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in die Hände und flüsterte: „Vorn ein Zettel für Harst –“ – Er mußte ihn eben erst geschrieben haben. Ich las: „Pockennarbiger mit Affenarmen auf Nr. 29 als Ingenieur Josef Bremer. Zwei große, neue Koffer. Kommt angeblich aus Wien. Will nur vier Tage bleiben.“ – Den Zettel schob ich dann in den Ärmel. Er bewies mir, daß Harst auch unseren kleinen Verbündeten auf den Mann mit den Pockennarben aufmerksam gemacht hatte.

Erst um zwölf kam mein treuer Heinrich mit einem Auto vorgefahren, geleitete mich mit Hilfe des Portiers in den Kraftwagen und erklärte, der Herr Professor erwarte uns. Wir landeten aber im Tiergarten, saßen hier im richtigen Sonnenschein auf einer Bank und tauschten unsere Erlebnisse aus. Als Harst hörte, daß ein Pockennarbiger in unserem Hotel vorhin abgestiegen wäre, erstarrte er geradezu. Ich habe nie wieder ein so verblüfftes Gesicht an ihm gesehen wie damals. – „Unmöglich!“ meinte er, „unmöglich! – Wenn’s der ist, den ich im Auge habe und nach dem Sie die Kellner ausholen sollten, dann – dann ist die Geschichte wirklich oberfaul für uns! Denn als ich gestern abend diesen Ausdruck gebrauchte, leistete ich mir nur einen kleinen Scherz, lieber Schraut. In Wahrheit hoffte ich gestern dicht hinter unserem Wilde drein zu sein. Aber jetzt –“ Dann entnahm er einer Bastzigarrentasche eine seiner Mirakulum. „Ich werde Ihnen nun meine erste, offenbar verfehlte Theorie entwickeln, Schraut. Geben Sie acht. – Halt – zunächst: meinen herzlichen Glückwunsch der Amnestie wegen. Auch meine Mutter läßt gratulieren. Ich war für Minuten daheim in der Blücherstraße. Mein gutes Altchen erkannte den einzigen Sohn nicht! – Doch nun meine Theorie; in aller Kürze. – Die Offiziellen wissen nichts von der Anzeige. Die Preßburger Straße 5 war ihnen von vornherein zu gleichgültig. Mir nicht. Es war doch sehr merkwürdig, daß ein alter pflichtgetreuer Beamter wie Schmiedicke sich durch ein Trinkgeld sollte dazu haben verleiten lassen, seinen Bestellgang zu unterbrechen, elf Häuser zu überspringen und erst einmal ins Hotel Sonnenschein zu den angeblichen Reuperts zu gehen, – nur durch ein Trinkgeld! Ich sagte mir: hier muß

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Walther Kabel: Zwei Taschentücher. Verlag moderner Lektüre G.m.b.H., Berlin 1920, Seite 96. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zwei_Taschent%C3%BCcher.pdf/97&oldid=- (Version vom 1.8.2018)