar hier tätig gewesen? – Das lag so greifbar nahe. – Ich fuhr dann schleunigst heim – hier ins Gerichtsgefängnis zurück. Schlafen konnte ich nicht, wenigstens zunächst nicht. Ich ließ also alles nochmals an meinem kritischen Geiste vorüberziehen, was ich der alten Wirtschafterin an Neuigkeiten verdankte. Und, siehe da, – plötzlich machte mein Denken halt! Marie hatte mir berichtet, daß Sie, Herr von Blenkner, den ersten Verdacht gegen das jetzige Ehepaar Lippstedt deswegen gefaßt hätten, weil Ihre Tante Hildegard in einer Lebensversicherung mit 100 000 Mark eingekauft war und weil der Graf für seine Berliner Geliebte derartige Summen verschwendet hatte, daß Bollschwing als Güterdirektor ihn wiederholt warnen mußte, die Besitzungen nicht allzu stark mit Hypotheken zu belasten, – also deswegen, weil Sie argwöhnten, der Graf hätte es auf die Lebensversicherungssumme abgesehen gehabt. Es ist doch so, nicht wahr?“

Blenkner bejahte. „Ich will hier gleich noch folgendes ergänzen, Herr Harst,“ meinte er, froh, einmal zu Worte zu kommen. „Wenn ich Sie so halb als Gegner behandelt habe, so geschah dies lediglich deshalb, weil wir – Bollschwing und ich – mittlerweile doch zu der Überzeugung gelangt sind, daß mein Verdacht hinfällig ist, wenigstens was das Versenken der Ermordeten in den See betrifft. Ich fürchtete nun – denn wir waren entschlossen, weiter nach der Leiche zu suchen, – daß durch Ihr Eingreifen das verbrecherische Paar gewarnt und daß es alles tun würde, um jede, auch die geringfügigste

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Walther Kabel: Zwei Taschentücher. Verlag moderner Lektüre G.m.b.H., Berlin 1920, Seite 79. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zwei_Taschent%C3%BCcher.pdf/80&oldid=- (Version vom 1.8.2018)