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ADB:Hercher, Rudolf

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Artikel „Hercher, Rudolf“ von Alfred Eberhard in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 12 (1880), S. 51–54, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Hercher,_Rudolf&oldid=- (Version vom 21. November 2024, 20:47 Uhr UTC)
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Hercher: Rudolf H., Philologe, geb. 11. Jan. 1821 zu Rudolstadt, gest. 26. März 1878 zu Berlin. Sein Vater Johann Andreas H., ein lebhafter, vielfach angeregter Mann mit entschiedenem Zug zur Originalität, war Professor am Gymnasium zu Rudolstadt, zeitweilig Mitdirektor, später als Hofrath im Finanzfach thätig. 1830 trat H. in die unterste Klasse des Gymnasiums ein und bestand 1838 das Abiturientenexamen, blieb aber dem Wunsche des Vaters gemäß noch ein Jahr in der Heimath, indem er an einzelnen Lectionen der Prima theilnahm und sich in verschiedenen Gebieten, namentlich auch in deutscher Litteratur und Zeichnen weiterbildete. Englisch lernte er bei der Prinzeß Caroline von Bückeburg; im Lateinischen förderte ihn Obbarius, im Griechischen Sommer († 20. Juli 1846), der überhaupt auf seine ganze Studienrichtung [52] den größten Einfluß übte. Seit Ostern 1839 studirte er in Leipzig, wo er G. Hermann, noch mehr aber M. Haupt nahe trat; nach dreijährigem Aufenthalt daselbst bezog er 2 Semester die Universität Berlin und wurde dann, nachdem er zuvor in Jena promovirt hatte, Hauslehrer bei dem einzigen Sohn des oldenburgischen Bundestagsgesandten von Both zu Frankfurt a. M. (1844). In dieser Stellung blieb er über ein Jahr, brachte darauf ein halb Jahr bei Verwandten in Manchester und London zu und kehrte auf kurze Zeit nach Rudolstadt zurück. Von Ostern bis Herbst 1846 war er als Hauslehrer bei einer irischen Familie theils in Dublin, theils auf dem Lande, hielt sich hierauf noch einige Monate in England und vorübergehend in Holland auf und trat alsdann die ihm angetragene Collaboratur am Gymnasium seiner Vaterstadt an 1847; seine Beförderung zum Professor 1854 feierten die Schüler durch einen Fackelzug. Von Rudolstadt aus hatte er zu wissenschaftlichen Zwecken Paris auf einige Monate besucht; einjähriger Urlaub für eine Reise nach Italien, den er 1859 erhielt, wurde wegen einer Augenkrankheit, welche ihn in Rom befallen hatte, um ein Jahr verlängert. Mit reichem Ertrage von Anschauungen und von Material zu wissenschaftlichen Arbeiten kehrte er 1861 heim. Hatten schon vorher I. Bekker und G. Parthey, mit denen er in Rudolstadt bekannt geworden, in Berlin auf ihn aufmerksam gemacht, so kam jetzt die Empfehlung der römischen Freunde hinzu: bereits im Herbst 1861 wurde er als Professor an das Joachimsthal’sche Gymnasium berufen. Bald nach seiner Uebersiedelung nach Berlin wurde er Mitglied des deutschen archäologischen Instituts in Rom, 1865 Mitglied der Centraldirektion desselben; 1873 wählte ihn die Berliner Akademie der Wiss. zum ordentlichen Mitglied, als welches er seine Eintrittsrede am 2. Juli 1874 hielt, 1875 die Akademie in Petersburg zum Correspondenten. Paris besuchte er nochmals 1867, Ithaka und Korfu 1863. Drei Berufungen, darunter zwei nach kleineren Universitäten, lehnte er ab: fühlte er doch mehr und mehr, daß die geistige Lebensluft, welche die Kreise seines ausgedehnten freundschaftlichen Verkehrs durchwehte, ihm kaum anderswo ersetzt werden könne. Die ersten Männer der verschiedensten Wissenschaften und Künste zählten zu seinen Freunden; von Berliner Philologen Haupt und Bekker, Meineke, Mommsen und Kirchhoff. Dabei zog er gerne jüngere Berufsgenossen, wofern er ernstes Streben bei ihnen gewahrte, zu sich heran und verkehrte mit ihnen in seltener, kein Opfer an Zeit scheuender Liebenswürdigkeit, mit Rath, Lob und Tadel sie lenkend; dagegen wies er eitele Mittelmäßigkeit, in welcher Stellung auch sie ihm entgegentreten mochte, mit schonungslos schneidender Schärfe zurück. Schwerlich konnte jemand, der mit ihm in Berührung