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ADB:Kieser, Dietrich Georg von

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Artikel „Kieser, Dietrich Georg v.“ von August Hirsch in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 15 (1882), S. 726–730, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Kieser,_Dietrich_Georg_von&oldid=- (Version vom 19. Dezember 2024, 07:38 Uhr UTC)
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Kieser: Dietrich Georg v. K., Arzt, ist am 24. August 1779 in Harburg geboren. Nach Beendigung seiner wissenschaftlichen Vorbildung auf dem Gymnasium in Lüneburg, studirte er zuerst in Würzburg und sodann in Göttingen Medicin, und erlangte im J. 1804, nach Vertheidigung seiner Inauguraldissertation „De anamorphosi oculi“ (deutsch unter dem Titel „Ueber die Metamorphose des Thierauges“, abgedruckt in der von Himly und Schmidt herausgegebenen ophthalmol. Bibliothek, 1804, Bd. II, S. 73) den Doctorgrad. Sogleich nach erfolgter Promotion habilitirte er sich als Arzt in dem hannoverischen Städtchen Winsen a. d. Luhe, siedelte von hier aber im J. 1806 nach Northeim über, wo er 1807 zum Stadtphysicus und Brunnenarzt ernannt wurde und wo er bis zum J. 1813 verweilte. In dieser Zeit veröffentlichte er „Aphorismen aus der Physiologie der Pflanzen“ (1808), ferner eine von der Gesellschaft der Aerzte in Amsterdam des Preises würdig befundene Schrift „Ueber die Natur, Ursachen, Kennzeichen und Heilung des schwarzen Staars“, 1810, wegen deren ihn Himly übrigens eines an ihm (Himly) begangenen Plagiats zieh, sodann eine anatomisch-physiologische Abhandlung über den „Ursprung des Darmcanals aus der vesicula umbilicalis dargestellt, im menschlichen Embryo“, 1810, und den „Entwurf einer Geschichte und Beschreibung der Badeanstalt bei Northeim“, 1810; auch gab er von eben hier aus in Gemeinschaft mit Oken „Beiträge zur vergleichenden Zoologie, Anatomie und Physiologie“ heraus, von welchen zwei Hefte (1806, 1807) erschienen, an denen er selbst sich jedoch nur mit einer Arbeit „Ueber die Metamorphose des Auges des bebrüteten Hühnchens im Eye“ (3. Artikel im 2. Hefte), einer weiteren Bearbeitung seiner zuerst genannten Schrift, betheiligt hat. – Im J. 1812 veröffentlichte er die „Grundzüge der Pathologie und Therapie des Menschen“, und in eben diesem Jahre erschien seine von der Teyler’schen Gesellschaft zu Haarlem [727] gekrönte Preisschrift „Mémoire sur l’organisation des plantes“, 1812 (deutsch unter dem Titel „Grundzüge zur Anatomie der Pflanzen“, 1815), in Folge deren er Anträge zur Uebernahme einer Professur in Gießen und Charkow erhielt, dieselben jedoch ablehnte, um einem Rufe als Prof. extraord. für allgemeine und specielle Pathologie und Therapie nach Jena zu folgen, wo er gleichzeitig Vorlesungen über Geschichte der Medicin und über Anatomie und Physiologie der Pflanzen hielt, und die Stelle des Brunnenarztes in Berka versah. – Hier veröffentlichte er als Antrittsprogramm bei Eröffnung seiner Vorlesungen über Pathologie eine kleine Schrift „Ueber das Wesen und die Bedeutung der Exantheme“, 1813, und gelegentlich des eben damals allgemein verbreiteten Kriegstyphus „Vorbeugungs- und Verhaltungsmaßregeln bei ansteckenden Faul-Fieberepidemieen“. – Im J. 1814 ging K. als Wachtmeister und Feldarzt eines aus Studenten gebildeten reitenden Freicorps mit den weimarischen Truppen nach Frankreich und trat 1815, nach der Schlacht bei Belle Alliance, in preußische Dienste über, indem er die Oberleitung der Kriegsspitäler in Lüttich und Versailles übernahm. – Nach Jena zurückgekehrt, und in Anerkennung seiner Verdienste zum preußischen Hofrathe ernannt, nahm er seine akademische und litterarische