Zum Inhalt springen

ADB:Meyer, Lothar

aus Wikisource, der freien Quellensammlung

Empfohlene Zitierweise:

Artikel „Meyer, Lothar“ von Georg Bredig in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 55 (1910), S. 830–833, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Meyer,_Lothar&oldid=- (Version vom 19. November 2024, 07:23 Uhr UTC)
Allgemeine Deutsche Biographie
>>>enthalten in<<<
[[ADB:{{{VERWEIS}}}|{{{VERWEIS}}}]]
<<<Vorheriger
La Roche, Karl von
Nächster>>>
Meyer, Victor
Band 55 (1910), S. 830–833 (Quelle).
[[| bei Wikisource]]
Lothar von Meyer in der Wikipedia
Lothar Meyer in Wikidata
GND-Nummer 118733419
Datensatz, Rohdaten, Werke, Deutsche Biographie, weitere Angebote
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Kopiervorlage  
* {{ADB|55|830|833|Meyer, Lothar|Georg Bredig|ADB:Meyer, Lothar}}    

{{Normdaten|TYP=p|GND=118733419}}    

Meyer *): Julius Lothar M., hervorragender chemischer Forscher, Lehrer und Schriftsteller, wurde am 19. August 1830 zu Varel a. d. Jade (Großherzogthum Oldenburg) als Sohn des Amtsphysikus Dr. Friedrich August Meyer geboren. Nach vorübergehender Beschäftigung mit der Gärtnerei aus Gesundheitsrücksichten bezog er schließlich neu gekräftigt das Gymnasium zu Oldenburg, das er Ostern 1851 mit dem Zeugniß der Reife verließ, mit gleicher Vorliebe für die Naturwissenschaften, wie für das classische Alterthum begabt. M. widmete sich zunächst zwei Jahre lang an der Universität Zürich dem Studium der Medicin, insbesondere bei dem Physiologen C. Ludwig und dem Chemiker Löwig, studirte dann in Würzburg weiter und promovirte dort 1854 zum Dr. med. Im Jahre 1854 an die Universität Heidelberg übergesiedelt, wandte er sich den Naturwissenschaften und besonders der Chemie unter Bunsen’s Leitung zu und arbeitete in dessen Laboratorium. In Heidelberg traf er mit Beilstein, Barth, G. Quincke, Lieben, Landolt, Pebal, Kekulé, Adolf Baeyer, Volhard, Adolf Wagner u. a. zusammen. Von diesem Sammelpunkte der Chemie aus wandte er sich im Herbst 1856 nach Königsberg i. Pr., um dort ebenso wie sein Bruder, der Physiker O. E. Meyer (nachmals Professor der Physik in Breslau) die berühmten Vorlesungen des Physikers Franz Neumann zu hören. 1857 reichte er eine Abhandlung „Ueber die Gase des Blutes“ als Inauguraldissertation bei der medicinischen Facultät der Universität Würzburg ein und erwarb sich außerdem 1858 mit der Abhandlung „De sanguine oxydo carbonico infecto“ an der Universität Breslau den philosophischen Doctorgrad. Am 21. Februar 1859 habilitirte sich M. in Breslau mit der historisch-kritischen Schrift „Ueber die chemischen Lehren von Berthollet und Berzelius“ für Physik und Chemie und übernahm die Leitung der chemischen Abtheilung des physiologischen Instituts. Von hier aus wurde er im Herbst 1866 als Docent für Naturwissenschaften an die Forstakademie in Eberswalde berufen und vermählte sich am 16. August 1866 mit Johanna Volkmann. 1868 folgte M. einem Rufe als ordentlicher Professor der Chemie und Vorstand des chemischen Laboratoriums an das Polytechnicum zu Karlsruhe i. B. und zeichnete sich im Kriegsjahre 1870 bei der Leitung des in den Räumen der Hochschule eingerichteten Hülfslazareths aus. Im Frühjahr 1876 siedelte M. als ordentlicher Professor der Chemie und Nachfolger R. Fittig’s an die Universität Tübingen über, wo er [831] eine fruchtbare Lehrthätigkeit bis zu seinem Lebensende ausgeübt hat. Für das Studienjahr 1894/95 wurde M. zum Rector gewählt, 1883 zum Ehrenmitglied der Chemical Society in London, er war auch u. a. correspondirendes Mitglied der Berliner und der Petersburger Akademie der Wissenschaften. M. war bei Schülern, Mitbürgern und Freunden wegen seines wohlwollenden Wesens und der Lauterkeit seines Charakters, besonders geschätzt und beliebt; ein Bildniß seines feinen Kopfes findet man in den „Berichten der deutschen chemischen Gesellschaft“ 28, 1109 (1895). M. starb nach einem rüstigen Lebensabend plötzlich am 11. April 1895 infolge eines Gehirnschlages.