trat, sich dem Eindruck entziehen, daß er einen Mann, welchem die Muse gelächelt, vor sich habe. Ein ebenso weit sich erstreckendes, wie stets gegenwärtiges Wissen, namentlich eine staunenswerthe Kenntniß der griechischen Sprache in allen Epochen, hauptsächlich aber der späteren Prosa, klares Urtheil, durchdringender Scharfblick, feiner Sinn für das Wahre und Natürliche im allgemeinen und für die Eigenthümlichkeiten der einzelnen Schriftsteller, Kraft der Concentration, glänzendes Conjecturaltalent gepaart mit überraschender Sicherheit im Entziffern der schwierigsten handschriftlichen Ueberlieferung zeichneten ihn aus; Latein handhabte er mündlich und schriftlich so daß seinem Stil eine eigenartige Färbung blieb; Französisch, Englisch und Italienisch schrieb und sprach er mit vollkommener Beherrschung; er besaß hohes Verständniß für die bildende Kunst und die Musik und zeichnete selbst meisterhaft. Im Gespräch war er gedankenvoll, oft geistsprühend, von prägnanter Kürze und rückhaltsloser Offenheit – wie in all seinem Thun; sein Humor schien unerschöpflich, sein Witz war stets schlagfertig, nicht selten kaustisch. Dieselben Eigenschaften zeigte seine ausgebreitete Correspondenz: jede Zeile die [53] er schrieb, war charakteristisch. Zu diesen geistigen Anlagen gesellten sich reiche Gaben des Gemüthes, die sich besonders entwickelten, als er bereits vorgerückt in Jahren sich mit einer trefflichen Lebensgefährtin verband, welche ganz in ihm und seinen Interessen, denen sie in seltener Weise zu folgen wußte, lebte. Unter ihrer Pflege überstand er einen schweren Gelenkrheumatismus und ein Kuraufenthalt in Thüringen erfüllte ihn mit neuem Lebensmuth. Doch stellte sich allgemach wieder eine nervöse Abspannung ein, die er mit kalten Bädern und Elektrisiren zu bannen versuchte – mit scheinbarem Erfolg für einige Zeit; doch die Wurzel des Uebels wurde nicht gehoben. Ohne eigentlich krank zu sein, oft ganz in der alten Frische, dabei noch in seinem Amte, wenngleich mit Pausen thätig, ließ er doch seit Anfang 1878 die Besorgniß seiner Freunde nicht zu Ruhe kommen; namentlich der Zeitbegriff kam ihm mitunter abhanden. Er verschied an den Folgen eines Blutaustrittes in das Gehirn am 26. März 1878 ganz sanft. Daß eine so bedeutende Persönlichkeit auch lehrend ihrer Wirkung nicht ermangelte, daß sie bei den hervorragenderen Schülern Bewunderung und Liebe, bei allen Respekt fand, ist selbstverständlich; für die Durchschnittsmenge fehlte es H. wohl manchmal an der gleichmäßigen Ruhe und an der Neigung zu ihren Bedürfnissen herabzusteigen. – Den Gang seiner wissenschaftlichen Entwickelung legen am klarsten die schlichten bescheidenen Worte bei seiner Einführung in die Berliner Akademie (Monatsber. 1874. S. 459 ff) dar. Seine Leistungen liegen fast sämmtlich im Gebiet der Kritik, der sog. niederen sowohl wie der höheren und zwar einer auf feste Principien gestützten Kritik, die auf sicher gewonnener Grundlage der Handschriften fußend, sich über dieselbe mit Urtheil, Sprach- und Sachkenntniß erhebt und auch die kühnsten Heilmittel für erkannte Schäden nicht scheut. Der überwiegenden Mehrzahl nach beziehen sich Herchers Arbeiten auf die nachklassischen griechischen Prosaiker; in den späteren Jahren ist neben diese Homer getreten; wenige Stellen des Herodot, Xenophon, Plato und Demosthenes hat er besprochen, nur ganz vereinzelt aber die lateinische Litteratur berührt. Bereits seine erste Veröffentlichung, die Ausgabe der Schrift: „περὶ ποταμῶν καὶ ὀρῶν ἐπωνυμίας“ (Leipz. 1851), worin er dieselbe als dem Plutarch untergeschoben erweist, zugleich aber den Text an zahlreichen Stellen bessert und die „Symbolae criticae ad Arriani libellum de uenatione“ (1852, Philol. VII) mit zahlreichen Emendationen zu anderen Schriftstellern aus reicher und sorgfältiger Lectüre zeigen das Charakteristische seiner Weise zu arbeiten. Es folgen: Mich. Psellos, περὶ ὠμοπλατοσκοπίας καὶ οἰωνοσκοπίας aus einer Wiener Handschr., Philol. (1858) 8, 166 ff.; ebd. 755 ff. Ergänzungen des Textes von Nikephoros Gregoras „de erroribus Ulixis“ aus einem Wiener Codex; ebd. 10, 346 (1855) der Anfang von Achmets Traumbuch; die kleinen Schriften Arrians, Leipz. 