„Klein-Frankreich in New-York“

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Autor: Max Lortzing
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Titel: „Klein-Frankreich in New-York“
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aus: Die Gartenlaube, Heft 40, S. 668, 670–671
Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1882
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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„Klein-Frankreich in New-York“.

Von Dr. Max Lortzing.

Eine der lebensvollsten, der figuren- und farbenreichsten Straßen des großen Völkerpanoramas von New-York-City ist Bleaker-Street. Nirgendwo anders hört man so viel Sprachen und Mundarten, erblickt man so viel verschiedene Rassen und Nationalitäten wie dort: Farbige in allen Schattirungein, vom kohlschwarzen Nigger bis zum hellen Octoronen, südamerikanische Mischlinge mannigfacher Art, Chinesen, Japanesen, Indianer, Israeliten und Kaukasier; Deutsche, Franzosen, Italiener und alle anderen Europäer.

Ebenso vielgestaltig ist das geschäftliche Treiben dieser kleinen Welt; es sind hier alle Gewerbe vertreten, erlaubte und unerlaubte: neben echten Aerzten prakticiren Clairvoyants und Quacksalber, neben legitimen Apothekern Verkäufer von Geheimmitteln. Sogenannte Concerthallen wechseln mit ebenso fraglichen Sommergärten ab; denn zu letzteren zählen sich in New-York auch Locale, die keinen Platz im Freien, keinen Baum oder Strauch bieten. Die Trottoirs von Bleaker-Street sind mit Obst-, Austern-, Kuchen- und Zeitungsständen überfüllt. Hier ist Alles zu haben: Limonade und Leibweh, „root-beer“ (ein schauerliches Lieblingsgetränk der Amerikaner) und Katzenjammer, ein Bild des New-Yorker Volkslebens und eine Tracht Prügel.

Abgesehen von den Wirkungen der Jahreszeiten, verändert sich Bleaker Street nicht merklich. Seine Bewohner, alles „kleine Leute“, die den herben Kampf um’s Dasein führen, gehen im heißen Sommer weder auf’s Land noch reisen sie nach Europa; sie speculiren weder in Grundbesitz noch in Actien, und ihre Ersparnisse legen sie vielfach nicht in Sparbanken und anderen Creditanstalten, sondern in dem altbewährten Strumpf an. [670] Dabei präsentiren sich hier oft recht stattliche Häuser mit unverkennbar herrschaftlicher Façade; denn vor noch nicht einem halben Jahrhundert gehörte Bleaker-Street zum fashionablen New-York, und in den Räumen, wo jetzt die dicklippige Negerin ihre Wäsche bügelt, führte einst der französische Koch das Küchenscepter; wo heutzutage finster blickende Communards ihren Absynth mischen, empfing die Familie des Patriciers ihre Gäste, und wo der „Wilde der Civilisation“ seine Orgien feiert, drehten sich elegante Paare im Tanz, aber in „abgemessenem Schritte“; denn der steifbeinige Amerikaner ist bei Terpsichoren nicht in die Schule gegangen.

Ein Theil von Bleaker-Street gehört zum „Quartier Français“, auch kurzweg „Quartier“ genannt, das westlich vom Broadway, südlich vom Washington Square und nördlich von Grand Street liegt. Dem viel größeren „Klein-Deutschland“ im Osten der Stadt entspricht das engbegrenzte, fest zusammenhaltende, exclusive „Klein-Frankreich“ im Westen derselben; es ist fast, als hätten die beiden erbfeindlichen Nationen auch in der neuen Welt das Tischtuch zwischen sich zerschnitten, als hätten sie absichtlich durch einen möglichst großen Raum sich von einander getrennt. Nur die Weihe der Kunst wirkt versöhnend; denn der wälsche Straßensänger verschmäht es nicht, auch im germanischen Quartier sein „Formez vos bataillons“, von keinem störenden Instrument begleitet, in die Lüfte zu schmettern und in „Klein-Deutschland“ seinen Obolus zu sammeln, nachdem er die übrigen Felder des Völkerschachbrettes von New-York abgegrast hat.

