ADB:Leithoff, Matthias Ludwig

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Artikel „Leithoff, Matthias Ludwig“ von Andreas Ludwig Jakob Michelsen in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 18 (1883), S. 228–231, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Leithoff,_Matthias_Ludwig&oldid=- (Version vom 29. März 2024, 11:41 Uhr UTC)
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Leithoff: Matthias Ludwig L., hervorragender Arzt, Gründer des orthopädischen Instituts zu Lübeck, königl. preußischer Hofrath, Ritter schwedischer, dänischer, portugiesischer, oldenburgischer Orden, Ehrenmitglied der kaiserlichen Naturforschergesellschaft zu Moskau, geb. in Lübeck den 22. Mai 1778, war Sohn eines Kaufmanns daselbst. In Folge eines unglücklichen Falles, welcher ihm eine schmerzliche Verkürzung der Sehnen des linken Beines zuzog, vom dritten bis zum sechsten Lebensjahre ans Bette oder einen kleinen Wagen gefesselt, wurde er frühe zu kleinen technischen Arbeiten geführt und bildete eine praktische Erfindungsgabe, eine Umsicht und Beharrlichkeit aus, welche ihm später als Orthopäden sehr zu Statten gekommen sind. Gründlich vorbereitet in dem damals [229] unter Rector Ruperti sehr blühenden Gymnasium zu Stade, bezog er 1797, um Medicin zu studiren, die Universität Jena, ging 1799 von hier nach Göttingen, unterbrach aber um 1800 seine Studien, da er zur Wiederherstellung seiner Gesundheit ein Jahr in Erfurt zubrachte, welches er zugleich zu seiner allgemeinen Ausbildung, namentlich in den schönen Wissenschaften, benutzte. Die Herstellung seiner Gesundheit bestand in einer glücklichen Selbstkur seines immer noch schwächlichen Fußes durch Vorkehrungen und Uebungen, wie er sie später als Orthopäd an Anderen mit Erfolg angewandt hat. Im J. 1801 kehrte er nach Jena zurück, insbesondere von den beiden Professoren Loder und Froriep angezogen. Diese Gelehrten wurden auf den ungewöhnlich begabten und eifrigen Studenten je mehr und mehr aufmerksam; ja, sie würdigten den jungen Mann ihrer Freundschaft. Durch zweijährige Praxis in Loder’s Klinik erwarb er sich dessen Vertrauen in solchem Grade, daß derselbe nicht nur eine günstige Berufung nach Rußland für L. zu vermitteln suchte, welche dieser indeß ausschlug, sondern sogar während Froriep’s längerer wissenschaftlicher Reise ihn zu dessen Vertreter in der Entbindungsanstalt vorschlug und seine Ernennung zum „Subdirector“ herbeiführte. Im Anfange des Jahres 1803 promovirte L. mit einer (dem Lübecker Senate gewidmeten) Dissertation „Meletemata quaedam obstetricia“, worauf er zunächst nach Wien reiste, um unter Anleitung des berühmten Augenarztes Baer sich auch in der Augenheilkunde auszubilden. Im Frühjahr 1804 kehrte er endlich in seine Heimath zurück. Hierher war ihm ein solcher Ruf vorausgeeilt, daß er von dem Tage nach seiner Ankunft den Anfang seiner rasch sich erweiternden ärztlichen Praxis datiren konnte. Nach dem, für Lübeck auf lange Zeit folgeschweren 6. November 1806 (Blücher’s Niederlage und Kapitulation) eröffnete sich für L. eine sehr anstrengende, aber auch verdienstliche Wirksamkeit. Von einem erfahrenen Chirurgen unterstützt, widmete er sich Tag und Nacht den Verwundeten und Kranken, mit denen zahlreiche öffentliche Gebäude, selbst einige Kirchen angefüllt waren. Daneben suchte er den vom Sieger zurückgesetzten, in der allgemeinen Verwirrung furchtbar leidenden Preußen in ächt menschlicher Theilnahme jede mögliche Erquickung und Erleichterung zu verschaffen. Diese aufopfernden Dienste vergalt ihm der in jener schweren Zeit selbst so bedrängte König Preußens im J. 1807 durch Verleihung des Hofrathstitels. Die nächste Folge der treuen Berufsarbeit aber war für ihn ein Fleck- und Faulfieber, welches ihn an den Rand des Grabes brachte. Später wurde er neben seiner sonstigen chirurgischen und medicinischen Praxis als Arzt an dem St. Annenkloster, welches von Hunderten Armer und Kranker bevölkert war, angestellt und erwarb sich durch Einführung wesentlicher Reformen, in Bezug auf Wohnung, Kleidung, Nahrung und Pflege der Hausgenossen große Verdienste. Im J. 1809 verheirathete er sich mit einer Tochter des um Lübeck hochverdienten Bürgermeisters Overbeck, des Dichters und Vaters des berühmten Malers. Als im J. 1814 