Thätigkeit mit vollem Eifer wieder auf; in den J. 1817–19 veröffentlichte er, im Anschluß an die oben genannten Grundzüge der Pathologie sein „System der Medicin“ in 2 Bänden, ferner das „System des Tellurismus oder thierischen Magnetismus“, 2 Bde. 1821, 22, und begründete in Gemeinschaft mit Eschenmeyer und Nasse das „Archiv für thierischen Magnetismus“, von welchem in den J. 1817–24 12 Bände erschienen, dem sich noch zwei, von K. herausgegebene Hefte, „Sphinx. Neues Archiv für den thierischen Magnetismus“, 1825, 26, anschlossen. – Inzwischen war er im J. 1818 zum Professor honorarius und Beisitzer der medicinischen Fakultät befördert worden, 1824 wurde er zum Prof. ordinarius, 1828 zum geheimen Hofrathe und Mitgliede des Senats ernannt und vertrat, nachdem er verschiedene Berufungen nach Erlangen, Löwen, Dorpat u. a. Universitäten abgelehnt hatte, vom J. 1831 bis zum J. 1848 die Universität beim Landtage, als dessen Vicepräsident er auch im J. 1848 dem Frankfurter Vorparlament beigewohnt hat. – In seiner ärztlichen Thätigkeit hatte ihn bis zum J. 1847 vorzugsweise die von ihm geleitete medicinisch-chirurgische und ophthalmiatrische Privatklinik beschäftigt; diese Stellung gab er auf, als ihm in dem genannten Jahre die Leitung der großherzoglichen Irrenheilanstalt übertragen worden war, und er neben derselben eine Privatklinik für Geisteskranke (Sophronisterium) begründet hatte. – Auch in seiner schriftstellerischen Thätigkeit beschränkte sich K. seit dem J. 1827 nur noch auf Abfassung akademischer Gelegenheitsschriften (darunter namentlich 7 Programme „De febris puerperarum indole et medendi ratione“, 1825–29) und klinischer Berichte, welche vom J. 1831 an zuerst in verschiedenen medicin. Zeitschriften, sodann in den von ihm herausgegebenen „Klinischen Beiträgen“, 1834, erschienen und nachher in der unter seinem Präsidium von Weiß vertheidigten „Dissert. med.-pract. exhibens decennium clinicum in Acad. Jenensi inde ab anno 1831 ad annum 1841 auspiciis Dr. Kieseri habitum,“ 1844, fortgeführt worden sind. – Als Mitglied der Leopoldinischen Akademie, an deren Akten er sich mit mehreren Beiträgen betheiligt hat, wurde K. von derselben zuerst zum Adjuncten, sodann 1847 zum Director Ephemeridum ernannt, und in dieser Eigenschaft hielt er sich für verpflichtet, in einer 1851 veröffentlichten Schrift „Zur Geschichte der kaiserlichen Leopoldinisch-Carolinischen Akademie der Naturforscher“, eine Beleuchtung der gegen den Präsidenten Nees v. Esenbeck eingeleiteten gerichtlichen Untersuchung und intendirten Cassation desselben zu geben, in welcher er nachwies, daß das Verhalten des Präsidenten [728] der Akademie von jedem Unparteiischen als ein vollkommen correctes beurtheilt werden mußte. Sein letztes litterarisches Werk erschien im J. 1855 in den „Elementen zur Psychiatrik“, in welchem er seine reichen Erfahrungen auf dem Gebiete der Geisteskrankheiten niederlegte und neben dem er noch Mittheilungen über die Leistungen der von ihm geleiteten Irrenheil- und Pflegeanstalt aus den J. 1851–54 in zwei in der Zeitschrift für Psychiatrie (1855, 56) veröffentlichten Artikeln machte. – Im J. 1858 wurde er an Stelle des verstorbenen Nees v. Esenbeck zum Präsidenten der Leopoldinischen Akademie ernannt, gleichzeitig auf seinen Wunsch von dem Directorium der Irrenheilanstalt enthoben; er konnte sich nun mit allem Eifer den Präsidialgeschäften der Akademie widmen, mit welchen ihm eine Aufgabe zugefallen war, an der sein organisatorisches Talent sich in vollstem Umfange bewährte, und die er mit einer für sein hohes Alter bewunderungswürdigen Energie und mit jener treuen Liebe für das Allgemeinwohl zu lösen bemüht gewesen ist, durch die er sich einst im