ADB:Ernst, Heinrich Wilhelm

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Artikel „Ernst, Heinrich Wilhelm“ von Carl Ferdinand Pohl in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 6 (1877), S. 325–327, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Ernst,_Heinrich_Wilhelm&oldid=- (Version vom 28. März 2024, 12:48 Uhr UTC)
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Ernst: Heinrich Wilhelm E., ausgezeichneter Violinvirtuose, wurde im J. 1814 zu Brünn geboren. Da er zeitig große Vorliebe für Musik und speciell für die Violine zeigte, hielten ihm seine Eltern, unbemittelte israelitische Handelsleute, einen Lehrer, unter dem der Kleine so rasche Fortschritte machte, daß er schon nach anderthalb Jahren eine öffentliche Probe seines Talentes ablegen konnte. Dadurch ermuthigt, schickten ihn die Eltern nach Wien ins Conservatorium der Gesellschaft der Musikfreunde, wo er unter der trefflichen Leitung des Professors Jos. Böhm in den J. 1825–27 glänzende Fortschritte machte, während ihn gleichzeitig Seyfried in der Harmonielehre unterrichtete. In den beiden Concerten, die das noch junge Conservatorium am 30. Oct. und 6. Nov. 1825 in dem damals disponiblen Kärnthnerthortheater veranstaltete und damit die Zöglinge zum ersten Male dem Publicum vorführte, trat auch E. zum ersten Male öffentlich in Wien auf; er spielte damals Variationen von Mayseder. Bald darauf, am 15. Dec., spielte er in den Abendunterhaltungen der Gesellschaft der Musikfreunde Variationen von Rode und im nächsten Jahre, am 10. Dec., im zweiten Gesellschaftsconcert ein Violinconcert seines Lehrers. [326] Schon damals berechtigte er zu großen Erwartungen, die in einem für ihn veranstalteten Concerte im Landhaussaale, am 18. Febr. 1827, noch gesteigert wurden. Im J. 1828 wurde er wegen Nichtachtung der Schulgesetze aus dem Conservatorium ausgestoßen (er war in die Vaterstadt gereist und über die Urlaubszeit ausgeblieben). In seinem Gesuch an das Comité und an den Protector des Vereins, Erzherzog Rudolf, bat er, ferner noch als Zögling der Anstalt angesehen zu werden, jedoch vom Besuche der Lehrstunden befreit zu bleiben, da er selbst Unterricht ertheilen müsse, um seine Existenz zu sichern. Das Gutachten des Comité’s an den Protector betont hier den für uns interessanten Fall, daß es E. offenbar nur um den Vortheil zu thun sei, daß ihm unter dem Namen eines Zöglings des Conservatoriums der fernere Aufenthalt in Wien, „welcher ihm als einem Israeliten sonst vielleicht nicht zugegeben würde, hier gestattet werde und er ungehindert auf der Violine selbst unterrichten könne“. Schließlich wurde ihm Wiederaufnahme und zugleich ehrenvolle Entlassung zugestanden. – Von größtem Einfluß auf Ernst’s ferneres Spiel war das damalige Erscheinen Paganini’s in Wien, der daselbst im großen Redoutensaale am 29. März 1828 zum ersten Male auftrat. Der Eindruck, den das Spiel dieses genialen Künstlers auf E. ausübte, war übermächtig; er studirte so fleißig, daß er es schon im folgenden Jahre wagen zu dürfen glaubte, eine Kunstreise anzutreten. Er ging über München nach Paris, wo aber die Anwesenheit Paganini’s alle Aufmerksamkeit absorbirte. E. wendete sich nach Deutschland, ging 1831 ein zweites Mal nach Paris, studirte drei Jahre und trat 1834 eine große Kunstreise an. Von da an bis 1850 war die eigentliche Glanzperiode Ernst’s, der nun überall, wo er auftrat, eine Reihe von Triumphen erlebte. Er bereiste Frankreich, hielt sich namentlich in Marseille auf, wo er Paganini’s Eigenheiten ablauschte, ging nach Holland, wo er über 200 