ADB:Nathusius, Hermann von

aus Wikisource, der freien Quellensammlung

Empfohlene Zitierweise:

Artikel „Nathusius, Hermann von“ von Carl Leisewitz in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 23 (1886), S. 277–283, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Nathusius,_Hermann_von&oldid=- (Version vom 28. März 2024, 15:54 Uhr UTC)
Allgemeine Deutsche Biographie
>>>enthalten in<<<
[[ADB:{{{VERWEIS}}}|{{{VERWEIS}}}]]
<<<Vorheriger
Nathusius, Gottlob
Nächster>>>
Nathusius, Marie
Band 23 (1886), S. 277–283 (Quelle).
[[| bei Wikisource]]
Hermann Engelhard von Nathusius in der Wikipedia
Hermann Engelhard von Nathusius in Wikidata
GND-Nummer 116896507
Datensatz, Rohdaten, Werke, Deutsche Biographie, weitere Angebote
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Kopiervorlage  
* {{ADB|23|277|283|Nathusius, Hermann von|Carl Leisewitz|ADB:Nathusius, Hermann von}}    

{{Normdaten|TYP=p|GND=116896507}}    

Nathusius: Hermann Engelhard v. N., königlich preußischer Geheimer Oberregierungsrath und vortragender Rath im Ministerium für Landwirthschaft, Domänen und Forsten, Präsident des preußischen Landesökonomiecollegiums und Rittergutsbesitzer auf Hundisburg etc., † in Berlin den 29. Juni 1879. – Als ältester Sohn des Vorigen am 9. December 1809 zu Magdeburg geboren, verlebte er die ersten Jahre seiner Kindheit auf den väterlichen Gütern, wo sich dem geistig regen Knaben unter Leitung eines Hauslehrers viel Anlaß zu Betrachtungen in der Natur und zu Beobachtungen an den sein besonderes Interesse erweckenden Thieren des Hofes und Feldes darbot. Seine weitere Schulbildung erhielt er zunächst an dem Klostergymnasium zu Magdeburg und darauf am Realgymnasium in Braunschweig; nach dessen Absolvirung besuchte er mit Ostern 1826 das Collegium Carolinum daselbst, wo er sich theils humanistischen, theils mathematischen und naturwissenschaftlichen Studien widmete. Zur Fortsetzung der letzteren ging er im Herbst 1827 an die Universität zu Berlin und betrieb hier noch zwei Jahre hindurch mit großem Eifer unter der Führung von Johannes Müller das Studium der Zoologie und anderer beschreibender Naturwissenschaften. Gegen Ende dieser Periode veröffentlichte er bereits die Resultate einiger selbständig durchgeführten wissenschaftlichen Arbeiten, welche theils zoologischen, theils botanischen Inhaltes waren und demnach einerseits in Wiegmann’s Archiv für Naturgeschichte, andererseits in der Zeitschrift „Flora“ zur Publication gelangten. Auf den Wunsch seines Vaters zu einem vorläufigen Abschluß solcher Studien genöthigt, trat er für kurze Zeit in das väterliche Handels- und Fabrikgeschäft zu Magdeburg, um sich dort über kaufmännische Geschäfts- und Buchführung zu informiren, übernahm sodann, kaum 21 Jahre alt, das Gut Hundisburg. Hier wandte er sich zunächst wieder naturwissenschaftlichen Untersuchungen zu und nahm anfänglich nur behufs eigener Instruction an den Aufgaben des landwirthschaftlichen Betriebes theil. Eine Zurückstellung der letzteren erschien ihm um so eher statthaft, als die wirthschaftlichen Verhältnisse in Hundisburg damals noch unter dem hinderlichen Einfluß einer in der Schwebe gehaltenen Specialseparation zu leiden hatten und ein energisches Vorgehen seinerseits zur Bewerkstelligung einer Reorganisation der Gutswirthschaft vorerst noch nicht angezeigt war. So konnte er seine Zeit noch ungestört mannigfachen anatomischen, morphologischen und physiologischen Studien widmen, wobei er sich namentlich mit einer systematischen