Stunden der Andacht/Betrachtung am Neujahrs- und Versöhnungstage

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« Beim Schofarblasen Stunden der Andacht Während der Bußtage »
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[45]
Betrachtung am Neujahrs- und Versöhnungstage.

„Meine Sünden haben mich ergriffen,
Ich wage nicht sie anzublicken.“
 (Ps. 40, 13.)

Mein Gott, wie furchtbar und verabscheuungswerth ist die Sünde! – Rein hast du die Seele geschaffen und uns eingehaucht, aber die Sünde schlingt sich an ihr hinauf, wie eine böse Pflanze, die dem Baume seine Nahrung entzieht, und entweiht die Tochter des Himmels, und entstellt in ihr das erhabene Bild des Schöpfers; sie nistet sich ein in unser Herz und verlöscht in ihm den göttlichen Strahl, zerstört in ihm jeden Keim zum Guten. Sie richtet sich auf, als eine furchtbare Scheidewand zwischen dem entweihten Geschöpfe und der heiligen hocherhabenen Gottheit, sie beraubt uns der süßen Tröstungen des Glaubens, und des erhebenden und beseligenden Aufblickes zu dir, mein Gott; sie vernichtet das frohe Bewußtsein, und die Ruhe und Zufriedenheit des Gemüthes, verdunkelt den Himmel in uns, bedeckt uns mit Scham und Schmach und erfüllt uns mit Reue und Qual.

[46] Ja, furchtbar und verabscheuungswerth ist die Sünde, denn sie entstellt und zerstört nicht nur unser inneres Wesen, sie entstellt und zerstört auch unsere äußere Gestalt. Zum Dank, daß wir sie in uns aufgenommen, rüttelt sie an den Pfeilern unserer Gesundheit, zehrt des Lebens Kraft und Blüthe auf, und verwischt auf unserm Antlitze den Strahl und Abglanz der Gottesähnlichkeit, dessen Insiegel Unschuld und Reinheit des Herzens darauf eingeprägt haben.

O, ich hasse und verabscheue die Sünde und will sie abschütteln von mir mit aller Kraft der Seele! Erwacht in mir alle Regungen zum Guten, alle Triebe meines besseren Ichs, zum Kampf gegen die Macht des Bösen in mir; wach auf mein Gewissen in all deiner Gewalt, laß ertönen deine mahnende, drohende Stimme, wenn die Zauberworte der Verführung zu mir dringen, und ich in meiner Schwachheit und Verblendung von ihr überlistet und bethört zu werden in Gefahr bin! O, meine Seele, gedenke deiner hehren Bestimmung und reiße dich los von der verderblichen Gemeinschaft mit der Sünde, unterdrücke die sündlichen Neigungen und Gewohnheiten und fühle dich zu groß und zu erhaben für die Eindrücke dessen, was niedrig ist und gemein; gedenke deiner erhabenen Würde und tritt nur in Verbindung mit dem, was selber erhaben ist und würdevoll, öffne dich nur für reine lautere Gedanken, nur gottgefällige Gefühle nimm in dich auf, Entschlüsse, die mit dem Gedanken an Gott nicht im Widerspruche stehen; nur den Wünschen und Bestrebungen gib dich hin, die nicht verletzend das Gewissen berühren, die nicht störend auf deinen Frieden und dein heiteres Bewußtsein wirken.

In diesen heiligen Stunden, die du, mein Gott, zu unsrer Reinigung und Entsühnung, zur Wiedererweckung unsrer Tugend, zur Annäherung unsres Geistes an das Himmlische und Göttliche geschaffen; in diesen heiligen Stunden will ich alle Kräfte meines Wesens, alle Gefühle meines Herzens, all mein Wünschen, all mein Wollen und Können in den Einen feststehenden Gedanken, in den Einen unerschütterlichen Vorsatz vereinen: alle bösen Triebe und sündigen Gelüste in mir zu tilgen, eine vollkommene Besserung und Bekehrung, die Wiedergeburt der Unschuld und Reinheit meines Herzens in mir zu erwirken. – Doch, mein Gott, was hier in diesen heiligen Räumen mich durchglüht, wo ich deine Nähe mehr als an allen andern Orten ahne; was mich heute begeistert, wo ich mein Ohr verschlossen halte gegen jede Anforderung der [47] Sinne, wo ich losgerissen und abgeschnitten von allen Beziehungen zu der eitlen Welt und deren Aufregungen, mich ganz versenke in die Anschauung deines hocherhabenen Wesens und in die Betrachtung meines eigenen Ichs; was ich heute empfinde: – wird es auch noch lebendig in mir bleiben, wenn ich diese Hallen verlassen haben und dem Leben und Treiben der Außenwelt wieder hingegeben sein werde, wenn ich gegen die Leidenschaften, gegen die Noth und die Sorge ankämpfen müßte, wenn die Locktöne der Verführung mir erschallen, oder wenn die Sünde in der blendenden Gestalt von Ruhm und Ehre mir erscheinen würde?

Ach, in dem Bewußtsein der Schwäche und der Ohnmacht des menschlichen Herzens zittre und bebe ich, daß meine frommen Entschlüsse nicht wieder wankend werden, daß ich meinen Gelöbnissen und Vorsätzen alsdann nicht wieder untreu werde! Gib, Allgütiger, daß der heutige Tag nie auf mich seinen erhebenden Einfluß verliere, daß der Geist des Guten, der mich heute beseelt, nie von mir weiche! Gib, daß die Sünde, in welcher Hülle sie auch erscheine, stets häßlich und verabscheuungswerth in meinen Augen sei, und wie verführerisch sie auch meinen Sinnen schmeichle, ich dennoch nie aufhöre, sie zu hassen und zu fliehen, daß ich stets das wahrhaft Gute ehren, die Tugend erkennen möge in ihrem Adel, in ihrer ewigen Erhabenheit, sie lieben und hervorziehen, wo und wie ich sie finde, wenn auch in den Hütten der Armuth und des Elends, wenn auch im Gewande der Dürftigkeit und der Niedrigkeit! – Möge es mir gelingen, stets stark und fest und unerschütterlich zu bleiben im Guten, möge ich stets besser und dir ähnlicher werden, mein Gott und Herr, um stets mit freiem Gewissen und froher Zuversicht zu dir aufschauen zu können. Amen.