Concerte mit beispiellosem Erfolg veranstaltete, und kam 1839 wieder nach Wien, wo er als vollendeter Virtuose und „erster Sänger auf der Geige“ begrüßt wurde. Seine Besuche in Wien und in den Provinzen Oesterreichs wiederholten sich, dann zog der Gefeierte nach Deutschland, Paris, Holland, Belgien und Dänemark, nach England, Rußland und zurück nach England, wo er endlich im J. 1850 bleibenden Aufenthalt nahm und sich mit einer Französin Siona Amélie Levy vermählte. Die letzten Lebensjahre Ernst’s wurden ihm vergällt durch ein unheilbares Leiden (Rückenmarksdarre), bei dem er nur in der liebevollen Pflege seiner treuen Gattin den einzigen Trost fand. Der Aufenthalt in Nizza, den ihm die Aerzte anriethen, wurde nur ermöglicht durch einen Act collegialer Hülfe, indem eines der von Chappell in London geleiteten Monday popular-Concerte (für Kammermusik) zur Unterstützung des leidenden Künstlers bestimmt wurde. „Herr Ernst’s Concert“ (wie es angezeigt war) fand statt im Juni 1864 in St. James’ Hall und Joachim führte das Quartett. Er spielte die „Elegie“ und mehrere neue Compositionen von E., u. a. auch ein Quartett (es erschien dann bei Spina in Wien als op. 26); Henri Wieniawski spielte Schubert’s „Erlkönig“, von E. für Violine übertragen. Bei der Wahl der neuen Compositionen war nur die gute Absicht zu loben, denn die Werke selbst zeigten nur zu sehr die gebrochene Kraft des Künstlers. Der Aufenthalt in Nizza erwies sich für ihn erfolglos; der Aermste erlag seinem Geschick am 14. Oct. 1865.

E. war Virtuose im vollsten Sinne des Wortes. Sein Spiel war voll Glanz und Leidenschaft; er schwelgte in Schwierigkeiten, die mitunter auch ans Bizarre streiften; dagegen wußte er in der Cantilene einen großen, vollsaftigen Ton und wirklichen Adel des Vortrags zu entwickeln; sein Adagio war tief ergreifend. Eine Schule hat E. allerdings nicht gegründet, auch kann man ihm ebensowenig bleibende Bedeutung zugestehen; allein er ragt unter der Gruppe [327] der Virtuosen unseres Jahrhunderts genugsam hervor, um seiner eingehend zu gedenken. Wer E. nur einmal gehört, konnte leicht an seinem Werthe irre werden, denn er war von der augenblicklichen Stimmung abhängig und spielte hie und da ziemlich nachlässig – wußte er doch, daß er einen verlorenen Tag in guter Stunde reichlich einbringen konnte. Im Umgang eine liebenswürdige Persönlichkeit liebte er es wol auch, sein interessantes Aeußere je nach momentaner Laune durch eine vornehm-nachlässige Haltung noch interessanter zu machen. Als vollblütiger Virtuose spielte er nur eigene Compositionen, unter denen sich als bewährte Paradestücke erwiesen: „Le Carneval de Venise“; „Othello-Fantasie“ op. 11; „Papageno-Rondo“ op. 20; „Elegie“ op. 10; „Der Erlkönig“ op. 26; „Concerto“ (Allegro pathétique) Fis-moll, op. 23; „Bolero, Morceau de Salon“, A-moll, op. 16; „Polonaise de concert“, D-dur op. 17; „Variations de Bravoure sur l’air national hollandais“, E-dur, op. 18; „Airs hongrois variés“, A-dur, op. 22; „Concertino“, D-dur, op. 12; „Morceau de Salon“, G-moll, op. 15; „Pirata-Capriccio“. Auch die mehrstimmigen Studien für Violine allein seien hier noch erwähnt. Die genannten und noch mehrere kleinere Werke erschienen bei Schott, Breitkopf u. Härtel, Spina, Müller (Wessely), Haslinger, Kistner, Meyer, Schlesinger und Hofmeister. Ernst’s Portrait ist durch Kriehuber’s meisterhafte Lithographie bekannt. Ein großes Gypsmedaillon, verfertigt von Ernst’s Gattin, Amélie, gelangte im J. 1870 in das Eigenthum des Museums der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien.