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ADB:Wiedemann, Gustav Heinrich

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Artikel „Wiedemann, Gustav Heinrich“ von Rudolf Reiger in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 55 (1910), S. 67–70, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Wiedemann,_Gustav_Heinrich&oldid=- (Version vom 3. Dezember 2024, 18:14 Uhr UTC)
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Wiedemann: Gustav Heinrich W., einer der hervorragendsten der aus der Magnus’schen Schule hervorgegangenen Physiker, wurde am 2. October 1826 zu Berlin geboren und starb am 23. März 1899 zu Leipzig.

Gustav W. stammte aus einem Berliner Kaufmannshaus; er verlor früh seine Eltern. Seine Jugenderziehung erhielt er in Bartels’ Privatschule in Berlin und dann von 1838 an auf dem Cölnischen humanistischen Gymnasium, das unter der Leitung von August, dem Erfinder des Psychrometers, einem vortrefflichen Mathematiker, stand; es gab ihm eine ausgezeichnete philologische und mathematisch-naturwissenschaftliche Bildung. Schon früh beschäftigte sich W., zunächst privatim, neben den Schularbeiten mit den Naturwissenschaften. Dabei erhielt er mancherlei Anregungen von seinem Onkel Gruel, einem damals hochangesehenen Mechaniker. In dem Gymnasium selbst förderten ihn in dieser Richtung Seebeck, Rob. Hagen und August. Die damalige freie Gestaltung des Unterrichtes ermöglichte dies ohne Schaden für die philologische Schulung, W. konnte noch bis in die oberen Classen seinen Söhnen die lateinischen und griechischen Hausaufgaben durchsehen.

Im J. 1844 bezog W. die Universität Berlin, trieb dort Physik, Chemie und Mathematik bei H. Rose, Dirichlet, Joachimsthal, Magnus, Dove, Mitscherlich und arbeitete in den Laboratorien von Sonnenschein und vor allem von Magnus. Mit einer Arbeit über das Biuret, die an einen von ihm als Gymnasiasten gemachten Fund anknüpfte, promovirte er 1847. Im J. 1850 habilitirte er sich in Berlin und las über Elektricität, Magnetismus und ausgewählte Capitel der theoretischen Physik. Von großer Bedeutung waren für Wiedemann’s Entwicklung, wie für diejenige der zahlreichen damals in Berlin vereinigten Physiker, einmal die Theilnahme an dem Colloquium bei Magnus und dann die Sitzungen der Physikalischen Gesellschaft. Mit der Tochter Mitscherlich’s verlobte sich W. gelegentlich einer geologischen Studienreise mit Mitscherlich in Italien. Aus dieser Ehe stammen drei Kinder: Eilhard, jetzt Professor der Physik in Erlangen (geboren am 1. August 1852), Alfred, jetzt Professor der alten Geschichte und Aegyptologie in Bonn (geboren am 18. Juli 1856) und Margaretha, jetzt Frau Oberst v. Domarus (geboren am 12. Juli 1861). – In Berlin wurde auch der Grund zu der Freundschaft mit Helmholtz gelegt, die die beiden Gelehrten ihr ganzes Leben hindurch verband.

Im J. 1854 folgte W. einem Rufe als ordentlicher Professor nach Basel, dort lehrte er vor allem Experimentalphysik; daneben hielt er noch einzelne Vorlesungen über physikalische Geographie und Meteorologie, technische Anwendung der Wärme oder Technologie und hatte als Schüler u. a. Hagenbach und Zöllner; mit Beiden haben ihn noch lange freundschaftliche Beziehungen verknüpft. Besonders nahe stand ihm wissenschaftlich in Basel der geniale Schönbein. Die experimentellen Hülfsmittel in Basel waren klein. Der einzige heizbare Raum, mit einem Fenster nach dem Hof, hatte nur 15 Meter im Quadrat. Ein anderer, durch eine Glaswand von der Sammlung abgetrennt, war größer, aber nicht heizbar. Dem chemischen und physikalischen Institut stand nur ein Diener zur Verfügung, der zugleich Buchbinder und Hausmeister für das ganze Museumsgebäude war.

