ADB:Kálnoky, Gustav Graf von

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Artikel „Kálnocky, Gustav Graf von“ von Berthold Molden in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 51 (1906), S. 1–25, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:K%C3%A1lnoky,_Gustav_Graf_von&oldid=- (Version vom 28. März 2024, 12:29 Uhr UTC)
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Kálnoky: Graf Gustav K. Am 10. October 1881 starb plötzlich der österreichisch-ungarische Minister des Aeußern, Freiherr v. Haymerle, der erst zwei Jahre vorher an die Stelle Andrássy’s getreten war; ein wohlwollender, vielseitig gebildeter Herr, ein erfahrener Diplomat, von maßvollem, ausgeglichenem Wesen, ein gerader, einfacher und zuverlässiger Charakter. Zum Nachfolger ersah der Kaiser den Botschafter in Petersburg, Grafen Gustav Kálnoky, aus, dessen Thätigkeit er schon seit längerer Zeit mit Aufmerksamkeit verfolgte. Graf K. hatte für die unerwartet frei gewordene Stelle weder candidiren wollen, noch schreckte er vor der schwierigen Mission, als sie ihm angeboten wurde, zurück; er meinte nur, er sei den heimathlichen Verhältnissen zu sehr entfremdet, und nicht geeignet, sich im parlamentarischen Parteileben zu bewegen. Der Kaiser ging über diese Einwendungen hinweg und vollzog am 20. November die Ernennung. So wurde Graf K. „Minister des kaiserlichen Hauses und des Aeußern“ und Vorsitzender im gemeinsamen Ministerrathe, dem damals Graf Bylandt-Rheydt als Kriegsminister und Szlavy als gemeinsamer Finanzminister und oberster Verwalter der occupirten Provinzen Bosnien und Herzegowina angehörten.

Graf K. war mit verhältnißmäßig kurzer Unterbrechung seit 27 Jahren im Auslande beschäftigt gewesen und in Oesterreich-Ungarn außerhalb eines sehr engen Kreises nur wenig bekannt. Man erinnerte sich, daß er Anfang der siebziger Jahre seinen damaligen Posten als Vertreter beim Vatican aufgegeben hatte, weil ihm, wie es hieß, die Haltung des liberalen Grafen Andrássy in den Beziehungen zur Curie nicht behagte. Also eine selbständige Natur und in seiner Gesinnung conservativ. Diejenigen, die gelegentlich Näheres über ihn gehört hatten, sagten ihm Hochmuth nach, aber zugleich einen scharfen Verstand, der auch die Anerkennung seiner beiden Vorgänger gefunden habe. In seiner äußeren Erscheinung war Graf K. ein Mann von mittlerem Wuchs, eher leicht gebaut; das Antlitz war von klugen braunen Augen belebt und das Lächeln, das zuweilen um den Mund spielte, schien ironisch. Er machte den Eindruck eines kaltblütigen, eleganten Aristokraten, der sich nicht imponiren läßt, eines Mannes von Geist und festem Willen. – Am 9. December traf K. in Wien ein. Es war der Tag nach dem furchtbaren Ringtheater-Brand, und schwerlich hat irgend Jemand in der von Entsetzen und Trauer erfüllten Bevölkerung die Ankunft des neuen Ministers beachtet, dem die Ereignisse eine Aufgabe stellen sollten, viel größer und schwieriger als man damals voraussehen konnte.

* * *

[2] Graf Gustav Kálnoky war auf Schloß Lettowitz in Mähren am 29. December 1832 geboren. Seine Mutter war eine geborene Gräfin Schrattenbach und Erbin des Gutes Prödlitz. Der Vater, Graf Gustav, entstammte einer siebenbürgischen Familie und war selbst noch in Hermannstadt zur Welt gekommen; Lettowitz war erst ein Erbtheil von großmütterlicher Seite, aus dem Besitze des Grafen Blümegen, der zur Zeit Maria Theresia’s Minister gewesen war. In den ungarischen Grafenstand war anno 1697 der Kanzler Samuel Kálnoky, Herr auf Köröspatak, erhoben worden, so daß der nachmalige österreichisch-ungarische Minister des Aeußern auf Vorfahren, die hohe Staatsstellungen eingenommen hatten, zurückblicken konnte. Die Kálnokys entstammten dem Székler Volk, dem in Siebenbürgen angesiedelten Brudervolk der Magyaren, und hatten von Altersher zu den „Primoren“, den Vornehmen, gehört, die im Frieden und im Kriege an der Spitze ihrer Nation standen. Auch die Andrássys sind aus dem tapferen Széklerblut hervorgegangen.

In Lettowitz lebte die Familie Kálnoky in einfachen Verhältnissen, und weder der Vater noch die Mutter und die Kinder kamen mit den Wiener Salons in Berührung. Von den drei Knaben war Gustav der zweite, nach ihm kamen Töchter, von denen sich die jüngste, die nachmalige Herzogin von Sabran, zu einer blendenden Schönheit entfaltete, und schließlich wieder ein Sohn, Hugo, der jetzt der Vater einer zahlreichen Nachkommenschaft ist, die den Namen fortpflanzt. Die beiden Aeltesten genossen den Unterricht im Hause, und einer der Erzieher, die nacheinander in Lettowitz auftauchten, war der Benedictiner Béla Dudik, der sich als Historiograph Mährens einen guten Ruf gemacht hat und der vielleicht den Grund zu dem lebhaften Interesse legte, das Graf K. den Geschichtsstudien widmete. Gleich dem Bruder Alexander – Graf Hugo hat später dieses Beispiel ebenfalls befolgt – ging Graf Gustav blutjung, mit 17 Jahren, zur Cavallerie. Er wurde Husarenofficier und zeichnete sich als ungewöhnlich guter Reiter aus; auch der Kaiser bewunderte einmal seine Kunstfertigkeit. Im Verkehr war er schüchtern, man fand in Wien seinen Dialekt und seine Haltung provinzial und erst einige hülfreiche hohe Damen, die sich des jungen Mannes gesellschaftlich annahmen, darunter besonders Fürstin Schwarzenberg, führten ihn in die Welt ein und ermuthigten ihn, sich auf dem Parkett freier zu bewegen. Er hatte die Zwanzig schon erreicht, als es ihn lockte, den Beruf zu wechseln. Der damalige Minister des Aeußern, Fürst Felix Schwarzenberg, der das Ansehen des Kaiserstaats nach 1848 wieder hergestellt und hoch erhoben hatte, war von der Armee hergekommen; er war Rittmeister, dann Weltmann und Diplomat, dann wieder ein schneidiger General gewesen, ehe er als Minister Preußen bei Olmütz demüthigte. Auf die jungen Officiere von aristokratischer Abkunft übte er einen großen Eindruck und K. war nicht der einzige, der dem Vorbild nacheifern wollte. Auch war die militärische Laufbahn überfüllt, während es in der Diplomatie an Nachwuchs fehlte. Im April 1852 berief ein jäher Tod den Fürsten ab, und sein Nachfolger Buol kam Kálnoky’s Ansuchen, in die Diplomatie aufgenommen zu werden, wenig freundlich entgegen. Aber in K. war ein Gedanke, der sich einmal festgesetzt hatte, nicht so leicht auszutilgen und ebenso war und blieb es seine Art, daß zuweilen eine lang gehegte Neigung oder Abneigung plötzlich die Form eines unerschütterlichen Entschlusses annahm – was später bei denen, die ihn während seiner Ministerschaft nur als bedächtig überlegenden Mann kannten, das Urtheil hervorrief, daß er eine widerspruchsvolle Natur sei. So entschied er sich während einer Parade mit einem Male vom Fleck weg zum Ministerium zu reiten, um dem Grafen Buol mündlich seine Bitte [3] vorzulegen, und diesmal war er glücklicher. Doch mußte er seine Energie nun daran wenden, sich, während er noch Militärdienst leistete, auf die Diplomatenprüfung vorzubereiten. Er schrieb ein ausgezeichnetes Französisch, aber sonst waren seine Kenntnisse ziemlich lückenhaft, und eiserner Fleiß war nöthig. Im Juli 1854 legte er die Prüfung ab. Er wurde hierauf nach München und Berlin geschickt, und im December 1859 kam er als Legationssecretär nach London; auf diesem Posten, den er bis 1871 behielt, wurde er 1866 Legationsrath. In London war nachmals der, um fast ein Jahrzehnt jüngere Plener, der später im österreichischen Parlament zu führender Stellung gelangte und dann Finanzminister wurde, sein College. K. hat Plener stets seine Sympathie bewahrt.

Die Londoner Zeit war Kálnoky’s Lehrzeit, und[WS 1] dort entwickelte sich sein Wesen, sein Wissen und sein Können. Er lernte nicht nur interessante Menschen und große Verhältnisse kennen, er studirte auch, um das Versäumte nachzuholen, mit consequentem Ernst Sprachen, Geschichte und Litteratur. Er hat es damals und späterhin verstanden, in überraschender Weise den Tag auszunützen und war ein unermüdlicher und zäher Arbeiter. Auch zu gewissenhaftem Besuche der Museen blieben ihm Stunden übrig, und nebenbei übte er noch sein Zeichen- und Maltalent und zwar besonders gerne an humoristischen Stoffen. Er gewann Freude am Sammeln, brachte kostbare Drucke zusammen, darunter schöne Elzevire, und wenn er auf Reisen war, wußte er überall irgend ein Stück, das Aufmerksamkeit verdiente, für sich selbst oder zu Geschenkzwecken aufzustöbern. Der freien Natur stand er ziemlich gleichgültig gegenüber; sie sagte ihm nichts, und er wußte nichts mit ihr anzufangen. Das Reiten betrieb er als Virtuos; es machte ihm Vergnügen, seine ererbte und geschulte körperliche Gewandtheit zu bethätigen; die Jagd aber hat er nie gepflegt. Er war und blieb vorwiegend Cultur- und Verstandesmensch, etwas kühl und skeptisch in der Auffassung, seiner Urtheilskraft sicher, mißtrauisch gegen Alles, was ihm formlos, verworren oder nebelhaft schien, im ganzen mehr kritisch als schöpferisch angelegt. Wenn er schrieb, war sein Stil klar und bestimmt, und die Berichte, die er in Vertretung des Botschafters Grafen Apponyi nach Wien sendete, erweckten das Interesse des Kaisers. Als er nach kurzer Thätigkeit in Rom als Geschäftsträger und nach längerer Disponibilität, die durch den Mangel eines passenden Postens verursacht war, zum Gesandten in Kopenhagen ernannt wurde, beobachtete er dort nicht nur die Vorgänge bei Hofe, sondern er verfolgte auch die geistige Bewegung, und es finden sich in den Acten Berichte vom Grafen K. über die Bedeutung von Georg Brandes, die, wie versichert wird, verdient hätten, einem weiteren Kreise bekannt gemacht zu werden. Einer entschiedenen geistigen Potenz, wenn sie ihm nicht ganz gegen den Strich ging, pflegte er die gebührende Achtung nicht zu versagen. Dabei war er sich aber vor allem im höchsten Grade des Werthes bewußt, den der Zusammenhang mit einer festgegründeten Vergangenheit, die Zugehörigkeit zu einem ehrenvollen alten Geschlechte für den Einzelnen besitzt. Es dünkte ihm ein großer natürlicher Vorzug, ein Kálnoky zu sein und diese Vorstellung trug nicht wenig dazu bei, seine Charakterstärke noch zu erhöhen. Warum er in Rom, wo er sich gesellschaftlich sehr wohl fühlte, nicht länger geblieben ist – man erzählt, es habe sich dort sogar der einzige Fall ereignet, daß er einer Dame wärmere Huldigungen zollte – haben wir schon gestreift. Sein Stolz verbot es ihm, eine Politik zu vertreten, die er nicht billigte. „Graf Kálnoky“, so urtheilte über ihn ein hochstehender Diplomat, „hatte vielleicht noch mehr Charakter als Verstand.“ Sich zu beugen, war [4] nicht seine Sache, und was er im eigenen Namen nicht that, das that er um so weniger im Namen seines Kaisers.

