ADB:Hahn, Michael

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Artikel „Hahn, Johann Michael“ von Theodor Schott in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 10 (1879), S. 364–366, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Hahn,_Michael&oldid=- (Version vom 19. April 2024, 07:02 Uhr UTC)
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Hahn: Johann Michael H., von seinen Landsleuten „Michele“ genannt, geb. am 2. Febr. 1758 in Altdorf O./A. Böblingen (Württemberg), gest. in Sindlingen O./A. Herrenberg am 20. Januar 1819, der originelle Stifter einer in Süddeutschland, besonders in Württemberg ziemlich weit verbreiteten religiösen (protestantischen) Gemeinschaft. Frühe hatte der Spener’sche Pietismus in Alt-Württemberg Eingang und Verbreitung gefunden, das Generalrescript vom 10. Octbr. 1743 gewährte religiösen Privatversammlungen eine beschränkte Duldung, ein reges auf das praktische Christenthum gerichtetes, der Kirche nicht entfremdetes Gemeinschaftsleben hatte sich an vielen Orten gebildet. Die starke religiöse Empfänglichkeit, der Grundzug in Hahn’s Wesen, wurde durch dasselbe genährt und auf eigene Bahnen geleitet. Still in sich gekehrt, ein zartes Gemüth hatte er seine Knabenjahre zugebracht. Der ernste Jüngling, der sehr wohlgestaltet, geistig gut begabt war, eine natürliche Beredtsamkeit zeigte und Jedermann für sich einzunehmen wußte, wurde von seinem Vater, einem nicht ungläubigen, aber aller Grübelei abholden derben Landmanne nicht verstanden, sein Hang zur Einsamkeit, zum Bibellesen, sein ascetisch strenger Lebenswandel, indem er 17 Jahre alt mit den Forderungen der Buße den tiefsten Ernst machte, jede jugendliche Versuchung, jede sündliche Neigung in sich zu unterdrücken suchte, zog ihm selbst körperliche Mißhandlungen zu, so daß er endlich sein Elternhaus verließ und in dem benachbarten Döffingen sich als Knecht verdingte. Im 17. Jahre hatte er, seiner eigenen Aussage nach, seine erste „Erleuchtung“, die 3 Stunden währte, dieselbe wiederholte sich im 20. und 22. Jahre, er war nun sicher den schweren Kampf der Buße überstanden, das Licht der Gnade in sich zu haben. Mit seinem Vater war durch den Herrn von Leiningen eine Verständigung zu Stande gekommen, ungestört konnte H. sich mit Gebet, Lesen und Niederschreiben seiner religiösen Gefühle und Gedanken beschäftigen; diese Betrachtungen wurden durch Abschriften schnell verbreitet und lenkten die Aufmerksamkeit der streng religiösen Kreise auf ihn. Vom Jahre 1780 an trat er auch als Sprecher in Privatversammlungen auf, seine Reden [365] wurden eifrig nachgeschrieben und circulirten in vielen Kreisen, besonders der ländlichen Bevölkerung. Aber auch die geistlichen und weltlichen Behörden richteten ihre Aufmerksamkeit auf ihn, er wurde damals und später noch öfter vorgefordert und verhört, aber da sein Lebenswandel ein durchaus ehrbarer war, seine Ansichten keine separatistischen und schwärmerischen Neigungen verriethen, so endeten seine Verhöre und Verhaftungen stets ehrenvoll für ihn. Im Jahre 1782 machte er eine Reise in die Schweiz, um dem Aufsehen, das er erregte, zu entgehen, lernte Lavater, Pfenninger und andere kennen, trat auch mit Jung-Stilling und andern Gleichgesinnten in Verbindung. Den Vorschlag, Theologie zu studiren, welchen der ihm wohlgesinnte Consistorialrath