In Basel wie an allen anderen Orten seines Wirkens hat W. aber nicht nur seinen rein wissenschaftlichen Arbeiten gelebt, sondern an allen Fragen des geistigen Lebens, freilich (trotz eines lebhaften patriotischen Empfindens) [68] mit Ausschluß der Politik, theilgenommen. In seinem Hause verkehrten nicht nur zahlreiche Gelehrte, sondern ebenso Beamte, Kaufleute, Industrielle, Künstler u. s. w. Dabei kamen ihm seine mannichfachen Interessen für litterarische und künstlerische Fragen sehr zu statten, die er auf Reisen und durch fleißige Lectüre in den Abendstunden förderte.

1863 nahm W. dann einen Ruf nach Braunschweig an das dortige Polytechnikum an, z. Th. um seine Söhne in Deutschland erziehen zu lassen, und bewogen durch die Erwartung auf ein Aufblühen dieser Hochschule. Für die organisatorische Voraussicht von W. ist charakteristisch, daß er in Braunschweig schon damals darauf hinwies, welchen Vortheil eine Erweiterung der dortigen Hochschule zu einer Handelshochschule bieten würde. Einen Ruf nach Marburg von Braunschweig hatte er abgelehnt, da ihm das allgemein anregende Leben in Braunschweig sehr werthvoll war; dagegen siedelte er zu Ostern 1866 nach Karlsruhe als Nachfolger von Eisenlohr über, wo ihm schöne Räume und die Sammlung reiche Gelegenheit zum Arbeiten boten, zum ersten Male in seiner Laufbahn. Auf Veranlassung der Regierung richtete er die meteorologischen Stationen Badens ein.

Mit seinen ursprünglichen chemischen Studien und Arbeiten auf physikalisch-chemischem Gebiet hing es zusammen, daß W. 1870 (Amtsantritt Ostern 1871) nach Leipzig als Professor der physikalischen Chemie berufen wurde. Nach seinem Lehrauftrag hatte er zu lesen physikalische Chemie im Sommer und anorganische Chemie im Winter; dabei hatte er ein physikalisch-chemisches Praktikum, sowie ein chemisches zu leiten, deren Räume zunächst nebeneinander lagen, dann aber räumlich getrennt wurden. Als um Ostern 1887 der damalige Physiker W. Hankel in Leipzig seine Stellung aufgab, kehrte W. wieder zur Physik zurück und vertrat dieselbe bis kurz vor seinem Tode 1899.

Eine größere Reihe von wissenschaftlichen Arbeiten ist in den von W. geleiteten physikalischen und chemischen Laboratorien entstanden, sei es von eigentlichen Schülern, sei es von den ihm als Assistenten zur Seite stehenden selbständigen jungen Gelehrten. In vorzüglicher Weise verstand er es, mit Allen zu verkehren und sie durch die Regsamkeit seines Geistes und die Vielseitigkeit seines Wissens, auch dann durch die Erörterung allgemeiner Fragen, anzuregen, wenn ihr eigentliches Arbeitsgebiet dem seinigen ferner lag.

Vom Jahre 1877 an führte W. nach dem Tode von J. C. Poggendorff die Redaction der „Annalen der Physik und Chemie“, die damals noch die einzige größere deutsche physikalische Zeitschrift waren, und fast bis zu seinem Lebensende gelang es W., ihnen diese Stellung zu erhalten; nur die technischen Gebiete und größere Theile der physikalischen Chemie spalteten sich ab. Neuerdings ist die Zersplitterung fort und fort gewachsen. Wiedemann’s Bestreben war es, nur wirklich werthlose Arbeiten auszuscheiden; daß dabei auch ein Irrthum vorkommen konnte, war nur zu natürlich. Vor allem aber wirkte er darauf hin, daß alle persönlichen Schärfen vermieden wurden, und dies gelang ihm auch, dank dem Entgegenkommen der Physiker, in vollkommener Weise. Unterstützt wurde er bei seiner Redaction durch Helmholtz und Planck, die die Durchsicht der mathematisch-physikalischen Arbeiten übernahmen, und durch seinen Sohn. Die Redaction der Beiblätter, die 1877, noch vor dem Tode von Poggendorff, gegründet waren, führte sein Sohn E. Wiedemann, den er mit seinem Rath und durch die Uebernahme zahlreicher Referate aus dem Gebiete der Elektricität unterstützte.