* * *

Während Graf Kálnoky in Kopenhagen war, schrieb einmal der Kaiser auf einen seiner Briefe die Bemerkung nieder, es sei schade, daß eine solche Kraft nicht voll ausgenützt werde. Auch Graf Andrássy hatte von der Tüchtigkeit und dem Verstande Kálnoky’s, ohne gerade viel Sympathie für seine Natur und Geistesrichtung zu fühlen, die beste Meinung; als sich K. im Sommer 1879 in Wien aufhielt, schlug er ihm vor, nach Petersburg zu gehen, wo der Botschafterposten durch die Erkrankung des Freiherrn v. Langenau vacant geworden war; doch sollte dies nur ein Provisorium sein und K. sollte nur den Titel eines Gesandten führen. K. wird damals wohl schon geahnt haben, daß Graf Andrássy nicht mehr lange sein Chef bleiben werde und daß daher auf die Bedingungen, unter denen er sich nach Petersburg begab, wenig ankomme. Er nahm den Vorschlag an, im October trat Andrássy zurück, und dessen Nachfolger Freiherr v. Haymerle ernannte ihn im Januar 1880 zum Botschafter. Der neue Minister schätzte K. sehr hoch. Der ernste, bedächtige Diplomat bürgerlicher Abstammung hatte seit lange eine Vorliebe für den ernsten und bedächtigen aristokratischen Berufsgenossen, und als sein Vorgesetzter lernte er ihn immer mehr würdigen. Als die Baronin Haymerle – so erzählt Arneth in dem Rückblick, den er Haymerle gewidmet hat – einmal ihrem Bruder als eifrigem Sammler von Autographen die Handschrift Kálnoky’s schenkte, sagte scherzend ihr Gemahl: „Als Zukunftsmusik“. Und ernst werdend fügte er hinzu: „Ich werde ihn einmal zu meinem Nachfolger vorschlagen“. Vorläufig war er sein wichtigster Mitarbeiter, um so wichtiger, als K. sehr aufrichtig überzeugt war, daß Oesterreich-Ungarn und Rußland gute Freunde sein sollten.

Gerade während K. in Petersburg war, handelte es sich darum, die Störung des Verhältnisses zu Rußland zu beseitigen. Sie wurde um so unangenehmer empfunden, als Bismarck zu verstehen gab, daß das soeben geschlossene Bündniß die Entfremdung zwischen Berlin und Petersburg nicht verschärfen dürfe, daß er vielmehr eine Annäherung anstrebe und in der Orientfrage dem russischen Standpunkt näher als dem österreichischen stehe. Die Russen hatten versprochen, Bulgarien und Ostrumelien zu räumen, und 1880 räumten sie es nach wiederholtem Andrängen Oesterreichs und Englands wirklich. Aber daß ihnen der Berliner Congreß alle Früchte ihres Feldzuges für immer genommen haben sollte, wollten sie nicht zulassen, und Fürst Bismarck, dem sie die Hauptschuld an dem Verlauf des Congresses beimaßen, war um der Versöhnung willen bereit, ihnen nach Kräften beizustehen. Der russischen Diplomatie erschien es besonders werthvoll, den in San Stefano ausbedungenen Umfang des neuen Balkanstaates, in dem sie ihren Vasallen und Vorposten erblickte, wenigstenes annähernd zu erreichen und Bulgarien und Ostrumelien, die der Congreß auseinandergerissen hatte, zu vereinigen. Damit erklärte sich nun das Wiener Cabinet bedingungsweise einverstanden, und es kam unter Mitwirkung Kálnoky’s im Sommer 1881 eine Vereinbarung zwischen Deutschland, Oesterreich-Ungarn und Rußland zu Stande, die zwar später gegenstandslos wurde und die auch während ihrer Gültigkeit die Kühle Rußlands nicht in Freundschaft umsetzen konnte, die aber wenigstens dazu beitrug, daß die Temperatur, die fortwährend innerhalb bedenklich niedriger Grenzen schwankte, nicht geradezu unter Null sank. In dem Abkommen (das dem Publicum zuerst durch Friedjung’s biographische Skizze über K. bekannt geworden [5] ist), versprach Oesterreich-Ungarn, der Vereinigung Bulgariens und Ostrumeliens „si elle se faisait par la force des choses“ zuzustimmen und sich inbezug auf einen streitigen Punkt des Dardanellenvertrages der russischen Auffassung anzubequemen. Dafür erhielt es das Recht, die Occupation Bosniens und der Herzegowina in eine Annexion umzuwandeln, ein Recht, das mit der Gültigkeitsdauer des Vertrages, also 1884, erlöschen, aber während derselben nicht von der vorherigen Verwirklichung des bulgarischen Punktes abhängen sollte. Uebrigens machte das Wiener Cabinet, um Rußland keinen Anlaß zu Verdruß zu geben, selbst dann keinen Gebrauch davon, als – schon unter der Ministerschaft Kálnoky’s – der bosnische Aufstand dazu ausreichenden Anlaß bot.

* * *

Während Kálnoky in Petersburg war, hatte sich infolge des Mordes am 13. März 1881 der Herrscherwechsel vollzogen, und die revolutionäre That brachte wider Willen den Panslavismus in den Vordergrund. So lernte K. in bewegter Zeit das Terrain kennen, das ihn als Minister am meisten beschäftigen sollte und zugleich griff er zum ersten Male handelnd in die hohe Politik ein. Er wuchs dort zu dem fast selbstverständlichen Nachfolger Haymerle’s heran – wenn man nicht etwa Andrássy zurückberufen wollte. Auch er selbst hatte, als die Nachricht von Haymerle’s Tode eintraf, das Gefühl, zum mindesten nicht übersehen werden zu können und unterließ es, seinen schon erwirkten Urlaub anzutreten, um sich nicht den Anschein zu geben, daß er als Bewerber an Ort und Stelle auftreten wolle. Er wußte, daß er dem Posten, wenn er ihn erhielte, gewachsen sein würde und war vermuthlich nicht im mindesten überrascht, als er ihm thatsächlich angetragen wurde. Welche Bedenken er trotzdem glaubte geltend machen zu müssen, haben wir schon erwähnt; sie hatten mit der äußeren Politik nichts zu thun, und der Kaiser konnte ruhig über sie hinweggehen. Die wichtigste Aufgabe war, mit Rußland nicht auseinander zu kommen, und dazu war K., damals ein ausgesprochener Russophile, jedenfalls der geeignetste Mann. Drei Monate vorher hatte die Zusammenkunft der Kaiser und Kanzler von Deutschland und Rußland in Danzig stattgefunden, und der Zar telegraphirte damals an Kaiser Franz Joseph, daß er sich sehr glücklich gefühlt habe, „unsern Freund, mit dem uns gemeinsame Bande der herzlichsten Zuneigung verknüpfen“, wiederzusehen. Trotzdem befand sich, als K. von Petersburg abging, das Verhältniß zu Rußland, wie er später einmal selbst in der Delegation gestand, „in einem wenig behaglichen Zustande, weder gut, noch ganz schlecht, sondern schwankend“. Wenn der Zar dem Kaiser Wilhelm, seinem Großoheim, oder dem Kaiser Franz Joseph persönlich gegenüberstand oder persönlich mit ihren leitenden Ministern sprechen konnte, überwog in ihm das Vertrauen in ihren guten Willen und ihre Loyalität; wenn er wieder in der Heimath war, seine glänzenden Officiere und stattlichen Regimenter musterte und ringsum den Wiederhall Katkow’scher und Skobelew’scher Worte hörte, überwog die Erbitterung, daß Rußland für sein vergossenes Blut so wenig erreicht habe, während die Oesterreicher in Bosnien herrschten und Deutschland den ersten Rang in Europa einnahm, und überwog das Mißtrauen gegen Bismarck und seinen wirklichen und angeblichen Einfluß. Der bosnische Aufstand ließ der in Rußland herrschenden Stimmung wieder bis auf den Grund blicken.

Der Aufstand, der Bosnien, die Herzegowina und das südliche Dalmatien ergriff, war schon im Gange, als Graf K., zum Minister des Aeußern ernannt, [6] in Wien eintraf. Es war merkwürdig, daß, nachdem sich der Occupation im J. 1878 die Mohamedaner mit den Waffen widersetzt hatten, sich nunmehr Christen erhoben, und vielleicht war thatsächlich Begünstigung der katholisch-kroatischen Bevölkerung gegenüber der orthodoxen serbischen mit daran Schuld. Bezeichnend und verdächtig aber war es jedenfalls, daß Montenegro die Erhebung fast offen unterstützte. Das Kriegsministerium traf sehr energische Verfügungen, im März war die Bewegung niedergeworfen, und Ende April wurde an die Stelle Szlavy’s zum gemeinsamen Finanzminister und obersten Verwalter Bosniens der bisherige Sectionschef im Ministerium des Aeußern, Benjamin v. Kallay ernannt, der sich als ein Organisator ersten Ranges erwies und in mehr als zwanzigjähriger Thätigkeit dem Lande Ruhe, Fortschritt und Aufschwung gebracht hat. Für K. mußte außer der Haltung des Fürsten von Montenegro besonders lehrreich die Haltung der russischen Presse sein, die seinen Amtsantritt als ein Vorzeichen einer entgegenkommenden Politik Oesterreich-Ungarns begrüßt hatte und nun über den Freiheitskampf der südslavischen Brüder in helle Freude gerieth. Er konnte daraus ersehen, daß seine Berufung nichts an den ihm nun schon bekannten Verhältnissen geändert hatte. Was die amtliche russische Politik betrifft, so stand sie seit des neuen Kaisers Thronbesteigung (März 1881) unter dem Einflusse der Panslavisten zum mindesten insoweit, als Herr v. Giers – ein maßvoller und ruhiger Mann, mehr Beamter als selbständiger Politiker, der Vertreter und seit Anfang April 1882 der Nachfolger des kranken Gortschakow – eigentlich nur allzu heftige Regungen zu mildern und die diplomatischen Formen für die Entschlüsse Alexander’s III. zu liefern hatte. Der Kaiser war von Deutschenhassern umgeben und als Minister des Innern hatte er an seine Seite den ehrgeizigen und scrupellosen Ignatiew berufen, dem die russischen Agenten, die auf dem Balkan thätig waren, mit verständnißvollem Eifer nachstrebten. Im Januar hielt General Skobelew am Jahrestage der Erstürmung der Turkmenenfestung Geok Tepe eine Rede mit scharfen Bemerkungen gegen Deutschland und gegen das, die Bosnier mit Gewalt unterwerfende Oesterreich-Ungarn, eine Rede, wegen deren Giers dem Grafen K. sein Bedauern aussprach, die aber für den Liebling der Panslawisten keine andere schlimme Folge hatte als daß er eine Reise ins Ausland antreten mußte. Die Reise führte ihn nach dem schönen Paris, und als er zurückkehrte, hielt er in Warschau eine neue, diesmal hauptsächlich gegen Deutschland gerichtete und mit Complimenten für die Polen verzierte Rede, in der er erklärte, man wisse, wie der Zar über die große slavische Sache denke. Alexander citirte den stürmischen Kriegsmann und Agitator zu sich, wahrscheinlich um ihm im stillen eine Mahnung zu ertheilen, aber man hörte nicht, daß er in Ungnade gefallen wäre. Nur wurde den Officieren verboten, künftig noch politische Reden zu halten und Kaiser Alexander sendete ein Geburtstagstelegramm an Kaiser Wilhelm. Hatte Gortschakow einst nach dem Krimkrieg die Parole ausgegeben, Rußland sammle sich, aber es schmolle nicht, so schien jetzt die Parole zu sein, Rußland sammelt sich und es grollt.

Die Stimmung Rußlands konnte nicht ohne Wirkung auf die südeuropäischen Länder bleiben, und überall fühlte man sich ermuthigt, gegen Oesterreich-Ungarn unfreundlich aufzutreten. Montenegro war nach seiner Gewohnheit kühn vorangegangen; in Serbien hatte man sich mit handelspolitischen Widerhaarigkeiten begnügt, die übrigens schon vor Kálnoky’s Eintreffen bezwungen waren; in Rumänien wurde gegen die Wiener Anträge betreffend die europäische Donaucommission in so heftigen Formen protestirt, es kam dabei so viel populäre Gehässigkeit namentlich gegen Ungarn zum Vorschein und schließlich [7] brachte selbst die Thronrede König Karol’s einen so scharfen Passus gegen Oesterreich-Ungarn, daß noch wenige Tage vor Kálnoky’s Ankunft in Wien die diplomatischen Beziehungen zu dem damals jüngsten Königreiche Europas (Karol war im Mai gekrönt worden) abgebrochen wurden. Ein Ministerwechsel in Bukarest und die Zurückziehung der angefochtenen Stelle der Thronrede erleichterte zwar die Beilegung, aber noch lange grollte die Stimmung in Rumänien fort, und noch im Juni 1883 brachte auf einem Festmahl in Jassy, dem der König beiwohnte, der Senator Gradisteanu einen Trinkspruch aus, in welchem er sehr deutlich auf Siebenbürgen und die Bukowina, als auf zu erlösende Provinzen anspielte. Graf K. begnügte sich nicht mit der Weglassung des Trinkspruches im Bericht des rumänischen Amtsblattes, sondern verlangte eine officielle Verleugnung, die auch erfolgte. Sein sicheres Auftreten, die Einsicht des Königs und des Ministers Bratiano und die Macht der Thatsachen führten die Wendung herbei. Rumänien fühlte sich in der Donaufrage durch Rußland bald mehr als durch Oesterreich eingeengt und auch die Erinnerung an die Vorgänge während des letzten Türkenkrieges that das ihrige. Als König Karol im August 1883 beim Kaiser Franz Joseph erschien und Bratiano dann im September mit Kálnoky in Wien und mit Bismarck in Gastein conferirte, und bald danach eine Audienz beim Kaiser selbst hatte, erhob sich in Rumänien nur wenig Widerspruch gegen die dadurch angekündigte Annäherung. Im Orient überzeugte man sich eben allmählich doch immer mehr von der Schädlichkeit einer mit den gegebenen Verhältnissen nicht rechnenden Phantasiepolitik und es wurde immer klarer, daß es jetzt vor allem darauf ankomme, das Erworbene zu sichern und nutzbar zu machen. Auch in Serbien, wo die radicale Partei Oesterreich wegen Bosniens leidenschaftlich zürnte, brachte Milan (den im März 1882 die Skupschtina zum König erhoben hatte, wozu ihm der k. und k. Gesandte als Erster gratulirte) trotz vieler Schwierigkeiten den Standpunkt zur Geltung, daß das Land auf gute Beziehungen zu Oesterreich-Ungarn angewiesen sei. Milan stattete einen Besuch in Wien ab und wurde freundlich aufgenommen. Im November 1883 suchten ihn die Radicalen durch einen Aufstand zu stürzen, wurden aber schnell niedergeschlagen. Auf eine besonders harte Probe stellte die Pforte die Geduld des Grafen K. Der Ausdruck „conférence à quatre“ wurde ein Schrecken der Zeitungsleser. Diese aus den Bevollmächtigten Oesterreich-Ungarns, Serbiens, Bulgariens und der Türkei bestehende Conferenz sollte über den Anschluß der von Wien über Belgrad nach Saloniki und andererseits nach Constantinopel gehenden Linien verhandeln, und es dauerte fünfzehn Monate bis die Pforte, die der Angelegenheit immer neue bedenkliche Seiten abzugewinnen und ihre Zustimmung immer wieder zu verklausuliren wußte, endlich für eine klare Entscheidung zu haben war, welche es ermöglichen sollte, die beiden wichtigsten Städte des Reiches in directe Schienenverbindung mit Europa zu setzen. Noch weitere fünf Monate dauerte es, bis im October 1883 die Convention ratificirt wurde. Man konnte am Ende dieses Jahres sagen, daß die Schwierigkeiten im Südosten beigelegt waren.