K. H. Rieger ihm machte, lehnte er ab, „um mit seinem Lichte allgemeiner leuchten zu können“. Von da an lebte er nur noch seinem religiösen Berufe, er las und schrieb viel, führte eine sehr ausgebreitete Correspondenz, hielt Privatversammlungen etc.; eine Zeitlang trieb er die Uhrmacherei, nur um eine mechanische Abspannung zu haben. Um dem großen Zulauf, nicht minder aber um der Verfolgung und ungerechten Beurtheilung seiner Feinde aus dem Wege zu gehen, zog er sich 1791 bis 1792 mehr in die Stille zurück. Der Tod seines Vaters (1794) wurde für ihn die Veranlassung, Altdorf für immer zu verlassen, er zog nach Sindlingen O./A. Herrenberg, einem Hofgute der Herzogin Franziska von Hohenheim, die sehr wohlwollend gegen ihn gesinnt war. 1803 baute er sich dort ein eigenes Haus. Glaubensgenossen, z. B. Schäffer und Egeler wohnten zeitweise bei ihm und unterstützten ihn im Halten von Erbauungsstunden; schriftstellerische Arbeiten und eine ungemein ausgebreitete Correspondenz nahmen seine übrige Zeit in Anspruch; von unzähligen Leuten aus allen Ständen wurde er in Gewissensangelegenheiten um Rath gefragt; von seinen Anhängern hoch verehrt stand er auch bei Andersdenkenden in wohlverdientem gutem Ansehen. 1818 faßte er den Plan, eine ächt christliche Gemeinde nach Art der ersten Christen zu sammeln, aber der Tod ereilte ihn, ehe derselbe ausgeführt wurde. (Hofmann hat durch die Gründung der Gemeinde Kornthal denselben zu verwirklichen gesucht.) H. ist eines von den ächt süddeutschen Originalien, welche durch ihre eigenthümliche Geistesbegabung auf die streng religiösen Kreise ihrer Landsleute einen großen Einfluß haben; eine einfache praktische Natur dringt er auf tiefere und strengere Erfassung und Bethätigung des Christenthums, aber ein spekulativer Zug tritt bedeutsam bei ihm hervor; während seines Bußkampfes grübelt er über das innerste Wesen der Gottheit, seine Erleuchtungen geben ihm auch über theoretische Fragen Licht, im Unterschied von den eigentlichen Pietisten, welche in der Lehre nicht von der kirchlichen Doctrin abwichen, hat er seine eigenthümliche Lehre, die in dem „System seiner Gedanken“ zusammengestellt ist. In gnostischer Weise lehrt er eine doppelte Schöpfung, sowie einen zweifachen Fall Adams, das Leiden Christi wird zwar als Strafleiden gefaßt, andererseits aber dem Blute Christi in eigenthümlicher Verquickung von Ethischem und Materiellem eine Art magische Wirkung auf das ganze Universum zugeschrieben, die Wiedergeburt ist nicht ein einmaliger Act, sondern ein fortgehender Proceß, welcher eine völlige Lebensgemeinschaft mit Christo und Lebensgerechtigkeit im Gläubigen herstellt. Gerade hierin unterscheidet sich H. am meisten von der (ebenfalls württembergischen) Secte der Pregitzianer, welche in einseitiger Betonung der Rechtfertigung für immer mit aller Buße fertig zu sein glauben, das Sündengefühl als aufgehoben betrachten und sich nur ihres Gnadenstandes freuen. In der Eschatologie lehrt H. einen Mittelzustand und Zwischenstadien zur Reinigung und Läuterung der Seelen nach dem Tode und endlich die Wiederbringung Aller, auch der bösen Geister. – Neben allegorischer Schriftauslegung ist die Einwirkung von J. Böhme und Oetinger in diesem „System“ unverkennbar, H. hat [366] die Schriften beider studirt, bedient sich auch gern der Ausdrücke von Böhme, wie