große Schaaren von Hamburgern vor Davoust’s Gewaltmaßregeln nach Lübeck geflüchtet und großentheils in öffentlichen Gebäuden untergebracht waren, so war es wiederum L., welcher vom Senate beauftragt wurde, die dringend nöthigen Hospitäler einzurichten, was er mit der ihm eigenen Energie that, sowie er denn 5–600 im Laufe der Zeit großentheils vom Lazarethfieber ergriffene Kranke selbst behandelte. Er verfiel aber darauf in die erwähnte Krankheit, von welcher er erst nach 15 Wochen genas. Durch sein 22jähriges Wirken als geschickter Operateur und ebenso scharfblickender und kundiger als theilnehmender Arzt erwarb L. sich in seiner Vaterstadt die allgemeinste Anerkennung und Liebe. Einen europäischen Ruf aber gewann er als Orthopäd. Nachdem im vorigen Jahrhundert Andry in Frankreich die erste Anregung gegeben hatte, entstanden in Deutschland, unabhängig von einander, fast um dieselbe Zeit zwei orthopädische [230] Institute, das des Dr. J. G. Heine (Bd. XI S. 354) in Würzburg (1817) und das seiner Zeit bei Weitem angesehenere Leithoff’s (1818), welches letztere sich von dem ersteren schon dadurch unterschied, daß, während das baierische durch die regierungsseitig gewährten Mittel ins Leben trat, das andere seinen Ursprung und seinen Bestand lediglich der schöpferischen, aufopfernden, genialen Thätigkeit des Stifters verdankte. Namentlich war es der glückliche Erfolg einer ins orthopädische Fach fallenden Kur, welche L. gelegentlich im J. 1811 durchgeführt hatte, und seine dadurch hervorgerufenen Erwägungen, wodurch L. bestimmt wurde, im J. 1818 (am 5. October) sein Institut in einem gemietheten Locale mit drei Patienten zu eröffnen. Die Sache empfahl sich selbst. In Kurzem wurden von nahe und ferne immer mehr Kranke angemeldet, weshalb L. sich zur Erweiterung der Anstalt entschloß. So sah er sich denn veranlaßt, besonders seit 1820, eine Reihe geräumiger, angrenzender Grundstücke anzukaufen, deren Gärten zusammenstießen und die überhaupt den Vorzug einer gesunden Lage hatten. Durch großartige, von Jahr zu Jahr weitergeführte Bauten wurde das Aussehen dieser Grundstücke total umgewandelt. Das Ganze wurde nach einem einheitlichen Plane geordnet. Zweckmäßige Verbindungen sowol als Sonderungen, die Anlage luftiger Wohn- und Schlafzimmer, sowie besonderer Räume zu gymnastischen Uebungen, Wasserleitungen und Wasserbassins (zum Baden und Schwimmen), einer großen Glashalle für die Zeiten, wo der Witterung wegen die Gärten nicht zu benutzen waren, einer Menge von Maschinen, die den individuellen Bedürfnissen angepaßt wurden, die Auswahl und strenge Controle eines großen Dienstpersonals, sowie einer Anzahl tüchtiger Lehrer und Lehrerinnen – Alles war sein Werk, und die belebende Seele des ganzen Betriebes blieb er selbst. Diese so gemischte Gesellschaft wußte er zu Einer Familie zu verschmelzen, und dieses Krankenhaus zu einer Stätte jugendlicher Fröhlichkeit zu gestalten. In Folge einer Anfrage aus Amsterdam schrieb er im J. 1827: „In Instituten dieser Art muß man sich den Kindern mit völliger Liebe und Hingabe widmen, denn jedes Kind, vorzüglich ein verkrüppeltes, ist individuell zu nehmen; nur, indem man viel Liebe und Aufopferung zeigt, kann man sich die Liebe, das Vertrauen und so den Gehorsam der Kinder erwerben; und ohne diese gänzliche hierauf gestützte Folgsamkeit ist keine Kur möglich. In einer solchen Lage, allem Uebrigen entsagend, bin ich jedoch sehr glücklich von drei Schwestern unterstützt, die sich mit mir gänzlich den Kindern gewidmet haben. Ein solches Zusammentreffen kann nicht überall sein; und wie sehr es nothwendig ist, daß die physische und moralische Bildung solcher verkrüppelter Kinder innig verbunden gleichen Schritt gehe, sehen wir an dem Mißlingen so mancher, in Paris und anderen Orten meinem und dem Würzburger Institute nachgebildeten Anstalten. Aus diesen Gründen lassen sich Anstalten nicht nachbilden, sondern sie müssen aus eigener Kraft, bei glücklichem Zusammentreffen aller erforderlichen Umstände, an jedem Orte neu geschaffen werden.“ Und bei anderer Gelegenheit schrieb er: „Aus der Lehre meines trefflichen Lehrers Loder habe ich es behalten, daß die Muskeln dem Willen unterworfen und die gelähmte Thätigkeit derselben nur mit Beihülfe des Willens wiederherzustellen sei. Dieses haben auch meine Erfahrungen so vollkommen bestätigt, daß es mir bei Lähmungen, die fast unglaublich waren, die schönsten Früchte getragen hat.