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ADB:Nathusius, Marie

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Artikel „Nathusius, Marie“ von Franz Brümmer in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 23 (1886), S. 283–285, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Nathusius,_Marie&oldid=- (Version vom 18. Dezember 2024, 01:43 Uhr UTC)
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Nathusius, Marie und Philipp: Marie N. war die Tochter des Predigers an der Heiligen Geistkirche zu Magdeburg, Friedrich Scheele, und wurde hier am 10. März 1817 geboren. Schon nach zwei Jahren kam sie mit den Eltern nach Calbe a. d. Saale, wohin der Vater als Superintendent und Oberpfarrer berufen worden war, und hier verlebte sie eine glückliche Kinder- und Jugendzeit. Mit der Schulbildung sah es in jenen Tagen nur dürftig aus, und was die Stadtschule in Calbe dem jungen Mädchen bot, war bald gelernt; indessen gehörte doch auch Marie N. zu jenen Naturen, von welchen Bogumil Goltz sagt: „Ein Mädchen erlangt Bildung und Erziehung, ohne daß man begreift wie, wann und wodurch. Für ihren poetischen Sinn, ihren sympathetischen und symbolischen Verstand, für ihren sittlichen Instinct werden alle Erlebnisse ebenso viele Bildungsmittel. Eben die ungeschulte Natur des Weibes, die Thatsache, daß ein Weib mit diesen Bruchstücken von Elementarkenntnissen, und selbst ohne sie, allen Zauber der Weiblichkeit, der Menschenschöne, der Menschengesittung gewinnen und effectiv machen kann: dies nie aussterbende Zeugniß aus dem Paradiese ist es ja, was den Reiz der Frauen für den schulgeübten Mann in sich faßt.“ Eine Fülle von Poesie und Lebenseindrücken der mannigfachsten Art knüpfte sich für Marie an verschiedene Ortschaften in der Nachbarschaft, die sie in Begleitung des Vaters auf seinen Visitationsreisen oft besuchte, und die sie uns in ihren Schriften zum Theil mit großer Treue geschildert hat. Im J. 1834 zog sie zu ihrem Bruder, der in Magdeburg Lehrer war und die Söhne einiger befreundeten, wohlhabenden Familien zu sich in Pflege genommen hatte, um diesem neuen Haushalte selbständig vorzustehen, und als der Bruder im folgenden Jahre ein Pfarramt in Eikendorf angetreten, war fortan Mariens Leben zwischen Calbe und Eikendorf getheilt. Das Leben auf dem Lande und besonders das Zusammenleben mit den Dorfbewohnern lieferte denn auch den Stoff zu ihren späteren „Dorf- und Stadtgeschichten“ (1858; der „Gesammelten Schriften“ 1. Band); es sind dies zehn Erzählungen voll lebendiger Treue, in denen uns wirkliches, selbst angeschautes, selbst mitgelebtes Dorfleben zur Anschauung gebracht wird. Kurze Besuche in Magdeburg und Berlin unterbrachen diese stille Idylle, bis sie endlich derselben durch ihre Vermählung mit Philipp N. gänzlich entzogen ward. – Philipp Engelhard N. war der Sohn Gottlob Nathusius’ (s. o.) und wurde am 5. November 1815 zu Neuhaldensleben bei Magdeburg geboren. Nach Beendigung seiner Schulzeit trat er, 16 Jahre alt, in die Geschäfte seines Vaters ein, die er trotz des großen Umfanges (Brauerei, Branntweinbrennerei, Oel-, Graupen-, Kartoffelmühlen, Obstkelterei, Zuckerfabrik, Ziegelei, Steingut- und Porzellanfabrik u. s. w.) nach des Vaters Tode (1835) im Alter von 20 Jahren schon selbständig fortführte. Im Winter von 1836 bis 1837 lag er in Berlin seinen Studien ob und unternahm dann in den beiden folgenden Jahren eine größere Reise durch Deutschland, Italien, Frankreich, Griechenland und die Türkei. Im August 1840 verlobte er sich mit Marie Scheele, und nachdem am 4. März 1841 die Vermählung vollzogen und der letzteren eine Reise des jungen Paares in die Provence, durch Italien bis Neapel und ein dreiwöchentlicher Aufenthalt in der Schweiz gefolgt war, bezog es die neue Heimath Althaldensleben. Hier bot sich bald ein ausgiebiges Feld [284] für die humanitären Bestrebungen der jungen Frau. Das sittliche und leibliche Elend, das sich neben verhältnißmäßig viel Verdienst und Wohlstand in jedem größeren Fabrikorte findet, regte sie zur Gründung einer Kinderbewahranstalt an, der sich dann in der Folge ein Frauenverein für die Ortsarmenpflege, ein Rettungshaus für Knaben, ein solches für Mädchen und eine Mädchenarbeitsschule anschlossen. In der letzteren lehrte Marie N. die Kinder des Dorfes selber nähen und stricken. Zu Anfang des Jahres 1849 beschloß Philipp N., seine großen Geschäftsetablissements in Althaldensleben aufzugeben. Da indeß auch an einen künftigen Wohnsitz sich wieder Gedanken eines großen Rettungshauses knüpften, so beschlossen die Gatten, sich die Erfahrungen fremder Völker auf diesem Gebiete nutzbar zu machen, und unternahmen deshalb im Frühjahre 1849 eine größere Reise nach Paris, von hier in das Herz Frankreichs hinein und dann nach England