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ADB:Meyer, Victor

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Artikel „Meyer, Victor“ von Paul Heinrich Jacobson in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 55 (1910), S. 833–841, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Meyer,_Victor&oldid=- (Version vom 3. Dezember 2024, 09:45 Uhr UTC)
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Meyer *): Victor M. nahm im letzten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts unter den Chemikern eine hervorragende Stelle ein. Seine ausgezeichneten Experimentaluntersuchungen führten zu wichtigen Entdeckungen in der physikalischen und organischen Chemie; sie sind gekennzeichnet durch Mannichfaltigkeit der bearbeiteten Gebiete, Originalität der Methoden und die Zähigkeit, mit der bedeutsame Ziele verfolgt wurden. Sein frühzeitig erworbener Gelehrtenruhm, sein Lehrtalent und ein ungewöhnliches Geschick für die Organisation chemischer Unterrichtsstätten bewirkten es, daß die Laboratorien, an denen er während seiner kaum drei Jahrzehnte umspannenden akademischen Laufbahn thätig war, von Schülern aller Länder aufgesucht wurden und sich zu Mittelpunkten regster Forschungsarbeit entwickelten.

Am 8. September 1848 zu Berlin geboren, zeigte Victor M. schon als Kind eine ungewöhnliche und vielseitige Begabung. Fast in zu eiligem Schritt absolvirte er, nachdem er zunächst privaten Unterricht genossen hatte, die Classen des Friedrich-Werderschen Gymnasiums, das er bereits mit 16 Jahren – obwohl zur Verhütung allzu frühzeitiger Entwicklung zeitweise absichtlich zurückgehalten – Ostern 1865 als Abiturient verließ. Seine Interessen wandten sich damals vorwiegend der Litteratur und den schönen Künsten zu; nur mit Mühe konnten ihn die Seinigen daran hindern, seinem leidenschaftlichen Wunsche, Schauspieler zu werden, zu folgen. Da vollzog sich ein entscheidender Umschwung in der Wahl des Berufes, als er kurz nach bestandenem Abiturientenexamen seinen älteren Bruder Richard, der schon das Studium der Chemie begonnen hatte, in Heidelberg besuchte. Eindrücke, die er als Kind in der Fabrik des Vaters empfangen, Anregungen, die er als Gymnasiast von seinem trefflichen Lehrer Bertram – dem nachmaligen Berliner Stadtschulrath – beim Unterricht in der Mathematik und den Naturwissenschaften erhalten hatte, mögen mit zu dem Entschlusse beigetragen haben, dem Bruder in der Wahl des Studiums zu folgen. Nachdem er ein Semester in Berlin studirt hat, wo kurz zuvor A. W. Hofmann seine Lehrthätigkeit begonnen hatte, sucht auch Victor im Herbst 1865 die Ruperto-Carola auf, deren Lehrerkreise damals die glanzvollsten Namen der deutschen Naturwissenschaft – Bunsen, Helmholtz, Kirchhoff, Kopp – angehörten; kein Wunder, daß es ihn nicht mehr nach einer anderen Universität zog! Unter der Leitung Bunsen’s – des unerreichten Meisters der anorganischen Chemie – beendigte er dort seine Studien und erwarb sich zugleich die Zuneigung und das Vertrauen seines geliebten Lehrers, der ihn als Assistenten in der Abtheilung zur Untersuchung von Mineralwässern sich erwählte.

Allein in dieser Stellung verweilte er nicht lange. Der Wunsch, sich auch in der organischen Chemie auszubilden, führte ihn 1868 in seine Vaterstadt zurück, wo damals Adolf Baeyer in den bescheidenen Räumen des Laboratoriums der Gewerbeakademie als Forscher und Lehrer wirkte. Um ihn sammelte sich eine Schar begabter und für wissenschaftliche Forschung begeisterter Schüler. In diesen anregenden Kreis trat Victor M. ein, und hier reifte der Entschluß, in wissenschaftlicher Arbeit den Lebensberuf zu suchen. Der Vater, der seinen Söhnen eine praktische Thätigkeit in der von ihm begründeten [834] Fabrik zugedacht hatte, war freilich anfänglich nicht ganz mit diesem Entschlusse einverstanden; doch wurden die Bedenken bald überwunden, wobei namentlich auch der Rath des älteren Bruders Richard, der Victor’s Begabung für exakte naturwissenschaftliche Forschung schon erkannt hatte, die Zustimmung des Vaters erleichterte.