Tinktur etc. Bei der ungenügenden wissenschaftlichen Bildung Hahn’s erklärt es sich vollständig, daß seine Lehrdarstellung kein abgerundetes System bildet. Auch als Liederdichter steht H. unter seinen Anhängern in großem Ansehen, bei ihren erbaulichen Zusammenkünften werden meistens von ihm verfaßte Lieder gesungen. Seine Schriften, deren Druck er während seines Lebens nie gestattet, wurden nach seinem Tode gesammelt und Tübingen 1819–41 in 13 Bänden herausgegeben; Th. 1 enthält seine Selbstbiographie; eine Auswahl seiner „Lieder, Sammlung auserlesener geistlicher Gesänge“ erschien Tübingen 1822. Die Bewegung, welche H. angeregt, währte nach seinem Tode fort; gegenwärtig zählen seine Anhänger, die Hahn’sche Gemeinschaft, mehrere 100 evangelische Gemeinden in Württemberg, Baden, Hessen, Frankfurt, Pfalz zu den ihrigen; H. war keine organisatorische Natur, er wollte nicht befehlen, aber die Nothwendigkeit einer Organisation stellte sich immer mehr heraus; neuerdings ist die Gemeinschaft in 26 Kreise eingetheilt, in deren jedem jährlich zwei Hauptconferenzen gehalten werden, um die Gemeinschaftsangelegenheiten zu berathen, auch über Unterstützungen bedürftiger „Brüder“, zu entscheiden. An der Spitze jedes Kreises stehen einige Brüder, welche die Erbauungsstunden leiten, an der Spitze der ganzen Gemeinschaft 6 ältere Brüder, der engere Ausschuß, der besonders auch über die Verwendung der eingegangenen Liebesgaben (für Mission, wohlthätige Anstalten im In- und Ausland) entscheidet, jährlich findet eine Hauptconferenz statt, zu welcher jeder Kreis seine Deputirten sendet. Ein besonderer Ausschuß, Druckgesellschaft, führt Aufsicht und Rechnung über die zu druckenden Bücher, welche im Auftrag der Gemeinschaft herausgegeben werden (die Schriften von H., die Lebensbeschreibungen angesehener Mitglieder der Gemeinschaft, Egeler, Kolb, Ziegler, Straub, Haueisen, Rieß etc.). Trotz dieser Organisation hat doch keine Trennung der „Michelianer“, wie die Gemeinschaftsglieder gewöhnlich genannt werden, von der evangelischen Landeskirche Württembergs stattgefunden, die Gemeinden erhalten ihre vom Staat ernannten Geistlichen, in dem Halten von Privatversammlungen, Erbauungesstunden etc. sind sie durch Gesetz vom 9. April 1872 nicht gehindert, dagegen ist das Austheilen der Sakramente ihren Leitern nicht gestattet. So bildet die Gemeinschaft eine ecclesiola in ecclesia, seit Jahrzehnten ist der kirchliche Frieden auf keiner Seite gestört worden und das praktische Dringen auf Heiligung zeigt sich auch in dem stillen ehrbaren Leben der „Brüder“; als besondere Eigenthümlichkeit ist noch anzuführen, daß in Uebereinstimmung mit Hahn’s ascetischen Principien die Ehelosigkeit als ein höherer, Gott wohlgefälliger Stand angesehen wird. – Außer Hahn’s Schriften ist die Hauptquelle: Die Hahn’sche Gemeinschaft. Ihre Entstehung und seitherige Entwickelung, Stuttgart 1877.

Grüneisen, Abriß einer Geschichte der religiösen Gemeinschaft in: Zeitschrift für die historische Theologie, 1841; Haug, Die Secte der Michelianer in: Studien der evangelischen Geistlichkeit Württembergs, herausgegeben von Klaiber und Stirm, Bd. 11. H. 1; Palmer, Die Gemeinschaften und Secten Württembergs, Tübingen 1877; Stälin, Rechtsverhältnisse der religiösen Gemeinschaften in Württemberg: Zeitschrift für Kirchenrecht, Bd. 11.