Kampfe für das Vaterland das eiserne Kreuz verdient hatte. – Am 8. Juni 1862 feierte K. sein 50jähriges Professorjubiläum, bei dem er mit hohen Orden deutscher und ausländischer Fürsten und mit zahlreichen Auszeichnungen von Universitäten, Akademien und anderen gelehrten Corporationen geehrt wurde, und von dem an er auch das ihm als Präsidenten der Akademie zustehende Adelsrecht mit dem Titel eines kaiserlichen Pfalzgrafen in Anspruch nahm. – Trotzdem seine Kräfte in den letzten Jahren abgenommen hatten, war er doch noch mit gewohnter Pflichterfüllung seinen Präsidialgeschäften, wie seinen Funktionen bei der medicinischen Fakultät und den Aufgaben des Seniors der Universität nachgekommen; bald nach seiner Jubelfeier trat ein langsames, aber sichtbares Sinken seiner Kräfte ein und, ohne daß erhebliche Beschwerden dem Ende vorhergingen, zollte er am 11. October desselben Jahres der Natur ihren Tribut. – K. zählt zu den Jüngern der Schelling’schen Naturphilosophie extremster Richtung, vor den meisten derselben aber zeichnet er sich durch wirkliche Gelehrsamkeit und durch einen wissenschaftlichen Sinn aus, den er namentlich in seinen naturwissenschaftlichen Arbeiten bethätigt hat. Seine Schrift über die Pflanzenanatomie ist eine bahnbrechende Arbeit geworden, welche lange Zeit das Beste und Vollständigste auf diesem Gebiete der Botanik geblieben ist, und dieselbe Anerkennung muß seinen Forschungen in der Entwickelungsgeschichte des thierischen Eies gezollt werden, mit welchen er, als der erste nächst Emmert, die bei den Säugethieren schon früher beobachtete Harnhaut (Allantois) auch bei dem menschlichen Embryo nachwies und die von Oken vermuthungsweise ausgesprochene Bildung des Darmkanals aus dem Nabelbläschen faktisch demonstrirte. – Ein wenig günstiges Urtheil muß dagegen über seine medicinischen Schriften, und namentlich über sein „System der allgemeinen Pathologie“ gefällt werden, in dessen Bearbeitung er von ungezügelter Speculation beherrscht und auf die abenteuerlichsten Irrwege geführt worden ist. K. wollte in seinem „Systeme der Medicin“ ein Werk schaffen, „in welchem die allgemeinen Gesetze des Lebens aus dem Grundprincipe desselben abgeleitet, in den Krankheiten und in den einzelnen Erscheinungen derselben nachgewiesen, und nach welchen die einzelnen Krankheiten geordnet und abgehandelt werden“, das unter seinen Händen aber zu einer philosophischen Mystifikation der allgemeinen Krankheitslehre entartet ist und in dem Gedanken gipfelt, daß Krankheit ein im gesunden Organismus entwickelter rückschreitender Lebensproceß, ein niederer (d. h. auf einer niedrigeren Stufe der thierischen Entwickelung stehender) sei, „der mit Recht eine Afterorganisation genannt werden könne“. – Diese Auffassung von Krankheit, welche übrigens nur ein Ausdruck des von den Naturphilosophen der Schelling’schen Schule so eifrig verfolgten Gedankens eines Fortschreitens in der [729] Entwickelungsreihe der organischen Welt vom Niederen zum Höheren bez. eines Zurücksinkens von diesem zu jenem ist, findet sich dann später bei Karl Richard Hoffmann (Professor der Medicin in Würzburg und Landshut, seit 1835 Kreismedicinalrath in Passau, 1851 daselbst gestorben) in seiner „vergleichenden Idealpathologie“, 1834, und bei Ferdinand Jahn (Hofmedicus in Meiningen) in „Ahnungen einer allgemeinen Naturgeschichte der Krankheiten“, 1828, in der exorbitantesten Weise ausgebeutet wieder. Ein humoristisches Urtheil hat Döllinger über das System Kieser’s mit den Worten gefällt: „es ist nichts werth, dieses System, es taugt nichts; es ist aber das Beste, welches es giebt, weil es das Einzige ist, welches wir haben“. – Die phantastisch-ideale Richtung, welche