Bestimmung der in der Gattung der Spitzmäuse (Soricina) vorkommenden Varietätenbildungen beschäftigte. Zu dieser Thätigkeit mochte ihn einerseits die Absicht, eine thatsächliche Lücke in den bezüglichen zoologischen Kenntnissen auszufüllen, andererseits das Verlangen, gegen das Uebergewicht der speculativen naturphilosophischen Schule in streng wissenschaftlicher Richtung anzukämpfen, veranlaßt haben. Ueber die Ergebnisse dieser in mehrjähriger Arbeit sorgfältig durchgeführten Untersuchungen berichtete er seinem Freunde, Professor Blasius in Braunschweig, durch welchen dieselben 1838 in der Zeitschrift „Fauna der Wirbelthiere Deutschlands“ publicirt wurden. Für N. selbst erwuchs aus der Beschäftigung mit solchen Aufgaben außer der durch das Resultat gewährten Befriedigung und der ihm von berühmten Zoologen dargebrachten Anerkennung noch der große Gewinn, daß er sich dadurch vorzüglich befähigt hatte, später als Forscher auf dem Gebiete der Thierzucht und Rassenkunde eine hervorragende Stellung einzunehmen. Während der ihm zu jener Zeit noch vergönnt gewesenen Ungebundenheit versäumte er nicht, durch gymnastische Uebungen im Reiten, Fechten und Turnen den sanitären Forderungen sowie der Standessitte Rechnung zu tragen; übrigens suchte er seine Erholung vorzugsweise im anregenden geistigen Verkehre theils mit Familien- und Hausgenossen, theils mit mehreren wissenschaftlichen Capacitäten der Universität Halle, welchen er durch gesellige Beziehungen [278] zu dem Amtsrath Bartels in Giebichenstein bei Halle, wo sich ein Kreis geistig bevorzugter Persönlichkeiten zusammenfand, näher geführt war. Dort knüpfte er auch mit der Tochter des Hauses, Louise Bartels, sein Ehebündniß, welches im J. 1835 vollzogen wurde.

Noch in demselben Jahre traten mit dem Tode seines Vaters auch die nunmehr unabweislich gewordenen Berufsaufgaben an N. heran, auf ihn ging die obere Leitung der für die verschiedenen Fabrikbetriebe und Gutswirthschaften eingesetzten Verwaltungen über, er mußte sich mit der Mutter in die Vormundschaft über die minorennen Geschwister theilen und so sah er auf einmal durch eine große Summe neuer Pflichten seine ganze Kraft in Anspruch genommen. Um jene Zeit war auch mit der Vollendung der Specialseparation von Hundisburg das Hinderniß beseitigt, welches bis dahin eine Hebung der dortigen Wirthschaft unthunlich gemacht hatte, und damit kam endlich der Zeitpunkt zur Ausführung einer Reihe von wirthschaftlichen Operationen, welche schon zuvor im Hinblick auf den Zweck der Reorganisation erwogen waren. Nach einem bestimmten Plane wurden dieselben über eine Periode von mehreren Jahren vertheilt und zur vortrefflichen Ausstattung sowie zur wesentlichen Erhöhung der Rentabilität des Gutes mit bestem Erfolge ins Werk gesetzt. Seit der Verfolgung dieser Aufgaben wandte N. sein Interesse fast ganz der Landwirthschaft zu, erweiterte seinen Wirkungskreis noch durch Pachtung eines benachbarten Gutes, befaßte sich nebenher auch mit Entwürfen auf dem Gebiete der Landschaftsgärtnerei, um die neu eingegrenzte Umgebung seines Landsitzes in angemessener Weise zu verschönern und ging dabei wie ein kunstfertiger Techniker mit großer Sicherheit zu Werke. Es konnte nicht ausbleiben, daß N. durch eine solche mit den mannigfaltigsten Aufgaben verknüpfte wirthschaftliche Thätigkeit auch zu einem regeren Verkehr mit Berufsgenossen genöthigt wurde. Als Besitzer eines mit ständischen Vorrechten und sonstigen Vorzügen ausgestatteten Gutes und als Begründer eines neuen Hausstandes