So sehen wir denn den jungen Gelehrten, der die Arbeitsgenossen schon damals durch seine Kenntnisse, sein Gedächtniß und die Lebhaftigkeit seines chemischen Denkens erstaunte, rüstig an selbständige wissenschaftliche Arbeit gehen. Der Erfolg blieb nicht aus; in den Sitzungen und den „Berichten“ der kurz zuvor begründeten „Deutschen chemischen Gesellschaft“ kann er häufig Ergebnisse seiner Versuche mittheilen, welche ihm die Aufmerksamkeit der Fachkreise zuwenden. Bevor er noch Zeit findet, in der üblichen Form als Privatdocent in die akademische Laufbahn einzutreten, wird er schon 1871 im Alter von 23 Jahren als außerordentlicher Professor an das Polytechnicum in Stuttgart berufen. Auch hier ist seines Bleibens nicht lange; denn schon nach einem Jahre zieht ihn der Präsident des schweizerischen Schulraths, Kappeler – in Gelehrtenkreisen durch die Sicherheit und originelle Methode, mit der er besonders hervorragende wissenschaftliche Talente zu „entdecken“ verstand, bekannt – als ordentlichen Professor an das eidgenössische Polytechnicum zu Zürich.

In Zürich hat M. am längsten (1872–1885) gelehrt und gearbeitet. Hier glückten ihm bahnbrechende Entdeckungen in rascher Folge, hier strömten ihm Schüler von allen Seiten zu, hier begründete er seine Schule und erwarb sich den Weltruf. Aber hier führte er auch seine verständnißvolle Gattin heim (1873), gründete sein Haus und machte es zur Stätte angeregten, geselligen Verkehrs; trat mit Collegen, Schriftstellern und Künstlern in enge Beziehungen, die seinem theilnehmenden Herzen und seinem lebendigen Geiste zur stets ergiebigen Quelle edler Freude wurden. Wenn er in späteren Jahren von der Züricher Zeit erzählte, fühlte der Hörer etwas wie Sehnen nach Heimath, nach jugendlicher Schaffenskraft und Daseinsfreude heraus.

Doch konnte ein Mann, der sich in seiner Wissenschaft einen Platz unter den Ersten geschaffen hatte, nicht für die Dauer der schweizerischen Hochschule unbestritten bleiben. Im J. 1884 erhielt er einen Ruf an eine vaterländische Universität, und im Frühjahr 1885 verließ er Zürich, um in Göttingen die Stelle einzunehmen, die bis vor wenigen Jahren Wöhler bekleidet hatte. Seine Wirksamkeit an der Georgia Augusta währte nur wenige Jahre; denn gegen das Ende des Jahres 1888, als der greise Robert Bunsen beschlossen hatte, sein Lehramt niederzulegen, erfüllte sich, was dem jungen Studenten als der schönste Traum seines Lebens erschienen war: er wurde nach Heidelberg berufen, in jene Musenstadt ohne gleichen, die Jedem ewiges Zurücksehnen hinterläßt, der je das Glück hatte, dort zu leben. Sein einstiger Lehrer, in welchem er den Forscher und Menschen gleich verehrte, hatte selbst M. der Facultät als den Nachfolger bezeichnet, den er am liebsten an seiner Stelle sähe. Wie schwer, diesem Rufe zu widerstehen! Und doch glaubte M. anfänglich, ihn ablehnen zu müssen, da an dem gleichen Tage, der ihm das Telegramm aus Heidelberg brachte, der schöne Erweiterungsbau des Göttinger Laboratoriums feierlich eröffnet wurde, der auf seine Veranlassung und nach seinen Plänen errichtet war. Allein nach einem halben Jahre wurde der Ruf erneuert, nach hartem Kampfe schwanden die Bedenken, und im Herbst 1889 ging es von der Leine zum Neckar, wohin dem verehrten Lehrer eine ganze Schar von Studenten, Assistenten und Docenten folgte.

In allen Stellungen, die M. bekleidete, hat er die Einrichtungen, die er [835] antraf, auf eine den gesteigerten Bedürfnissen entsprechende Höhe gehoben. So war es auch in Heidelberg seine erste Sorge, das von Bunsen 1854 bis 1855 erbaute Laboratorium, das nur für anorganische Arbeiten geeignet war, zu erweitern. Nachdem zunächst provisorische Einrichtungen für die Ausführung organisch-chemischer Arbeiten getroffen waren, wurde alsbald ein stattlicher Neubau als Ergänzung des alten Laboratoriums in Angriff genommen, der 1892 eröffnet werden konnte.

Jetzt konnte er endlich den Lohn einer fast zehnjährigen, an Kämpfen und Schwierigkeiten reichen Bauzeit ernten. Kräftig und rege pulsirte das Leben nun in den einzelnen Räumen der chemischen Werkstatt, die freilich auch trotz ihrer großen Zahl nicht alle Studirenden aufnehmen konnten, die der gefeierte Lehrer anzog. Und alle Theile dieses Ganzen – Director, Assistenten, Studenten – blieben durch eine Harmonie verknüpft, die kaum jemals ein Mißklang störte, von einer arbeitsfreudigen Stimmung getragen, die jeden Hauch von Unzufriedenheit verjagen mußte! Wem es vergönnt war, an diesem Leben theilzunehmen, hat eine Erinnerung davon getragen, die ihn nie verlassen wird.

Der große Forscher, der treffliche Lehrer konnte wohl Schülerscharen heranziehen und fesseln; aber sein ganzes Gefolge in einem so schönen Zusammenleben zu verschmelzen, – das hätte er nicht vermocht, wäre er nicht auch ein so lieber Mensch gewesen, hätte er nicht einen Zauber der Persönlichkeit besessen, wie ihn die Natur nur selten verleiht. M. hatte eine merkwürdige Macht über die Menschen. Wo er auftrat, war er auch bald der Mittelpunkt; Jeder hörte ihm zu, Alle sammelten sich um ihn. In dieser Gewalt, die er ausübte, aber lag nichts Absichtliches; sie war weit weniger der Ausfluß imponirender Größe, als vielmehr die Wirkung einer unvergleichlich anziehenden und vielseitigen Natur. Auch seine Erscheinung trug dazu bei; wer den schön geschnittenen Kopf mit den herrlichen blauen Augen sah, mochte zunächst wohl glauben, einem Künstler gegenüber zu stehen; und doch sprach wieder neben dem lebhaften Temperament in seltsamer Mischung die sinnende Ruhe des Gelehrten aus den ausdrucksvollen Zügen. Diese Mischung von Gelehrtennatur und künstlerischem Sinn zeigte sich auch darin, daß M. – im Gegensatz zu den meisten deutschen Naturforschern – gern die Feder zur Popularisirung seiner Wissenschaft ergriff. Einige größere, für weitere Kreise bestimmte Aufsätze finden sich in der Sammlung „Aus Natur und Wissenschaft“ (Heidelberg 1892). Als trefflicher Naturschilderer zeigte er sich namentlich in der reizenden Schrift „Märztage im kanarischen Archipel“ (Leipzig 1893).

Im Kreise der Fachgenossen fesselte er durch die Lebhaftigkeit, mit der er alles Neue verfolgte und in seiner eigenartigen Weise beleuchtete und discutirte; durch die freudige, oft begeisterte Anerkennung, die er jedem Erfolge eines Anderen darbrachte; durch das warmherzige Interesse, das er dem wissenschaftlichen Streben der Jüngeren zuwandte. In der Gesellschaft zeigte er sich als vollendeter Plauderer und Erzähler, als verständnißvoller und genußfreudiger Kenner der bildenden Künste, der Musik, der Litteratur. Als Gastgeber wußte er jedem seiner Gäste es in seinem Hause behaglich zu machen. Am Biertische wieder konnte er durch fröhliche Laune und sprudelnden Witz gemüthlichste Stimmung wecken. Ueberall aber leuchtete seine Herzensgüte hervor. Er hatte ein weiches Gemüth, das Freude und Schmerz seiner Lebensgenossen mitempfand. Es war ihm eine Freude, Schüler zu fördern, Bedrängten zu helfen; ein Bedürfniß, Ungerechtigkeit zu verhindern; ein natürlicher Trieb, Behagen in seiner Umgebung zu verbreiten. In der Herzlichkeit, [836] die er Jedem entgegenbrachte, in der vollendeten Liebenswürdigkeit, die er bei jeder Begegnung zeigte, lag nichts Conventionelles; es spiegelte sich darin aufrichtige, erquickende Theilnahme.

Vergegenwärtigt man sich alles, was die Natur ihm auf den Weg gab, was er durch eigene Kraft in Entfaltung ihrer Gaben leistete, was das Schicksal hinzufügte, so sollte man glauben, daß ihm wie Wenigen auch inneres Glück beschieden gewesen sei. Seine Laufbahn war für einen Gelehrten fast beispiellos; seine wissenschaftlichen Thaten wurden von gelehrten Corporationen durch eine Ehrenbezeugung nach der anderen anerkannt; von seinen Schülern wurde er geliebt und verehrt, wie kaum je ein Lehrer. Zu den Freuden, die der Beruf ihm gab, kam das Glück in der Familie, das innige Zusammenleben mit seiner Gattin und vier erblühenden Töchtern, kamen freundschaftliche Beziehungen aus allen Orten, in denen er gelebt hatte. Denn wo er war, hatte er Freunde errungen, die ihn mit Wehmuth scheiden sahen und nie vergaßen!

Aber die Natur, die ihn mit Vorzügen des Geistes, des Gemüthes und der äußeren Erscheinung so verschwenderisch ausstattete, hatte ihm die körperliche Kraft versagt, die einer so ungemein frühzeitigen geistigen Entwicklung und einer so angestrengten Thätigkeit das Gleichgewicht halten konnte. Trat er doch schon im Alter von 24 Jahren, wo Andere meist noch sorglos an der eigenen Ausbildung arbeiten, an die Spitze eines großen Laboratoriums als verantwortlicher Leiter, gründete als Jüngling eine Schule und schritt nun rastlos vorwärts auf einer Bahn, die ihn in immer größere Stellungen führte und ihm immer mehr Pflichten aufbürdete. Sein zwar nicht kräftiger, aber zäher Körper wäre vielleicht diesen Anforderungen gewachsen geblieben, hätte er es von frühe an verstanden, Arbeit und Ruhe richtig zu vertheilen. Aber er besaß durchaus nicht die Fähigkeit, sich auszuruhen. Schon aus seiner Studienzeit erzählen seine Kameraden, daß er häufig beim fröhlichen Zusammensein aus ausgelassenster Stimmung für einige Zeit in einen Zustand völliger Theilnahmlosigkeit für die Umgebung verfiel; eine wissenschaftliche Frage war ihm dann in den Sinn gekommen und hatte ihn ganz gefangen genommen. So arbeitete es unablässig in ihm, wahre Ruhe kannte sein Geist nicht. Wohl konnte er von der Wissenschaft durch Geselligkeit, Kunstgenuß, Nebenbeschäftigungen von allerlei Art abgelenkt werden. Aber bei der Lebhaftigkeit, mit der er all dies trieb, erwuchs ihm daraus nicht rechte Erholung. Sobald dann die äußere Ablenkung fehlte, begann es sich wieder in seinem Kopfe zu regen; der Schlaf blieb schon in jungen Jahren für lange Zeiten verscheucht, oft erhob er sich mitten in der Nacht vom Lager, um stundenlang am Schreibtisch zu arbeiten. Später traten neuralgische Schmerzen hinzu, steigerten die Schlaflosigkeit und machten sie immer quälender; so wurden seine Nerven mehr und mehr zerrüttet. Als er noch in den Jahren des kräftigsten Mannesalters stand – er ist überhaupt kaum darüber hinausgekommen – machte er in müden Stunden den Eindruck eines Greises.

Freilich wer ihm gelegentlich – etwa in einer Gesellschaft, bei einem Besuch oder auf einem Congreß – begegnete, hat diesen Eindruck nicht gehabt. Denn jede äußere Anregung ließ seine elastische Natur wieder emporschnellen. Auch das Aussehen wechselte dann, wie man es so häufig bei Nervösen beobachtet, mit wunderbarer Plötzlichkeit; die müden Züge belebten sich und spiegelten die ganze Lebenslust und Lebenskraft wieder, die in ihm lag. Aber wer ihn täglich sah, wußte es, wie oft Zustände gänzlicher Erschaffung über ihn kamen, in denen er unfähig zu der geringsten Leistung war, – wie er sich fast alltäglich quälen mußte, um sich zur Erfüllung der [837] Berufspflichten aufzuraffen, – wie jeder unvorhergesehene Zwischenfall ihn in ganz unverhältnißmäßige Aufregung versetzte und ihm aufs neue Kraft raubte. Wenn er dann von der Arbeit abstehen mußte, sah man ihm an, daß es in seinem Hirn wühlte, daß er in der Ruhe keine Erquickung fand. Wie müssen die langen, schlaflosen Nächte den armen Mann gemartert haben! Und als wieder Wochen kamen, in denen er keinen Schlaf finden konnte, als von neuem neuralgische Schmerzen hinzutraten, da hielt er es nicht mehr aus, da übermannte ihn die furchtbare Angst vor zukünftiger geistiger Umnachtung; er faßte einen unseligen Entschluß und setzte in der Nacht vom 7. bis 8. August 1897 seinem Leben ein Ende. –

Vergegenwärtigen wir uns nun die wissenschaftlichen Leistungen Victor Meyer’s, so lassen die ersten, im Baeyer’schen Laboratorium ausgeführten Untersuchungen über neurinähnliche Basen, schwefelhaltige Derivate der Kohlensäure, Fragen aus der Chemie des Camphers, sowie über die Constitution des Chloralhydrats ein bestimmtes Ziel noch nicht erkennen, sind aber durch die Mannichfaltigkeit ihrer Gegenstände bereits bezeichnend für die universelle Beanlagung des Forschers, der nach kaum beendeter Lehrzeit sich schon in den verschiedenartigsten Gebieten der organischen Chemie zurechtfindet. Bald aber wird er, indem er 1870 eine neue Synthese aromatischer Carbonsäuren (durch Erhitzen von sulfosauren Alkalisalzen mit ameisensaurem Natrium) entdeckt, in ein Untersuchungsgebiet geführt, das in der ersten Hälfte der siebziger Jahre eine der brennendsten Tagesfragen bildete, – die Ermittlung der gegenseitigen Substituentenstellung bei den Derivaten des Benzols. Die Reaction bietet neue Handhaben für die „Ortsbestimmung“; letztere aber bot sich den Bebauern der aromatischen Gruppe als wichtigste Aufgabe dar, nachdem ihnen Kekulé in seiner genialen Benzoltheorie einen festen Boden geschaffen hatte. Mit klarem Blick erkennt M. die Wichtigkeit seiner Reaction für diese Frage, baut sie in stetem Hinblick auf dieses Problem aus und nimmt lebhaften Antheil an den Discussionen, welche Verbindungen als Ortho-, Meta- oder Para-Derivate aufzufassen sind. Seine ersten größeren Abhandlungen in Liebig’s Annalen sind solchen Fragen gewidmet.

Doch wird er von diesem Gegenstande, nachdem er in Stuttgart seine Thätigkeit begonnen, bald durch eine neue Entdeckung abgelenkt – die Auffindung der Nitroverbindungen von aliphatischen Kohlenwasserstoffen, für die er eine allgemein gültige Bildungsweise in der Wechselwirkung zwischen Silbernitrit und Alkylhalogeniden kennen lehrte. Die eigenthümlichen Reactionen dieser Körper, welche sich zum Theil überraschender Weise als stark saure Verbindungen erweisen und demnach einen erheblich anderen Charakter als die längst bekannten analogen Verbindungen der aromatischen Gruppe besitzen, geben ihm und seinen Schülern reichen Arbeitsstoff auch noch für die ersten Jahre des Züricher Aufenthaltes. In meisterhafter Weise werden diese „Nitroparaffine“ mit ihren Derivaten, die durch Einwirkung von Brom, salpetriger Säure (Nitrolsäuren, Pseudonitrole) etc. darauf entstehen, durchgearbeitet.

Bei diesen Untersuchungen beobachtete M. die außerordentliche Reactionsfähigkeit, welche die an die elektronegative Nitrogruppe gebundene Methylengruppe in Umsetzungen mit salpetriger Säure und Diazokörpern auszeichnet. Diese Beobachtung führt ihn dazu, zu prüfen, ob nicht die Methylengruppe auch dann ein ähnliches Verhalten zeigt, wenn sie an andre Radicale negativen Charakters – wie , etc. – gebunden ist. Die Verfolgung dieses Gedankengangs führte ihn zur Entdeckung von Nitrosoverbindungen der aliphatischen Ketonsäuren, wie , [838] die später als „Isonitroso-Verbindungen“ erkannt wurden, und von „fett-aromatischen Azokörpern“.

Eine überraschende Wendung in Meyer’s wissenschaftlicher Thätigkeit bringt das Jahr 1876: der jugendliche Forscher, der bisher seine Stärke in specielleren oder umfassenden Untersuchungen über Verbindungsgruppen der organischen Chemie gezeigt hat, stellt sich nun Aufgaben aus dem Gebiete der physikalischen und allgemeinen Chemie. Er beginnt über Methoden der Dampfdichtebestimmung zu arbeiten, welche bekanntlich für den Chemiker als sicherste Grundlage zur Ermittlung des Molekulargewichtes eine besondere Bedeutung besitzt. Das Metallverdrängungsverfahren, das er zunächst ausarbeitet, ist freilich verhältnißmäßig selten angewendet worden. Um so allgemeinere Verbreitung fand das im Jahre 1877 mitgetheilte Luftverdrängungsverfahren, welches die Bestimmung der Dampfdichte mit einer für die Zwecke des Chemikers vollkommen genügenden Genauigkeit zu einer der denkbar mühelosesten Operationen machte. Dieses Verfahren von beinahe verblüffender Einfachheit wurde rasch ein Gemeingut aller chemischen Laboratorien; unzählige organische Verbindungen sind in der gläsernen „Birne“, die den wesentlichen Theil des dafür erforderlichen Apparates bildet, verdampft worden und haben in dem Luftvolum oder Stickstoffvolum, das sie bei ihrer Verdampfung verdrängten, das Volumgewicht ihres Dampfes ablesen lassen. Die außerordentliche Nützlichkeit des Verfahrens bereitete dem Entdecker, wie er später häufig mit Vergnügen erzählte, um so größere Freude, als befreundete Physiker, denen er den Plan seines Verfahrens vorher mittheilte, ihm erklärt hatten, es würde unmöglich sein, mit einem solchen Verfahren vernünftige Resultate zu erzielen.