Wie dem Urtheil der Völker des Südostens Oesterreich-Ungarn als der Unterdrücker von Stammesgenossen erschien, so auch dem Urtheil des Volkes im Südwesten – des italienischen, das die Vorstellungen aus der Zeit, in welcher die kaiserliche Regierung für die Erhaltung der Herrschaft in der Lombardei und Venetien kämpfte, in phantastisch übertriebener Form auf Triest und Welschtirol übertrug und die Erlösung der Brüder und womöglich auch die Annexion Deutsch-Südtirols und der vorwiegend slovenischen Küstenländer verlangte. Es ist bemerkenswerth, daß alle Nachbarvölker Oesterreich-Ungarns [8] zwar die Erhaltung der habsburgischen Monarchie als Nothwendigkeit erklären, fast jedes aber – die Deutschen und die Russen bilden die Ausnahme – mit der Reserve, daß gerade ihm und nur ihm ein möglichst großes Stück davon abgegeben werde. Diesen naiv begehrlichen Standpunkt nahmen in Italien auch viele Politiker von Ansehen ein, und die irredentistische Bewegung im Königreiche reizte die Irredentisten in Oesterreich zu radicalem Vorgehen an. Die italienischen Regierungen selbst, denen die Bewegung nicht wenig Unannehmlichkeiten bereitete, wechselten in ihrer Haltung gegenüber dem Irredentismus; da indeß Freiherr v. Haymerle, der von 1877–1879 Botschafter in Rom war, in sehr glücklicher Weise Festigkeit und Liebenswürdigkeit zu vereinigen wußte, so gestalteten sich zu jener Zeit die Beziehungen ganz günstig. Bald danach ließ die tunesische Angelegenheit den Italienern das schon früher ersehnte Bündniß mit Deutschland immer wünschenswerther erscheinen. Fürst Bismarck erwiderte, daß sie sich zuerst an Oesterreich-Ungarn wenden sollten, und hier war Frhr. v. Haymerle, nunmehr Minister, zum Entgegenkommen bereit. Die Annäherung selbst zu vollenden, war ihm versagt. Er war nicht mehr am Leben, als Ende October 1881 König Humbert und Königin Margherita in Wien ihren Antrittsbesuch abstatteten, auf dem sie von den beiden führenden Cabinetsmitgliedern begleitet waren. Zu einem Vertrage kam es damals noch nicht, und in Wien wollte man vielleicht noch mehr als in Berlin den Schein vermeiden, daß die Kaisermächte den Anschluß Italiens etwa suchten. Es konnte Oesterreich-Ungarn vielmehr nur erwünscht sein, daß der zur Unruhe neigende Nachbar, dem es leicht geworden war, sich auf seine Kosten zu vergrößern, nun auch den Werth der österreichischen Freundschaft recht hoch veranschlagen lernte. Immerhin waren die Wege gebahnt und K. hatte nur ein angefangenes Werk zu vollenden, als er im Mai 1882 mit dem Botschafter Grafen Robilant einen für fünf Jahren gültigen Vertrag abschloß, der, so viel man weiß, das beiderseitige Neutralitätsversprechen für den Fall eines Angriffes von dritter Seite auf einen der beiden Theilnehmer enthielt. Graf Robilant, der übrigens persönlich mit K. auf bestem Fuße stand und seine volle Achtung genoß, soll die Meinung ausgesprochen haben, daß Italien von Oesterreich-Ungarn und Deutschland mehr hätte erzielen können, wenn es nicht als Bittsteller erschienen wäre. Speciell Oesterreich-Ungarn hatte jedoch damals keinen Grund, sich Italien gegenüber weiter zu binden, und Graf K. war ein ruhig berechnender Staatsmann, unzugänglich für Lockungen einer decorativen oder schwärmerischen Politik. Er ging nur von realen Schätzungen aus und betrachtete Italien in jedem Sinne, auch dem Range nach, als Dritten im Bunde. Er ließ sich dabei nicht etwa durch religiöse Abneigungen gegen Italien leiten, und Rom war auch für ihn die Hauptstadt des Königreichs. Allerdings respectirte er den päpstlichen Stuhl als eine besonders für Oesterreich-Ungarn wichtige Macht und vermied es sorgfältig ihn irgendwie zu verletzen. Als einmal in der Delegation von 1891 die Clerikalen das Thema der weltlichen Herrschaft des Papstes berührten und seine Antwort den Unmuth der Italiener dadurch erregen konnte, daß sie die Möglichkeit einer künftigen für den Papst günstigeren Fassung des Garantiegesetzes zugab, lehnte er eine Anregung, seine Erklärungen zu retouchiren ab. „Was ich gesagt habe, habe ich gesagt“, äußerte er.

Kurz nach dem Abschluß des Bündnißvertrages gab es in Triest, gelegentlich der Anwesenheit des Kaisers, ein irredentistisches Attentat, und bald danach ein zweites und drittes, und die verhängten Strafen riefen in Italien Erregung hervor. Allmählich aber lebte sich das neue Verhältniß doch ein. Ein intimes und nützliches Zusammenwirken zwischen Oesterreich und Italien [9] ergab sich während der bulgarischen Wirren, in deren Zeit auch die Erneuerung und Erweiterung des Vertrages fällt.

* * *

Die Behandlung der bulgarischen Wirren sollte die Hauptarbeit in Kálnoky’s staatsmännischer Laufbahn werden. Die Bulgaren haben nächst sich selbst vor allem Oesterreich-Ungarn die Erhaltung ihrer nationalen Selbständigkeit zu verdanken, und es ist Kálnoky’s großes Verdienst, das Werk vollbracht zu haben, ohne zu Rußland in einen unheilbaren Gegensatz zu gerathen, ein Erfolg, der nur durch äußerste Vorsicht und durch Schonung in der Form zu erreichen war. Seine Festigkeit in der Sache freilich genügte, um mehrmals die ausgesprochene Unzufriedenheit Bismarck’s zu verursachen, der sich durch die Haltung des Verbündeten neuen Verdächtigungen seitens der ohnedies mißtrauischen Russen ausgesetzt sah und alles aufbot, um Oesterreich zur Nachgiebigkeit zu bewegen. K. aber war der Ueberzeugung, daß hier außer dem Schicksale Bulgariens die Großmachtstellung Oesterreichs auf dem Spiele stehe und zwar nicht nur wegen der Rückwirkung jenes Schicksals auf die strategischen Verhältnisse auf dem Balkan, sondern gewiß auch weil es wirthschaftlich nachtheilig und ein Bekenntniß der Schwäche gewesen wäre, wenn Oesterreich-Ungarn schweigend zugesehn und etwa – eine Combination, die einmal Bismarck im December 1885 im Gespräch mit dem württembergischen Minister v. Mittnacht gar nicht übel fand – England die Führung und die Rolle des Schutzherrn in Sofia und Belgrad überlassen hätte. Bismarck vertrat die deutschen Interessen und K. die österreichisch-ungarischen, und es ist ehrenvoll für K., daß er der überlegenen historischen Gestalt des großen Kanzlers gegenüber seine Selbständigkeit zu behaupten wußte. Andererseits mußte K. der gerade entgegengesetzten Kritik Andrássy’s Widerstand leisten, die vielleicht nicht nur aus der radicalen Verschiedenheit der Temperamente entsprang, sondern auch aus der menschlich begreiflichen Stimmung des gestürzten Ministers gegen seinen Nachfolger. Die größte Schwierigkeit aber war die Behandlung Rußlands, besonders des empfindlichen, von namenlosem Stolze erfüllten Alexander’s III. Der Feldzug seines Vaters gegen die Türkei war politisch ein unklar gedachtes und durchgeführtes und schließlich halb mißglücktes Unternehmen. Außer einigen Grenzberichtigungen blieb von ihm nur die Belebung des slavischen Gefühls zurück, die nun ausgenützt werden sollte, und speciell in Bulgarien eine vorläufige Vormundschaft, die man in eine dauernde verwandeln zu können glaubte. Es waren dort russische Generäle und Officiere angestellt, die ein bleibendes Protectorat errichten sollten. Durch die Gewalt der Umstände und die Fehler Rußlands ging diese Hoffnung verloren, was Oesterreich-Ungarn selbstverständlich willkommen sein mußte. Aber nicht Oesterreich-Ungarn hatte die bulgarische Frage aufgeworfen; Russen und Bulgaren hatten es gethan. Es brauchte nur fest auf dem Boden des Berliner Vertrags zu bleiben, damit sie in der, Oesterreich-Ungarn wünschenswerthen Richtung, in der Richtung der Selbständigkeit der Balkanvölker, gelöst wurde. Daran hielt sich Graf K. und weder nach rechts noch nach links, weder durch Einschüchterung noch durch Beifall ließ er sich von seiner Linie abdrängen. Er war nicht der Mann, um für den Beifall zu arbeiten; Lobpreisungen, besonders aus der Menge, konnten ihn, bei seinem Stolze, eher verstimmen. Aber Thatsache ist, daß in der bulgarischen Angelegenheit, abgesehen von den allerersten Stadien, die außerrussische öffentliche Meinung Europas fast immer auf seiner Seite war.

[10] Um die Mitte des Jahres 1882 trat in Petersburg zunächst eine, für die Beziehungen zu Oesterreich und Deutschland günstige Wandlung ein, die mit der Ersetzung Ignatiew’s durch den Grafen Tolstoi begann. Im Innern wurde die nationalistisch-demagogische Richtung eingedämmt, und was die auswärtige Politik betrifft, so bot Mittelasien Spielraum genug zur Machtentfaltung; man konnte dort die errungenen Erfolge verwerthen und neue vorbereiten und dadurch den Engländern in der Nähe ihres empfindlichsten Punktes an den Leib rücken. Ende des Jahres erschien Giers auf dem Wege nach Italien bei Bismarck, Anfang 1883 bei K., und im November 1883 war er wieder bei Bismarck, im Januar 1884 neuerdings in Wien. Das Dreikaiser-Verhältniß wurde wieder gepflegt, und der im Juni 1882 zum Botschafter am k. und k. Hofe ernannte Fürst Lobanow, der an der vielgeschäftigen und plumpen Politik der Slavophilen nie rechten Geschmack fand, erwies sich dabei als bereitwilliger Förderer. Das Jahr 1884 brachte eine weitere Vorschiebung der russischen Grenze in Asien, und wenn Rußland dadurch die Engländer unzufrieden stimmte, so wurde der Wunsch um so aufrichtiger, sich gut mit den beiden Kaisermächten zu stellen. Nachdem K. im August 1884 Bismarck in Varzin besucht hatte, fand am 15.–17. September eine Zusammenkunft der von ihren Ministern des Aeußern begleiteten drei Monarchen in Skierniewice statt.