Seit 1889 war W. Mitglied des Curatoriums der physikalisch-technischen Reichsanstalt. 1895 bei Gelegenheit der Sitzungen erkrankt, erholte er sich aber wieder vollkommen. 1899, am 25. März, ist er gestorben.

[69] Rascher Ueberblick über die einzelnen Forschungen und zusammenhängende Gebiete, großes Gedächtniß, große Arbeitskraft und Eintheilung und Anwendung der Zeit waren ihm eigen. Er erledigte alles schnell. Trotz seiner sehr entgegenkommenden Natur, vertrat er, wenn es, z. B. bei Internationalen Congressen, darauf ankam, energisch die als richtig erkannte Meinung. Dabei unterstützte ihn eine große Sprachgewandtheit.

Neben der bereits oben erwähnten Arbeit über das Biuret sind noch die folgenden von Gustav W. anzuführen. Eine seiner ersten Beobachtungen betraf die Ausbreitung der Elektricität auf Flächen nicht regulärer Krystalle mittelst der Staubfiguren. Diese Ausbreitung erfolgte nach verschiedenen Richtungen in verschiedener Weise; sie schien einen Zusammenhang zwischen Lichtgeschwindigkeit und Wärmeleitung zu ergeben. Eine vollkommene Deutung der Versuche hat sich erst an der Hand der neuen Theorien ergeben. In der Habilitationsschrift wurde die kurz vorher von Faraday entdeckte elektromagnetische Lichtdrehung untersucht, bestätigt, daß sie mit der Feldstärke proportional ist und ihre Abhängigkeit von der Wellenlänge erforscht.

Allgemein bekannt ist die zuerst mit Franz ausgeführte und dann später allein fortgesetzte Untersuchung der Beziehung zwischen Wärme und Elektricitätsleitung von reinen Metallen und Legierungen. Die Arbeit führte zu der Wiedemann-Franz’schen Beziehung über die Proportionalität beider Leitvermögen, eine Beziehung, die im wesentlichen auch jetzt noch anerkannt wird. Die Erklärung für dieselbe, nach der W. stets suchte, haben erst die neueren theoretischen Betrachtungen über die Elektronen geliefert. Die erhaltenen Zahlen waren seiner Zeit die besten. Gelegentlich dieser Arbeit construirte W. auch das nach ihm benannte Galvanometer.

Von elektrochemischen Problemen beschäftigte ihn besonders die elektrische Endosmose, d. h. die Fortführung von Flüssigkeiten durch eine Röhre sowie poröse Diaphragmen durch den elektrischen Strom; dabei wurde die Abhängigkeit des endosmotischen Druckes von der Stromstärke, der Natur der Diaphragmen und dem Gehalt der Lösungen festgestellt.

Anschließend an diese Arbeiten und im Zusammenhang mit denen von Hittorf untersuchte W. die Ueberführungszahlen in Elektrolyten. Dabei wandte er sich scharf gegen die theoretischen Anschauungen Hittorf’s; als die weitere Entwicklung der Wissenschaft letztere als richtig erkennen ließ, hat er offen sich denselben angeschlossen. – Hier wäre noch die Arbeit über die Dampfspannung wasserhaltiger Salze zu erwähnen, aus der man damals einen Anhalt für die chemische Verwandtschaft zu gewinnen hoffte.

Eine große Anzahl von Arbeiten betreffen die Magnetisirung des Eisens und die Beziehungen der Magnetisirungserscheinungen und der mechanischen Deformation. Dabei ergab sich ein weitgehender Parallelismus beider Erscheinungen. Mögen im Lauf der Zeit auch die theoretischen Anschauungen, die diesen Arbeiten zu Grunde liegen, sich ändern, jede neue Theorie wird den gefundenen Resultaten Rechnung tragen müssen.