suchte und fand er einen zusagenden geselligen Verkehr in den Kreisen der Ritterschaft des Neuhaldenslebener Districtes. An der Spitze dieser Corporation standen damals Männer, wie die Grafen Albrecht und Ferdinand von Alvensleben, August v. Gneisenau und v. Veltheim, zu welchen sich N. besonders hingezogen fühlte und mit denen er auch in politischer Hinsicht sehr gut harmonirte. Er vertrat die ritterschaftlichen Principien mit großer Consequenz auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens, übte ebenso die ihm innerhalb eines ausgedehnten Verwaltungsbezirks zustehende Polizeigewalt mit Energie, sowie er sich als ein Feind aller politischen Kannegießerei, als treuer Anhänger royalistischer Gesinnungen offen bekannte und dem Autoritätsprincip im besten Sinne zugethan war. Dadurch hatte er sich auch das Vertrauen der Magdeburgischen Ritterschaft erworben und wurde bald zum Mitgliede der sächsischen Provinzialstände gewählt; in dieser Eigenschaft war er an der beim Regierungsantritt Friedrich Wilhelm IV. von Seiten der sächsischen Stände abgesandten Huldigungsdeputation betheiligt und wurde bei dieser Gelegenheit in den Adelstand erhoben. Als Mitglied des vereinigten Landtages nahm N. gegenüber den von der Staatsregierung selbst gewährten constitutionellen Zugeständnissen eine negirende Stellung ein, wich in der so vielfach bewegten Zeit gegen Ende der 40er Jahre nicht von seiner königstreuen Gesinnung ab und enthielt sich jeder Mitwirkung an der Berathung des Urwahlgesetzes, da er weder zustimmen noch opponiren wollte. Den conservativen Tendenzen suchte er durch Begründung einer in diesem Sinne geleiteten Provinzialzeitung, durch rege Betheiligung an der später wieder einberufenen interimistischen Provinzialvertretung weiteren Vorschub zu leisten und seinen ganzen persönlichen Einfluß zur Anerkennung der gegebenen Autorität geltend zu machen. Wenn ihm auch die damalige Gestaltung der öffentlichen [279] Zustände ziemlich unsympathisch war, so vermochte er doch mit Wahrung seiner inneren Ueberzeugung und nach dem Grundsatze strengster Pflichterfüllung im speciellen Berufskreise an Aufgaben des öffentlichen Lebens mitzuwirken, wo es sich um die Förderung sachlicher Interessen handelte. Von dieser Richtschnur geleitet fiel es ihm nicht schwer, bei seiner vielseitigen öffentlichen Thätigkeit mit Männern anderer politischen Richtungen in gutem Einvernehmen zusammenzuwirken und sich der Anerkennung wie der persönlichen Anhänglichkeit von gegnerischer Seite theilhaftig zu machen.

In seinem engeren Wirkungskreise hatte N. inzwischen ein erfolgreiches Streben nach wirthschaftlichen Fortschritten unausgesetzt an den Tag gelegt. Durch Aenderung der Productions- und Absatzverhältnisse veranlaßt, hob er die auf dem Gute Althaldensleben bestehende Porzellan- und Steingutfabrik wieder auf und errichtete an deren Stelle in Gemeinschaft mit seinem in den Besitz dieses Gutes gelangten Bruder eine Rübenzuckerfabrik nach neuerem System; führte auf einem großen Theile seines Gutes die Entwässerung mittels eines Netzes von Thonröhren (Drains) nach dem in England erprobten Systeme durch, brachte die Drillsaat bei der Rübencultur mit Erfolg in Anwendung und führte sehr einträgliche englische Weizensorten ein, welche sich auch für die klimatischen Verhältnisse der Provinz Sachsen geeignet erwiesen. Hatte er sich durch das Vorangehen mit der Anwendung solcher Maßregeln ein Verdienst für die Landwirthschaft in näheren und ferneren Kreisen erworben, so trat er auch bald mit Leistungen auf dem Gebiete der landwirthschaftlichen Thierzucht hervor, wodurch er diesem landwirthschaftlichen Productionszweige neue Bahnen mit lohnenden Aufgaben nachzuweisen vermochte. Zunächst wandte er sich von der damals noch in vollem Glanze stehenden Zucht der Electoralschafe wegen des damit verknüpften großen Risicos ab, lenkte in eine weit bessere Erfolge versprechende Zuchtrichtung ein, welche der Fleisch- und Wollproduction in richtiger Vereinigung Rechnung tragen sollte. Zu diesem Zwecke bezog er geeignet erscheinendes Zuchtmaterial von Southdown- und Leicesterschafen aus England, verwendete dieselben theils zur Fortzüchtung in Stammesreinheit, theils zur Kreuzung mit Merino’s und erzielte dabei so vortreffliche Resultate, daß bald ein reger Begehr nach derartigen Zuchtproducten in weiteren Kreisen entstand. Mit diesen Erfolgen wuchs sein Interesse an den Zuchtrichtungen Englands und er zögerte daher nicht länger, auch edel gezüchtete Shorthornrinder und Schweine von dort einzuführen, um dadurch zu einer Veredelung einheimischer Viehstämme hinsichtlich der Fähigkeit zur Fleischproduction zu gelangen. Ebenso wußte er in der französischen Merinoszucht beachtenswerthe Resultate zu erkennen und suchte diese durch Einführung von Zuchtmaterial auch für die deutsche Schafzucht zu verwerthen. Als Mitbegründer des deutschen Jockeyclubs gab er Anregung zur Gründung von Pferdezuchtvereinen, belebte durch Erwerbung englischer Zuchtpferde und durch Einrichtung eines Rennstalles das Interesse für die Pferdezucht und den Rennsport, deren Aufgaben in ihm einen Meister fanden. Uebrigens ließ er es nicht bei der hierdurch bedingten Zucht des Vollblutpferdes bewenden, sondern betrieb auch in wachsendem Umfange die Zucht der Halbblutkategorien, welche für rein wirthschaftliche Zwecke immer mehr an Bedeutung gewannen. Für die bedeutenden Opfer an Geld und Zeit, welche er diesen züchterischen Unternehmungen brachte, wurde er sowol in materieller Hinsicht, wie die berühmt gewordenen Hundisburger Zuchtviehauctionen bewiesen, als auch in intellectueller Beziehung nach Wunsch entschädigt. Er hatte sich nicht lediglich mit der Wahrung der ökonomischen Interessen begnügt, sondern stellte bei der Leitung seiner Zuchten ganz methodisch gehaltene Beobachtungen an, um weitere Aufklärungen über die auf dem Gebiete der Züchtung herrschenden Gesetzmäßigkeiten zu erlangen. Aus unanfechtbaren [280] Zuchtresultaten zog er mit wissenschaftlicher Schärfe die wichtigeren Consequenzen und gründete darauf eine Summe von geläuterten Anschauungen bzw. Züchtungsgrundsätzen, welche in directem Gegensatz zu der in den 50er Jahren noch herrschend gewesenen Mentzel-Weckherlin’schen Schule standen. Er drang auf diese Weise zu einem festeren Standpunkte mit erweitertem und aufgehelltem Gesichtskreise vor und hob einen Schatz von werthvollen Daten, welche theils von seiner, theils von anderer Seite für die Oeffentlichkeit verwerthet und in mehreren Schriften dargelegt wurden. Als solche erschienen von ihm: „Ansichten und Erfahrungen über die Zucht von Schafen zum Zweck der Fleischproduction (Fleisch-Schafen)“, 1856, ferner „Ueber Shorthornrindvieh und Inzucht“, 1857, desgl. „Ueber die Rassen des Schweines“ und „Ueber die Constanz in der Thierzucht“, 1860. Diese Schriften erregten bei der streng sachlich gehaltenen Tendenz ein allgemeineres Interesse in den Züchterkreisen, daß dieselben nach wenigen Jahren vergriffen waren und mehrentheils erneuert werden mußten.

Bei seinem großartigen über so verschiedene Zuchtrichtungen ausgedehnten Betriebe der Hausthierzucht hatte N. auch mit Eifer die Gelegenheit ergriffen, Sammlungen von zootechnisch oder zoologisch werthvollem Material anzulegen. Eine reiche Wollprobensammlung, zahlreiche Serien von Thierphotographien und eine mit auserlesenster Sorgfalt wie mit großen Geldopfern zusammengebrachte imposante Schädelsammlung, welche nach seinem Tode in den Besitz des Berliner landwirthschaftlichen Museums übergingen, bildeten die Frucht jener Bemühungen. Die Schädelsammlung war bei ihrem bedeutenden wissenschaftlichen Werthe inzwischen ein eignes Feld der Forschung für ihn geworden. Aus Anlaß des von Darwin erschienenen Werkes „Ueber die Entstehung der Arten“ hatte N. sich die Aufgabe gestellt, im Wege exacter Untersuchungen die Grenzen der Variabilität bei den Hausthieren und deren genetische Beziehungen zu verfolgen; dabei dienten ihm als Operationsfeld einerseits die Thierzucht, um gewisse Fragen an die Natur zu stellen, andererseits jene Schädelsammlung, um durch Bestimmung der osteologischen Charaktere und anderweitige Ermittelungen zu sicheren Aufschlüssen über die Wandelbarkeit oder Beständigkeit der typischen Formen zu gelangen. Nachdem er eine Reihe von Jahren hindurch solche Untersuchungen mit Umsicht ausgeführt hatte, veröffentlichte er die Ergebnisse derselben in seinem berühmten Werke: „Vorstudien zur Geschichte und Zucht der Hausthiere, zunächst am Schweineschädel“, 1864. Dieses Werk bildete ein Muster wissenschaftlicher Gründlichkeit und Objectivität, enthielt einen ungewöhnlichen Reichthum an wissenschaftlich beleuchteten Momenten und damit zugleich den Nachweis, daß specifische Artunterschiede bei engerer Begrenzung um so schärfer und bestimmter hervorträten und ihre Beständigkeit documentiren ließen. Dasselbe erwarb daher dem Autor nicht nur die Bewunderung vieler Zoologen ersten Ranges, sondern auch die Anerkennung als bedeutendsten Gegner seitens Darwin’s selbst, welcher offen bekannte, daß er das Gewicht der in jenen Vorstudien nachgewiesenen Forschungsresultate hoch anschlagen müsse. Diese Gegnerschaft hielt jedoch die beiden Männer nicht ab, sich gegenseitig zu ehren und zeitweise über wissenschaftliche Gegenstände miteinander zu correspondiren; erst später nahm N. eine entschiedenere Position gegenüber Darwin ein, und als letzterer mehr und mehr in die speculative Richtung verfiel, schien ersterer auch die Sympathien für ihn verloren zu haben. N. hielt als kritischer Forscher und gewissenhafter Beobachter an dem Princip fest, die Erscheinungen im Bereiche der organischen Natur nur so zu interpretiren, wie es auf Grund von exacten Beobachtungen geschehen durfte und nicht eher zur Aufstellung von Theorien zu schreiten, bis alle Thatsachen auf den bezüglichen Gebieten damit in Einklang zu bringen wären; er wahrte lieber vorsichtige Zurückhaltung, als daß er sich eine vorzeitige Verallgemeinerung auf [281] Grund von local hervorgetretenen Fällen gestattet hätte. Diesem Princip und dem Geiste des positiven Christenthums getreu war N. ein Feind aller hypothetisch ausgesponnenen Reflexionen und trug eine religiöse Scheu gegen die aus Darwin’s Lehren resultirenden Umwälzungen in den Weltanschauungen. Sein Interesse an naturwissenschaftlichen Fragen bestimmte ihn wiederholt, sich in der von ihm festgehaltenen Richtung Aufgaben der Forschung zu stellen und dabei gelang es ihm stets, sich als Gegner Darwin’s zu behaupten und manche von übereifrigen Anhängern des Letzteren vorgebrachte Beweise als Irrthümer zu entkräften. Davon gaben noch mehrere Schriften naturwissenschaftlichen Inhaltes Zeugniß, wie es durch die Abhandlung: „Ueber die sogenannten Leporiden“, 1876, durch die beiden in der Zeitschrift: Der Zoologische Garten, erschienenen Artikel: „Ueber das Niata-Rind“ und „Zur Leporidenfrage“, 1879, dargethan wurde.