Der auf Bosnien und Bulgarien bezügliche Vertrag von 1881 war vermuthlich schon vorher, mit dem Termine von 1887, erneuert worden; es scheinen aber in Skierniewice besondere Freundschaftsversicherungen ausgetauscht worden zu sein, die den Zaren über die Gesinnungen Deutschlands und Oesterreich-Ungarns überhaupt und insbesondere darüber beruhigen konnten, daß der von einigen seiner Diplomaten und Generäle zweiten und dritten Ranges genährte Verdacht, die Schwierigkeiten, denen sie in Bulgarien begegneten, würden von Wien und Berlin her geschürt, falsch sei. Dieser Verdacht wurde nämlich unablässig erhoben, seit sich Fürst Alexander im J. 1881 der ihm von den Russen auferlegten ultrademokratischen Verfassung, die ihm das Regieren unmöglich machte, entledigt hatte. Der russische General Sobolew, eine Zeitlang bulgarischer Kriegsminister, erklärte in einem anonym erschienenen Revue-Artikel geradezu, der Fürst habe durch jenen Staatsstreich das moralische Band mit Rußland zerrissen und sich Oesterreich und Deutschland genähert, die in ihm einen Wegweiser zur Germanisirung der Südslaven sähen; er folge den Weisungen der deutschen Diplomatie, die ihn Oesterreich-Ungarn und zum Theil auch der Türkei zulenke. Die Reibungen zwischen Russen und Bulgaren hatten aber ganz andere Gründe als Sobolew behauptete und die Panslavisten glaubten. Das befehlshaberische Auftreten der russischen Generale verletzte die bulgarischen Politiker und Beamten, die socialen und materiellen Ansprüche der russischen Officiere, die alle höheren militärischen Stellungen innehatten, collidirten mit den Ansprüchen der bulgarischen Officiere, die kein Vorwärtskommen für sich sahen, und all dies schuf den Russen eine immer unangenehmere Situation in Bulgarien. Immer aber fanden sie es am bequemsten, die deutsche Abkunft des Fürsten und seine angeblich deutschen Verbindungen für die Schwierigkeiten verantwortlich zu machen und sie lebten sich immer mehr in den Gedanken ein, daß seine Absetzung unbedingt nöthig sei. Die Anhänger des Fürsten erzählten denn auch als ganz bestimmt, daß General Sobolew ihn einmal bei Nacht gewaltsam habe entführen wollen und daß der Plan erst im letzten Augenblick gescheitert sei. Im September 1883 wurde die Spannung so groß, daß Sobolew und sein ebenfalls russischer Ministercollege Kaulbars ihre Entlassung nahmen. Graf K. enthielt sich sorgfältig [11] jeder Einmischung in die bulgarischen Verhältnisse, obgleich er sich gewiß darüber klar war, daß sich dort einmal Verwicklungen ergeben könnten; er wollte jedem Conflict mit Rußland ausweichen und vermuthlich hatte er auch das Vertrauen, daß sich Bulgarien, ob mit oder ohne Ostrumelien, nicht so leicht in eine russische Provinz werde verwandeln lassen. Uebrigens war ein besonderes Interesse Rußlands an dem von ihm befreiten Bulgarien durch die Thatsache der Abschließung jenes Vertrages unstreitig anerkannt. Ein Versprechen österreichischer Nichteinmischung wurde jedoch weder vor, noch während, noch nach der Zusammenkunft von Skierniewice abgegeben. Dies geht schon daraus hervor, daß, als später Fürst Bismarck den Standpunkt vertrat, Bulgarien sei ausschließlich russisches Einflußgebiet, Graf K. nicht wußte, worauf diese Behauptung gestützt werden könne, und Graf Andrássy auf Wunsch des Kaisers Franz Joseph befragt wurde, ob vielleicht er sich durch eine mündliche Zusage in diesem Sinne gebunden habe, was er bestimmt verneinte. Uebrigens hat auch die russische Diplomatie selbst nie behaupten können, daß Oesterreich-Ungarn eine solche Verbindlichkeit eingegangen sei.

Rußland wartete vorläufig noch mit der Vereinigung von Bulgarien und Ostrumelien, weil es Bulgarien, so lange der Battenberger in Sofia saß, nicht vergrößern wollte. Dem Fürsten Alexander, der im August 1885 Herrn v. Giers in Franzensbad besuchte, um sich mit ihm über seine schwierige Lage auszusprechen und die gegen ihn erhobenen Anschuldigungen zu widerlegen, erklärte der Minister sogar ausdrücklich, daß die Dreikaisermächte augenblicklich die Ordnung im Orient nicht stören lassen wollten und allen Vereinigungsbestrebungen entschieden entgegentreten würden. Es war kurz nach der Zusammenkunft der Kaiser von Oesterreich und Rußland in Kremsier, und um so mehr Autorität kam dieser Erklärung zu. Aber wenige Tage später vollbrachte ein Aufstand in Philippopel, zur größten Ueberraschung des Battenbergers, Rußlands und aller Welt ohne alle Mühe die That, über deren Zulassung oder Verhinderung, über deren Nützlichkeit oder Gefährlichkeit so viel von den Staatsmännern gesprochen worden war. Die Russen verdächtigten Alexander der Urheberschaft, und die meisten europäischen Beurtheiler und im ersten Augenblick wie es scheint, auch Graf K., hatten Rußland im Verdacht.

Graf K. erkannte nun wohl sehr bald, daß sich hier etwas vollzogen hatte, was der wünschenswerthen, selbständigen Entwicklung der Balkanvölker zu Gute kam; aber abgesehen davon, daß die Anerkennung der einen Revolution einen Aufstand in Macedonien und Erhebungen in Griechenland und Serbien zur Folge haben konnte, verlangte vor allem das Verhältniß zu Rußland, daß man ein ihm so ausgesprochen in die Quere kommendes Ereigniß nicht billige. Auf der Botschafterconferenz in Constantinopel vertraten daher die drei Kaisermächte den Standpunkt der Wiederherstellung des gesetzlichen Zustandes durch die Macht der in ihren Rechten verletzten Türkei. Der Plan und mit ihm die Conferenz scheiterte an dem Widerspruche Englands, und als sie auseinander ging, war Fürst Alexander durch seine Siege über die Serben schon in seiner Stellung befestigt. Am 13. November hatte König Milan nach sechswöchentlichen militärischen Vorbereitungen, für welche die Mehrheit der Skupschtina alles Nöthige bewilligte, den Krieg erklärt. Milan war der Gedanke unerträglich gewesen, daß Bulgarien über Serbien hinaus und zum Balkan-Großstaat heranwachse, und er fürchtete, daß die gleiche Vorstellung im serbischen Volke verhängnißvoll für die Sicherheit seines Thrones werden könne, der ja erst zwei Jahre vorher durch einen gefährlichen Aufstand bedroht worden war. Die russischen Officiere in Bulgarien hatte der Zar nach dem Philippopler Aufstande abberufen, und König Milan zweifelte nicht an seinem [12] Erfolge über das seiner Führer beraubte bulgarische Heer; zum mindesten eine werthvolle Grenzberichtigung glaubte er erzwingen und die serbische Armee durch einen ruhmvollen Feldzug noch fester an sich schließen zu können. Er rechnete auch auf die Sympathien Oesterreich-Ungarns, und diese Sympathien fehlten ihm nicht. „Zu Serbien stehen wir, so erklärte Graf K. am 31. October auf eine Anfrage in der Delegation, im Verhältniß eines Freundes und wohlmeinenden Nachbarn, der unter Umständen gute Rathschläge giebt. Auf die Freiheit der Entschließungen Serbiens beanspruchen wir keinen entscheidenden Einfluß; die Frage zu beantworten, ob Oesterreich-Ungarn die Interessen Serbiens unter allen Umständen zu schützen gedenke, hieße: Serbien einen Freibrief für alle möglichen Unternehmungen geben.“ Graf K. ermuthigte denn auch den König keineswegs zum Losschlagen; er rieth ihm sogar ab, schon aus dem sehr einfachen Grunde, weil er eine schwere Verantwortlichkeit übernommen hätte, wenn er nicht abgerathen haben würde. Aber andererseits konnte Oesterreich-Ungarn nicht durch Androhung von Gewalt die Serben zwingen, die Aenderung der Situation an ihrer Ostgrenze ruhig hinzunehmen, nachdem es ihnen im Westen den Weg nach Bosnien versperrt hatte. Oesterreich-Ungarn konnte also nur Rathschläge ertheilen; indeß konnte Milan sich wohl denken, daß es ihn in unerwartet schlimmen Eventualitäten nicht fallen lassen werde. Die während des Krieges aufgetauchte Behauptung, daß der österreichisch-ungarische Militärattaché im serbischen Hauptquartier die Operationen leitete, war eine Legende.

Die unerwartet schlimme Eventualität trat ein. Die serbische Armee wurde geschlagen und bald stand Alexander der Weg ins Innere des Landes offen, wo sein Erscheinen vielleicht eine Erhebung gegen Milan zur Folge gehabt hätte. K. beauftragte den Gesandten in Belgrad, Grafen Khevenhüller, sich in das Lager Alexander’s zu begeben, um einen Waffenstillstand zu erwirken. Da Alexander die Mahnung ablehnend beantwortete, nahm es Graf Khevenhüller auf sich, „den Punkt auf das i zu setzen“ und zu erklären, daß bei weiterem Vordringen der Bulgaren österreichisch-ungarische Truppen sofort einmarschiren und ihnen entgegenrücken würden. Graf K. selbst hätte sich wohlweislich enthalten, eine solche Drohung auszusprechen. So lange der bosnisch-bulgarische Vertrag dauerte, war es gegen die Abrede, daß Oesterreich-Ungarn oder Rußland, ohne sich vorher freundschaftlich verständigt zu haben, eine so wichtige Action wie die Besetzung eines Balkanstaates unternahm. Das Auftreten Khevenhüller’s erregte denn auch, obwol ihm die That nicht folgte, die Unzufriedenheit Rußlands. Indeß, das serbische Heer und Milan waren gerettet. Der serbische Ministerpräsident Garaschanin that freilich so, als wären durch die österreichisch-ungarische Intervention die serbischen Heere verhindert worden, die Bulgaren in Stücke zu reißen; Milan aber wußte, daß er Oesterreich-Ungarn Dank schulde und daß hier seine Stütze sei. Er schloß eine schriftliche Vereinbarung mit K. ab, die Serbien unter gewissen Bedingungen den Schutz der Nachbarmonarchie vertragsmäßig sicherte und die auch sonstige wichtige Bestimmungen enthielt. Er blieb ein warmer Freund Oesterreich-Ungarns und erst nach seinem Rücktritte, unter seinem zu früh zur Regierung gelangten Sohne begannen zeitweilig wieder die Wühlereien gegen die kaiserliche Herrschaft in Bosnien.

