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ADB:Mitscherlich, Eilhard

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Artikel „Mitscherlich, Eilhardt“ von Albert Ladenburg in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 22 (1885), S. 15–22, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Mitscherlich,_Eilhard&oldid=- (Version vom 24. November 2024, 14:28 Uhr UTC)
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Mitscherlich: Eilhardt M., berühmter Chemiker, Entdecker des Isomorphismus. Er wurde am 7. Januar 1794 in dem Dorfe Neuende (bei Jever) in Oldenburg geboren. Hier war sein Vater Prediger und dieser schickte den Sohn auf das Gymnasium zu Jever. Sein Onkel war der berühmte Göttinger Philologe Christian Wilhelm Mitscherlich: ein besonders philologisches Interesse scheint das Erbtheil vieler Familienmitglieder bis in die jüngste Generation geworden zu sein. Auch der junge Eilhardt M. zeigte schon frühzeitig ein solches Interesse, eine Neigung für Sprachwissenschaften, die bei ihm noch besonders geweckt und unterstützt wurde durch einen Lehrer des dortigen Gymnasiums, den hochbedeutenden Historiker Schlosser. So vorgebildet bezog M. 1811 die Universität Heidelberg, um dort Philologie und Orientalia zu studiren. Später (1813) führte ihn dieses Studium nach Paris, und hier eröffnete sich ihm die begründete Aussicht, einer Gesandtschaft aggregirt zu werden, [16] die Napoleon I. nach Persien zu schicken beabsichtigte. Allein das Jahr 1814 machte auch diesem, wie allen andern Plänen Napoleons ein rasches Ende und M. war wieder auf sich selbst angewiesen. Jedoch die Hoffnung einer Orientreise hatte so feste Wurzeln geschlagen, das Interesse für die unbekannten Gegenden und Menschen dort war bei ihm so lebhaft geworden, daß M. um diesen Plan zu ermöglichen, sich entschloß sein Studium zu ändern, sich der Medicin zu widmen, um dann als Arzt nach Persien zu gehen. Er eilte nach Göttingen und begann sein medicinisches Studium mit den philosophischen Vorbereitungen, Physik und Chemie. Und dabei blieb es. Die Chemie insbesondere nahm den jungen Forschergeist immer mehr gefangen, die Experimente, das Studium der Natur übten einen so großen Zauber auf ihn, daß er nicht mehr an Persien dachte, sondern im Jahre 1818 nach Berlin ging, um sich dort zu habilitiren. Aus dem Anfang seines Göttinger Aufenthaltes datirt jedoch noch eine Arbeit aus dem Bereiche seines früheren Studiengebietes, über Abschnitte der orientalischen Geschichte, die er mit Benutzung von Handschriften der dortigen Bibliothek verfaßt und veröffentlicht hat unter dem Titel: „Mirchondi historia Thaheridarum historicis nostris hucusque incognitorum Persiae Principum. Persice et latine edidit Dr. E. Mitscherlich“, Göttingen 1814. Wahrscheinlich ist M. auf diese Arbeit hin auch promovirt worden. In Berlin widmete er sich nun ausschließlich chemischen Forschungen in Links Laboratorium. Hier schon sind die ersten Keime zu seiner Entdeckung des Isomorphismus zu suchen. Er erregte damit in so hohem Grade die Aufmerksamkeit von Berzelius[WS 1], der 1819 auf seiner Rückkehr von Paris nach Stockholm durch Berlin kam, daß dieser dem Minister von Altenstein vorschlug, M., der noch ganz unbekannt war, keine chemische Arbeit veröffentlicht hatte, zum Nachfolger Klaproths, also zum Professor der Chemie in der preußischen Hauptstadt zu ernennen. Darauf zwar geht der Minister nicht ein, er verschafft aber dem jungen Genie ein Stipendium zu einem 2jährigen Studium in Stockholm. So folgt M. dem leuchtenden Stern am schwedischen Gelehrtenhimmel, die Zahl seiner berühmten Schüler vermehrend. – Hier in Stockholm führte er seine Entdeckung weiter aus, nebenbei den chemischen Problemen beim Bergbau seine Aufmerksamkeit zuwendend. Bevor er aber Berlin verließ, am 9. Dezember 1819, hielt er in der Akademie einen Vortrag über jene von ihm entdeckte Eigenschaft der Materie, welcher er auf Berzelius Anregung einen bestimmten Namen gab, und die seitdem als Isomorphismus in der Wissenschaft bekannt ist.

Von Stockholm aus begleitete M. seinen Meister auf einer Reise nach verschiedenen Gruben Schwedens, die dieser im Jahr 1820 mit einer Anzahl Schüler unternahm – unter diesen befanden sich Heinrich Rose, Bonsdorf, Arfvedson und Almroth. Längere Zeit hielten sie sich in Fahlun auf, jener berühmten alten Bergstadt, deren Gruben trotz eines 800jährigen Bergbaus immer noch reichlich Kupfererze lieferten, die in den Hütten verarbeitet wurden. Dieser Aufenthalt wurde für M. die Anregung zu einer Reihe von wichtigen Untersuchungen, besonders über die künstliche Darstellung von Mineralien, die später eingehender besprochen werden.

Im November 1821 kehrte M. nach Berlin zurück, wurde sogleich Mitglied der Akademie und außerordentlicher Professor. 1825 erhielt er dann Klaproths (s. Bd. XVI, S. 60) Stelle als Ordinarius an der Universität, später erweiterte sich noch sein Wirkungskreis, indem er zum Professor der Physik und Chemie an der Militärakademie und zum Mitglied vieler amtlicher Commissionen ernannt wurde. Er widmete sich mit Eifer seiner Lehrthätigkeit und bald erlangten auch seine Vorlesungen über Experimentalchemie durch die klare Methode seines Vortrags sowohl als durch den Glanz und die Sicherheit der Versuche eine wohlverdiente [17] Berühmtheit. Durch sein ganzes ferneres Leben zieht sich das in Schweden gewonnene Interesse für Bergbau, und der Wunsch, eine Lösung der dabei aufzuwerfenden mineralogischen und geologischen Probleme zu finden. So beschäftigte er sich hauptsächlich mit den Veränderungen, welche die Oberfläche unseres Planeten im Lauf der Jahrhunderte erfahren, ganz besonders mit der Entstehung der Vulkane, der Bildung der Geiser, der Mineralquellen und Erzgänge. Betrachtungen dieser Art bildeten das Thema seiner letzten Vorlesungen im Semester. In den Ferien widmete er jenen Forschungen seine Erholungsreisen. Nach und nach beschränkte er dieselben auf das Gebiet der Eifel, das er seit den dreißiger Jahren ganz regelmäßig bereiste, mit dem Entschluß die geologische Geschichte dieser vulkanischen Landschaft zu schreiben und daraus die allgemeine Theorie der Vulkane zu entwickeln. Zum Vergleich besuchte er nun weiter die verschiedenen vulkanischen Gebiete von Italien, Frankreich und Deutschland – die noch thätigen so wie die ausgebrannten Krater. Trotz großartiger Vorbereitungen ist er nicht bis zur Herausgabe einer Beschreibung der Eifel gekommen, wohl aber hat er über einzelne Theile Vorträge in der Akademie gehalten in den Jahren 1849, 54 und 58, und kleinere Abhandlungen veröffentlicht, worin er seine Ideen über vulkanische Prozesse überhaupt niedergelegt hat. Er versucht diesen Vorgang sehr einfach durch das in große Tiefen dringende und als Dampf wieder aufsteigende Wasser zu erklären, indem er ausführt, daß das in Tiefen von etwa 100 000 Fuß dringende Wasser sehr hohe Temperaturen, die er auf 1000 Grad schätzt, annehmen könne. Unter dem so entstehenden gewaltigen Druck können sich Spalten bilden, aus denen das Wasser in Dampf verwandelt alsbald hervorbricht. Begegnet dieser Dampf auf seinem Wege schmelzbaren Gebirgsarten, so werden diese geschmolzen und in dem Kanal mit nach oben gedrängt. Unter besondern Verhältnissen bilden sich durch das Abschmelzen des Gesteins Höhlen, in deren obern Raum sich Wasserdämpfe ansammeln und durch ihren Druck das Schmelzproduct in dem Kanal weiter in die Höhe pressen. So entstehen die Lavaströme. Läßt der Druck nach, so können diese auf ihrem Weg nach oben theilweise oder vollständig erstarren und den Ausweg versperren. Dann sammelt sich in der Höhle, so lange das Phänomen fortdauert d. h. so lange sich neuer Wasserdampf bildet, der Druck wie in einem Windkessel. Plötzlich wird die obere zähe Lavadecke zerreißen und es entsteht ein vulkanischer Ausbruch, durch den Lava mit Wasserdampf gemischt auf beträchtliche Höhen geschleudert werden kann. Nach einiger Zeit läßt der Druck nach und die Erscheinung hört auf, kann sich aber, sobald sich wieder ein stärkerer Druck angesammelt hat, wiederholen. Schließlich kann durch den immer wiederkehrenden, gewaltigen Druck die obere Oeffnung wesentlich erweitert werden, die Seitenwände des gebildeten Kraters stürzen ein und die Lava fließt ab. Nun erst wird dem noch vorhandenen Wasserdampf die Möglichkeit auszutreten, er reißt auf seinem Weg Steine und Lava mit fort und tritt als glühende Feuersäule über dem Vulkan in Erscheinung. – Die sogenannten Maare der Eifel sind nach M. solche Ausbruchsöffnungen, aus welchen aber nur Wasserdämpfe mit Bruchstücken der durchbrochenen Grauwacke ausgestoßen werden, aber keine Lava entströmt. Er nannte sie daher auch Gasvulkane. Sie entstehen nach ihm dadurch, daß der emporsteigende Basalt unterirdische Ansammlungen von Wasser angetroffen, das in Dampf verwandelt, die bedeckende Grauwacke durchbrochen hat. Alle diese und viele andre Betrachtungen, Theorien und Fragmente seiner Arbeit sind später durch Professor Roth in Berlin gesammelt und der wissenschaftlichen Welt auf diese Weise erhalten worden. Im Herbst 1861 ging M. zum letzten mal nach der Eifel – im December 1861 zeigten sich jene Brustkrämpfe, die sein Herzleiden vermehrten [18] und ihn nach anderthalb leidensvollen Jahren am 28. August 1863 in seiner Sommerwohnung in Schöneberg dahinrafften. Er hat ein Alter von 69 Jahren erreicht. Wenige Naturforscher haben so wie er Vielseitigkeit des Erforschungsgebietes mit gründlicher Bildung vereinigt. In seiner Familie wurde er Stammvater einer naturwissenschaftlichen Generation: seine Söhne blieben seiner wissenschaftlichen Richtung treu, seine Töchter wurden die Gattinnen des auch schon verstorbenen bekannten Chirurgen Busch in Bonn und des berühmten Chemikers und Physikers Wiedemann in Leipzig. Auch von seinen Enkeln haben einige bereits mit Erfolg die akademische Laufbahn ergriffen.

Wenn wir nun zur Besprechung von Mitscherlich’s grundlegenden Leistungen übergehen, so nimmt darunter die Entdeckung des Isomorphismus die erste Stelle ein. M. hat damit seine wissenschaftliche Laufbahn glänzend eröffnet, ihr hat er Berzelius’ Freundschaft und die Gestaltung seines ganzen ferneren Lebens zu danken. Bevor wir aber hier die Lehre des Isomorphismus, wie sie M. dargestellt und wie sie sich im Großen und Ganzen bis heute erhalten hat, entwickeln, sei es gestattet, mit wenigen Worten auf den Stand dieser Frage vor M. einzugehen. Hauy[WS 2], der berühmteste Mineraloge jener Zeit, hielt die Krystallform eines Körpers für ein bestimmtes Attribut seiner Zusammensetzung, so daß nach ihm die Verschiedenheit der Zusammensetzung auch stets in der Verschiedenheit der Krystallform einen Ausdruck findet. Er hat an dieser Ansicht bis an sein Lebensende, also auch nach der M.’schen Entdeckung festgehalten, wie eine gegen Brochant[WS 3] gethane Aeußerung deutlich erkennen läßt: „Si la théorie de monsieur Mitscherlich était juste, la minéralogie serait la plus pitoyable des sciences“. – Abweichend davon kommt Fuchs 1815 zu der Lehre von den vicarierenden Bestandtheilen, welche der M.’schen Auffassung isomorpher Gemische sehr nahe steht. Bei der Untersuchung verschiedener Gehlenite findet er deren Zusammensetzung wechselnd, bald mehr Eisenoxyd und dann weniger Kalk. Er erklärt dies dadurch, daß er das Eisenoxyd als einen Stellvertreter des Kalks auffaßt, ohne daß die Krystallform des Minerals geändert werde. Er könne sich, so fährt er fort, sehr wohl Varietäten von Gehlenit denken, die wenig oder gar kein Eisenoxyd, aber dafür um so mehr Kalk enthalten. Einen ganz analogen Fall findet er im Ammoniakalaun, bei welchem das Kali ganz oder theilweise durch Ammoniak vertreten sei. Gay-Lussac[WS 4] zeigt dann, ganz dieser Auffassung entsprechend, wie ein Krystall von Kalialaun sich in einer gesättigten Lösung von Ammoniakalaun vergrößere ohne Aenderung seiner Form. Sehr wichtig waren auch die Versuche Beudant’s[WS 5], der zeigen konnte, daß die Anwesenheit kleiner Mengen eines Salzes (Eisenvitriol) größere Mengen eines damit gemengten Salzes (Kupfervitriol) zwingen können, die Krystallform des ersteren anzunehmen.

Trotz aller dieser Vorarbeiten gebührt M. allein die Ehre der Entdeckung der Isomorphie, und dies um so mehr, als er zu jener Zeit von den seitens seiner Vorgänger gemachten Untersuchungen ohne Kenntniß war. Man versteht unter Isomorphismus die Eigenschaft chemisch verschieden zusammengesetzter Körper in gleichen oder sehr ähnlichen Formen zu krystallisiren, und wenn überhaupt die Möglichkeit vorhanden, als ein Individium auskrystallisiren zu können. M. findet zunächst, daß die phosphorsauren und arsensauren Salze einer und derselben Base in Formen krystallisiren, die nicht von einander zu unterscheiden sind. Später fand er ähnliches bei den schwefelsauren Doppelsalzen verschiedener Metalle mit demselben Krystallwassergehalt (Verbindungen von schwefelsaurem Kali mit Sulfaten von Magnesia, Eisen, Nickel, Kobalt, Zink, Kupfer, Mangan und Cadmium) und bei den schwefelsauren und selensauren Salzen desselben Metalls, nachdem er kurz zuvor die Selensäure entdeckt hatte. Von Wichtigkeit ist ferner der von ihm geführte Nachweis der Isomorphie zwischen überchlorsauren und übermangansauren Salzen, deren Formeln von nun [19] an analog geschrieben werden. Bei allen diesen Körpern ist die Zahl der Atome im Molekül dieselbe und so kam M. zur Ansicht, daß Isomorphismus überall da möglich sei, wo eine gleiche Zahl von Atomen zur Verbindung zusammentreten. Meist sind bei solchen isomorphen Körpern nicht nur die Gesammtzahl der Atome identisch, sondern sie stimmen auch in ihrer Zusammensetzung überein, bis auf einzelne Atome, so daß ein oder mehrere Atome des einen Elements ersetzt sind durch ein oder mehrere Atome anderer Elemente. Solche Atome, die einander ersetzen können ohne Aenderung der Krystallgestalt nannte man in der Folge isomorphe Atome. Ganz allgemein läßt sich übrigens Mitscherlich’s Auffassung über isomorphe Körper nicht durchführen, weil z. B. viele Kaliumverbindungen mit den entsprechenden Ammoniumverbindungen isomorph sind, wo an die Stelle eines Atoms Kalium (K) Ammonium (NH4) tritt, – d. h. statt eines, fünf Atome. Dagegen gibt es viele Reihen isomorpher Verbindungen, bei denen Mitscherlich’s Auffassung durchaus richtig ist und auch heute noch angenommen wird. Dahin gehören z. B. außer den schon angeführten Beispielen die hexagonal krystallisirenden Carbonate, die rhombisch krystallisirenden Carbonate, die Oxyde, wie Thonerde, Eisenoxyd etc., die Reihe der Spinelle u. s. w. Die Wichtigkeit der Entdeckung, ganz abgesehen von der Bedeutung, welche diese Thatsache an und für sich hatte, lag zunächst für die Mineralogie und auch für die Chemie darin, daß sehr viele Mineralien, deren chemische Natur zu ermitteln nicht möglich gewesen war und deren Zusammensetzung als dem Gesetz der multipeln Proportionen widersprechend gefunden wurde, nun als Gemenge isomorpher Körper aufgefaßt werden konnten, bei denen ja eine willkürliche Mengung jeder Art trotz bestimmter Krystallgestalt möglich war. Ein sehr hervorragendes Beispiel dafür aus der neuesten Zeit ist die Auffassung Tschermaks[WS 6] über die Kalknatronfeldspathe, von denen man früher eine große Anzahl von Species unterschied, die aber nach Tschermak isomorphe Gemenge eines Kalkfeldspaths mit einem Natronfeldspath in wechselndem Verhältniß sind. Weiter ist der Isomorphismus von Wichtigkeit geworden für die Bestimmung der Atomgewichte, die gerade damals von Berzelius mit großem Eifer und großer Sorgfalt begonnen worden war. Berzelius sieht sich sogar veranlaßt, aus dem Isomorphismus einen Grundsatz abzuleiten, dem er neben einigen andern eine allgemeine Bedeutung bei der Feststellung der Atomgewichte zuerkennt. Dieser Satz lautet: Wenn ein Körper isomorph mit einem andern Körper ist, in welchem man die Anzahl der Atome kennt, so wird dadurch die Zahl von Atomen in beiden bekannt, weil die Isomorphie eine mechanische Folge der Gleichheit in der atomistischen Construction ist. – Wurde aber die Zahl der Atome in einem Körper (besser in einem Molekül des Körpers) bekannt, so konnten durch die quantitative Analyse desselben die Atomgewichte der darin vorkommenden Elemente ohne weiteres bestimmt werden. So ist denn der Isomorphismus bei der Atomgewichtsbestimmung ein sehr werthvolles Hülfsmittel geworden. – Bei diesen Untersuchungen über den Isomorphismus war es natürlich von äußerster Wichtigkeit, die Bestimmungen der Elemente des Krystalls, d. h. also der Flächenwinkel, mit möglichster Genauigkeit festzustellen. Der von Wollaston[WS 7] construirte, nach ihm benannte Reflexionsgoniometer leistete in dieser Hinsicht bereits erhebliches, doch sah sich M. veranlaßt, um seinen Messungen einen höheren Grad von Genauigkeit zu geben, an diesem Apparat noch wesentliche Verbesserungen anzubringen, wodurch es ihm möglich wurde, diese Winkel bis auf wenige Sekunden zu bestimmen. Der Feinheit seines Instruments hatte er nun wieder eine neue Erkenntniß zu danken. Er beobachtete nämlich, daß in allen Krystallsystemen, mit Ausnahme des regulären, die Krystallwinkel sich mit der Temperatur ändern, wenn auch nur um kleine [20] Größen, d. h. daß sich die Krystalle mit der Temperatur nach verschiedenen Richtungen ungleich ausdehnen. M. hatte diese Erscheinung zuerst bei Messungen derselben Krystallwinkel beobachtet, die, in früher Morgenstunde und zur Mittagszeit ausgeführt, Abweichungen in den Resultaten zeigten. Weiter führten ihn seine krystallographischen Studien zur Entdeckung des Dimorphismus, einer Eigenschaft, die gewissermaßen complementär zum Isomorphismus ist. Während nämlich Isomorphismus Gleichgestaltigkeit bei verschiedener Zusammensetzung bedeutet, ist der Dimorphismus Formverschiedenheit bei gleicher Zusammensetzung. M. hatte solches zuerst bei dem phosphorsaurem Natron beobachtet und verwerthete es zur Erklärung der verschiedenen Formen des Calciumcarbonats im Kalkspath und Aragonit. Eines der hervorragendsten Beispiele für den Dimorphismus hat M. in dem Schwefel aufgefunden. An diese Entdeckungen reihen sich nun seine Untersuchungen über die Metallurgie des Kupfers an, wodurch er zu einer wissenschaftlichen Erklärung dieses empirisch gefundenen Prozesses gelangte, welche er 1823 der Akademie vorlegte. Gleichzeitig führten ihn diese Studien, die er an dem schon oben erwähnten Bergwerke Fahlun in Schweden selbst ausführte, zur Auffindung der ersten künstlichen Mineralien, die sich in den Schmelzproben vorfanden, und die frühere Beobachter für secundäre Bildungen der feurigflüssigen Masse gehalten hatten. Er erkannte diese Krystallbildungen als Formen des Augit, Olivin und Glimmer. M. wies auf die Wichtigkeit dieser Thatsache hin, und es muß wohl betont werden, daß daraus sich nach und nach eine ganze wissenschaftliche Disciplin, die Herstellung künstlicher Mineralien, entwickelte, die seit jener Zeit sehr hervorragende Chemiker und Mineralogen, besonders in Frankreich beschäftigt hat. Daß auch die mit der Mineralogie auf das Innigste verwachsene Geologie an M. einen eifrigen und erfolgreichen Forscher gefunden hat, ist schon oben ausführlich besprochen worden.

Wenden wir uns nun zu der organischen Chemie, so finden wir gleichfalls hier den Namen Mitscherlich’s als Führer und Meister. Auch auf diesem Gebiete hat er Fundamentales und Epochemachendes geleistet. Die Entdeckung einiger der wichtigsten Reactionen in der Chemie der aromatischen Verbindungen verdanken wir ihm. Dahin gehört zuerst die Zerlegung der Benzoesäure in Kohlensäure und Benzol, welcher letztere Kohlenwasserstoff einige Jahre vorher von Faraday[WS 8] aus dem Leuchtgas isolirt worden war. Dieser[WS 9] hatte ihn seiner Zusammensetzung wegen zweifach Kohlenwasserstoff genannt. Und erst als M. ihm bei seinen Versuchen über die Benzoesäure begegnete, und mit dem Faradayschen Körper identificirte, erhielt er den Namen Benzol, zugleich mit der Erkenntniß seiner Abstammung. Aber auch sein Verhalten zu andern Körpern untersuchte M. weiter, studirte seine Abkömmlinge und entdeckte so durch die Einwirkung der Salpetersäure auf das Benzol das Nitrobenzol. Es schlägt sich auf Zusatz von Wasser als schweres Oel nieder und zeigt einen bemerkenswerthen Bittermandelgeruch. Dieser Körper ist der Typus einer zahlreichen Classe von Verbindungen geworden, die sich noch täglich durch neue vermehrt und die alle auf dieselbe Weise gewonnen werden. Für die Darstellung solcher Verbindungen, d. h. für diese Art der Behandlung eines Körpers mit Salpetersäure schuf man eine eigene Benennung, das „Nitriren“ – jetzt eine der elementarsten Operationen, die ein jeder junge Chemiker zu erlernen hat. Das Nitrobenzol ist aber außerdem zum Product einer der größten technischen Industrien geworden; es ist nämlich der Ausgangspunkt für die Darstellung des Anilins und seiner zahllosen Farbenderivate. A. W. Hofmann, der Nachfolger Mitscherlich’s erzählt, daß er bei Uebernahme der Mitscherlich’schen Sammlung das ursprüngliche Specimen von Nitrobenzol, kaum ein Wasserglas füllend, gefunden habe – und jetzt wird es jährlich in tausenden von Centnern dargestellt. Aus dem Nitrobenzol hat M. ferner durch Reduction das Azobenzol dargestellt, die [21] erste der sogenannten Azoverbindungen, deren Zahl jetzt Legion ist, und die noch vielfach nach dem von ihm ersonnenen Verfahren gewonnen werden. Auch diese Verbindungen spielen in der heutigen Chemie und Technik eine große Rolle, indem auch unter ihnen einige sehr schöne und wichtige Farbstoffe aufgefunden wurden. Durch Behandlung des Benzols mit Schwefelsäure entdeckte M. die Benzolsulfosäure, auch wieder eine Reaction, deren Verwerthung in der aromatischen Reihe von großer Wichtigkeit geworden ist. Von specieller wissenschaftlicher Bedeutung ist die bei dieser Gelegenheit von ihm herangezogene Analogie zwischen Benzoesäure und Benzolsulfosäure. Von M. rührt auch die Abgrenzung einer Klasse von Reactionen her, die er als durch Contact veranlaßt auffaßt. Es sind dies namentlich Zersetzungserscheinungen, welche durch die Gegenwart eines Körpers veranlaßt werden, ohne daß dieser materiell an der Reaction betheiligt ist. Viele derartige Erscheinungen waren damals schon bekannt, hier sei nur an die Wirkung des Platinschwamms auf Wasserstoffsuperoxyd erinnert, welches letztere sich unter des ersteren Einfluß in Sauerstoff und Wasser spaltet, ohne irgend welche Veränderung im Platin zu veranlassen. M. bezeichnet als Ursache die katalytische Kraft, ohne eine klare Anschauung damit verbinden zu können. Wir sind in dieser Hinsicht nicht über M. hinausgekommen, obgleich derartige Reactionen seit jener Zeit vielfach beobachtet wurden. – Im Zusammenhang damit stehen seine Untersuchungen über Gährung, die er auch als durch Contactwirkung veranlaßt auffaßt. Gleichzeitig aber bringt er weitere Stützen für Schwann’s Ansicht der organisirten Natur der Hefe. Er bezeichnet diese als ein vegetabilisches Wesen, während er die Fäulnißbacterien als Thiere ansieht. Den Zusammenhang zwischen Gährung und Hefe erkennt er als nothwendig an: nach ihm verhalten sich die Hefekügelchen zum Zucker wie das Platin zum oxydirten Wasser. Hervorragend sind auch seine Arbeiten über Dampfdichten gewesen, die er etwa gleichzeitig mit Dumas[WS 10] und mit etwa gleichen Resultaten ausführte, wenn auch nicht in der Ausdehnung wie dieser. So hat er unter anderen die Dichte des Schwefeldampfes bestimmt und dabei eine Zahl gefunden, die nach den heutigen Anschauungen zur Annahme führt, daß die Dampftheilchen des Schwefels nahe über dem Siedepunkte aus 6 Atomen bestehen. Erst viel später wurde von Deville und Troost nachgewiesen, daß die Dichte des Schwefels mit der Temperatur abnimmt und bei etwa 1000° nur noch etwa ein Drittel des früheren Werthes besitzt, so daß also dann diese Moleküle aus 2 Atomen bestehen, ganz analog den für die meisten Elemente geltenden Gesetzen. Ferner rührt von ihm die Bestimmung der Dampfdichte des Arsentrioxyds her, die eine merkwürdige Anomalie zeigt. Nach diesem Versuch, dessen Richtigkeit noch neuerdings bestätigt worden ist, bildet dieses Oxyd den einzigen Körper, für den das aus der Dampfdichte bestimmte Molekulargewicht doppelt so groß ist, wie das sich aus den chemischen Betrachtungen ergebende.

Von größeren Werken muß sein „Lehrbuch der Chemie“ in 2 Bänden erwähnt werden, welches wir seinen mit so vielem Beifall aufgenommenen Vorlesungen über Experimentalchemie verdanken. Es erschien 1829 in erster Auflage, erlebte deren vier und ist auch in das Französische übersetzt worden. Es bildet nach Form und Inhalt die Grundlage vieler später erschienenen Werke über denselben Gegenstand. M. hat darin zum ersten Mal in Deutschland unter Aufwendung großer Mittel und eigenhändiger Mühe und Arbeit den jetzt so allgemein benutzten Holzschnitt für seine Zeichnungen angewendet. Er ließ von einem besonderen geschickten Tischler erst Modelle von Holz verfertigen, und danach erst die Zeichnungen für die Holzschnitte machen. Copien dieser seiner Holzschnitte gingen in fast alle Lehrbücher des In- und Auslandes über. Im Anschluß an sein Lehrbuch beabsichtigte M. eine Geschichte der Chemie zu schreiben, kam aber nicht dazu.

[22] M., ein Zeitgenosse unseres größten deutschen Chemikers, Liebig, reiht sich ihm würdig an die Seite: unabhängig und unbeeinflußt von ihm geht er seinen eigenen Forscherweg, sucht sich eigene, unbetretene Pfade aus und leistet auf ihnen bahnbrechendes. Wenn auch naturwissenschaftlich nicht in so hohem Grade umfassend, erkennen wir in ihm doch einen großen, vielseitigen Naturforscher. Allerdings hat Liebig seine Wissenschaft dem täglichen Leben, der Industrie in einer wohl einzig dastehenden Weise nutzbar gemacht – solch neue Bahnen wie er der Landwirthschaft eröffnet, hat man von M. nicht zu verzeichnen; doch leistet er nicht nur in der reinen Chemie, sondern eben in benachbarten Gebieten Meisterhaftes, und wie Liebig eine physiologische Chemie, so hat er eine krystallographische begründet. Wir aber freuen uns der Zeit, die unserem Vaterlande mehrere solch’ auserwählte Geister auf dem Gebiete der Naturwissenschaft geschenkt hat, jeder in seiner Weise groß, unsterblich, der Mit- und Nachwelt mit seinen besten und edelsten Kräften dienend.

H. Kopp, Geschichte der Chemie, Braunschw. 1843. Derselbe, Die Entwickelung d. Chemie in der neueren Zeit, München 1873. A. W. Hofmann, Ein Jahrhundert chemischer Forschung unter dem Schirme der Hohenzollern. Gedächtnißrede am 3. Aug. 1881, Berlin 1881. G. Rose, Eilhardt Mitscherlich, Gedächtnißrede in d. Geolog. Gesellschaft, Berlin 1864.


Anmerkungen (Wikisource)

  1. Jöns Jakob Berzelius (1779–1848), schwedischer Mediziner und Chemiker.
  2. René-Just Haüy, auch Abbé Haüy, (1743-1822), französischer Mineraloge.
  3. André Jean Marie Brochant de Villiers (1772-1840), französischer Geologe und Mineraloge.
  4. Joseph Louis Gay-Lussac (1778-1850), französischer Chemiker und Physiker.
  5. François Sulpice Beudant (1787-1850), französischer Mineraloge und Geologe.
  6. Gustav Tschermak, Edler von Seysenegg (1836-1927), österreichischer Mineraloge.
  7. William Hyde Wollaston (1766–1828), englischer Arzt, Physiker und Chemiker.
  8. Michael Faraday (1791–1867), englischer Physiker und Chemiker,
  9. Vorlage: diese
  10. Jean-Baptiste Dumas (1800–1884), französischer Chemiker