Doch liegt in der Nützlichkeit des Luftverdrängungsverfahrens für organisch-chemische Arbeiten nur ein Theil seiner Bedeutung; Dampfdichtebestimmungen bei niederen und mittleren Temperaturen hatte man ja schon früher nach den vortrefflichen Methoden von Gay-Lussac und A. W. Hofmann, sowie von Dumas ausführen können; nur eine freilich sehr wesentliche Vereinfachung bei äußerst geringem Substanzaufwand war für solche Zwecke hier erzielt. Die Hauptbedeutung des neuen Verfahrens aber lag in der Verwendbarkeit bei hohen Temperaturen. In den Händen Meyer’s und seiner Schüler wandelt sich die Glasbirne zur Porzellanbirne und Platinbirne, und durch gleichzeitige Vervollkommnung der Ofenconstructionen wird der Dampfdichtemessung ein Temperaturbereich bis zur Hitze von etwa 1700° hinauf erschlossen. Welche Fülle von Fragen über das Verhalten der Elemente und der einfachen anorganischen Verbindungen bei hoher Temperatur bietet sich nun dem Experimentator zur Beantwortung dar!

Mit solchen „pyrochemischen Untersuchungen“ ist M. – von seinen Schülern unterstützt – dauernd beschäftigt geblieben. Aus dem reichhaltigen Material, welches er der Wissenschaft dadurch zuführte, können hier nur einige der wichtigsten Ergebnisse genannt werden: der Nachweis, daß die Moleküle des Zinkdampfes – ebenso wie Deville und Troost es schon früher für Quecksilber und Cadmium gezeigt hatten – aus isolirten Atomen bestehen, daß auch die Dampfdichte des Wismuts jedenfalls kleiner ist, als der Molekularformel entspricht, daß der Dampf des Jodkaliums eine für die Formel passende Dichte besitzt, daß das Gay-Lussac’sche Ausdehnungsgesetz bis gegen 1700° seine Gültigkeit für Stickstoff, Sauerstoff, Kohlendioxyd und Schwefeldioxyd beibehält. Die schönste Frucht aber war die Erkenntniß, daß der Dampf der Halogene bei höheren Temperaturen eine Verringerung der Dichte erfährt, die beim Jod am stärksten, beim Chlor am schwächsten auftritt, während das Brom sich in die Mitte stellt. Die eingehende Verfolgung dieser Erscheinung [839] beim Joddampf, die gleichzeitig und unabhängig J. M. Crafts in exaktester Weise studirte, führte zu dem Resultate, daß bei 1400° die Dichte des Jods genau auf die Hälfte des normalen Werthes reducirt ist, bei weiterer Temperatursteigerung eine Verringerung aber nicht mehr erleidet; daraus ergibt sich die Deutung, daß die ursprünglich aus zwei Atomen bestehenden Jodmoleküle bei höherer Temperatur in isolirte Atome dissociirt werden.

Die pyrochemischen Untersuchungen Meyer’s gehören zum classischen Besitzstand der Chemie. Sie waren es auch, welche auf den einstigen Schüler, der so kühn und in so echt wissenschaftlichem Geiste zugleich vordrang, das Auge des Altmeisters Bunsen lenkten, als er Umschau hielt, wer an seiner Stelle der Pfleger chemischen Unterrichts und chemischer Forschung sein sollte.

Beim Beginn der Dampfdichte-Arbeiten schien es so, als ob M. sich ganz der physikalischen und anorganischen Richtung zuwenden wollte. Allein nach einigen Jahren schon findet er wieder Zeit zu eifrigster Arbeit auf organischem Gebiete. Vom Beginn der achtziger Jahre ab bis zu seinem Tode hat er es verstanden, in beiden Arbeitsrichtungen werkthätiger Meister zu bleiben. Die staunenswerthe Beherrschung der Methodik beider Disciplinen ist für seine wissenschaftliche Stellung geradezu charakteristisch; unter den Chemikern seiner Generation ist ihm kein Anderer hierin gleich oder auch nur nahe gekommen.

Kehren wir zurück zu Meyer’s organisch-chemischen Arbeiten, so sind noch aus der Züricher Zeit zwei weittragende Entdeckungen zu berichten: die Bildung der Oxime aus Carbonylverbindungen und Hydroxylamin, und die Auffindung des Thiophens, beide aus dem Jahre 1882 herrührend. Die Fähigkeit der Carbonylgruppe, mit Hydroxylamin im Sinne der Gleichung:

unter Bildung von „Oximen“ zu reagiren, ist seither eines der wichtigsten Mittel zur Charakterisirung von Carbonylverbindungen, das von Lossen entdeckte Hydroxylamin eines der unentbehrlichsten Laboratoriumsreagentien geworden. Die Gruppe der Oxime gehört heute zu den reichhaltigsten der organischen Chemie; allein nicht nur an Körperzahl ragt sie hervor, sondern auch durch die interessanten Umsetzungen und Isomerie-Erscheinungen, die man an ihren Vertretern beobachtete.