Die bulgarische Angelegenheit selbst beschäftigte die europäische Diplomatie nach der Beendigung des Feldzuges zunächst insofern, als nunmehr das Schicksal Ostrumeliens zu regeln war, was in der Weise geschah, daß der Fürst von Bulgarien für fünf Jahre zum Generalgouverneur von Ostrumelien ernannt wurde. Das Einvernehmen zwischen Oesterreich-Ungarn und Rußland dauerte [13] wenigstens äußerlich fort und fand einen ceremoniellen Ausdruck darin, daß sich Ende Juli 1886 der Bruder des Kaisers, Erzherzog Karl Ludwig, mit seiner Gemahlin auf Einladung des Zaren nach Peterhof begab. In denselben Tagen hielt sich Graf K. bei Bismarck in Kissingen auf und Anfang August war Kaiser Franz Joseph bei Kaiser Wilhelm in Gastein. Das Drei-Kaiser-Verhältniß war deutlich markirt. Eben jetzt aber stand unmittelbar das Ereigniß bevor, durch das es gesprengt wurde. Verschwörer, die von russischen Agenten angestiftet und bezahlt waren, nahmen den Fürsten Alexander am 21. August 1886 in Sofia bei Nacht gefangen und brachten ihn außer Landes. Eine Gegenrevolution führte ihn zwar im Triumph zurück; aber nach einer Unterredung mit dem russischen Consul in Rustschuk sendete der Fürst eine Depesche an den Zaren, in der er sich, offenbar in der Hoffnung, Gnade und Versöhnung zu finden, bereit erklärte, die Krone, „die er von Rußland empfangen, in die Hände von Rußlands Herrscher zurückzulegen“, und da ihm der Zar antwortete, daß sein Bleiben für Bulgarien schädlich wäre, beschloß er am 3. September, das Land für immer zu verlassen. Das vierzehntägige Drama, dem ganz Europa mit Spannung und stürmischer Theilnahme gefolgt war, wurde zu einem politischen Wendepunkt. In Oesterreich und mehr noch in Ungarn war man gegen Rußland tief erregt; mit Empörung sprach man davon, daß die russische Politik in einem fremden Lande, dem das Recht der Selbstregierung verliehen war, Gewalt anwende und Anarchie hervorrufe, um es seinem Willen zu unterwerfen und sich eine Position in der Flanke Oesterreich-Ungarns und auf dem Wege nach Constantinopel zu verschaffen. Die Mahnung Andrássy’s, daß man sich zu sehr an Rußland gebunden habe, und daß man es dadurch nur zu immer rücksichtsloserem Auftreten ermuthige, schien nun der öffentlichen Meinung Ungarns berechtigt. Ausführlicher war diese Mahnung in einer, dem Publicum allerdings unbekannt gebliebenen Denkschrift vom Herbst 1885 niedergelegt worden, in der er das Zusammengehen mit Rußland tadelte und schon damals verlangte, daß man offen für die Sache Bulgariens eintrete und den Augenblick benütze, um die freie Entwicklung des Orients sicherzustellen. Graf K. hatte darauf in einer Gegenschrift erwidert, daß auch Andrássy selbst seinerzeit von einem Zusammenwirken mit Rußland ausgegangen und auf diesem Wege zu Erfolgen gelangt sei und daß er, K., im Falle russischer Vertragsverletzungen selbstverständlich alle nöthige Energie aufbieten werde. Es zeigte sich bald, daß durch das System Kálnoky’s, wenn man davon absieht, daß ein früheres Eingreifen vielleicht die Person des Battenberger’s gerettet hätte – nichts versäumt war; vielmehr lernte Bulgarien in den Jahren der Bedrängniß erst recht den Werth der Großmachtstellung Oesterreich-Ungarns für die Balkanvölker schätzen und jedenfalls brachte eine vorsichtigere Politik die geringere Kriegsgefahr mit sich. Das System Andrássy’s wäre vorzuziehen gewesen, wenn dessen weitgesteckte Ziele erreicht werden sollten, die (wie man vermuthen kann) darin bestanden, im Orient eine gründliche Neuordnung herbeizuführen, Oesterreich-Ungarn als Beschützer an die Spitze der Balkanstaaten zu stellen und Rußland vom Balkan auszuschließen. So hohe Pläne verfolgte K. nicht. Aber jetzt, nach der Entführung des Fürsten Alexander, war auch für ihn der Moment gekommen, in dem ein entschiedenes Auftreten nöthig war, und die allgemeine Erregung forderte, daß man nicht nur im Stillen, sondern in voller Oeffentlichkeit auf das antwortete, was in voller Oeffentlichkeit geschehen war. Am 30. September erklärte der ungarische Ministerpräsident Tisza im Abgeordnetenhause, Oesterreich-Ungarn würde eine, in den Verträgen nicht bestehende Festsetzung eines Protectorats oder bleibenden Einflusses einer einzelnen Macht verhindern. So tief sich Kaiser Alexander [14] durch diese Aeußerung verletzt fühlte, so konnte doch Graf K. auch in der Delegation, die im November tagte, das Gesagte nur wiederholen. Umsomehr fühlte er sich dazu genöthigt, als inzwischen der, zum diplomatischen Vertreter Rußlands in Sofia ernannte bisherige Militärattaché in Wien, General v. Kaulbars, seine Agitationsreise in Bulgarien unternommen hatte, deren Zweck es sein sollte, die national gesinnte Regentschaft zu beseitigen und einen Fürsten, der nichts anderes als ein russischer Statthalter gewesen wäre, etwa den Fürsten von Mingrelien oder den Grafen Ignatiew, einzusetzen. Das herausfordernde Auftreten Kaulbars’ und seine Rechtsverletzungen irritirten auch den sonst allezeit kühlen K. In seiner Rede in der ungarischen Delegation behandelte er das Ereigniß freilich nur als etwas Nebensächliches und Episodisches. Er sprach sich überhaupt ungemein discret und behutsam aus, war aber in der Sache selbst sehr bestimmt. Er betonte, daß er dem russischen Cabinett gegenüber, mit dem das Einvernehmen fortbestehe, seinen Standpunkt so lange wie möglich auf freundschaftlichem Wege geltend machen werde. Er erklärte zugleich ausdrücklich, daß eine dauernde oder auch nur vorübergehende militärische Besetzung des Landes oder der Küstenplätze oder die Entsendung eines russischen Commissärs, der die Regierung des Landes an sich nehmen würde, kurz irgend etwas, was einer „Confiscation der Selbständigkeit“ gleichkäme, unzulässige Handlungen wären, gegen die Oesterreich-Ungarn entschieden Stellung nehmen würde. Er verwies darauf, daß Italien und England in der bulgarischen Sache mit Oesterreich-Ungarn übereinstimmten und über Deutschland sagte er, daß Bismarck zwischen Oesterreich-Ungarn und Rußland, ohne sich für die Wünsche der einen oder der anderen Macht zu entscheiden, im Interesse des Friedens vermittle.

Graf K. hatte also, wenngleich in den höflichsten Formen, einen deutlichen Wink nach Petersburg gerichtet und die Hoffnung auf einen glücklichen Ausgang gründete er auf die Vertragstreue und Friedensliebe des Zaren und auf das vermittelnde Wirken Deutschlands. Diese kaltblütige, fast gelassene Art der Abwehr, die sich so sehr bewähren sollte, gefiel dem Grafen Andrássy nicht; er fand darin zu wenig Kraftgefühl und zu wenig Bürgschaft für einen Erfolg. Das Dreikaiser-Verhältniß und das Streben, in den Orientfragen jedesmal vor allen anderen Staaten mit Rußland ein Einverständniß zu erzielen, tadelte er; die Wirkung des deutschen Bündnisses werde dadurch abgeschwächt und Deutschland werde mit einer, oft ganz unmöglichen Vermittleraufgabe beladen. Ueberdies fehle in den Ausführungen Kálnoky’s die Erklärung, daß Oesterreich-Ungarn nöthigenfalls auch ganz allein mit aller Entschlossenheit den Berliner Vertrag, so lange keine andere Rechtsgrundlage geschaffen sei, vertheidigen würde. Schließlich gab sich indeß Andrássy mit einer zweiten Rede Kálnoky’s zufrieden, in welcher der Minister versicherte, daß er das deutsche Bündniß ganz besonders pflege, aber auch hinzufügte, daß er auf ein freundschaftliches Verhältniß zu Rußland großen Werth lege, und jedenfalls hatte Andrássy mit seinen Einwendungen erreicht, daß Berlin und Petersburg die Stimmung in Oesterreich-Ungarn nun genau kannten. Das Dreikaiser-Verhältniß war ohnedies nicht mehr lange zu halten. Nach dem Ablauf des bosnisch-bulgarischen Abkommens im J. 1887 erfolgte keine neue Vereinbarung. Das Dreikaiser-Verhältniß hatte nicht verhindert, daß bei jedem Anlaß Mißtrauen zwischen Oesterreich-Ungarn und Rußland auftauchte und daß Rußland in der Mißhandlung des Berliner Vertrages soweit ging als ohne offenen Bruch mit Oesterreich-Ungarn möglich war; den offenen Bruch scheute man auf beiden Seiten, und auch Fürst Bismarck that sein Möglichstes, um nicht eine Situation entstehen zu lassen, die Deutschland genöthigt hätte, Oesterreich-Ungarn kriegerische [15] Bundeshilfe zu leisten. Er wünschte, daß besonders Oesterreich-Ungarn Zugeständnisse mache, sei es, weil er thatsächlich mehr zur russischen Auffassung neigte, sei es, weil er es für zweckmäßiger hielt, gerade den Bundesgenossen zurückzuhalten. Denn K., so vorsichtig er auftrat, war doch in der Hauptsache von seinem Standpunkt nicht abzubringen. Er blieb dabei, daß der Berliner Vertrag die Selbständigkeit Bulgariens verlange. Für diese Auffassung wollte sich Bismarck, der den Standpunkt vertrat, auf dem Berliner Congreß habe es Jedermann so verstanden, daß Rußland den vorwiegenden Einfluß in Bulgarien auszuüben habe, nicht exponiren. In seiner Reichstagsrede vom Januar 1887 sagte er, er lasse sich von Niemand das Leitseil um den Hals werfen und mit Rußland brouilliren, und er verglich das Interesse der deutschen Liberalen für Bulgarien mit dem Interesse von Hamlet’s Schauspieler für Hekuba. Es gebe übrigens, fügte er hinzu, wirklich mit einander concurrirende österreichisch-ungarische und russische Interessen, und es sei Deutschlands Aufgabe, diese Schwierigkeit möglichst zu ebnen, auf die Gefahr hin, in Oesterreich und mehr noch in Ungarn für russisch und in Rußland für österreichisch zu gelten. In einem Privatgespräch mit Kaulbars, der im Mai 1887 nach Berlin kam, soll Bismarck die gegen ihn gerichteten Worte Kálnoky’s als taktlos und[WS 2] ungeschickt bezeichnet haben und auch zum württembergischen Minister Mittnacht äußerte sich Bismarck unzufrieden mit Kálnoky’s Haltung, die ihm wohl unbequem genug sein mochte. Aber K. konnte nicht um einen Schritt weniger weit gehen, ohne Oesterreich-Ungarns Ansehen und Interessen preiszugeben. Andererseits handelte er klug, indem er die Hand des Vermittlers nicht losließ und diesem dadurch einen Theil der Verantwortlichkeit gegenüber Rußland überließ. Es war für Deutschland sicherlich ein unangenehmes Dilemma, daß sein Verbündeter auf einem Vertragsrechte bestand, das sein Freund und gefährlicher Nachbar in der Auslegung und in der Praxis zu beugen suchte. Daß Bismarck sich dem russischen Standpunkt annäherte, fand in Rußland jedenfalls nicht die geringste Anerkennung. Bei dem Mißtrauen gegen Deutschland und dem Aerger über die eigenen Mißerfolge in einem slavischen Lande galt vielmehr diese Haltung des deutschen Neichskanzlers bei den einflußreichsten Panslavisten als ein neues Zeichen von diabolischem Maccchiavellismus und hielt das Wachsthum der Freundschaft für Frankreich nicht auf.

Eben um die Zeit als Bismarck seine Hekuba-Rede hielt, schien die Spannung zwischen Oesterreich-Ungarn und Rußland besonders bedenklich. Um die Jahreswende tauchten in Deutschland und in Oesterreich-Ungarn selbst sogar Allarmgerüchte auf, denen Graf K. allerdings im „Fremden-Blatt“ scharf entgegentrat; doch unterbreitete die Regierung den im Februar 1887 wieder zusammen berufenen Delegationen eine außerordentliche Militärforderung von 521/2 Millionen Gulden für „Maßnahmen defensiver Natur“. Dabei aber glaubte Graf K. schon erklären zu können; daß die bulgarische Frage nicht mehr den bedrohlichen Charakter trage wie vor einigen Monaten, sondern daß die allgemeinen Besorgnisse mehr „durch die Wechselwirkung zwischen Ost und West verursacht“ seien, womit auf die damalige Boulangistengefahr in Frankreich angespielt war. In der That hatten die Bulgaren schon im November eine Annäherung an Rußland gesucht, waren aber zurückgewiesen worden, obwol sie sich bereit erklärten, den Schwager des Zaren, den Prinzen Waldemar von Dänemark, zum Fürsten zu nehmen. Rußland wollte eben keinen selbstbewußten Fürsten in Bulgarien, und einen bloßen Satrapen wiesen die Bulgaren zurück. Eine von ihnen entsendete Deputation besuchte jetzt die europäischen Hauptstädte und bot überdies im Geheimen dem Prinzen Ferdinand von Coburg, der [16] damals österreichisch-ungarischer Officier war, den Thron an. Eine Versöhnung schien wenigstens möglich. Dafür aber wuchs eine andere Gefahr: es mehrten sich die Freundschaftskundgebungen zwischen Panslavisten und französischen Chauvinisten.