Lothar Meyer’s Name wurde besonders berühmt durch seine Aufstellung des periodischen Systems der chemischen Elemente. Zwar wurde diese Entdeckung, wie so oft große Ideen in demselben Moment an verschiedenen Puncten der Culturwelt auftauchen, fast gleichzeitig auch von dem geistreichen russischen Chemiker D. Mendelejeff gemacht. Nachweislich aber ist M. unabhängig zu seinem System gekommen, das er sowohl in seinem Buche „Die modernen Theorien der Chemie“ 1864, wie besonders in den „Annalen der Chemie“ 1870 veröffentlicht hat. Die Geschichte dieser Entdeckung und ihrer Vorläufer ist von seinem langjährigen Mitarbeiter Karl Seubert in Heft 68 von „Ostwald’s Klassiker der exakten Wissenschaft“ genau beschrieben und wird am besten durch die Thatsache erhellt, daß M. für sein System gleichzeitig mit Mendelejeff 1882 die goldene Davy-Medaille von der Royal Society in London zuerkannt erhielt. Der Inhalt dieses Systems ist kurz folgender. Ordnet man die chemischen Elemente nach ihrem Atomgewichte, so ändern sich die Eigenschaften der Elemente von Glied zu Glied der Reihe so regelmäßig, daß nach einer bestimmten Anzahl von Gliedern sich die früheren Eigenschaften oder ihnen naheliegende wiederholen. Es lassen sich also die chemischen Elemente in verschiedene Gruppen ordnen, in denen die Glieder mit analogen Eigenschaften stets dieselbe Reihenfolge besitzen. So erhält man eine übersichtliche und natürliche Classification der chemischen Elemente, die auch wichtige praktische Anwendungen ergibt. Fehlt z. B. in einer Gruppe ein Element, für welches in einer anderen Gruppe ein Analogon bekannt ist, so darf man mit einiger Wahrscheinlichkeit die künftige Entdeckung und sogar das Atomgewicht und die Eigenschaften jenes fehlenden Elementes auf Grund dieser Analogie zur anderen Gruppe voraussagen. Solche Voraussagen sind in den folgenden Jahrzehnten wiederholt eingetroffen. Kommt ferner ein Element auf Grund einer Bestimmung seines Atomgewichtes an eine Stelle des Systemes zu stehen, wohin es nach seinen Eigenschaften nicht paßt, so ist anzunehmen, daß jene Atomgewichtsbestimmung unrichtig gewählt war, und man hat in der That so durch das periodische System öfters Anleitung gefunden, das Atomgewicht entsprechend richtig zu corrigiren. M. wies nach, daß nach diesem Systeme die meisten Eigenschaften der Elemente, wie ihr Atomvolumen, ihr Schmelzpunkt, Siedepunkt, ihre mechanischen und elektrischen Eigenschaften u. s. w. sich als periodische Functionen ihrer Atomgewichte darstellen lassen. Die neuere Forschung hat dies auch noch für eine ganze Reihe anderer Eigenschaften bestätigt. In seiner ersten Mittheilung betrachtet M. diese Gesetzmäßigkeiten und zwar wohl mit einiger Berechtigung als einen Fingerzeig, daß auch die Atome „nicht untheilbare Größen, vielmehr wiederum Verbindungen von Atomen höherer Ordnung, also zusammengesetzte Radicale“ seien. Dieser Gedanke ist bekanntlich nach Meyer’s Tode durch die neuesten Forschungen über Radioactivität und Elektronentheorie wieder aufgenommen, wenn auch noch nicht endgiltig bewiesen worden, während M. selbst stets mit großer Vorsicht vor allen zu weit gehenden Schlüssen über die Natur der [832] Materie, auch aus seiner Theorie, warnt. Mit Recht sagt aber Ostwald (Grundriß d. allgem. Chemie, 1909, S. 175), daß das „periodische System“ nicht als der Abschluß, sondern vielmehr als der Anfang einer fruchtbaren Ideenreihe anzusehen sei.