Die Entdeckung des Thiophens gehört wohl zu den überraschendsten Ereignissen, von denen die Geschichte der Naturwissenschaft zu berichten hat. Ein Stoff, der seit Jahrzehnten von der Industrie in Tausenden von Tonnen gewonnen und weiter verarbeitet wird, der in jedem Laboratorium seit ebenso langer Zeit das Ausgangsmaterial geradezu zahlloser Versuche von Schülern und selbständigen Forschern bildete, – das aus dem Steinkohlentheer isolirte Benzol erweist sich plötzlich als behaftet mit einer kleinen Menge einer Beimengung! Und es zeigt sich, daß gerade diese winzige Beimengung die Ursache für einige besonders intensive Farbenreactionen bildet, die man bisher als charakteristisch für das Benzol betrachtet hat, die aber dem reinen Benzol gar nicht eigen sind. Die zielbewußte Verfolgung eines mißglückten Vorlesungsversuches führt zu dieser Entdeckung, die nun der Ausgangspunkt für eine große Reihe von Einzeluntersuchungen wird. Denn das Thiophen ist ein Stammkörper, der durch analoge Reactionen wie sie in der Benzolreihe seit langer Zeit ausgebildet waren, in unzählige Derivate verwandelt werden kann. Es ersteht eine „Thiophen-Gruppe“, welche – wollte man Zeit und Mühe genug auf ihren Ausbau verwenden – einen ebenso stattlichen Bau wie die Benzolgruppe darstellen würde. Doch führt schon die nur auf die Hauptzüge sich beschränkende Durchforschung zu einer Erkenntniß von grundlegender Bedeutung: die beiden Verbindungen „Benzol“ und „Thiophen“ [840] , von denen die eine in ihrem Molekül 6 -Gruppen ringförmig vereinigt enthält, während in den Molekülen der anderen 4 -Gruppen und ein Schwefelatom sich zum Ringe zusammenfügen, zeigen nicht nur an sich, sondern auch in ihren Derivaten eine ganz unerwartete, geradezu frappirende Aehnlichkeit. Für jeden Denker, der es einst versuchen wird, die heute noch so räthselhaften Beziehungen der einzelnen Elementaratome unter einander zu klären, wird die Thatsache, daß der Ersatz des Complexes durch ein Schwefelatom im Benzolkern die wichtigsten chemischen Charakterzüge ungeändert läßt, ja selbst auf die physikalischen Eigenschaften vielfach nur einen ganz unerheblichen Einfluß übt, zweifellos einen Angelpunkt seiner Ueberlegungen bilden.

Noch in voller Beschäftigung mit den Abkömmlingen des Thiophens zog M. von Zürich in Göttingen ein. Hier aber wird er nach kurzer Zeit wieder in ein anderes Gebiet geführt. Es war die Zeit, als van t’Hoff’s geniale Ideen über die räumliche Anordnung der Moleküle immer mehr Boden gewannen, und als J. Wislicenus in seiner bekannten Broschüre: „Ueber die räumliche Anordnung der Atome in organischen Molekülen“ den Chemikern die Fruchtbarkeit dieser Ideen eindringlich vor Augen führte. M. hatte schon beim Erscheinen von van’t Hoff’s Broschüre: „La chimie dans l’espace“ (1875) die fundamentale Bedeutung der darin niedergelegten Anschauungen erkannt; unter den Docenten der Chemie gehörte er zu den Ersten, welche die Theorie vom asymmetrischen Kohlenstoffatom in ihre allgemeine Vorlesung aufnahmen. Jetzt bot ihm die Beobachtung zweier isomerer, aus Benzil und Hydroxylamin entstehender Verbindungen, welche früher in seinem Züricher Laboratorium H. Goldschmidt gemacht hatte, die Handhabe zu experimenteller Thätigkeit in der neuen Richtung. Gemeinschaftlich mit Auwers führte er in Untersuchungen, die für alle ähnliche Fragen durch planvolle Anlage und vollendete Durchführung als leuchtendes Vorbild dienen können, den Nachweis, daß diese Benzildioxime von gleicher Structur und demnach raumisomer sind. Von dieser Grundlage aus entwickelte sich dann die von Hantzsch und Werner ausgebildete Stereochemie des Stickstoffs. Nicht unerwähnt mag bleiben, daß diese Arbeiten auch Gelegenheit boten, die Raoult’sche Methode der kryoskopischen Molekulargewichtsbestimmung für organisch-chemische Arbeiten bekannt und zweckdienlich zu machen.