In dieser Zeit, im Februar 1887, wurden die Verträge zwischen Oesterreich-Ungarn und Italien einerseits und zwischen Deutschland und Italien andererseits erneuert und erweitert. Deutschland und Italien sicherten einander Beistand im Falle eines Angriffes durch Frankreich zu, während Oesterreich-Ungarn und Italien Verabredungen in Bezug auf den Orient trafen, dessen Freiheit zu erhalten, auch als ein italienisches Interesse erkannt wurde. Man hatte also jetzt thatsächlich einen Dreibund, und der italienische Ministerpräsident Robilant, wenngleich er eben damals wegen Schwierigkeiten mit Abessinien zurücktrat, konnte mit Befriedigung auf das Ergebniß blicken, das Italien, zum Theil durch seine Haltung, erreicht hatte. Der Eindruck des Ereignisses war in Frankreich und in Rußland sehr stark, und er wurde noch stärker, als an die Spitze des umgebildeten italienischen Ministeriums Anfangs August, nach Depretis’ Tode, Crispi gelangte, der Anhänger einer starken und großen Politik. Graf K. war indeß nach wie vor von der ernsten Absicht geleitet, mit Rußland in Frieden und Freundschaft auszukommen. Er wollte zwar etwaige russische Uebergriffe auf dem Balkan, die für Oesterreich-Ungarn gefährlich werden konnten, verhindern; dabei aber war er nicht nur bemüht, einem Bruch mit Rußland, wenn irgend möglich, auszuweichen, es stand auch für ihn, als einen durchaus conservativen Politiker, außer Frage, daß Oesterreich-Ungarn die besten Beziehungen zu dieser Macht anstreben müsse. Im Frühjahr 1887 ließ er sich eben so sehr angelegen sein, wie der deutsche Reichskanzler, die Abmachungen, die den Inhalt des sogenannten Drei-Kaiser-Verhältnisses bildeten, zu verlängern. Minister Giers behandelte diese Anregungen dilatorisch, und als Fürst Bismarck, um zur Klarheit über die Situation zu gelangen, den Botschafter Schweinitz anwies, sich direct an den Kaiser Alexander zu wenden, zeigte es sich, daß die bulgarischen Stürme doch große Hindernisse zwischen Wien und Petersburg aufgehäuft hatten. Der Zar erklärte dem deutschen Botschafter, er könne das Allianzverhältniß mit der habsburgischen Monarchie, die ganz unter dem Einfluß Ungarns stehe und in der sowol er selbst wie Rußland von Presse und Parlament beschimpft würden, nicht fortsetzen; mit Deutschland allein den Vertrag zu verlängern, sei er bereit. Fürst Bismarck lehnte nicht ab, und so entstand jener „Rückversicherungsvertrag“, den er auf russischen Wunsch geheim hielt und erst neun Jahre später der Oeffentlichkeit enthüllte. Deutschland versprach darin wohlwollende Neutralität, falls Rußland unprovocirt angegriffen würde und Rußland sagte das Gleiche im Falle eines französischen Angriffes auf Deutschland zu. Das Dreikaiserbündniß aber war auseinandergegangen, und K. führte im J. 1887 ein Einvernehmen zu Dreien zwischen Oesterreich-Ungarn, Italien und England herbei, das die Balkanhalbinsel und Constantinopel gegen einen eventuellen russischen Angriff schützen sollte. Diesem Einvernehmen schloß sich Fürst Bismarck selbstverständlich nicht an; aber immerhin nahm er es zustimmend zur Kenntniß.

K. war, wie gesagt, von dem Rückversicherungsvertrage nicht unterrichtet; es lag jedoch nahe für ihn, die Möglichkeit einer solchen Vereinbarung in Betracht zu ziehen, umsomehr als er der Ansicht war, daß schon zur Zeit des Dreikaiser-Bündnisses eine Separat-Abmachung zwischen Berlin und Petersburg existirt habe. Bei seinem Besuche in Friedrichsruh im September 1887 fühlte er sich in seiner Vermuthung, daß zwischen Deutschland und Rußland ein besonderes Verhältniß bestehe, bestärkt, denn es fiel ihm auf, daß Bismarck, der [17] sonst immer offen mit ihm gesprochen hatte, eine gewisse Reserve bewahrte, wenn die Rede auf Rußland kam. Wenige Monate später, am 6. Februar 1888, ließ übrigens der Fürst in seiner großen politischen Darlegung im Reichstag die Bemerkung einfließen, daß Deutschland außer den Verträgen mit Oesterreich-Ungarn und Italien auch noch andere habe. – K. nahm die guten russisch-deutschen Beziehungen vom praktischen Standpunkte und stellte sie in seine Rechnung ein.

Die russische Politik in Bulgarien hatte sich in einen Engpaß verrannt, aus dem sie sich nur auf zweierlei Weise befreien konnte: Entweder durch Gewalt und Verletzung des Berliner Vertrages; und in dem Falle drohte der Widerstand Oesterreich-Ungarns und drohte die Besetzung irgend einer wichtigen Position in der Nähe der Dardanellen durch die Engländer. Oder durch das Eingeständniß, daß man die Kraft der bulgarischen Nationalbewegung unterschätzt hatte, daß man sich wol auch durch Zankow und die wenigen anderen bulgarischen Russenfreunde hatte täuschen lassen und daß man mit Leuten ernsthaft unterhandeln müsse, die den Willen des Zaren in Bulgarien nicht anerkennen wollten. Da sich Rußland weder zu dem Einen noch zu dem Andern entschließen wollte, setzte es nach dem sehr ruhmlosen Abgange des General Kaulbars die Taktik fort, die zuerst gegen Alexander angewendet worden war. Mit Geld wurde nicht gespart, und von dem Gesandtschaftspalais in Bukarest wurden in der ersten Hälfte des Jahres 1887 neue Verschwörungen organisirt, während zugleich Zankow von der Pforte verlangte, daß sie militärisch gegen sein widerspenstiges Vaterland einschreite. Die Regentschaft, mit Stambulow an der Spitze, zeigte sich den Schwierigkeiten gewachsen, fürchtete aber, auf die Dauer unterliegen zu müssen, wenn nicht definitive Verhältnisse geschaffen würden. Graf K., an den sie sich wendete, enthielt sich jedes positiven Rathes. Er begnügte sich damit, als Wachposten vor dem Berliner Vertrage zu stehen, also in einer Position, in der er rechtlich unangreifbar war und die er gegen Gewalt getrost auch mit der Waffe hätte vertheidigen können; darüber hinaus mußten sich die Bulgaren selbst helfen. Hätten sie sich etwa durch Annahme eines russischen Satrapen als Fürsten geholfen, so konnte ihm Oesterreich-Ungarn noch immer seine Anerkennung verweigern und England und Italien hätten das gleiche gethan; aber eine solche Eventualität war nicht zu befürchten, so lange die Nationalpartei, die sich nach jedem Abfall immer wieder mühelos ergänzte, nicht durch Verschwörungen, Geld oder innere Eifersüchtelein zerstört war. Sie suchte nach einem Fürsten, und nachdem Alexander von Battenberg zwei Mal abgelehnt hatte, entschied sie sich endgültig für Ferdinand von Coburg, der die Candidatur annahm. Am 7. Juli wurde er von der großen Sobranje gewählt, am nächsten Tage nahm er die Wahl an, und obwol er zunächst seine Abreise noch zu verschieben gedachte, um vorher eine Annäherung bei Petersburg zu versuchen, ließ er sich doch dazu bestimmen, rasch zu handeln und traf am 11. August auf bulgarischem Boden, am 22. August in feierlichem Zuge in Sofia ein. Er fand dort eine Aufforderung der Pforte vor, das Land sofort zu verlassen; überdies erfuhr er, daß Rußland der Pforte mitgetheilt habe, daß es beabsichtige sofort einen General abzuschicken, der Bulgarien und Ostrumelien provisorisch zu regieren und die Wahl eines neuen Fürsten durch eine neue Sobranje anzuordnen hätte und daß dieser Vorschlag die Zustimmung Deutschlands und Frankreichs erhalten habe. Auch brachte die „Norddeutsche Allgemeine Zeitung“ einen Artikel, in dem er streng verurtheilt wurde, weil er in frivoler Weise den Frieden Europas aufs Spiel setze. Aber thatsächlich war mit seiner Ankunft in Sofia die bulgarische Frage über das gefährliche [18] Stadium hinausgebracht und sie ging jetzt auf geradem Wege der Lösung entgegen. Freilich dauerte es noch lange, bis sich Rußland mit der vollzogenen Thatsache versöhnte, und inzwischen mußte Oesterreich-Ungarn weiter auf Wache bleiben. Graf K. bewahrte seine Vorsicht, konnte sich nun aber doch schon zuversichtlicher in der Oeffentlichkeit ausdrücken. „Der Prinz ist nicht der Candidat Oesterreich-Ungarns“, sagte er in Beantwortung einer Interpellation, die Graf Andrássy am 5. November an ihn richtete; „er ging nach Bulgarien als Candidat Bulgariens. Bulgarien kann seinen Fürsten frei wählen, doch ist die Zustimmung der Pforte und aller Mächte nöthig. Wir anerkennen die bulgarische Regierung als de facto bestehende. Als einen legal auf dem bulgarischen Throne befindlichen Fürsten können wir den Prinzen nicht anerkennen, haben also amtliche Beziehungen mit ihm bisher vermieden. Wir werden Alles aufrichtig unterstützen, was die Interessen und das Wohl der Balkanvölker zu fördern geeignet ist und sind bemüht, auch andere Mächte zu Freunden dieser Völker zu machen. Die bulgarische Frage ist eine Quelle von Beunruhigung, aber nicht der wesentlichste Punkt der Unsicherheit.“

Am 16. und 17. September war K. in Friedrichsruh gewesen. Am 1. October traf bei Bismarck der zum Ministerpräsidenten aufgestiegene Crispi ein. Nach seiner Gewohnheit sprach sich Crispi über alles, was ihm am Herzen lag, sehr lebhaft aus. Er hatte das volle Gefühl der Bedeutung des Augenblicks und nahm es mit in seine Heimath. Daß er noch auf der Rückreise einem Journalisten gegenüber außer seiner Friedensliebe auch seine Ueberzeugung betonte, Italien habe allen Grund, Rußlands Vordringen bis Constantinopel zu fürchten, warf vielleicht für Petersburg auch einen neuen Schatten auf Bismarck. Jedenfalls war Bismarck dort wieder in stärksten Verdacht gerathen, und gefälschte Briefe stellten ihn als Mittelpunkt einer Intrigue für Ferdinand von Coburg dar. Die Stimmung war wieder ganz antideutsch, und Bismarck fand es für zweckmäßig, Rußland wenigstens die finanzielle Hilfe Deutschlands zu entziehen, indem er am 10. November durch die Reichsbank erklären ließ, daß sie russische Papiere nicht mehr belehne. Am 18. November, als sich Kaiser Alexander einen Tag in Berlin aufhielt, benützte der Kanzler die Gelegenheit, ihm klar zu machen, daß jene Briefe Fälschungen orleanistischen Ursprungs seien und ihm seine Neutralität in der bulgarischen Sache zu beweisen. Der Kaiser glaubte ihm; aber schon einen Monat später war der Groll und das Mißtrauen wieder da. So natürlich erschien den, an Weltpolitik gewöhnten Russen das Interesse Deutschlands an den orientalischen Angelegenheiten und so naheliegend schien es ihnen, bei Bismark immer verborgene, vor allem aber slavenfeindliche Absichten zu suchen, daß sie – er mochte thun was er wollte – auch in der neuesten bulgarischen Wendung seine Hand zu erblicken glaubten. Das deutsch-österreichische Bündniß erschien ihnen mehr denn je als eine Kriegsmaschine und die Niederwerfung Rußlands und Frankreichs sein Zweck. Der Zar neigte selbst zu sehr zu solchen Auffassungen, um sich von ihnen nicht bald wieder gefangen nehmen zu lassen, und gewiß war daher die Aufklärung der öffentlichen Meinung der Zweck, den Bismarck verfolgte, als er – wie wahrscheinlich ist – in Wien die Publication des Bündnisses vorschlug. Ob nicht auch das Verlangen mitwirkte, durch die Publication und die sich unmittelbar an sie anschließende große Rede seine Stellung gegenüber dem Nachfolger des sterbenden Kaisers Wilhelm zu befestigen? Möglich ist es immerhin. In der Einleitung zu der Veröffentlichung hieß es, daß sie erfolge, „um den Zweifeln ein Ende zu machen, welche an den rein defensiven Intentionen desselben auf verschiedenen Seiten gehegt und zu [19] verschiedenen Zwecken verwerthet werden“, und damit konnte Graf K. ganz einverstanden sein.