“ – Aus dieser, den Mann durchdringenden Ueberzeugung erklärten sich sehr viele individuelle Maßnahmen nicht nur, sondern auch Aeußerungen, durch welche L. sich und der Wirksamkeit seiner Anstalt Grenzen steckte, welche freilich Manchen, darunter einflußreichen Personen, unwillkommen waren und dem originellen, durchaus selbständigen Manne neben so vielen Zeugnissen der Dankbarkeit und Bewunderung auch Vorwürfe und scharfe Kritiken zuzogen. – Jedenfalls war Leithoff’s Kurmethode eine keineswegs einseitig [231] mechanische; vielmehr zog er stets die Ursachen der Krankheit, den Grad ihrer Ausbildung und alle anderen, namentlich psychischen Umstände überall mit in die sorgfältigste Ueberlegung. Aller Reclame abhold, mehr ein Mann der That als des Wortes, namentlich des gedruckten, hat L. leider seine frühere Absicht, das Material seiner reichen und tiefen Beobachtungen, nebst Abbildungen seiner Maschinen etc. zu sichten und in geeigneter Weise zu veröffentlichen, nicht ausgeführt. Ihm genügte das Denkmal, das er sich in zahlreichen dankbaren Herzen, und zwar der verschiedensten, auch der allerhöchsten Kreise, gestiftet hat. Zu der Zeit seiner größten Ausdehnung in den Dreißigen dieses Jahrhunderts umfaßte das Institut gleichzeitig über 100 Personen, von welchen etwa 60 als Pfleglinge in Behandlung waren (in geringerer Zahl auch einige, die in ihren Familien wohnten, für einzelne Tagesstunden). Die Gesammtzahl der Patienten, die während der 26 Jahre des Bestehens der Anstalt Aufnahme gefunden haben, beträgt 300. In den letzten Jahren schmolz das Institut merklich zusammen, aus Ursachen, die zum großen Theil in gewissen Zeitverhältnissen, sodann in der sehr leidenden Gesundheit des Leiters, vielleicht auch in dem sich abwendenden Urtheil der medicinischen Wissenschaft des Tages liegen mochten. Im Herbste 1844 machte L. bekannt, daß er seine orthopädische Anstalt schließe. Fortan standen die auf eine lange Zeitdauer berechneten, wohl eingerichteten Localitäten, für deren Vervollkommnung er einen großen Theil seines mühsam erworbenen Vermögens geopfert, in denen er so bedeutende Talente, so viele ächte Menschenliebe entfaltet, in denen ein so reges Leben gewaltet hatte, verlassen und öde. Die Anstalt war in allen Beziehungen dermaßen mit der Persönlichkeit und persönlichen Begabung ihres Schöpfers verknüpft, daß sie bei dem Stillstande seiner Thätigkeit nothwendig eingehen mußte. Jemand, der dem merkwürdigen Manne näher gestanden hat, macht über seine Persönlichkeit folgende Bemerkungen: „L. war ein Mann von kleiner, gedrungener Statur, sein Kopf verhältnißmäßig groß. Unvergleichlich war der Ausdruck seiner blaugrauen Augen, bald sinnend und forschend, bald schalkhaft und freundlich, das eine Mal durch den Ausdruck großer Milde und Herzensgüte, ein anderes Mal durch den des festen Willens, der zum Zorn sich steigern konnte, tief in die Seele dringend. – Gern versteckte der feine Menschenkenner seinen tiefsittlichen Ernst in das Gewand humoristischer Paradoxen und seine Bescheidenheit deckte seinen edelsten Gesinnungen und zartesten Handlungen stets den verhüllenden Mantel über. Namentlich zog er jüngere Männer gern in seine Nähe und gab so goldene Lebensregeln, so beherzigenswerthe Winke, so praktische Lebensansichten, so reiche Ideen, daß manche Unterhaltung an Werth schätzbaren Lehrvorträgen gleichkam.“ Die letzten Jahre seines Lebens waren durch anhaltende heftige Gichtschmerzen getrübt, welchen er aber einen starken Willen entgegensetzte und welche weder der Klarheit seines Geistes noch selbst seinem sprudelnden Witze Eintrag thaten. Am 20. November 1846 erlöste ihn der Tod von seinen Leiden.

Froriep, Notizen aus dem Gebiete der Natur- und Heilkunde, 1821, Nr. 17. – Journal der menschenliebenden Gesellschaft in Petersburg, 1821, 15. Heft, S. 48–57. – Morgenblatt 1822 Nr. 213 ff. – G. Downes, Letters from Mecklenburg and Holstein.Souvenir de 1833 (Baron de Balk-Poleff). – Neuer Nekrolog der Deutschen, 24. Jahrgang, Thl. II, S. 755–764, wesentlich identisch mit einer in den N. Lübeck. Blättern 1847 Nr. 6 ff. enthaltenen Biographie.