Von besonderer Bedeutung sind die Abhandlungen über die Magnetisirung der Salze; Arbeiten, die nur ein physikalisch und chemisch gleich geschulter Experimentator unternehmen konnte, da Spuren eines Eisengehaltes die ganzen Resultate fälschen mußten. Der Nachweis, daß ein bestimmter, jeder „Oxydationsstufe“ eigner Atommagnetismus besteht, hat nach den verschiedensten Richtungen Werth; vor allem kann er bei Betrachtungen über Constitution Aufschlüsse geben; weiter kann er den Dissociationszustand von Eisenoxydsalzen in den Lösungen erkennen lassen. W. legte ein besonderes Gewicht darauf, daß bei seiner Methode nicht irgendwie in den vorhandenen Zustand [70] chemisch eingegriffen wurde. Von besonderem Interesse war die in peinlichster Weise geprüfte Thatsache, daß zwei diamagnetische Elemente, wie Kupfer und Brom, einen magnetischen Körper ergeben können. Eine Messung mit vollkommenen Hilfsmitteln, die ihn lange unter sehr ungünstigen Umständen, wie Arbeiten in ungeheizten Räumen, beschäftigte, war eine Ohmbestimmung mittelst der von Weber entworfenen und von W. umgeänderten Hilfsmittel. Ein besonderes Interesse wandte W. auch den Gasentladungen zu. Nach sinnreichen Methoden bestimmte er die Potentiale und zeigte aus der Erwärmung, welche die Entladung bewirkte, daß in den Gasen die Gesetze, welche den Stromdurchgang durch feste und flüssige Leiter bestimmen, nicht mehr gelten.

Das Hauptwerk von Gustav W. war sein großes Handbuch, das in den ersten zwei Auflagen den Titel: „Lehre vom Galvanismus“ und seit der dritten den erweiterten „Die Lehre von der Elektricität“ trug. Während die ersten beiden Auflagen nur den galvanischen Strom und den Magnetismus und deren Beziehungen behandeln, haben die beiden letzten auch entsprechend der neuen Entwicklung die frühere Elektrostatik aufgenommen. Die Bedeutung des Buches ist von F. Kohlrausch, der das Erscheinen der ersten Auflage als junger Gelehrter mit erlebte, nach einer Schilderung des damaligen Standes der Wissenschaft folgendermaßen charakterisirt: „In diesen Zustand fiel Wiedemann’s Unternehmen, zum ersten Mal ‚die Leistungen als geordnetes Ganzes darzustellen‘. Es wäre vielleicht kein Anderer im Stande gewesen, diese Aufgabe so wie er auszuführen. In klarer Darstellung, übersichtlicher Anordnung, mit eingehenden, sorgfältigen Litteraturangaben versehen und in einer Vollständigkeit, die bei dieser ersten Bearbeitung besonders anerkennenswerth ist, stand das ganze, großartige Gebiet plötzlich vor unseren Augen. Welchen Dienst der Verfasser hierdurch der Physik erwiesen hat, kann mit solcher Empfindung nur beurtheilen, wer selbst damals an dem Nutzen theilnehmen durfte.“ Diese zusammenfassende kritische Bearbeitung der gesammten theoretischen und experimentellen Kenntnisse auf dem großen Gebiet der Elektricität und des Magnetismus hat ganz wesentlich das Weiterarbeiten in diesen Fragen gefördert und dadurch zu der schnellen Entwicklung auch der Elektrotechnik beigetragen. Unter Wiedemann’s und Helmholtz’s Mitwirkung sind eine Reihe der populär wissenschaftlichen Werke Tyndall’s von Frau v. Helmholtz und Frau Wiedemann übersetzt worden.

Selbstbiographie, nur als Manuscript gedruckt. – H. v. Helmholtz, Gustav Wiedemann (Wiedemann’s Annalen Bd. 50). – Ed. Hagenbach, Gustav Wiedemann (Naturwissenschaftl. Rundschau, XIV. Jahrg., Nr. 24). – F. Kohlrausch, Verhandlungen der deutschen physikalischen Gesellschaft 1899, S. 155; dieser Nachruf würdigt besonders eingehend die Leistungen von Gustav Wiedemann. – W. Ostwald, Berichte der mathemat.-physikal. Classe der kgl. sächs. Gesellsch. der Wiss., Leipzig 1899, S. LXXVII.