Diese nur von wissenschaftlichem Interesse beherrschte Thätigkeit hatte N. sehr oft unterbrochen und anderen Obliegenheiten amtlichen Charakters, denen er sich nicht entziehen mochte, nachstehen lassen müssen. Schon seit Ende der dreißiger Jahre bei der Pflege des landwirthschaftlichen Vereinswesens stark betheiligt, wurde er nach provinzieller Centralisirung der landwirthschaftlichen Vereine 1856 zum Mitgliede der Centraldirection und 1863 zum Director des Centralvereins der Provinz Sachsen erwählt, durch welches Amt er 6 Jahre lang in Anspruch genommen war. Seiner von großer Unparteilichkeit und Umsicht wie von regem Gemeinsinn und gediegenster Fachbildung getragenen Wirksamkeit innerhalb dieser Periode verdankt die Provinz nicht nur das Aufblühen ihres landwirthschaflichen Vereinslebens, sondern auch die Bereicherung mit zwei Instituten von allgemeinerer Bedeutung für die gesammte Landwirthschaft: die Gründung des an der Universität Halle 1864 errichteten höheren landwirthschaftlichen Lehrinstitutes, sowie die Verlegung der landwirthschaftlichen Versuchsstation von Großkmehlen nach Halle, wo für die letztere eine vorzüglich geeignete neue Grundlage durch ihn geschaffen war, sind im wesentlichen als Resultate seiner einflußreichen Bemühungen zu verzeichnen. Hatte N. dem landwirthschaftlichen Vereinswesen in der Provinz Sachsen durch Organisation von Localvereinen und in deren Bereich fallenden Unternehmungen mehr Lebenskraft und festeren Halt zu verleihen gesucht, so wirkte er auch bei der Begründung der deutschen Ackerbaugesellschaft in hervorragender Weise mit und gab die ganze Directive für die von dieser Gesellschaft 1863 und 1865 zu Hamburg und Dresden veranstalteten großartigen Ausstellungen. Einem hierbei gefaßten Plane gemäß schritt er auch noch zur Herausgabe eines in den Jahren 1868 und 1869 erschienenen „Deutschen Gestüts-Albums“, womit eine Lücke in den Instructionsmitteln der züchterischen Technik ausgefüllt wurde.

Als Director des sächsischen landwirthschaftlichen Centralvereins inzwischen zum Mitgliede des königlich preußischen Landesökonomiecollegiums ernannt, wurde er 1869 mit dem Präsidium desselben betraut und gleichzeitig als vortragender Rath in das Ministerium für Landwirthschaft berufen, wo ihm das Decernat für das landwirthschaftliche Unterrichtswesen zufiel. Mit diesen Functionen eröffnete sich ihm ein neuer Wirkungskreis, worin ihm manche schwierige und zeitraubende Aufgaben vorbehalten waren. Unter seiner Mitwirkung wurde jenem Collegium eine Reorganisation gegeben, wodurch dessen consultativer Charakter besser gewahrt und seine Erhaltung als Stütze für das Ministerium auch in Zukunft mehr gesichert erschien. Für das litterarische Organ des Collegiums adoptirte N. eine mehr wissenschaftliche Tendenz und eine darnach modificirte Form, wie es in den von ihm redigirten „Landwirthschaftlichen Jahrbüchern“ mit Erfolg durchgeführt und auch von seinem Nachfolger beibehalten ist. Im [282] J. 1870 noch zum Mitgliede des norddeutschen Bundesrathes ernannt und weiter durch die Uebernahme der Leitung des landwirthschaftlichen Lehrinstitutes in Berlin engagirt, sah er sich nunmehr genöthigt, den amtlichen Aufgaben seine Zeit und Kraft großentheils zu widmen und zu diesem Zwecke auch seinen Wohnsitz definitiv nach Berlin zu verlegen. Hier fand er alle wichtigeren Hilfsmittel, deren er bei gelegentlicher Fortsetzung seiner wissenschaftlichen Studien benöthigen mochte, hier glaubte er auch in einer schon aus Gesundheitsrücksichten gewählten Zurückgezogenheit mehr Muße für solche Aufgaben gewinnen zu können, als auf seinem Landsitze zu Hundisburg, wo bereits die Wirthschaftsdirection auf einen seiner Söhne übergegangen war. Ungeachtet seines leidenden Gesundheitszustandes