K. kennzeichnet, macht es erklärlich, daß er ein Opfer des seine Jugendzeit erfüllenden Mesmerischen Schwindels geworden ist. Er hat zu den eifrigsten Anhängern und Verehrern dieser Nachtseite der Medicin gehört und ist mit Schrift und Wort als Evangelist der Lehre vom thierischen Magnetismus und Somnambulismus thätig gewesen; allerdings muß man ihm die Gerechtigkeit widerfahren lassen, daß er sich von dem tollen Mysticismus, in den so viele der „gelehrten“ Mesmerianer verfallen waren, möglichst freigehalten hat und daß er immer bemüht gewesen ist, dem Gegenstande eine wissenschaftliche Seite abzugewinnen, ihn vom Standpunkte der physisch-psychischen Analyse zu erläutern und an der Hand gewissenhafter Beobachtungen das Dunkel des thierischen Magnetismus aufzuhellen; die Erfahrungen, welche die neueste Zeit an den Erscheinungen des Tischrückens, den Leistungen in der vierten Dimension und am Hypnotismus gemacht hat, dürften wohl geeignet sein, das Urtheil der Nachwelt über die Mesmerischen Verirrungen Kieser’s wesentlich milder zu stimmen. – Uebrigens hing seine Begeisterung für diesen Gegenstand offenbar mit dem lebhaften Interesse zusammen, welches er für das Studium der Geisteskrankheiten hatte, dessen Bearbeitung er sich, wie zuvor bemerkt, zu einer besonderen Lebensaufgabe gemacht hatte; und gerade auf diesem Gebiete hat er Anerkennenswerthes geleistet. – Seine psychiatrische Schrift ist trotz aller Excentricität und trotz der Fremdartigkeit des naturphilosophischen Gewandes, in welchem dies Werk mitten in der Zeit der nüchternsten Forschung auftrat, als eine bemerkenswerthe Erscheinung von den Fachgenossen begrüßt worden und namentlich hat sich der praktische Theil desselben durch die klare Schilderung der einzelnen Formen der Geistesstörungen und durch die werthvollen eigenen Beobachtungen des Verfassers des Beifalles derselben erfreut. Bedeutsam ist in dieser Schrift die streng somatische Auffassung der Geisteskrankheiten; K. hielt es daher für geboten, die der neuesten Zeit angehörigen feineren Untersuchungen über die Histologie des Gehirns in die Schrift mit aufzunehmen, er erklärte, daß man sich für die Förderung der Psychiatrie das Meiste von pathologisch-anatomischen Forschungen versprechen dürfe und daß die Beobachtungen, welche für Geistesstörung ohne anatomische Veränderungen im Hirne geltend gemacht worden seien, auf Irrthum (bez. auf vorläufigem Mangel an Erkenntniß) beruhen. – Dem Charakter Kieser’s, als Mensch und Bürger, wird von seinen Freunden das höchste Lob gezollt. Er war ein straffer Mann, mit militärischer Haltung, noch in seinem 80. Lebensjahre ein Bild körperlicher und geistiger Kräftigkeit; treu seinem Wahlspruche: „semper idem, tenax propositi“ verfolgte er mit eiserner Consequenz die Ziele, welche er sich in der Wissenschaft und im Leben gestellt hatte. Er war ein Patriot im vollsten Wortverstande, nie verleugnete er liberale Grundsätze, mit Begeisterung benutzte er jede ihm gebotene Gelegenheit, dem allgemeinen Wohle zu dienen, und so hat er sich in seiner Eigenschaft als Vertreter der Landesuniversität in dem weimarischen Landtage um die Verbesserung der Schul- und Pfarrstellen, um das Gefangenenwesen und andere allgemeine [730] Institute große Verdienste erworben. Seiner Familie war er stets der liebevollste Gatte und Vater; hinter seinem anscheinend schroffen Wesen versteckte sich Gemüthstiefe und wahre Menschenfreundlichkeit. So wird die Geschichte des deutschen Volkes und der deutschen Wissenschaft K. stets ein ehrendes Andenken bewahren.

Ueber sein Leben vgl. Carus in Verhandlungen der Leopoldinischen Akademie, Bd. XXX, Leopoldina Heft IV, S. 33; v. Martius, Akad. Denkreden, Leipzig 1866, S. 500.