Sehen wir uns im „Quartier“ um, so erblicken wir allerorts französische Schilder, über den Thüren und an den Fenstern; die Zahl der Restaurants in Erdgeschossen und Hochparterres ist überaus groß, doch sind sie sammt und sonders plebejischer Natur; denn hier wohnt ausnahmslos das französische Proletariat. Abgesehen von den Gewerben, die ausschließlich dem bloßen Lebensunterhalt dienen, sind die herrschenden Industrien des „Quartier“ das Anfertigen von künstlichen Blumen und Blättern, sowie das Färben von Federn, womit ganze Familien sich beschäftigen und wozu die betreffenden Firmen das Material liefern, ferner: Sticken, Repariren von Statuetten, Bildern und anderen Kunstgegenständen – kurz, lauter Geschäfte, die mehr Geschick und Geschmack als körperliche Mühe und Anstrengung bedingen. Ein sehr bedeutendes Contingent dieser Bevölkerung bilden die etwa achttausend kunstgewerblichen Arbeiter, die von den großen New-Yorker Häusern, namentlich von dem berühmten Tiffary, auf bestimmte Zeit, meist auf fünf bis zehn Jahre, gemiethet werden und dann in die Heimath zurückkehren. Die Seelenzahl von „Klein Frankreich“ bleibt immer ungefähr dieselbe und ist im Verhältniß zum deutschen Element nur gering; denn die Franzosen haben weder den Trieb noch die Veranlassung zum Auswandern wie unsere Landsleute. Der neueste Census veranschlagt die seßhafte französische Colonie auf 9910 Personen.

Wir betreten in Bleaker-Street das „Restaurant du Grand Vatel“, nach dem großen Koch Ludwig’s des Vierzehnten benannt, der sich aus Gram darüber, daß ein Fisch nicht zur rechten Zeit für ein Diner seines Königs eintraf, das Leben nahm. Der Boden der Restauration ist mit Sand bestreut, und an den kleinen mit Wachstuch überzogenen Tischen sitzen die Gäste, eifrig debattirend und gesticulirend. Sie sprechen über die ägyptische Frage und schimpfen über Freycinet und Gambetta, über die Schlaffheit der Regierung und über die Faulheit der ganzen Republik. Wie anders war es da zu Zeiten der Commune! Viele der hier Anwesenden haben bei dem Flammenschein der brennenden Seinestadt auf den Barrikaden gefochten, und nicht Wenige wissen zu erzählen, wie es in Neu-Caledonien aussieht. An den Wänden hängen noch jezt, um auch äußerlich das Gepräge des Locals zu zeigen, zerrissene Zettel, die zum Banket und Ball zur elften Jahresfeier der Revolution am 18. März einladen, unter den Auspicien der „Société des Réfugiés de la Commune“. Die guten Communards sind indessen ebenso harmlos wie die deutsch-amerikanischen Socialisten: und man läßt sie ruhig reden und sämmtliche Fürsten Europas mit dem Munde todtschlagen.

Um jedoch einmal die französische Kost zu probiren, wie der besser situirte Proletarier sie genießt, verfügen wir uns in eine Nebengasse und steigen die zum Restaurant führende Freitreppe empor. Das kleine, nur einen einzigen Tisch enthaltende Zimmer, an welchem die vierzehn Stammgäste ihr Diner einzunehmen pflegen, ist von der Küche, aus welcher die Wirthin die Speisen direct hereinbringt, nur durch einen halb offenen Bretterverschlag getrennt, und ein zweiter scheidet das Schlafstübchen vom Departement des Kochlöffels und der Bratpfanne. Die Gerichte sind schmackhaft und vorzüglich zubereitet; die soupe aux croûtons mundet uns über Erwarten, und selbst das zu boeuf braisé aux vignons frisirte Suppenfleisch schmeckt uns, mit einem Worte: es ist Alles delicat und ungemein billig. Auch der St. Julien ist vortrefflich; nur Tischtuch und Geschirr lassen zu wünschen übrig.

Was übrigens die Küche im Allgemeinen anbelangt, so steht in New-York die französische obenan; dann folgt gleich die deutsche, und ganz zuletzt kommt die amerikanische, zu der man nur greift, wenn es gar nicht anders sein kann. Sollte das amerikanische Volk einmal aussterben, so geht es an Verdauungsschwäche zu Grunde, herbeigeführt durch die landesübliche Kochkunst.