Die zweite bedeutende Leistung Meyer’s besteht in dem großen erzieherischen Einflusse, den er durch sein in mehreren Auflagen (Breslau 1864–1896) erschienenes Lehrbuch: „Die modernen Theorien der Chemie und ihre Bedeutung für die chemische (Statik) Mechanik“ Jahrzehnte lang auf die Fachgenossen ausgeübt hat. In diesem Buche stellte er das theoretische Wissen seiner Zeit in klarer und gründlicher Form dar, stets bemüht, in jeder Auflage mit ihm fortzuschreiten. In einer Zeit, wo die Chemiker in Folge schlechter Erfahrungen jedem Theoretisiren abhold geworden waren und sich erfolgreich der reinen Empirie widmeten, war es keine geringe, aber von M. mit großer Meisterschaft gelöste Aufgabe, das Interesse seines ausgedehnten wissenschaftlichen Leserkreises für die großen, allgemeinen und theoretischen Fragen und Probleme der Chemie nicht bloß wach zu halten, sondern zu concentriren und weiter zu beleben. Was H. Kopp’s „Lehrbuch der physikalischen und theoretischen Chemie“ für die Zeitgenossen Liebig’s, Wöhler’s und Bunsen’s gewesen war, das bedeuten Meyer’s „Moderne Theorien der Chemie“ für die darauffolgende Chemikergeneration, für das Zeitalter der Structurchemie und der Valenztheorie der Atome. In den letzten Jahrzehnten begann freilich auch die chemische Verwandtschaftslehre durch die Arbeiten eines Horstmann, Helmholtz, van’t Hoff, Ostwald, Arrhenius, Nernst u. a. neue mächtige thermodynamische und elektrochemische Grundlagen zu erhalten, und hier wurde M. allerdings im Alter schließlich durch eine nicht ganz glückliche Skepsis verhindert, wie in früheren Jahren mit den jüngeren Generationen fortzuschreiten. Meyer’s „Moderne Theorien der Chemie“ sind daher in neuerer Zeit durch modernere Werke überholt und ersetzt worden, ihr historischer Werth bleibt aber bestehen und es wird unvergessen bleiben, daß sie Generationen von Chemikern vortreffliche Belehrung gegeben haben und daß sie auch heute noch äußerst lesenswerthe Capitel über Atomtheorie, Structurchemie und Valenztheorie enthalten.

M. hat ferner die Arbeiten seiner Vorläufer: J. W. Döbereiner’s und Max Pettenkofer’s Abhandlungen unter dem Titel „Anfänge des natürlichen Systems der chemischen Elemente“ und S. Cannizzaro’s berühmten „Abriß eines Lehrganges der theoretischen Chemie“ als Heft 66 und 30 von Ostwald’s „Klassikern der exakten Wissenschaften“ neu herausgegeben und mit Commentaren versehen. Besonders erwähnenswerth und ganz actuell für unsere neuesten Schulprobleme sind seine Schriften über Schulwesen, besonders das Heft: „Die Zukunft der deutschen Hochschulen und ihrer Vorbildungsanstalten“ (Breslau 1873), in denen er besonders die nach seiner Meinung „unglückselige Zweitheilung der nationalen Bildung“ in eine humanistische und eine realistische bekämpft, „weil der Schule obliegt, den Menschen allseitig auszubilden, alle seine Kräfte zu entwickeln“.

Es ist noch darauf hinzuweisen, daß M. in Gemeinschaft mit seinen Schülern eine reiche experimentelle Forscherthätigkeit entfaltet hat. Unter anderem seien genannt die Studien über die Blutgase, über die Transpiration der Dämpfe durch Capillaren, über Molekularvolumina, über Löslichkeit, über Diffusion, über die Chlorüberträger, über Sauerstoffüberträger, über Massenwirkung bei chemischen Reactionen, wie bei Nitrirung, Amid- und Chloraethylbildung, bei Fällungen, Gasreactionen u. s. w.

K. Seubert, Ber. d. deutsch. chem. Gesellsch. 28, 1109 (1895). Daselbst ausführliches Verzeichniß von L. Meyer’s Schriften. – E. Fischer, ebenda, [833] 28, 971 (1895). – Ostwald’s Klassiker d. exakten Naturwiss., Heft 68, S. 119. – W. Nernst, Theoret. Chemie, 1909, S. 183. – G. Rudorf, Das period. System (deutsch von Riesenfeld). Hamburg 1904.

[830] *) Zu Bd. LII, S. 370.