1854; „Die Glaubwürdigkeit des Ptolemäus Chennus“, Leipz. 1856; („Entlarvung eines litterarischen Schwindlers“; aus dem 1. Suppl.-Bd. der Jahrbb. für kl. Philol., S. 267–293, vgl. Jahrb. 79, 222); „de Aeliani uaria historia, Progr., Rudolst. 1856; die Gesammtausgabe des Aelian mit den Schriften des Porphyrius von der Enthaltsamkeit und von der Nymphengrotte, und Philo von Byzanz über die 7 Weltwunder, griech. und lat. mit kritischem Commentar, Paris, Didot 1858; „Erotici Graeci“, 2 Bde., Leipz. 1858–59; „Astrampsychi oraculorum decades C. III. R. H. ex codd. Italicis nunc primum edidit“, Berl. 1863, Progr. des Joachimsthal’schen Gymnas.; Artemidor, Leipz. 1864; Aelian, Leipz. 2 Bde., 1864–66, („accedunt rei accipitrariae scriptores“: „Demetrii Cynosophium, Georgii Pisidae Hexaëmeron, Fragm. Herculanense“, Bd. II. 333–665; „Constantini Manassis ecphrasis imaginum nunc primum edita [ex cod. Marc.]“, Nuove Memorie dell’ Inst. di corresp. arch., II 491–500, [54] Rom 1865; „Fragmentum Marcianum, Χαρικλείας ἑρμήνευμα ἐκ φωνῆς Φιλίππου τοῦ φιλοσόφου“, Herm. 3, 382 ff., 1868; „Plutarchs Aristides und Cato“, Revision der Sintenis’schen Bearbeitung mit Commentar (3. A.) und Textausgabe nach der Seitenstettener Handschr., Berlin 1870; in demselben Jahre die große und die kleine Ausgabe des Aeneas Tacticus, wobei H. aus dem Wuste der Interpolation einen rein attisch schreibenden Autor wiedererweckte; dann der Neudruck des Textes von Aelians Var. hist. für den Gebrauch der griechischen Schulen, Leipzig 1870; der erste Band von Plutarchs Moralia, Leipz. 1872. Die Fortsetzung ist leider ebenso unterblieben, wie die beabsichtigte größere Ausgabe; „Epistolographi Graeci“, Paris 1873; „Theodori Prodromi Catomyomachia“, Leipz. 1873; „Apollodors Bibliothek, besonders durch Heranziehung der indirekten Ueberlieferung emendirt“, Berlin 1874. Hierzu kommen noch zahlreiche Aufsätze, meist einzelne Stellen behandelnd, in Zeitschriften: den Jahrb. für kl. Philol. (1851–62), dem Philologus (1849–59, Bd. 4–10. 13. 14), dem Rhein. Museum (1862 f., Bd. 17. 18), dem Hermes, an dessen Gründung und Redaktion er lebhaft betheiligt war (1866–78, Bd. 1–9. 11–13), der Zeitschr. f. Gymnasialwesen; viele seiner Bekannten hat er durch werthvolle Beiträge zu ihren Arbeiten unterstützt. Geradezu grundlegend für die Beurtheilung des Verhältnisses, in welchem bei allem Topographischen der Dichter zum Thatsächlichen steht, sind seine homerischen Abhandlungen – „Homer und das Ithaka der Wirklichkeit“, Hermes 1, 263 (1866); „Ueber die homerische Ebene von Troja“ (Abh. der Berl. Akad.), 1876; „4 homerische Flüsse“, in der Gratulationsschrift für Th. Mommsen, Berlin 1877; vgl. Hermes 12, 391. 513 –, welche zugleich für das Verständniß einzelner Stellen und der Composition jener Dichtungswerke sehr beachtungswerthe Gesichtspunkte eröffnen. Nicht unmittelbar mit diesen Studien – welche übrigens durch die Praxis des Unterrichtes veranlaßt waren – hing es zusammen, sondern war auf persönliche Gründe zurückzuführen, daß er die Herausgabe des 2. Bandes von Bekkers Homerischen Blättern, Bonn 1872, besorgte, ebenso wie die 3. Aufl. von Lobecks „Aias“, Berlin 1866. Die Archäologische Zeitung enthält 2 Aufsätze von H., 26 (1868) S. 76 einen Bericht über Woodhouse, seine Sammlung und deren Schicksale, und 27 (1869) S. 33 eine Mittheilung über die neuen archäologischen Erwerbungen des britischen Museum auf Grund des officiellen Verwaltungsberichtes. – Aus Herchers litterarischem Nachlaß sollen noch die Ausgaben von Herodians Kaisergeschichte und vom Antonius Liberalis, sowie die Neubearbeitung der kleinen Schriften Arrian’s und der Erotiker durch den Unterzeichneten besorgt erscheinen. Der bedeutende Apparat zu Plutarch harrt noch eines Bearbeiters, während die Collationen etc. zu den Geoponica von H. selbst dem Director M. Treu in Ohlau übergeben worden sind.