Dort am untersten Ende des Tisches sitzt ein alter Bekannter, ein Musikprofessor. Er muß sich’s sauer werden lassen; denn die Unterrichtsstunden werfen ihm nicht viel ab, sobald er aber sein Diner eingenommen hat, seine gloria (schwarzer Kaffee und Cognac) schlürft und seine Cigarette raucht, strahlt sein gelbes, mit einem schwarzen, wohlgepflegten Napoleonbart geziertes Antlitz von glücklichem Behagen, dann sieht er aus, als wäre sein Losungswort das Motto, welches der junge Disraeli auf das Titelblatt seines „Vivian Gray“ schrieb: „Wohlan! Die Welt ist meine Auster, die ich mit dem Degen öffnen will.“ Er hat sich nicht verändert, obwohl Jahre verstrichen sind, seitdem wir ihm zum letzten Male begegneten, und auch das etwas abgetragene und verschossene, doch sauber gehaltene Costüm macht den Eindruck, als habe er es damals sorgfältig eingepackt und erst heute wieder herausgeholt. Mit verklärtem Blick ruht sein Auge auf der halbgeleerten Flasche, um deren Hals er seine Serviette als Zeichen des Eigenthums geschlungen hat.

Vielleicht freut er sich schon im Voraus auf den köstlichen Sonntagsausflug nach dem reizenden Williamsbridge, dem steten Wallfahrtsort der französischen Picknicker. Unwiderstehlich werden sie dahin gezogen durch die malerische Naturschönheit der schattigen Vergnügungsplätze sowie durch den Umstand, daß viele ihrer Landsleute sich am Bronx-River angesiedelt haben. Jeden Sonntag versammeln sich daselbst zahlreiche Familiengruppen mit ihren wohlgefüllten Körben. Nach dem improvisirten Essen giebt sich Jeder dem Zeitvertreib hin, der ihm am liebsten ist: Viele angeln – trotz des Ausspruchs des satirischen Gavarni, daß die Fischleine ein Ding sei, an dessen unterm Ende ein Haken, an dessen oberem ein Dumpfkopf sitze, und trotz der notorischen Fischarmuth des Bronx River freuen sie sich über den Fang eines Thieres, das nicht größer ist als die Klinge eines Federmessers, ebenso, als ob es ein Walfisch wäre. Die Kinder spielen; die Mütter lesen im Schatten eines Baumes den neuesten Roman von Daudet, und das junge Volk rudert im Chor singend um die Wette.

Ist die Zeit für Ausflüge vorüber, so versammeln sich die kleinen Leute des „Quartier“ am Sonntagabend in ihrer goguette in Bleaker-Street, worunter man einen Ort versteht, an welchem die Theilnehmer sich zum Vergnügen treffen, namentlich um zu singen, und dazu hat Jeder das Recht. Die Ausschmückung des Saales ist sehr einfach: das amerikanische und das französische Banner zieren verschlungen den oberen Theil der Plattform, auf welcher der Präsident sitzt, und an den Wänden sind in ornamentalen Buchstaben die Namen der berühmtesten Liederdichter zu lesen, wie Lachambaudie, Pierre Dupont, Gustave Nadaud und des unsterblichen Béranger. Das Piano ist verpönt, damit jedoch der Gesang nicht ohne Begleitung sei, werden durch die Reibung einer leeren Flasche an einer Holzwand Töne hervorgebracht, die denjenigen eines Contrebasses nicht unähnlich sind. An die Liedervorträge reihen sich Recitationen aus Victor Hugo und anderen Dichtern, Taschenspielerkünste und mesmerische Experimente, und während der Zwischenpausen geht der Präsident mit einer richtigen Schnupftabaksdose umher, ein allgemeines Niesen und Beglückwünschen verursachend.

Die reicheren Franzosen wohnen zerstreut in den fashionableren Theilen der City; Viele von ihnen sind es nur noch dem Namen nach und haben sich ganz amerikanisirt. Ihre Familien lebten [671] früher auf den westindischen Inseln, und manche besitzen noch jetzt Zuckerplantagen daselbst. Sie verheirathen sich mit Amerikanern und besuchen auch deren katholische Kirchen, in denen englisch gepredigt wird, wogegen das „Quartier“ seine eigenen Kirchen mit französischem Gottesdienste hat, zwei presbyterische und eine römische, die St. Vincent de Paul, mit der eine Akademie für junge Damen verbunden ist. Die New-Yorker Presse hat zwei französische Zeitungen, den „Courier des Etats-Unis“ und den „Messager Franco-Américain“.

Die Franzosen der City sind ebensolche „Vereinsmeier“ wie ihre deutschen Mitbürger. An verschiedene Gesangvereine reiht sich eine große Anzahl von Gesellschaften der mannigfachsten Art, unter denen wir nur die bekannteste erwähnen wollen, den „Cercle Français de l’Harmonie“ mit seinem alljährlichen vielbesuchten und sehr eleganten Maskenball, wenn dieser auch nicht den Glanz und die Pracht der Maskenbälle erreicht, welche die deutschen Vereine „Arion“ und „Liederkranz“ veranstalten. Eine militärische Organisation ist die „Société Lafayette“.