Man ist heute gewohnt, das gesammte Gebiet von Untersuchungen und Speculationen, die auf die räumliche Anordnung der Moleküle gerichtet sind, mit dem Ausdruck „Stereochemie“ zu bezeichnen. Auch dieses Wort gibt Anlaß, Victor Meyer’s zu gedenken; denn es stammt von ihm und ist recht bezeichnend für sein Talent zu kurzer und treffender Ausdrucksweise. Mit einem Vortrage „Ergebnisse und Ziele der stereochemischen Forschung“ eröffnete er im J. 1890 auf Einladung des Vorstandes der deutschen chemischen Gesellschaft die Reihe der „zusammenfassenden Vorträge“, welche seither zu den regelmäßigen Institutionen dieser Gesellschaft gehören.

Mit der Stereochemie stehen auch die Untersuchungen über die Esterificirung der aromatischen Carbonsäuren in Zusammenhang, die Victor M. in den letzten Jahren seiner Heidelberger Thätigkeit beschäftigten. Sie gipfeln in der Aufstellung des „Meyer’schen Estergesetzes“ – einer Regel, die noch heute zu den wichtigsten Gesetzmäßigkeiten in einer Gruppe von Erscheinungen gehört, die man als „sterische Hinderungen“ deutet, d. h. auf Herabminderung der einer bestimmten Atomgruppe zukommenden Reactionsfähigkeit durch die räumliche Beziehung zu anderen Atomgruppen oder Atomen zurückführt.

[841] In der Heidelberger Zeit waren stereochemische und pyrochemische Untersuchungen, Versuche über explosive Gasgemenge und über die Absorption von Gasen durch Permanganat meist neben einander in Arbeit. Aber noch andere Versuchsreihen kamen zu dieser schon so vielseitigen Thätigkeit durch die schöne Entdeckung neuer Classen von aromatischen Jodverbindungen hinzu – der Jodoso-, Jodo- und Jodonium-Verbindungen, charakterisirt durch die Typen:

Eine allgemeine Ueberraschunng rief namentlich die Auffindung der Jodoniumbasen hervor, da diese Verbindungen, deren complexe Radicale aus lauter negativen Bestandtheilen zusammengefügt sind, sich als Basen von ähnlicher Stärke wie die Alkalihydroxyde erwiesen.

Mehrfach hat M. auf Naturforscherversammlungen allgemeine Fragen behandelt. Auf der Schweizerischen Versammlung in Zürich 1883 sprach er über „die Umwälzung in der Atomlehre“, auf der Heidelberger Versammlung 1889 über „chemische Probleme der Gegenwart“, in Lübeck 1895 über „Probleme der Atomistik“. Auf seine populären Aufsätze ist oben schon hingewiesen worden. In Buchform faßte er die beiden größten Gebiete seiner Experimentalstudien zusammen: „Pyrochemische Untersuchungen“ (in Gemeinschaft mit Langer. Braunschweig 1885) und „Die Thiophengruppe“ (Braunschweig 1888). Mit dem Verfasser dieses Artikeles begründete er ein „Lehrbuch der organischen Chemie“ (Leipzig), dessen erster Theil 1893 abgeschlossen wurde, während weitere Theile nach Victor Meyer’s Tode erschienen sind.

Der vorstehende Artikel ist eine Umarbeitung des vom gleichen Verfasser herrührenden Nachrufs auf Victor Meyer, der 1897 in der Naturwissenschaftlichen Rundschau, Jahrg. XII, Nr. 43 u. 44 erschien. – Eine ausführliche Biographie gab Richard Meyer in d. Berichten d. Dtsch. Chem. Gesellsch. 41, S. 4505–4718 (1908). – Weitere Nekrologe u. Gedächtnißreden: C. Liebermann, Berichte d. Dtsch. Chem. Gesellsch. 30, S. 2157 ff. (1897). – H. Goldschmidt, Gedächtnißrede, am 16. Novbr. 1897 in der Chem. Gesellschaft in Heidelberg gehalten (Heidelberg 1897). – G. Lunge, Zeitschrift für angewandte Chemie, Jahrg. 1897, S. 777 ff. – H. Biltz, Zeitschrift für anorganische Chemie 16, S. 1 ff. (1898). – T. E. Thorpe, Journal of the Chemical Society 77, S. 169 (London 1900). – Th. Curtius, Heidelberger Professoren aus dem 19. Jahrhundert, Bd. II, S. 365 ff. (Heidelberg 1903).

[833] *) Zu Bd. LII, S. 370.