hinüber, das nach allen Richtungen durchstreift ward. Heimgekehrt, lebten die Gatten ein halbes Jahr in Giebichenstein bei Halle, bis sie am 1. Mai 1850 nach dem neuerworbenen Gute Neinstedt bei Thale am Harz übersiedelten, wo denn auch bald nach dem Muster des Hamburger „Rauhen Hauses“ ein neues „Knabenrettungs- und Bruderhaus“ gegründet ward. Bereits im Februar 1849 hatte Philipp N. die Redaction des vom Pastor v. Tippelskirch in Giebichenstein geleiteten „Volksblattes für Stadt und Land“ übernommen, des einzigen Blattes in der vormärzlichen Zeit, das die Grundsätze und Anschauungen der conservativen und streng kirchlichen Partei vertrat, und dadurch wurde Marie N. ganz ungesucht in die Bahn einer Schriftstellerin hineingeführt. In ihren ersten Erzählungen, die seit 1849 im „Volksblatt“ ausgingen, hielt sie sich noch zu den Kleinen herab; jeder Zug war aus der Kinderstube erwachsen; ein Odem wirklicher Jugendpoesie weht durch sie hindurch, und die schönsten unter ihnen haben wirklich etwas vom Märchen mitten im wirklichen Leben. Sieben derselben erschienen unter dem Titel „Die Geschichten von Christfried und Julchen“ (1858; Ges. Schr. 2. Bd.), während andere, kleinere Arbeiten für die „Sextaner- und Quintanerfreunde“ als „Kleine Erzählungen“ (II, 1859; Ges. Schr. 3. u. 4. Bd.) in die Welt flogen. Von den Geschichten für die Kinderstube stieg dann Marie N. auf Verlangen etwas höher zu den Erzählungen für junge Mädchen. In „Langenstein und Boblingen“ (1855; Ges. Schr. 6. Bd.) schildert die Verfasserin ihren eigenen Mädchencharakter am gelungensten. Man kann einen wahren Trost aus diesem Buche schöpfen und sich ermuntern an den herrlichen Charakteren, die unter all den Gefahren und dem Kampfe mit der Welt doch den Gottesfrieden so treu in ihren Herzen bewahren. Dann folgten „Tagebuch eines armen Fräuleins“, „Rückerinnerungen aus einem Mädchenleben“ und ihr erster Roman „Johann von Kamern“, welche drei den 5. Bd. der Ges. Schr. (1859) füllen, „Die alte Jungfer“ und „Der Vormund“ (7. Bd. der Ges. Schr., 1859). Mit ihrem letzten und reifsten Werke „Elisabeth. Eine Geschichte, die nicht mit der Heirath schließt“ (II, 1858; Ges. Schr. 8. u. 9. Bd.) hatte sich Marie N. der Frauenwelt zugewandt. In dieser Familiengeschichte erging sie sich von vorn herein ganz frei; davon zeugt, bei aller wohl im Auge behaltenen festen Schürzung, der Reichthum und die Freiheit in der Behandlung der Details, überhaupt die echt epische Breite, die sich dem Zeitmaße nach über ein volles halbes Jahrhundert erstreckt. Als das Eigenthümliche der Erzählung erscheint der innere abgeschlossene Blick über das ganze Leben. Und aus dem reifen Blicke, welcher nicht mehr am Einzelnen hängt und darum doch der warmen Liebe nicht entbehrt, entspringt dann der eigene Humor, der feine taktvolle Frauenhumor, welcher den Bildern Reiz und Würze gibt. Der Erfolg dieser Erzählung war ganz ausgezeichneter Art. Sie erlebte bis jetzt 14 Auflagen und ist in sämmtliche [285] Sprachen, von denen man es irgend erwarten kann, übersetzt worden. Nach menschlichen Gedanken war Marie N. mit diesem Buche erst in die ihr eigenste Weise eingetreten, hatte sich eben volle Bahn gebrochen. Noch stand sie, da bisher eines ihrer Werke das andere eigenthümlich überboten, vielleicht nicht auf dem Gipfel; aber „Elisabeth“ sollte auf Erden ihr „Schwanengesang“ sein. Am 22. December 1857 schied sie aus dem Leben. Nach ihrem Tode erschienen noch aus ihrem Nachlasse „Tagebuch einer Reise nach der Provence, Italien und der Schweiz“ (Ges. Schr. 10. Bd., 1860) und zwei Jugendnovellen „Familienskizzen.“ „Herr und Kammerdiener“ (Ges. Schr. 11. Bd., 1860); außerdem gab ihr Gatte im Verein mit Ludwig Erk „Hundert Lieder, geistlich und weltlich, ernsthaft und fröhlich, in Melodien von Marie N. und mit Klavierbegleitung“ (1865) heraus. – Philipp N., der 1861 in den Adelstand erhoben wurde, starb am 16. August 1872 zu Luzern auf einer Reise in’s Bad Engelberg, das er wegen seines Brustleidens besuchen wollte. Auch er hatte sich in jüngeren Jahren als Dichter versucht. Seine „Fünfzig Gedichte, Probesammlung“ (1839) und „Noch fünfzig Gedichte. Der Probesammlung anderes Heft“ (1841) überraschen durch den frischen, einfachen und innigen Ton seiner Lyrik und lassen bedauern, daß er diesen Sammlungen nicht noch weitere folgen ließ. Als meisterhafter Nachbildner hat sich Philipp N. bewährt in „Hundert drei Lieder [des Pariser Chansonnier P. J. de Béranger] gibt hier im Deutschen wieder mit seinem wohlgemeinten Gruß Philipp Engelhard Nathusius“ (1839).

Lebensbild der heimgegangenen Marie N. (III, Halle 1867, zugleich Ges. Schr. 13.–15. Bd.). – Schulblatt für die Provinz Brandenburg, Jahrg. 1884, S. 366 ff. – Kurz, Geschichte der deutschen Litteratur, 4. Bd., S. 54.