Stunden der Andacht/Zu Mincha des Versöhnungstages

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« Seelengebet Stunden der Andacht Zum Schlusse des Versöhnungstages »
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Zu Mincha des Versöhnungstages.

Liebe und Gerechtigkeit übe und hoffe
immer auf deinen Gott.
 (Hos. 7, 2.)

Allerbarmer, ohne Unterlaß steigt unsre Andacht zu dir auf, um Versöhnung und Vergebung zu erflehen für unsre Sünden, die wir aus ganzem Herzen und voller Seele bereuen. – Doch unsre Reue, wie nichtig, wie fruchtlos ist sie, wenn sie nicht die Mutter frommer Entschlüsse und edler Thaten wird; wenn sie nicht als Wecker und Wächter unsres bessern Ichs sich hinstellt, daß es nicht wieder untergehe in dem wogenden Strom des weltlichen Treibens und Jagens.

O, daß die Reue, die ich empfinde, eine solche Wirkung auf mich nicht verfehle, daß ich stets von dem Sündhaften mit seinen traurigen Folgen fern bleibe, daß ich mit allen meinen Kräften dem Guten nachstreben und in allem Edeln und Gottgefälligen ein Vorbild für mich suchen und finden möge.

Und wie viele erhabene Vorbilder bietet mir hierzu die heilige Schrift aus dem Leben der Stammväter unsres Volkes, jener großen und heiligen Männer, die vor dir gewandelt in noch unerreichter Hingebung, und deren Leben wir heute vor dir gedenken zu unsrer Versöhnung und Begnadigung vor deinem Throne.

Jizchak, den längst Ersehnten, den Einzigen, das Kind seines Alters, führt Abraham auf Gottes Wort als Opfer zum Altare [62] hin, ohne Murren, ohne Klage und ohne Frage. Auf Gottes Ruf antwortet er freudig: Vater hier bin ich! – O, ich fühle es an dem Pochen meines Herzens beim Gedanken an mein Kind, wie des Vaters Brust sich zusammenschnüren mußte, bei dem Gedanken, auf immer von seinem Kinde zu scheiden. Alle Wünsche und Hoffnungen seines väterlichen Herzens legt er zugleich mit ihm auf den Altar nieder. Was bleibt dem alten Vater, der sein einzig Kind dem Tode in die Arme legt? Doch er, ohne Schwanken und Zaudern folgt er der göttlichen Stimme und zum Opfer ruft er seinen Sohn.

Und Jizchak selber, in der schönsten Blüthe seiner Tage, gewöhnt an die Liebe seines Vaters, der ihn auf den Händen trug, und an die Zärtlichkeit einer Mutter, die auf den leisesten Wunsch seines Herzens lauschte – dieser glückliche Jüngling, für den die Erde so schön und das Leben so herrlich sein mußte, er widerspricht nicht, er murrt nicht, er ist das Lamm, das Gott sich ausersehen, das genügt, um seinen Nacken willig dem Opfermesser hinzuneigen und freudig in den Tod zu gehen.

Was ist wohl größer, was nachahmungswürdiger, als diese erhabene, sich selbst vergessende Hingebung, womit Abraham sein kostbarstes Lebensgut, Jizchak das Leben selber Gott darbringt! – Und der Geist der Liebe, der eine solche innige Hingebung bewirkt, er sei mein Ziel und Strebepunkt, ihm will ich öffnen Herz und Seele. Gib o Gott, daß er darin einziehe, darin herrschend werde, und auf all mein Denken und Fühlen, auf all mein Thun und Lassen seinen wohlthätigen Einfluß übe.

Denn nur die Liebe macht stark zu jeglichem Opfer. – Wenn ich die Liebe zu Gott im Herzen trage, dann gehe ich unverwandt und frohen Muthes des Herrn Wege, wenn auch der müde Fuß über schroffe Klippen muß, wenn auch Stein und Dorn ihn blutig ritzen, und freudig erfülle ich des Herrn Gebote, wenn sie auch Manches von mir verlangen, was mir schwer dünkt, Manches von mir fordern, was meinen weltlichen Vortheilen und Interessen entgegen zu sein scheint, was meinen liebsten Neigungen zuwider sein mag! Die Liebe ist stark, sie hilft mir tragen und überwinden und wo der Herr das Opfer heischt, da rufe ich freudig: Vater hier bin ich.

Und wenn die Liebe zu meinen Nebenmenschen mich beseelt, wenn sie wahrhaft mein Inneres erwärmt, wie erhebt und veredelt sie dann mein Herz, mit welcher Freude eile ich, meinem Nächsten [63] wohlzuthun; ich suche seinen Kummer zu mildern, seine Thränen zu trocknen, ich weine mit dem Unglücklichen und freue mich mit dem Glücklichen, ich hüte mich sorgfältig ihn zu verletzen oder durch harte Reden oder hämische Anspielungen ihn zu kränken, ich übe Geduld und Sanftmuth gegen meine Umgebung, und bin liebreich und freundlich gegen meine Untergebenen; dem Armen und Dürftigen neben mir verschließe ich niemals meine Hände, mit Freuden bringe ich der Nächstenpflicht jedes Opfer, und wo sie mich ruft, antwortete ich stets: „Hier bin ich.“

Wie glückselig ist das Leben, das unter den Einflüssen einer solchen Liebe dahingeht. Unter ihrem reinen Strahl klären sich alle Wünsche und Gefühle des Herzens, da weicht die Sünde, da fliehen die unseligen Leidenschaften und nur reine und lautere Triebe füllen Herz und Seele.

Eine solche Liebe, o Gott, gieße in mein Herz, eine solche Liebe laß mich durchdringen, der du bist der Ursprung und Urquell aller Liebe. Amen.