Unablässig hatten in den letzten Jahren Truppenverschiebungen aus dem Innern Rußlands an die deutsche und österreichische Grenze stattgefunden, militärisch wichtige Punkte waren befestigt, das Netz der strategischen Bahnen war erweitert worden; aber seit dem Winter 1887/88 nahmen die Rüstungen Rußlands noch zu und sie wurden nun auf deutscher und österreichischer Seite durch entsprechend gesteigerte Vorkehrungen beantwortet, sodaß die polnischen Gebietstheile der drei Reiche, der Schauplatz dieser Anstalten, aus dem bestehenden Mißtrauen reichlichen Vortheil zogen. Im Februar erschien in Oesterreich-Ungarn eine neue Wehrvorlage, im Frühjahr wurden Regimenter aus anderen Provinzen nach Galizien verlegt. Die Ansprache, mit welcher der Kaiser die Delegationen eröffnete, stellte eine fortwährende Unsicherheit der politischen Lage Europas fest und bezeichnete als Ursache der Inanspruchnahme der Wehrkraft der Monarchie die unausgesetzte Steigerung der Militärmacht und der Schlagfertigkeit der übrigen Staaten. „Indem auch Oesterreich-Ungarn seine Entschlossenheit zeige, mit ebenbürtigen Kräften und traditionellem Patriotismus für die Vertheidigung seiner Interessen und der des allgemeinen Friedens einzustehen, erfülle es eine erhabene Pflicht und werde es ihm mit Gottes Hilfe auch fernerhin gelingen, etwa drohende Gefahren zu bannen.“ In Rußland aber wurden herausfordernde Reden gegen Oesterreich-Ungarn und Deutschland gehalten, die im Publicum den Glauben, daß ein Zusammenstoß sich auf die Dauer nicht werde[WS 3] vermeiden lassen, erhöhten. An dieser gespannten Situation war nun wirklich zum großen Theile Bulgarien Schuld, aber nicht das damalige Stadium der Frage, sondern das abgelaufene. Rußland hatte sich eine moralische Niederlage zugezogen und wollte zeigen, daß es sich trotzdem ebenso stark fühle und daß es ebenso respectirt werden müsse wie früher. Kaiser Alexander wollte keinen Krieg; darin stimmten auch die Berichte der Botschafter in Petersburg überein; aber es schien auch vorsichtigeren Beurtheilern möglich, daß er durch die Stimmung, die er selbst schaffen half, zum Kriege fortgerissen würde. Die Schlußbilanz des letzten Türkenfeldzuges war eigentlich erst jetzt gezogen und sie ergab, daß er gewinnlos geführt worden war, während die Engländer nun schon in Aegypten saßen, die Franzosen in Tunis, die Oesterreicher in Bosnien. Vergebens erinnerte Bismarck daran, daß Bosnien schon vor dem Feldzuge durch Rußland selbst als österreichische Interessensphäre bezeichnet war; man verzieh ihm nun um so weniger, daß er Bulgarien nicht für Rußland hatte retten können. Gegen Oesterreich-Ungarn war der russische Kaiserhof beinahe unhöflich, als über das Haus Habsburg die Katastrophe des Kronprinzen Rudolf hereinbrach, und alle Höfe ließ Kaiser Alexander seine Mißstimmung fühlen, als er in einem Trinkspruch vom 13. Mai 1889 den Fürsten von Montenegro als seinen einzigen Freund bezeichnete.

Für K. handelte es sich, seit Ferdinand von Coburg in Sofia regierte, hauptsächlich darum, zur Befestigung der dortigen Verhältnisse beizutragen. Er wünschte, daß der Sultan, als Suzerän, die Mächte zur Anerkennung Ferdinand’s einlade; dazu aber fand die Pforte, von Rußland eingeschüchtert, nicht den Muth. Auch hätte sich schwerlich, wenn sie den Wunsch erfüllt hätte, irgend etwas in den Beziehungen der einzelnen Staaten zu Bulgarien geändert, weder in denen der freundlich gesinnten, noch in denen der anderen. Für Bulgarien war es vorläufig werthvoll genug, daß nicht nur das vorsichtige Wiener Cabinet amtlich mit der Regierung verkehrte, sondern daß der Kaiser selbst dem Fürsten und dem Fürstenthum Beweise des Wohlwollens [20] gab, und daß dieses Beispiel befolgt wurde. Europa gewann Vertrauen in die Dauerhaftigkeit der bulgarischen Verhältnisse, und trotz der russischen Proteste fand sich auch die Finanzwelt bereit, der bulgarischen Regierung Credit zu gewähren. Es gelang aber mit der Zeit dem Grafen K., auch die Beziehungen zu Rußland wieder zu verbessern, und dabei war ihm der Botschafter Fürst Lobanow behilflich, der später, als Minister des Aeußern, die Front der russischen Politik nach Asien verschob, und der schon damals der Ansicht gewesen zu sein scheint, daß es verfehlt sei, immer neue Opfer für den Balkan zu bringen. Noch im vorletzten Jahre von Kálnoky’s Ministerschaft, im J. 1894, wurde eine Art negativer Verständigung erzielt. Minister Giers ließ durch den Fürsten Lobanow in Wien erklären, daß Rußland in Bulgarien nichts Selbständiges unternehmen und sich in die inneren Verhältnisse nicht einmengen wolle, so lange Oesterreich-Ungarn die gleiche Zurückhaltung in Bezug auf Serbien beobachte. Damit war der Ausgangspunkt für die Politik gegeben, die seither zu dem Zusammenwirken der beiden Mächte geführt hat. Die Annäherung wurde enger, nachdem sich der Thronwechsel in Petersburg vollzogen hatte, und als zum Nachfolger des Ministers Giers, der Ende Januar 1895 starb, Fürst Lobanow ernannt wurde, war diese Berufung nach Kálnoky’s Urtheil die sichere Gewähr für eine Aera der Freundschaft zwischen den beiden Kaisermächten.

So hatte denn K. bedeutende Erfolge errungen, die ihm innerhalb und außerhalb Oesterreich-Ungarns ein wohlverdientes Ansehen verliehen, und als Bismark zurücktrat, war unzweifelhaft er die hervorragendste Autorität im Dreibunde. Der Kaiser schätzte ihn hoch, und wenn er es an seinem österreichischen Ministerpräsidenten, dem Grafen Taaffe, liebte, daß er auch in schwierigen Situationen die gute Laune nicht verlor, so achtete er es an K., daß er bedenkliche Lagen nicht zu verschleiern suchte und mit nüchterner Strenge die Dinge darstellte, wie sie ihm, von allen Seiten betrachtet, erschienen. „In seinem Verkehr mit den auswärtigen Vertretern war Graf K., so sagt ein competenter Gewährsmann, sehr höflich. Seine Zeit in müßigem Geplauder mit ihnen zu verlieren, liebte er nicht; wer aber wirklich Geschäfte mit ihm zu besprechen hatte, fand jederzeit die Thür zu seinem Arbeitszimmer offen. So zurückhaltend er von Natur war, ließ er sich doch gerne gehen, wenn er Vertrauen gewonnen hatte, und ebenso wie er sich dann sehr offen gegen sein Gegenüber aussprach, erlaubte er auch diesem eine unumwundene Aussprache, was die Erledigung der Geschäfte bedeutend erleichterte und förderte. Die fremden Diplomaten sagten ihm zu seinem Lobe nach, daß, wer sein Cabinet verließ, genau wußte, woran er war und sich darauf verlassen konnte, daß das, was der Minister gesagt hatte, genau der Wahrheit entsprach und das K. die in einer solchen Stellung wichtige Gabe besaß, in den besten Formen und ohne Phrase nur das zu sagen, was zur Sache gehörte, entgegengesetzte Ansichten anzuhören und nie schroff zurückzuweisen. Er verdankte es diesen Eigenschaften, daß ihm die auswärtigen Cabinette vollstes Vertrauen entgegenbrachten, was ihm bei der Erfüllung seiner Aufgaben selbstverständlich wesentlich zu Statten kam.“

Im dienstlichen Verkehr mit seinen Beamten ließ sich K. auf Discussionen nicht gern ein. In den Ansichten, die er sich einmal, in gewohnter reiflicher Ueberlegung, gebildet hatte, war er so leicht nicht zu erschüttern und ihre etwaigen Einwendungen hielt er, da er sich über alles was vorlag, schon in seiner Weise vollständig klar geworden war, für überflüssig. Ein ihm vorgelegtes Concept kam selten ungeändert zurück.

K. arbeitete so viel wie möglich selbst und war von früh bis Abend [21] thätig. Ein Ritt in den Prater war die einzige Unterbrechung seiner Tagesarbeit. Die Abende waren zumeist der Lectüre gewidmet und es war erstaunlich, wie viel er, trotz der Kürze der ihm zur Verfügung stehenden Zeit, gelesen hatte. In die Gesellschaft nahm er nichts von seinen Sorgen mit, wie er denn überhaupt eine Scheidewand zwischen Amt und Leben aufrichtete. Er war im Salon heiter, sogar witzig, oft von recht schneidendem Witz, und sprach über Alles, ausgenommen über Politik, die nicht berührt werden durfte. Wenn eine der Damen dieses Thema anschlug, vielleicht gar ihm ihre politischen Sympathien oder Antipathien einzuflößen suchte, so wußte er mit einer liebenswürdigen Wendung auszuweichen. Auch Persönliches erfuhr man nicht von ihm; bei seiner großen Selbstbeherrschung sagte er nur was er sagen wollte. In dem prägnanten Nachruf, den ihm Plener im „Fremden-Blatt“ gewidmet hat, wird über ihn geurtheilt, daß er eine „innerlich einsame Natur“ war. Mit seinen Sympathien war er karg. Sie galten seinen Geschwistern, besonders seiner Schwester, der Herzogin von Sabran, und für Freunde behielt er nichts übrig; am nächsten stand ihm noch der um zweiundzwanzig Jahre jüngere Freiherr v. Aehrenthal (der jetzige Botschafter in Petersburg), für dessen Entwicklung und diplomatische Zukunft er sich interessirte. Was seinen Verkehr betrifft, so kennzeichnet man ihn vielleicht am besten, wenn man sagt: Geistreiche oder unterrichtete Nicht-Aristokraten waren davon nicht grundsätzlich ausgeschlossen.

Graf K. hatte nicht die Schmiegsamkeit, die man sonst für Diplomaten als unerläßlich betrachtet; er hatte sie weder nach oben, noch nach unten, und wenn er sich um Lob oder Tadel der öffentlichen Meinung nicht kümmerte, so verließ ihn sein ruhiges, kühles Selbstgefühl auch nicht gegenüber den höfisch höchstgestellten Personen und ebensowenig den Mächtigsten gegenüber, selbst nicht, wenn er mit Bismarck conferirte. Als der junge österreichisch-ungarische Minister des Aeußern zum ersten Male mit ihm in Salzburg zusammen kam, machte seine Persönlichkeit und sein Auftreten auf den deutschen Reichskanzler den günstigsten Eindruck. Fürst Bismarck äußerte damals, er habe mit dem Grafen K. in zwei Stunden mehr Geschäfte abgemacht als mit seinem Freunde Andrássy in ebensoviel Tagen. Dies Urtheil war um so höher anzuschlagen, als, wie bekannt, Bismarck große Sympathien für den genialen ungarischen Staatsmann empfand und dessen außergewöhnliche politische Begabung sehr hoch schätzte. Die praktische, kühle Art, wie Graf K. die Geschäfte auffaßte und zu behandeln wußte, war dem deutschen Reichskanzler bequemer als die längeren Auseinandersetzungen Andrássy’s, der, wie er es selbst nannte, bei der Discussion „laut dachte“, das Für und das Wider erwog und dann erst zu einem Facit kam, eine Gewohnheit, welche die Klarheit zuweilen beeinträchtigt haben soll. Fürst Bismarck schätzte außerdem die große Zuverlässigkeit seines österreichisch-ungarischen Collegen sehr hoch und wußte genau, daß K., was er einmal gesagt und für richtig erkannt hatte, auch in seinem Handeln vertreten würde. Daß der in den Ueberlieferungen einer früheren Schule aufgewachsene Aristokrat und Politiker begreiflicherweise vor und nach dem Jahre 1866 keine Begeisterung für Preußen, noch für ihn persönlich fühlte, war Bismark wohlbekannt. Aber ebenso sicher war er und er konnte fest darauf rechnen, daß „der frühere Feind“ mit der Zeit die Ueberzeugung gewonnen hatte, wie heilsam das Bündniß mit dem neuen deutschen Reiche für sein Vaterland sein mußte. Er wußte, daß Graf K. die unerschütterliche Bundestreue seines kaiserlichen Herrn in jeder Beziehung unterstützte und danach handelte.

Das nämliche ruhige und kühle Selbstgefühl, das die persönliche Haltung Kálnoky’s kennzeichnete, verlieh er auch der politischen Haltung Oesterreich-Ungarns. [22] Volksthümliche Bewegungen unterschätzte er keineswegs, sondern stellte sie, wie sein Verhalten in der bulgarischen Frage bewies, nach ihrer vollen Kraft in Rechnung. Auch eine Denkschrift, die er zur Zeit des Ministeriums Taaffe verfaßte und dem Kaiser überreichte, zeigt deutlich, als welcher starke Factor ihm das Nationalgefühl erschien. In dieser Denkschrift warnte er davor, die Deutschen durch fortgesetzte Mißachtung und durch Erfüllung aller tschechischen Wünsche zum Irredentismus zu treiben, mahnte, die Ruthenen zu berücksichtigen und erinnerte daran, daß Ungarn den Rumänen und den Siebenbürger Sachsen mehr zumuthe, als für die auswärtigen Beziehungen gut sei. Doch sollten allerdings, so meinte er, die Magyaren, da sie außerhalb der Grenzen der Monarchie keinen nationalen Rückhalt besäßen und auf die Monarchie angewiesen seien, neben den Deutschen die erste Rolle spielen. „Die Führung des Reiches einerseits auf jene Nationalität zu basiren, deren Interessen am festesten mit dem Fortbestande desselben verknüpft sind, andererseits aber auf jene Nationalität, deren moralischer Abfall an die Existenzfragen der Monarchie rühren würde, ist, so setzte K. in seiner Denkschrift aus einander, die logische Rechtfertigang des dualistischen Systems in Oesterreich-Ungarn vom Standpunkte der auswärtigen Politik.“

Graf Taaffe wußte wohl, daß K. mit ihm in den Grundfragen der inneren Politik nicht übereinstimme, und als er vollends, im October 1893 eine Wahlreform durchführen wollte, deren Zweck es hauptsächlich war, die deutsche Linke zu beseitigen und die extremen Parteien zugleich zu verstärken und gegen einander auszuspielen, verheimlichte er vor K. diesen Plan. Der in den Schlußworten von Kálnoky’s Denkschrift ausgesprochene Grundsatz: „möglichste und allseitige Concordanz der inneren Politik mit den Principien, Aufgaben und Interessen der auswärtigen“ setzt zum mindesten voraus, daß die Leiter der beiden Fächer einander von wichtigen Beschlüssen Kenntniß geben. Nun erfuhr der Minister des Aeußern erst gleichzeitig mit dem Publicum von der Absicht einer Veränderung, die auf die Zusammensetzung der Delegationen und auf die Richtung des Staatslebens selbst den größten Einfluß haben mußte. Die Absicht wurde durch den Zusammenschluß der gemäßigten und conservativen Parteien des Abgeordnetenhauses vereitelt und das Ministerium Taaffe durch ein aus ihnen gebildetes Coalitionsministerium, mit dem Graf K. gute Beziehungen unterhielt, ersetzt. Graf K. konnte also insofern mit dem Gang im Innern zufrieden sein. Aber dafür nahm in Ungarn eine Bewegung zu, die er von Anfang an mißbilligt hatte und deren Folgewirkungen er schließlich erliegen sollte.