Auch außer ihrem Lafayette haben die amerikanischen Franzosen ihre historischen Gestalten. Hier seien aus ihrer Reihe nur zwei erwähnt!

Marquis Armand de la Rouerie, in der Geschichte kurzweg als Oberst Armand bekannt, hatte um der berühmten Schauspielerin Mademoiselle Barré willen einen österreichischen Baron im Duell erschlagen und ging aus Reue darüber zu den schweigsamen Trappisten. Späterhin weihte er seine Dienste der jungen amerikanischen Republik und bildete die Armand’sche Legion, ein Cavallerieregiment, das zum großen Theil aus geborenen Pennsylvania-Deutschen bestand. Bei einem gefährlichen nächtlichen Ueberfalle, den er bei Yonkers am Hudson, oberhalb New-Yorks, gegen das britische Lager ausführte, stieß er auf die Hünengestalt des feindlichen Majors, der in solcher Eile aus dem Bette gesprungen war, daß er noch die grünseidene, betroddelte Nachtmütze auf dem Kopfe hatte. Oberst Armand sprengt dicht an ihn heran, ändert aber blitzschnell unter lautem Ausrufe der Ueberraschung die Richtung seines zum Todesstoße erhobenen Degens und trägt auf der Spitze desselben die durchbohrte Nachtmütze triumphirend davon, hinter ihm die wilde Jagd seiner kühnen Reiter. Jener Major war der todtgeglaubte österreichische Baron gewesen, und der Marquis verlor in Folge dieser Begegnung sein finsteres, schweigsames Wesen.

Auf einem längst geschlossenen New-Yorker Kirchhofe steht ferner ein Grabstein mit folgender Inschrift:

„A la Mémoire
de
Pierre de Landais,
Ancien Contre-Amiral
au service
Des États-Unis
Qui disparut
Juin 1818,
âgé 87 ans.“

Pierre stammte aus einer der ältesten, stolzesten und ärmsten Adelsfamilien der Normandie. Er hatte auf der „Ecole de la Marine“ studirt und diente bis zu seinem zweiunddreißigsten Lebensjahre als Unterlieutenant treu seinem französischen Vaterlande. Da kam unter Ludwig dem Sechszehnten ein früherer Page der Maitresse des Grafen von Vergennes nach Cherbourg und wurde sein Capitain. Entrüstet quittirte der heißblütige Pierre und widmete sich, von Baron Steuben empfohlen, der amerikanischen Republik. Er wurde in der Folge Fregattencapitain mit Admiralsrang und commandirte die „Alliance“ vom Jonas’schen Geschwader. Im September 1779 traf Jonas an der englischen Küste auf zwei britische Kriegsschiffe, die er nach hartnäckigem Kampfe zu seinen Prisen machte. Während des Treffens erschien plötzlich die „Alliance“ und feuerte auf das Schiff des eigenen Vorgesetzten, bis dieses sank. In Folge dessen wurde Pierre de Landais seines Amtes entsetzt, weil man annahm, er habe es gethan, um sich allein die Lorbeeren des Sieges anzueignen, obwohl er selbst es auf das Entschiedenste in Abrede stellte und mehrere Male im Duell mit dem Degen für seine Ehre eintrat.

Vierzig Jahre lang überschüttete er von da an den Congreß mit seinen Ansprüchen auf rückständiges Gehalt und auf Prisengelder; jedes Jahr fuhr er in dem alten Rumpelkasten, der damals die Bundeshauptstadt mit New-York verband, nach Washington und stets kehrte er mit leeren Taschen zurück, um den bitteren Kampf mit der Armuth wieder aufzunehmen. Er wurde zu einer der bekanntesten Straßenfiguren, der kleine, untersetzte Admiral in der verschossenen continentalen Uniform, den sauber gebürsteten Kniehosen, den abgetragenen gelbseidenen Strümpfen und dem kurzen Degen an der Seite. Er lebte in vollkommener Unabhängigkeit nur von seinem geringen Einkommen und wies jedes Geschenk, auch das auf das zartfühlendste dargebotene, zurück. Verschwunden ist er übrigens nicht, wie man aus seiner Grabschrift schließen sollte, diese hat er vielmehr selbst verfaßt, nach dem Vorbilde des greisen Aeschylus, wenn von seiner Tapferkeit auch kein marathonischer Hain, kein „tieflockiger Meder“ erzählt.