Stunden der Andacht/Gebet einer Mutter am Grabe ihres Kindes

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Zur Navigation springen Zur Suche springen
« Gebet am Grabe des Gatten Stunden der Andacht Auf dem Grabe eines Verwandten »
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Für eine seitenweise Ansicht und den Vergleich mit den zugrundegelegten Scans, klicke bitte auf die entsprechende Seitenzahl (in eckigen Klammern).
[132]
Gebet einer Mutter am Grabe ihres Kindes.

„Blickt weg von mir, ich muß bitterlich
weinen.”
 (Jes. 22, 4.)

„Gott, wie bist du allgewaltig in deiner Macht, furchtbar in deinem Gerichte!” Du streckst deine Hand aus und es verlischt der Sonne Glut. Du sprichst – und es erbebt die Erde in ihren Tiefen; du lässest wehen deinen Hauch – und es bricht zusammen die riesige Ceder, und die grünende Flur, erst aufgesprossen und aufgebläht, wird zur dürren trostlosen Einöde! Und der Mensch, ach, voll lieblicher Jugend, voll grünender Hoffnung, sich schlingend und rankend ums glückliche Leben: – Du sendest aus den ernsten Boten des Todes, und siehe, die Menschenblume welkt, dorrt und zerfällt in Staub!

Unter diesem Hügel ruhet meine Herzensblume, mein Fleisch und Blut, mein innerstes Leben, mein Kind. – Vergebens wäre es, wollte ich wehren meinem Schmerze hervorzubrechen, meinen Thränen hinzuströmen.

Du, o Gott, der du des Menschen Inneres geschaffen und gebildet, du weißt wohl, was einer Mutter ihr Kind ist, du weißt, wie das Mutterherz mit allen Lebensfäden und Fibern ihr Kind umschlingt und umschließt, und wenn der Tod die kalte Hand legt an das Kind, es ihr von der Seite reißt, dann reißt er auch das ganze Herz der Mutter blutend wund.

Darum zürne nicht, o Herr, meinem Schmerze, habe Erbarmen mit meinem Leid und gieße deinen göttlichen Trost mir ins Herz, gib mir Kraft zu tragen, und zu entsagen dem, was du mir entziehest. „Du hasts gegeben, du hasts genommen, dein Name sei gelobt!”

Gewiß ist Alles, was du thust, wohlgethan; deiner Allweisheit verborgenen Gang, wie könnte des Menschen beschränkter Sinn ihn ergründen wollen! Dunkel und unerforschlich ist dein Walten, [133] doch was du auch über uns verhängst, es ist zu unserm Heile. Du bist ja unser Vater und wir deine Kinder, du unser König und wir dein Volk, du unser Hirte und wir deine Heerde – wie solltest du etwas Anderes über uns beschließen, als das Heilvolle.

So laß mich denn, mein Gott, in deiner Liebe und Treue meinen Trost finden. Laß mich durchdrungen sein von den erhebenden, besänftigenden Lehren und Worten deiner geheiligten Religion. Stärke mich in dem seligen Glauben, daß du mein verklärtes Kind liebevoll und freundlich in deine himmlischen Wohnungen hast hineingenommen, um seine reine Seele zu entziehen der Sünde und den Verirrungen dieses Lebens, es zu bergen vor Erdenschmerz und Trübsal.

So laß, Allgütiger, mein Kind als lichter Engel auf mich herabschauen, daß sein verklärtes Bild mir stets vorschwebe; laß seine Stimme mich warnen, wenn ich in Gefahr bin vor dir zu fehlen; laß sein Auge mir strahlen, wenn ich etwas Verdienstliches geübt, und laß mich einst von ihm empfangen, wenn du mich einst heimberufen wirst in dein Himmelreich. Amen.