Der sogenannte Wegtaufen-Streit ließ es der ungarischen Regierung zweckmäßig erscheinen, den Geistlichen die Führung der Standesamtsregister aus der Hand zu nehmen, und ein Theil der liberalen Partei wollte den Anlaß benützen, nach Ungarn die obligatorische Civilehe zu verpflanzen, wofür außer sachlichen Gründen auch der Wunsch sprach, das etwas verblaßte Ansehen der Partei aufzufrischen. Graf K. hatte es von seinem politischen Standpunkte aus getadelt, daß man in Galizien bei den Ruthenen römische Propaganda trieb; jetzt tadelte er es um so schärfer, daß die römische Curie herausgefordert werden sollte. K. war nicht clerikal. Man sah ihn nie in einer Kirche, und Engländer hätten ihn wahrscheinlich einen Agnostiker genannt. Aber das Freidenkerthum, das in die Oeffentlichkeit oder gar in die Politik trat, widersprach seinem conservativen Sinn und war ihm antipathisch. Auch durchkreuzte es seine Zirkel, wenn man mit Rom Händel anfing. Zu den wenigen Dingen, die ihn nervös machen konnten, gehörte es, wenn man die päpstliche Weltmacht herausforderte. Außerdem war er der Ueberzeugung, daß die Masse der Bevölkerung [23] der Neuerung feindlich gesinnt sei. Zweimal wies das ungarische Magnatenhaus die vom Abgeordnetenhause beschlossene Reform zurück, und man wußte in Ungarn, daß Graf K. dem Kaiser zur Seite gestanden hatte, als er das Verlangen zurückwies, durch einen Pairsschub den Widerstand zu brechen. Infolge dieser Zurückweisung demissionirte das ungarische Ministerium, Wekerle-Szilagyi. Da gelangte nun Graf K. zu der Ansicht, daß, wenn die Civilehe unvermeidlich sei, doch wenigstens eine conservative Regierung sie einführen solle. Diese Ansicht beruhte auf einer falschen Voraussetzung; so lange in Ungarn der Adel und die Intelligenz auf einander angewiesen sind und beide fast nur von politischen Interessen beherrscht werden, ist eine Regierung, die nicht von einer starken öffentlichen Strömung getragen wird, unmöglich und solange auch kann diese Strömung nur national und liberal sein. Der Versuch, den zu unternehmen Graf Khuen-Hédervary ausersehen war, mißlang, und nachdem Wekerle und Szilagyi wieder berufen waren, im Magnatenhaus gesiegt hatten und dann zurücktraten, weil sie das Vertrauen des Monarchen nicht besaßen, wurde er neuerdings unternommen und mißlang neuerdings. Von all diesen Eingriffen blieb in Ungarn eine starke Gegnerschaft gegen K. zurück, dem man es überdies nicht verzieh, daß er sich dagegen ausgesprochen hatte, den Sohn Ludwig Kossuth’s in das Land einzulassen und daß er die Rumänenpolitik der Regierung, die ihm in Bukarest Schwierigkeiten bereitete, mißbilligte.

Graf K. hielt, wie gesagt, eine Uebereinstimmung der innern und der äußern Politik für nöthig, eine Uebereinstimmung, die allerdings gerade in Oesterreich-Ungarn am nöthigsten wäre, die aber gerade hier am schwersten zu erzielen ist, da die Monarchie aus zwei von einander unabhängigen Staaten besteht. Seit jeher hatte K. daher den Gedanken gehegt, daß über den beiden Regierungen eine gemeinsame Spitze errichtet werden müßte. Als er noch Gesandter in Petersburg war und Andrássy den Ministerposten verließ, richtete K., gleich allen Gesandten, ein Abschiedsschreiben an den scheidenden Staatsmann, und in diesem Briefe, den Andrássy als den gescheitesten unter den ihm zugekommenen bezeichnete, gab er jenem Gedanken Ausdruck. Er sagte darin, daß Andrássy in schlagender Weise die Frage gelöst habe, ob bei der dualistischen Gestaltung der Monarchie eine Großmachtpolitik, eine einheitliche Action, überhaupt möglich sei und fällte das treffende Urtheil, eine Großmachtpolitik sei die Bedingung für das Gedeihen der Monarchie, denn wenn der Impuls zu einem gemeinsamen Ziele, der treibende Staatsgedanke fehle, der die vielfältigen heterogenen Elemente in einer bleibenden Bewegung erhält, so trete eine faule Stagnation ein, die selbst zur Zersetzung führen könne. Für eine Großmachtpolitik sei jedoch eine einheitliche oberste Leitung und zwar als bleibende verfassungsmäßige Institution – ein Reichskanzler – unentbehrlich. Diese Institution solle nicht der dualistischen Gestaltung nahetreten; der Reichskanzler solle das Reichsinteresse zu wahren haben und dafür verantwortlich gemacht werden können. „Die Zukunft“, sagte er, „birgt manche ernste Gefahr. Oesterreich-Ungarn braucht sie nicht zu fürchten, wenn es einig und entschlossen ist im Wollen und im Handeln. Treten die Gefahren näher, so muß die Führung des Reiches einer Hand anvertraut werden. Und dann ergiebt sich der Reichskanzler von selbst.“ Zum Schluß sprach er die Hoffnung aus, daß Graf Andrássy einmal der Träger dieser Reform sein werde. Graf Andrássy war gestorben (1890) ohne an sie herangetreten zu sein. Er wußte zu gut, daß sich Ungarn gegen die Einführung eines Reichskanzleramtes wehren würde, und seither ist ja selbst der Begriff und das Wort „Reich“ in Ungarn verpönt worden. Aber was nicht im Gesetz ausgesprochen ist, kann innerhalb gewisser Grenzen in [24] Wirklichkeit im Stillen bestehen, wenn der Minister des Aeußern das unbedingte Vertrauen der Krone besitzt und wenn die Chefs der beiden Regierungen seine geistige Autorität anerkennen. In diesem Sinne glaubte K. in den letzten Jahren einen Einfluß ausüben zu können und zwar in conservativer und in Bezug auf die Nationalitätenfragen mäßigender Richtung, und eben darüber ist er gestürzt.

Nachdem die Mission Khuen’s gescheitert war, setzten die Ungarn durch, daß zum Ministerpräsidenten der Präsident des Abgeordnetenhauses, Baron Banffy, ernannt wurde, der unter den Parteikoryphäen nur in zweiter Reihe stand, sich aber als Beamter den Ruf eines energischen Chauvinisten erworben hatte. Der Kampf um die kirchenpolitischen Gesetze hatte sich, eben wegen Kálnoky’s Parteinahme, zu dem in Ungarn stets populären „gegen Wien“ zugespitzt. K. merkte, daß es zu einer Auseinandersetzung kommen müsse, und es lag in seiner Natur, ihr nicht aus dem Wege zu gehen. Als der päpstliche Nuntius Agliardi auf einer Reise in Ungarn Ansprachen hielt, in denen er die Kirchenpolitik der Regierung angriff, konnte auch K. dies nicht billigen; auf eine Anfrage, die Banffy anläßlich einer ihm bevorstehenden Interpellation an ihn richtete, gab er dieser Ansicht Ausdruck und erklärte sich bereit, falls die ungarische Regierung es für nöthig erachte, bei der Curie Einspruch zu erheben. Banffy beantwortete darauf die Interpellation mit Berufung auf K. und zwar in einer Weise, die dessen Urtheil über Agliardi schärfer erscheinen ließ und fügte hinzu, daß K. Vorstellungen bei der Curie schon erhoben habe. Darauf veröffentlichte K., erregt über diese Darstellung des Sachverhalts, in der „Politischen Correspondenz“ eine ungemein heftige Notiz gegen Banffy, die dazu führte, daß beide ihre Demission gaben. Der Kaiser, der sich von K. nur ungern überzeugen ließ, daß es zweckmäßiger sei, sein Entlassungsgesuch als daß des ungarischen Ministerpräsidenten anzunehmen, bewilligte schließlich K. den Abschied in einem ungewöhnlich anerkennenden Handschreiben. Am 15. Mai 1895 trat K. zurück, nachdem er den Grafen Goluchowski, früheren Gesandten in Bukarest, zu seinem Nachfolger empfohlen hatte. Eine dreizehnjährige Laufbahn war plötzlich abgeschlossen – beendet scheinbar durch einen Zufall, in Wirklichkeit durch den tiefen Gegensatz zwischen dem conservativen Staatsmann, der sich für das Schicksal der Gesammtmonarchie in erster Reihe verantwortlich hielt und der vorwärtsdrängenden herrschenden Partei in Ungarn.

K. überlebte seinen Rücktritt nur um wenige Jahre. Er verbrachte seine Zeit zum größten Theile in Zurückgezogenheit auf seinem Gute in Mähren und war in Wien ein seltener Gast. Wenn ihm seine Freunde hier begegneten, empfingen sie alle den Eindruck, daß er sein Schicksal mit Ruhe und Würde trage, obwol er gewiß schwer darunter gelitten hat, daß nach seinem Sturze Viele sich von ihm zurückzogen. Bis an sein Ende blieb sich K. treu. Er lehnte es ab, sich über Angelegenheiten, die seine Amtsthätigkeit betrafen, zu äußern und testamentarisch hinterließ er seine Papiere dem Ministerium. Am 13. Februar 1898 starb er, erst 66 Jahre alt.

Wir haben nur Weniges hinzuzufügen. K. hat das Glück gehabt, daß ihm durch die Ereignisse eine Aufgabe von großer Bedeutung zugewiesen wurde und daß diese Aufgabe seiner Natur entsprach. Für die Offensive war er nicht geschaffen und in den wenigen Fällen wo er sie versuchte, griff er fehl. In der Defensive aber war er ein Meister: scharfsichtig, an Alles denkend, Nichts übereilend, kaltblütig und unbeugsam. Mit diesen Eigenschaften hat er in gefährlicher Zeit an der Erfüllung der Mission Oesterreich-Ungarns gearbeitet, an der Erhaltung und Entwicklung der Selbständigkeit der Balkanvölker, und [25] hat den Frieden in Ehren gewahrt. Er hat die defensive Großmacht Oesterreich-Ungarn glänzend repräsentirt und in Europa Figur gemacht. Das Gefühl für die Einheitlichkeit des Reiches war in ihm noch eine lebendige Kraft; die Tradition wirkte in ihm noch wie etwas Gegenwärtiges. Stolz und aufrecht, Aristokrat vom Scheitel bis zur Sohle, diente er der alten Dynastie und dem Reiche. „Dem Grafen Andrássy war es gelungen“, so urtheilt ein ausländischer Diplomat von hohem Ansehen, „der habsburgischen Monarchie nach den schweren Schicksalsschlägen, die sie betroffen, die Stellung wieder zu erringen, die ihr im Rath der europäischen Mächte gebührt. Dem Grafen K. aber war es gegeben, diese Stellung in seltener Weise noch zu befestigen. Dieses große Verdienst ist bei seinen Zeitgenossen unbegreiflicher Weise nie recht gewürdigt worden.“

Außer den allgemein zugänglichen, insbesondere den im Text angeführten Quellen wurden für die vorstehende Arbeit gelegentliche eigene Eindrücke und die werthvollen persönlichen Mittheilungen von Freunden und Bekannten des verstorbenen Ministers benützt, denen der Verfasser hiermit auch öffentlich seinen wärmsten Dank ausspricht.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. doppeltes "und" entfernt
  2. doppeltes "und" entfernt
  3. doppeltes "werde" entfernt