entschloß sich N. dennoch, Lehrvorträge aus einzelnen Disciplinen der landwirthschaftlichen Thierzucht an dem unter seiner Direction stehenden landwirthschaftlichen Lehrinstitute zu halten. Dadurch war er wieder veranlaßt, mit seinen inzwischen bereicherten Anschauungen als Thierzüchter vor die Oeffentlichkeit zu treten und seinen Standpunkt auf diesem Gebiete scharf zu präcisiren. Diesem Umstande verdankten noch mehrere litterarische Leistungen von Bedeutung ihre Entstehung. Unter dem Titel „Vorträge über Viehzucht und Rassenkenntniß“ gab er 1872 ein sehr gediegenes Lehrbuch heraus, in welchem hauptsächlich seine auf Grund von exacten Beobachtungen adoptirten Züchtungsgrundsätze formulirt, zum Theil auch seine Anschauungen mit einer gewissen Polemik gegen andere doctrinär gehaltene Schriften vertheidigt waren. In demselben Jahre lieferte er eine Serie von „Wandtafeln für den naturwissenschaftlichen Unterricht mit specieller Berücksichtigung der Landwirthschaft“, wozu sehr lehrreiche Erläuterungen hinsichtlich der Gestaltung osteologischer Rassenunterschiede beigefügt wurden. Verwandten Inhaltes war seine 1875 publicirte „Abhandlung über die Schädelform des Rindes“, in welcher er neue für diagnostische Zwecke wichtige Momente ans Licht zog, auch arbeitete er an einer Fortsetzung seiner Vorträge über Viehzucht, worin die Schafzucht wie die Pferdezucht behandelt wurden. Diese letzteren Arbeiten sind jedoch erst nach seinem Tode mit Benutzung der fertig vorgefundenen Manuscripte durch seinen Bruder veröffentlicht worden.

Im October 1874 schon hatte N. einen Schlaganfall zu erleiden gehabt, von dessen Folgen er sich nach kurzer Erholung wieder befreit sah; obwol dadurch zur Vorsicht gemahnt, unterzog er sich jedoch bald wieder mit ungeschwächter Geisteskraft seinen amtlichen Functionen und führte in allen wichtigen Angelegenheiten des landwirthschaftlichen Ressorts, z. B. bei der Reorganisation und neuen Ausstattung des landwirthschaftlichen Lehrinstitutes zu Berlin, sowie bei den großartigen Entwürfen für das dortige landwirthschaftliche Museum sein Decernat unverkürzt durch. Selbst mit der Praxis trat er noch zu wiederholten Malen in Berührung, indem er den Anlaß zur Abhaltung von Schlachtviehausstellungen in Berlin gab und den Vorsitz im Ausstellungscomité übernahm, um seine reichen Erfahrungen auf solchem Gebiete auch dem Berliner Unternehmen zu Statten kommen zu lassen. Im Uebrigen durch nichts behindert, seine vielseitige amtliche Thätigkeit in befriedigender Weise zu üben, faßte er noch verschiedene wissenschaftliche Aufgaben ins Auge und es schien ihm auch noch eine längere Frist zur Verfolgung derselben vergönnt zu sein, als fast plötzlich Ende Juni 1879, nachdem ein leichtes Unwohlsein vorausgegangen war, ein Nervenschlag seinem Wirken ein Ende machte. Mit ihm schied ein treuer Freund objectiver Wahrheit, ein mit seltenem Scharfblick und mit großer Thatkraft beliehener Mann der Wissenschaft wie der Praxis, der frei von Ruhmsucht und Mißgunst war, aber von ernstem Trachten nach positiven Zielen beseelt wurde; ihn ehrte ein fast unbedingtes und pietätvolles Vertrauen in allen öffentlichen Aemtern, sowie ihm auch von höchsten und allerhöchsten Stellen volle Hochschätzung entgegengebracht wurde; [283] ein Vorbild ehrenhaften Wandels und ein uneigennütziger Freund der Wohlthätigkeit war er eine vornehme Zierde seines Berufes und einer der besten Männer seines Vaterlandes.

Jahrbücher der Landwirthschaft, Jahrg. 1880, Wilhelm v. Nathusius-Königsborn: Rückerinnerungen aus dem Leben des Bruders H. v. N., ferner Journal für Landwirthschaft, Jahrg. 1880: Nekrolog über H. v. Nathusius, und Magdeburgische Zeitung Nr. 373, Jahrg. 1879: Hermann v. Nathusius als Naturforscher und Landwirth.